Zwei Herzen in der Flut

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Eine gewaltige Flut reißt alles mit sich: Sanitäterin Mimi Sawyer gerät unvermittelt in Lebensgefahr. Und ausgerechnet Dr. Rafe Chapman versucht, sie zu retten. Der Mann, den sie so sehr liebte, der sie aber vor fünf Jahren verließ - weil er nicht an Gefühle glauben wollte …


  • Erscheinungstag 03.10.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733719586
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Der Regen prasselte hart gegen die Windschutzscheibe, und die Scheibenwischer ermöglichten immer nur sekundenlang freie Sicht, ehe diese erneut durch das Regenwasser verschwamm.

Jack beobachtete aufmerksam die Straße vor ihnen. „Glaubst du, wir schaffen es?“

Mimi hielt das Lenkrad fest gepackt, während sie abzuschätzen versuchte, wie der schwere Wagen auf die nasse Fahrbahn reagierte. „Jep. Solange die Straße nicht auf einmal unter uns verschwindet, kriegen wir das hin.“

Vor zwei Wochen waren sie schon einmal hier gewesen. Der Nieselregen damals hatte die Landstraße kaum benetzt. Aber seitdem hatte der Regen einfach nicht wieder aufgehört. Ein miserabler Sommer lag hinter ihnen, und im August waren auch noch Stürme dazugekommen. In manchen ländlichen Gegenden von Somerset waren Straßen weggespült worden, und die Krankenwagen hatten Mühe, zu ihren Patienten durchzukommen.

„Stell dir vor, in zwei Wochen hast du all das hinter dir.“ Jack lehnte sich auf dem Beifahrersitz zurück. „Miss Miriam Sawyer, Rettungssanitäterin.“

Mimi lächelte, denn dafür hatte sie hart gearbeitet. „Ohne dich hätte ich das wahrscheinlich nicht hinbekommen.“

„Doch, natürlich. Obwohl ich hoffe, dass mein Fachwissen und meine Ratschläge hilfreich waren“, meinte er.

„Und die ständige Nerverei selbstverständlich. Aber das wollen wir lieber nicht erwähnen.“

„Nein. Und auch nicht, dass ich dir überall reingeredet habe“, ergänzte Jack.

„Das schon gar nicht.“ Zwei Wochen erschienen Mimi jetzt noch wie eine lange Zeit, bis sie von einer Krankenwagenfahrerin zur Sanitäterin befördert werden würde.

„Dann muss ich mich an einen neuen Partner gewöhnen. Dein unfehlbarerer Instinkt, mit dem du jedes Schlagloch getroffen hast, wird mir fehlen.“

„Ach, halt die Klappe.“ Ihre Schultern entspannten sich. Jack wusste, wann die Anspannung zu viel wurde, aber er brachte es immer fertig, alles ein bisschen herunterzuschrauben. „Warten wir’s erst mal ab, ob du überhaupt jemanden findest, der dich aushält.“

„Das ist hart, Mimi. Sehr hart.“ Lachend beugte er sich vor, um nach vorn zu spähen, über den Hügel hinunter zum Fluss. „Die Brücke ist noch da.“

„Ja, aber ich glaube, wir sollten es besser nicht riskieren. Diese Brücke hält auch zu den besten Zeiten bloß einen Krankenwagen aus. Ich will nicht auf der anderen Seite im Schlamm stecken bleiben.“ In den flüchtigen Momenten, in denen man durch die Windschutzscheibe etwas sehen konnte, wurde klar, dass das Oberflächenwasser auf der gegenüberliegenden Seite die Straße in rutschigen Morast verwandelt hatte.

Jack nickte. „Sieht aus, als müssten wir den Rest der Strecke zu Fuß gehen.“

„Wir könnten es über die A 389 versuchen“, schlug Mimi vor.

„Nee, ich habe nachgefragt. Sie steht einen Meter unter Wasser. Da kommen wir nie durch.“ Jack hatte sich telefonisch über Updates informiert, während Mimi sich aufs Fahren konzentrierte. „Auf jeden Fall müssen wir irgendwie rüber.“

„Und dann?“ Die Chancen, den Krankenwagen sicher über die Brücke und den Hügel drüben hinaufzusteuern, standen schlecht. Und den restlichen Weg zu Fuß zurückzulegen, war auch keine angenehme Aussicht. Aber dann auch noch eine Schwangere über diesen schlüpfrigen Weg herunterzubringen – unvorstellbar.

„Wir können zumindest die Lage beurteilen. Wenn ich Bescheid sage, dass wir einen Arzt brauchen …“

„Ja, okay.“ Mimi und Jack hatten schon mehrfach gemeinsam Babys auf die Welt gebracht, und sie würden es auch wieder schaffen. „Hoffentlich schicken sie keinen Anfänger, der glaubt, er müsse die ganze Welt retten, und wir sollten schön danebenstehen und Tee kochen.“

Er lachte. „Als Sanitäterin musst du bald genau solche Entscheidungen treffen. Was würdest du tun?“

„Ich denke, ich würde auch einen Arzt rufen.“ Mimi lachte ebenfalls und hielt den Wagen an. Sie zog es vor, auf der Straße zu bleiben und nicht auf dem matschigen Grasstreifen zu parken. Ein anderes Auto passte problemlos an ihnen vorbei, und größere Fahrzeuge würden ohnehin nicht viel weiter kommen.

„Zeit, deine Haare wieder nass zu machen.“

Mimi schnitt eine Grimasse und stopfte ihren blonden Zopf unter ihren Hemdkragen. In der vergangenen Woche hatte sie so oft nasse Haare gekriegt, dass sie sich allmählich wünschte, eine Kurzhaarfrisur würde ihr genauso gut stehen wie Jack.

Im Fahrzeug zogen sie ihre Regenschutzkleidung an, ehe Mimi das Funkgerät betätigte. Die Reaktion auf ihr Rufsignal war lediglich ein elektrisches Knistern. „Oh, es gibt wohl wieder ein Problem.“

Jack blickte in den Regen, der gegen die Windschutzscheibe schlug. „Hast du ein Handysignal?“

„Eher nicht.“ Sogar bei guten Wetterbedingungen war das Netz in dieser Gegend ziemlich dürftig. „Wahrscheinlich muss ich ein Stück die Straße hochlaufen. Du kannst ja schon mal vorausgehen. Bin gleich wieder da.“

Jack hob seine schwere Notfalltasche hinten aus dem Krankenwagen und schloss dann die Hecktüren wieder. Das Wasser lief in Strömen an seinem Schutzanzug herab, als er an Mimi vorbeistapfte, die noch im Wagen saß. Sie zog ihr Handy hervor, um ihr Glück zu versuchen.

Fast. Sie hörte ein Klingeln, das jedoch schnell abbrach. Also stieg auch sie aus und kämpfte sich die Straße hoch, wobei ihr der kalte Regen ins Gesicht schlug. Etwas weiter oben sah sie einen Geländewagen, der ihr über den Hügel entgegenkam und so schnell fuhr, wie der strömende Regen es erlaubte.

„Vorsicht, mein Lieber“, murmelte sie vor sich hin. „Sonst landest du bald im Graben.“

Nach etwa zwanzig Metern erschienen zwei Balken auf ihrem Display. Das sollte reichen. Der SUV war inzwischen nahe herangekommen, und der Fahrer blinkte mit den Scheinwerfern.

„Ja, ich sehe dich.“ Mimi wich aus und stolperte auf dem unebenen Randstreifen.

In diesem Augenblick hörte sie es. Ein fernes Grollen, das wie Donner klang, aber ohne Blitz. Sie wirbelte herum, schaute flussaufwärts und erkannte sofort die Ursache.

„Jack!“

Mit aller Macht schrie sie gegen den Sturm an, zu der Gestalt auf der anderen Seite der Brücke. Als Jack nicht reagierte, schrie sie erneut. Ob er sie gehört hatte oder das donnernde Tosen des Wassers, das auf ihn zurollte, jedenfalls drehte er sich um.

Ein einziger Blick auf den Fluss genügte, und er ließ sofort seine schwere Notfalltasche fallen. Er wollte laufen, doch der steile Hang vor ihm war rutschig von Schlamm und Wasser.

Entsetzt starrte Mimi hinüber, außerstande, irgendetwas zu tun. Sie wusste, dass Jack nur wenige Sekunden hatte, um sich zu entscheiden. Entweder um sein Leben rennen oder irgendetwas finden, woran er sich festhalten konnte. Am Straßenrand stand ein großer, mehrstämmiger Baum mit weit verzweigten Ästen. Als die Flutwelle herunterkrachte, sah Mimi, wie Jack auf den Schutz des Baumes zulief. Dort klammerte er sich an einem der vier Stämme fest.

„Jack … Halte durch.“ Schluchzend stieß sie die Worte hervor, obwohl sie wusste, dass er sie nicht hören konnte.

Das Tosen des Wassers war ohrenbetäubend, und um die apokalyptische Szene zu unterstreichen, zuckte genau in diesem Moment ein Blitz quer über den Himmel, gefolgt von einem heftigen Donnerschlag. Die Flutwelle riss einige Teile der Brücke mit, doch Mimi hielt ihren Blick unverwandt auf die Stelle gerichtet, wo sie Jack zuletzt gesehen hatte.

„Halt dich fest, halt dich fest“, wiederholte sie immer wieder.

Als das Wasser verebbte, erspähte sie ihn zwischen den Baumstämmen.

Vielleicht hielt er sich noch fest, aber vielleicht war er auch bewusstlos. Da sie es nicht erkennen konnte, rannte sie auf die Brücke zu, die durch den Aufprall der Flutwelle hoffentlich nicht allzu sehr beschädigt worden war.

Hinter sich hörte sie eine Stimme, die jedoch vom Wind verweht wurde. Dann wurde sie plötzlich von hinten gepackt und hochgehoben.

„Mimi!“

„Lassen Sie mich los.“ Sie versuchte sich zu befreien, aber da der Kerl sie nicht losließ, versetzte sie ihm einen Fußtritt. Irgendwie fühlte sich der Mann vertraut an, doch sie wusste nicht, wieso.

Da hörten sie vom Fluss her erneut ein donnerndes Geräusch.

„Jack!“, schrie Mimi verzweifelt, als die zweite Welle ins Tal hereinbrach. Diese war größer als die erste und schwemmte die Brücke mit einer gewaltigen Sturzflut fast vollständig davon.

„Du kannst nicht zu ihm, Mimi. Du wirst dich sonst umbringen.“

Diese Stimme. Sie traute ihren Ohren kaum, doch es war unverkennbar die Stimme von Rafe. Ein Hauch von Eliteschule, gepaart mit einem energischen Unterton.

„Lass mich los! Mein Wagen!“

Das steigende Wasser erreichte den Krankenwagen und schob ihn seitwärts über die Straße. Zuerst sah es so aus, als würde das Fahrzeug auf dem Asphalt stehen bleiben. Dann jedoch rutschte es in den Schlamm des Seitenstreifens, kippte und blieb an einem Baum hängen, als das Wasser wieder ablief.

Wie sollte sie Jack jetzt retten? Die Brücke war verschwunden, und der Fluss, der die Uferböschung überflutet hatte, war zu einem gefährlich reißenden Strom geworden.

„Da sind Leute, die ihn holen. Schau doch mal.“ Die Arme um sie herum lockerten sich, und Mimi riss sich sofort los.

Sie sah fünf, nein sechs Menschen hinter den Bäumen auf der anderen Seite des Flusses auftauchen, die sich einen Weg durch den Schlamm bahnten. Zwei hielten inne, um die Tasche mit der Notfallausrüstung zu bergen. Die vier anderen kämpften sich weiter zu den verzweigten Baumstämmen, wo Jacks Warnjacke zu sehen war.

Eine Ewigkeit lang schien er reglos in den Ästen zu hängen, wie eine zerbrochene Puppe. Eine Gestalt hockte sich neben ihn, als würde sie mit ihm reden.

Bitte, bitte, bitte … Ja! Durch den stetig fallenden Regen sah Mimi, wie Jack sich bewegte und ihm kurz danach auf die Beine geholfen wurde. Die Rettungsmannschaft umringte ihn, doch schließlich wandte er sich zu Mimi um.

„Sieht aus, als wäre alles gut gegangen“, bemerkte Rafe.

„Jack, bist du in Ordnung?“, rief sie hinüber. „Wir treffen uns im Dorf!“

„Da kommen wir nicht durch, Mimi.“

„Mimi heiße ich nur für Freunde.“ Sie wünschte, Rafe würde sie nicht so nennen. Nie mehr. Wenn es unbedingt sein musste, konnte er sie Miriam nennen. Oder am besten gleich Ms. Sawyer.

„Na schön, Miriam.“ Sein Blick zeigte, dass er sie für kleinlich hielt. „Wir haben beide dieselbe Info von der Einsatzzentrale. Es sei denn, du hast vor, dir kurzfristig Flügel wachsen zu lassen.“ Frustriert wies er auf den wilden Strom.

Jack winkte ihr zu, und Mimi winkte zurück. Dann machte er die wohlbekannte Geste, die sie schon so oft bei ihm gesehen hatte. Ich ruf dich an. Suchend schaute Mimi sich nach ihrem Telefon um. Rafe hob es dort auf, wo sie es hatte fallen lassen, und gab es ihr. Sie nahm es, ohne ihn anzusehen.

Sobald sie sich davon überzeugt hatte, dass das Handy noch funktionierte, hielt sie für Jack den Daumen hoch. Dann beobachtete sie, wie die Männer ihm halfen, den Hügel hinaufzuklettern. Zum Dorf.

Jetzt, da Jack außer Sichtweite war, konnte Mimi es nicht länger hinausschieben. Sie wandte sich zu Rafe um.

Er sah genauso aus wie früher. Dunkles Haar, durchnässt und aus dem Gesicht gestrichen, aber eine nasse Strähne fiel ihm in die Stirn. Tiefblaue Augen, so auffallend, dass Mimi sich ermahnen musste, ihn nicht anzustarren. Noch immer raubte sein Anblick ihr den Atem. Eindringlich blickte er sie an, und sie fragte sich, was er wohl sehen mochte.

„Wir warten, bis Jack anruft. Dann fahre ich dich zurück zum Krankenhaus“, sagte er.

„Kommt nicht infrage. Mein Fahrzeug und mein Partner sind hier“, widersprach sie heftig.

„Dein Wagen sieht nicht gerade fahrbereit aus, und du kannst nicht zu deinem Partner.“ Sachlich zählte er die Fakten auf.

„Das ist nicht deine Entscheidung, Rafe.“ Falls er glaubte, ihre gescheiterte Beziehung gebe ihm das Recht, ihr vorzuschreiben, was sie zu tun habe, täuschte er sich. Dieses Recht hatte er verspielt, als er sie vor fünf Jahren verlassen hatte.

„Gut. Also, was hast du jetzt vor?“

„Ich warte, bis Jack anruft. Danach treffe ich meine Entscheidung“, erklärte sie entschlossen.

Rafe hatte sich innerlich dafür gewappnet, dass er möglicherweise Mimi über den Weg laufen würde, wenn er sich bereit erklärte, in dieser Gegend als Freiwilliger zu helfen.

An ihrer Art, sich zu bewegen, als er im Regen auf sie zugefahren war, hatte er erkannt, dass sie es war. Doch rasch hatte er den Gedanken wieder verworfen, weil er annahm, diese Frau sei wieder nur eine jener Erscheinungen, die vor ihm auftauchten und dann doch jemand ganz anderes waren. Aber sobald die eindeutig weibliche Gestalt angefangen hatte zu laufen, hatte er es gewusst. Diese leidenschaftliche Loyalität, mit der sie auf die Flut zugestürzt war, anstatt zu flüchten, war typisch für Mimi, und er bewunderte sie noch immer dafür.

Als Rafe damals gegangen war, hatte sie allerdings wenig Leidenschaft gezeigt. Vielleicht hatte er für sein Verhalten ja auch nicht mehr als kühle Gleichgültigkeit verdient, und trotzdem hatte es ihn verletzt. Ihr jetziger Ärger, ihre Feindseligkeit wirkten dagegen beinahe erfrischend, wenn nur der Zeitpunkt dafür nicht so ungünstig gewesen wäre.

„Komm, setz dich ins Auto.“ Rafe deutete auf seinen SUV. Als Mimi ihn böse anfunkelte, meinte er achselzuckend: „Oder mach, was du willst.“

Resolut marschierte sie zu seinem Wagen, wo sie sich schnell die wasserdichte Jacke auszog. Nachdem sie eingestiegen war, streifte sie auch die Überhose und die schweren Stiefel ab. Sie hängte die Jacke an den Haken hinter dem Sitz und stellte die Stiefel in den Fußraum. „Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich dein Auto nass mache.“

Mit angezogenen Knien und dicken Wollsocken an den Füßen sah sie Rafe düster an. Sie wackelte mit den Zehen, was sie immer tat, wenn sie sich unsicher fühlte.

„Nein, jederzeit gerne.“ Er hängte seine eigene Jacke hinter den Fahrersitz, wo sie zu tropfen begann.

„Wir bleiben jetzt so lange hier, wie ich es sage, richtig?“

„Ja, genau.“ Mimi und Jack waren schon immer eng befreundet gewesen und hatten aufeinander aufgepasst. Doch nie zuvor hatte Rafe diese Freundschaft einen solchen Stich der Eifersucht versetzt. Das erstaunte ihn. Immerhin war es schon fünf Jahre her. Obwohl es ihm vorkam, als wären erst wenige Tage vergangen, seitdem er sich von ihrem warmen Duft hatte einhüllen lassen, bevor er einschlief. Falls sie und Jack jetzt ein Paar waren, wäre das keine große Überraschung für ihn gewesen.

Ein wenig entspannter ließ sie sich in den Sitz zurücksinken. „Könnte eine Weile dauern. Wenn es dir zu langweilig wird …“

„Denkst du etwa, ich mache mir keine Sorgen um Jack?“ Früher waren sie alle einmal befreundet gewesen.

Ein nachdenklicher Ausdruck trat in ihre honigfarbenen Augen. „Nein, das denke ich nicht.“

Mimi beugte sich vor, um ihr Handy auf das Armaturenbrett zu legen. Sie sah genauso aus wie damals. Dunkelblondes Haar, zu einem dicken Zopf geflochten, den sie hinten in ihr Hemd gesteckt hatte.

Ohne ihn anzusehen, fragte sie nach einer Weile: „Was tust du hier, Rafe?“

„Die Gegend hier ist von dem Wetter am schlimmsten betroffen. Und alle Krankenhäuser im Bezirk stellen so viele Fachkräfte frei wie möglich.“

„Du hast also Pech gehabt?“

„Ich habe mich freiwillig gemeldet“, erwiderte er. „Ich habe zwei Wochen Urlaub.“

„Du nimmst deinen Urlaub dafür?“ Verblüfft hob sie die Augenbrauen.

„Ja. Das schlägt Südfrankreich um Längen.“

Sie nickte knapp. „Danke.“

„Dann seid Jack und du immer noch ein Team?“

„Nicht mehr lange. Ich habe meine Prüfung bestanden und bin jetzt Rettungssanitäterin.“ Mimi lächelte fast.

„Bleibst du hier?“

„Nein, ich gehe woandershin.“

„Jack wird dich vermissen.“

„Ich werde nicht allzu weit weg sein.“ Plötzlich unterbrach sie sich und warf ihm einen scharfen Blick zu. „Mit wem ich zusammen bin, geht dich nichts an, Rafe.“

„Ich weiß. Aber rein aus Interesse, du und Jack, seid ihr …?“

„Wie gesagt, das geht dich nichts an. Und was ist mit dir?“

„Nee, Jack ist nicht mein Typ.“

Unwillkürlich musste sie lachen. „Darüber wird er sicher sehr froh sein.“

Dann schwieg sie plötzlich stirnrunzelnd, als wäre es ein Verbrechen gewesen, sie zum Lachen zu bringen.

Rafe ließ sich in seinem Sitz zurücksinken und beobachtete den Regen, der auf die Windschutzscheibe trommelte.

2. KAPITEL

Es war viel leichter, Rafe aus der Ferne nicht zu mögen. Finster starrte Mimi auf ihr Telefon und tippte mit den Fingern unruhig auf den kleinen Bildschirm.

Das erwartete Piepen ließ sie zusammenzucken. Eine lange Nachricht von einer unbekannten Nummer besagte, dass es Jack gut ging und er sich im Gemeindesaal der Kirche befand. Sobald er Genaueres über die allgemeine Lage erfahren hatte, wollte er sich wieder bei Mimi melden. Und er fragte, ob es Rafe gewesen sei, den er auf der anderen Seite des Flusses gesehen hatte.

Als Mimi antwortete, dass dies tatsächlich der Fall war, schickte Jack ein Smiley zurück. Offenbar bedachte er nicht, wie unangenehm diese Situation für sie war. Zwar hatte sie auf diese Weise jemanden, der sie nach Hause bringen konnte, aber dass es ausgerechnet Rafe sein musste, gefiel ihr ganz und gar nicht.

Auf ihre knappe Antwort kam eine weitere lange Nachricht.

„Was schreibt er?“, erkundigte sich Rafe.

„Der Inhalt seiner Tasche ist durch das Wasser ruiniert. Er bleibt bei der Patientin, bis er eine Möglichkeit findet, die Frau dort rauszuholen“, erwiderte sie. „Und es kommen Leute ans Flussufer, die versuchen wollen, die zweite Notfalltasche aus unserem Auto auf die andere Seite rüberzuschaffen. Wir sollen alles vorbereiten und auf die Männer warten.“

„Schreib ihm: Okay.“

„Hab ich schon.“ Mimi betrachtete den reißenden Fluss vor ihnen. Hoffentlich hatten die Leute, die ihnen zur Hilfe kommen würden, eine gute Idee, wie man eine Tasche über das tosende Wasser transportieren sollte.

Rafe drehte sich um. „Ich habe so ziemlich alles dabei, was Jack gebrauchen könnte. Du musst nicht zu eurem Wagen.“ Prüfend ließ er den Blick über die Beutel und Kartons hinten im Geländewagen schweifen. „Wie ist der Zustand der Patientin?“

„Sie ist schwanger.“

„Das weiß ich“, gab er leicht gereizt zurück.

„Tja, das ist alles. Sie hat noch keine Wehen, aber wegen der Wetterbedingungen wollten wir sie trotzdem ins Krankenhaus bringen. Bisher keine Komplikationen.“

Rafe stieg aus und ging nach hinten, öffnete die Hecktür, suchte eine stabile Tasche und begann, sie mit Kartons zu füllen.

Mimi zog ihre Stiefel wieder an. Der Sturm schien etwas nachzulassen, und es dauerte nicht lange, bis vier Gestalten auf der anderen Seite des Flusses erschienen. Sie schleppten etwas, das wie ein Klettergeschirr aussah.

Dann läutete Mimis Telefon. „Hi, spreche ich mit Mimi?“ Es war die Stimme einer Frau, die schreien musste, um das Rauschen des Flusses zu übertönen. „Ich bin Cass, Feuerwehr- und Rettungsdienst.“

„Hi, Cass, hier ist Mimi. Wie geht es Jack?“

„Ihm geht’s gut. Wir haben ihn zum Dorf hochgebracht, damit er sich aufwärmen kann. Und jetzt wollen wir probieren, ein Seil zu euch rüberzukriegen.“

„Wie sieht euer Plan aus?“

„Weiter unten Richtung Osten am Fluss entlang gibt es eine Erhöhung“, erklärte Cass. „Vielleicht gelingt es uns dort, euch ein Seil zuzuwerfen und die Tasche per Seilzug rüberzuziehen.“

„Gut. Wir treffen uns dort. Wir haben zwei Taschen.“

„Super. Danke.“ Damit war das Gespräch beendet.

Mimi schulterte eine der Taschen. Da sie wusste, dass Rafe ihr mit der zweiten folgen würde, rutschte sie vorsichtig den Hang hinunter und ging auf die Bäume zu, die dort standen. Unter dem Blätterdach war der Boden zwar nass, aber relativ frei von Schlamm. Schnell hatte Rafe sie eingeholt.

„Auf der anderen Seite des Flusses ist eine Anhöhe, etwa vierhundert Meter in dieser Richtung“, berichtete sie. „Sie hoffen, dass sie dort ein Seil rüberwerfen können.“

Er nickte nur. Vielleicht hatte er beschlossen, dass es am besten sei, friedlich miteinander umzugehen. Während sie schweigend ihren Weg fortsetzten, nahm Mimi sich dasselbe vor.

Eigentlich hatte sie geglaubt, all das hinter sich gelassen und ihr Leben selbst in die Hand genommen zu haben. Doch in diesem Augenblick fühlte sie sich genauso allein wie vor fünf Jahren, als Rafe sie verlassen hatte. Und noch immer belasteten sie die Erinnerungen aus der Vergangenheit.

Wie sie sich mit siebzehn Jahren an ihren Zwillingsbruder Charlie geklammert hatte, in der Nacht, als sie erfahren hatten, dass ihre Eltern tödlich verunglückt waren. Wie sie sich damals versprochen hatten, immer füreinander da zu sein.

Dieses Versprechen hatten sie gehalten. Und als der Schmerz und die Trauer weniger wurden, hatte Mimi gewusst, dass ihre Eltern sicher stolz auf Charlies und ihren Zusammenhalt gewesen wären.

Dann mit einundzwanzig, als sie in Graham verliebt gewesen war und er sie mit seiner Liste konfrontiert hatte. Eine lange Aufzählung von Mimis Fehlern und Schwächen, die er benutzt hatte, um zu rechtfertigen, warum er sie mit einer anderen Frau betrogen hatte.

Sie hatte sich von ihm getrennt, aber die Liste hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Eine ständige Erinnerung an ihre Unzulänglichkeiten als Frau und eine Warnung davor, jemals wieder einem Mann zu vertrauen.

Rafe hatte ihr jedoch das Gefühl gegeben, dass es sich vielleicht lohnte, einen weiteren Versuch zu wagen. Er war der attraktive Stationsarzt gewesen, als Charlie nach einem Sturz aus dem Fenster schwer verletzt in die Notaufnahme gebracht worden war. Nur dank Rafes Fähigkeiten und seinem schnellen Eingreifen besaß Charlie heute noch eine gewisse Beweglichkeit in den Beinen, sodass er sich vom Rollstuhl hochziehen und sogar ein paar Schritte gehen konnte.

Dann mit dreiundzwanzig, als Rafes Mutter ihre Krebsdiagnose bekommen hatte. Mimi hatte sich so sehr bemüht, ihn zu unterstützen, so wie Rafe sie und Charlie unterstützt hatte. Aber immer wieder hatte er sie ausgeschlossen. Jeden Tag war er ihr ein wenig mehr entglitten. Und als er schließlich gegangen war, hatte ihr dies bestätigt, was sie aus Grahams Liste gelernt hatte. Sie war eben einfach nicht gut genug. Und es tat noch viel mehr weh, wenn man nicht gut genug für jemanden war, den man wirklich liebte.

Mimi hatte ihr Leben wieder in den Griff bekommen und sich Ziele gesetzt: Charlie dabei zu helfen, seine Unabhängigkeit zurückzugewinnen. Eine Ausbildung zur Sanitäterin zu machen. Rafe aus ihrem Leben auszulöschen und nie wieder einem Mann die Gelegenheit zu geben, ihr das Herz zu brechen. All diese Ziele hatte sie erreicht.

Wieso stapfte sie also jetzt völlig durchnässt mit Rafe durch einen Wald? Wodurch all die Unsicherheit, die sie überwunden geglaubt hatte, wieder in ihr aufstieg?

Sie rückte den Taschengurt zurecht, der ihr in die Schulter schnitt. Sie würde damit zurechtkommen. Auch wenn sie sich schlecht fühlte, hatte sie das noch niemals zurückgehalten. Das Gefühl würde vorbeigehen, und bald wäre auch Rafe wieder Geschichte.

Als sie sich der Stelle näherten, die Cass ihr genannt hatte, lichtete sich der Wald und ging über in hohes Gras, niedergedrückt und schlammig durch den über die Ufer getretenen Fluss. Auf der gegenüberliegenden Seite sah Mimi die Leute von Cass, die gerade auf einen Felsvorsprung kletterten, der etwa sieben Meter über dem Wasserspiegel lag.

„Falls sie es irgendwo schaffen, ein Seil über den Fluss zu kriegen, dann hier.“ Rafe blickte sich um.

„Jep.“ Mimi schaute zu dem grauen Himmel hoch. „Wenigstens hat es aufgehört zu regnen.“

Cass und ihre Mannschaft befestigten ein Seil an einem Baumstamm. Sie war genauso groß wie die Männer und schien die Chefin zu sein. Beim Arbeiten rutschte ihr die Kapuze vom Kopf und zeigte leuchtend rotes Haar, das sich von den Braun- und matten Grüntönen der Landschaft abhob.

Dann klingelte Mimis Handy.

„Wir sind so weit“, erklärte Cass. „Ich versuche jetzt, ein Seil rüberzuwerfen. Macht euch bereit, es aufzufangen.“

„Okay.“ Mimi sah Rafe an. „Gleich kommt das Seil.“

Dann beobachteten sie, wie Cass das Seil schwang und warf. Da es jedoch zu leicht war, fiel es in der Mitte des Flusses herab und wurde sofort von der Strömung davongetragen. Die Männer holten es wieder ein, dann versuchte sie es noch einmal. Diesmal flog es weiter und landete nur wenige Meter außerhalb von Mimis und Rafes Reichweite im Wasser.

„Sie müssen das Seil irgendwie beschweren“, meinte Rafe.

Genau das hatte Cass offenbar vor. Sie suchte etwas in einem der mitgebrachten Rucksäcke und befestigte es sorgfältig an dem Seil. Als sie das Seil erneut warf, schwirrte es hinüber, gefolgt von einem Triumphgeschrei, als es den Fluss überquerte und sicher am anderen Ufer landete.

Mimi rannte darauf zu, doch Rafe war schneller. Gemeinsam machten sie sich schließlich daran, es fest um einen kräftigen Baumstamm zu wickeln und festzuknoten.

Mit dem nächsten Anruf erteilte Cass weitere Anweisungen, die Mimi an Rafe weitergab. Ein weiteres Seil wurde herübergezogen und gesichert, zusammen mit Haken und einem Flaschenzug.

„Woher sie das bloß alles hat?“ Mimi erkannte, dass es sich um starke, hochwertige Nylonseile handelte.

„Sieht aus wie eine Bergsteiger-Ausrüstung.“ Mit einem stabilen Haken befestigte Rafe das Seil um den Baumstamm. „Das hier ist ein Karabinerhaken.“

Nachdem er die Stabilität der Verankerung geprüft hatte, winkte er der Gruppe am anderen Ufer zu. Kurz darauf bewegte sich die Notfalltasche erst langsam, dann immer schneller über die Wasseroberfläche. Eine kleine Pause entstand, als die Tasche abgenommen wurde, dann kam der Flaschenzug zurück.

Mimi blickte auf das Wasser, das ein paar Meter weiter in wilden Strudeln über schroffe Felsen schoss. Obwohl sie Angst hatte, legte sie die Hände wie einen Trichter um den Mund und schrie hinüber: „Habt ihr ein Gurtgeschirr?“

Cass schien sie nicht zu hören, doch Rafe schüttelte abwehrend den Kopf. „Lass es.“

Rasch befestigte er auch die zweite Tasche an dem Seil. Während es auf die gegenüberliegende Seite gezogen wurde, zerrte er prüfend an den Seilen, die sie an dem Baumstamm gesichert hatten.

Autor

Annie Claydon

Annie Claydon wurde mit einer großen Leidenschaft für das Lesen gesegnet, in ihrer Kindheit verbrachte sie viel Zeit hinter Buchdeckeln. Später machte sie ihren Abschluss in Englischer Literatur und gab sich danach vorerst vollständig ihrer Liebe zu romantischen Geschichten hin. Sie las nicht länger bloß, sondern verbrachte einen langen und...

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