Baccara Exklusiv Band 191

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EIN MILLIONÄR UND HERZENSDIEB von HEIDI BETTS
Lily sollte Nigel Statham hassen! Schließlich gehört ihm die Modefirma, die ihre Entwürfe gestohlen hat. Doch seit Lily unter falschem Namen als Nigels persönliche Assistentin arbeitet, um dem Dieb auf die Spur zu kommen, liegt zwischen ihnen diese erotische Spannung in der Luft …

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  • Erscheinungstag 06.03.2020
  • Bandnummer 191
  • ISBN / Artikelnummer 9783733726751
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Heidi Betts, Andrea Laurence, Tessa Radley

BACCARA EXKLUSIV BAND 191

1. KAPITEL

Unmöglich. Das konnte einfach nicht sein!

Lily Zaccaro vergrößerte das Browserfenster, beugte sich vor und musterte das Bild auf ihrem Laptop ganz genau. Dann verkleinerte sie das Browserfenster wieder und öffnete ein neues.

Verflixt!

Browserfenster folgte auf Browserfenster. Und Lilys Blutdruck stieg höher und höher.

Als sie genug zusammen hatte – so viel, wie sie gerade noch ertragen konnte –, druckte sie ihre Fundstücke aus. Beweise. Alles Beweise, die sie noch gut würde brauchen können.

Nachdenklich legte sie die ausgedruckten Bilder nebeneinander. Je länger sie sie musterte, desto heftiger pochte ihr Herz. Es war eindeutig: Jemand stahl ihre Entwürfe!

Aber wie hatte das nur passieren können?

Nervös drehte sie den Ring an ihrem rechten Mittelfinger. Sie schloss die Augen, öffnete sie wieder und musterte erneut die Bilder.

Natürlich waren einige Details verändert. Es waren keine Eins-zu-eins-Kopien. Aber es bestand kein Zweifel, dass Lilys Originalentwürfe für diese Kleider Pate gestanden hatten!

Um ganz sicherzugehen, dass sie sich nichts einredete – oder dass sie verrückt wurde –, ging Lily zum Aktenschrank, in dem sie ihre alten Entwürfe archivierte. Egal ob verworfen oder überarbeitet – sie bewahrte alles auf. Es dauerte nicht lange, bis sie die gesuchte Mappe gefunden hatte. Sie nahm sie mit hinüber zum Tisch, auf dem die ausgedruckten Bilder lagen.

Sie zog die Entwürfe heraus, einen nach dem anderen. Die Entwürfe, an denen sie im vergangenen Frühjahr gearbeitet hatte. Die Entwürfe, nach denen sie und ihre Schwestern die nächste Herbstkollektion produzieren wollten.

Sie schob die Blätter auf dem großen Tisch hin und her, bis sie zu jedem das Gegenstück unter den ausgedruckten Bildern gefunden hatte. Die Ähnlichkeiten waren so frappierend, dass ihr übel wurde.

Sie musste sich am Tisch festhalten, weil ein Schwindelgefühl sie überkam. Vor ihren Augen verschwamm alles.

Lily atmete tief durch, bis es ihr wieder etwas besser ging. Unablässig hämmerte eine einzige Frage in ihrem Hirn: Wie hatte das passieren können?

Sie zermarterte sich den Kopf. Wer hatte denn Zugang zu ihren Entwurfsskizzen gehabt? Wie viele Leute waren im Atelier gewesen? Auf jeden Fall nicht allzu viele.

Zoe und Juliet natürlich – aber die beiden schieden als Tatverdächtige von vornherein aus. Ihre Schwestern würden ihr ja wohl kaum in den Rücken fallen! Die drei hatten sich gemeinsam in dem New Yorker Apartmenthaus eingemietet; in einem der Lofts wohnten sie gemeinsam, in einem anderen befanden sich die Ateliers für ihre gemeinsame Firma Zaccaro Fashions.

Natürlich gingen sich die drei manchmal gegenseitig auf die Nerven, aber im Großen und Ganzen lief ihre Partnerschaft überraschend gut. Lily zeigte ihren Schwestern all ihre Entwürfe, bat sie manchmal auch um Rat. Und ihre Schwestern hielten es ebenso.

Sie hatten eine gemeinsame Firma, zogen an einem Strang – und vor allem waren sie Schwestern. Da war es hundertprozentig sicher, dass sie sich nicht gegenseitig ausspionierten oder betrogen.

Wer also sonst konnte der Spion gewesen sein? Gelegentlich kam mal jemand ins Atelier, aber wirklich nicht sehr oft. Geschäftsbesuch empfingen die Schwestern meistens im offiziellen Hauptsitz von Zaccaro Fashions, der in Manhattan lag. Dort gab es nicht nur Büroräume, sondern auch eine kleine Boutique und Räumlichkeiten für die angestellten Näherinnen.

Die Schwestern hatten schon Pläne gehabt, das Unternehmen zu vergrößern. Aber das würde wohl ein Wunschtraum bleiben, wenn ständig jemand ihre Entwürfe stahl und die Nachahmung noch vor dem Original auf den Markt brachte.

Lily packte die Blätter auf dem Tisch zusammen. Dann ging sie unruhig auf und ab und grübelte.

Was konnte sie nur machen?

Wenn sie bloß eine Ahnung hätte, wer dahintersteckte! Oh, dem Typen würde sie es zeigen! An Rachefantasien fehlte es ihr nicht …

Aber sie hatte nicht den Hauch einer Idee, wer der Spion sein konnte. Wo sollte sie da ansetzen?

Vielleicht hätten ihre Schwestern eine Idee. Aber die wollte Lily am liebsten aus dieser Sache raushalten.

Sie fühlte sich verantwortlich, weil sie die Gründerin des gemeinsamen Unternehmens gewesen war – damals noch allein. Sie hatte ein Designstudium mit Schwerpunkt Mode abgeschlossen und dann ihre Eltern um ein Darlehen gebeten, um das Geschäft aufbauen zu können. Ihre Eltern, wohlhabende Leute, hatten sogar angeboten, ihr das Startkapital zu schenken. Aber das hatte sie abgelehnt. Sie wollte sich aus eigener Kraft etwas aufbauen, und das wollte sie nicht mit geschenktem Geld beginnen.

Ganz allein war sie dann nach New York gezogen, um sich erst einmal einen Namen zu machen. Zoe und Juliet waren ihr dann später gefolgt. Die lebenslustige Zoe war dem Ruf ihrer Schwester vor allem nachgekommen, weil sie sich für die New Yorker Partyszene interessierte; Juliet hatte ihren Job als leidlich erfolgreiche Immobilienmaklerin im heimischen Connecticut aufgegeben, um in Lilys Firma einzusteigen.

Die beiden trugen wesentlich zum Erfolg von Zaccaro Fashions bei. Die von Lily erschaffene Modekollektion kam gut an, aber es war wichtig, das Angebot von Zaccaro komplett zu machen und abzurunden – und dazu trugen Zoes Schuhe und Juliets Handtaschen und sonstiges Zubehör hervorragend bei.

Diese Zusatzartikel waren sogar profitträchtiger als die Hauptlinie. Die Kundinnen liebten es, sich nicht nur ein neues Kleid zu kaufen, sondern das gesamte Drumherum gleich mit dazu. Ein Besuch bei Zaccaro Fashions, und sie waren von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Sie kamen immer gerne wieder und empfahlen das Geschäft auch ihren Freundinnen. Zum Glück.

Von den Plagiaten war nur Lily mit ihren Kleidern betroffen, nicht ihre Schwestern mit ihren Produktlinien. Deshalb wollte Lily sie zunächst aus allem heraushalten. Sie sollten sich nicht unnötig um ihre Zukunft Sorgen machen.

Nein, sie würde es ohne ihre Schwestern durchfechten. Wenigstens so lange, bis sie Näheres wusste.

Sie setzte sich wieder an ihren Laptop und sah sich die Internetseiten mehrerer Detekteien an. Nachdem sie eine gefunden hatte, die ihr vertrauenswürdig erschien, rief sie dort an. Fünf Minuten später hatte sie einen Termin für die kommende Woche abgemacht, mit dem angeblich besten Mann der Detektei. Er würde sicher wissen, wie man in so einem Fall am besten vorging.

Als Nächstes machte sie sich daran, übers Internet so viel wie möglich über die Firma herauszufinden, die ihre Entwürfe gestohlen hatte. Das Unternehmen hieß Ashdown Abbey.

Die Modefirma saß in London, nicht etwa in den USA, und war vor über hundert Jahren von Arthur Statham gegründet worden. Sie stellte alles von Sport- bis Abendbekleidung her und wurde häufig in allen gängigen Modezeitschriften erwähnt. Weltweit verfügte sie über fünfzig Ladengeschäfte und machte jährlich über zehn Millionen Dollar Gewinn.

Warum um Himmels willen sollte eine so renommierte und erfolgreiche Firma es nötig haben, Lilys Ideen zu stehlen?

Zaccaro Fashions war ein junges Unternehmen, steckte gewissermaßen noch in den Kinderschuhen. Die Einnahmen reichten gerade aus, um die laufenden Unkosten zu decken, die monatlichen Kreditraten an Lilys Eltern zu zahlen und Juliet, Zoe und Lily ein einigermaßen vernünftiges Leben zu erlauben. Gegen Ashdown Abbey war Zaccaro Fashions nur ein Zwerg.

Die gestohlenen Entwürfe stammten, so war dem Internet zu entnehmen, nicht vom Hauptsitz, sondern von der amerikanischen Filiale von Ashdown Abbey in Los Angeles. Diese wurde, so stand es auf der Website, von Nigel Statham geleitet, einem direkten Nachfahren des legendären Arthur Statham.

Die Niederlassung in Los Angeles gab es erst seit etwa anderthalb Jahren; sie arbeitete offenbar relativ unabhängig vom britischen Hauptsitz. Sie brachte ihre eigenen Kollektionen heraus und veranstaltete eigene Modenschauen. Offenbar hielt man das für nötig, um den amerikanischen Geschmack – speziell den der Hollywood-Kundschaft – zu treffen.

Das bedeutete, nicht die gesamte Firma hatte es darauf abgesehen, Lilys Existenz zu zerstören. Nur ihr Ableger in Los Angeles.

Lily kniff die Augen zusammen und betrachtete nachdenklich das Foto von Nigel Statham auf der Homepage. Das war er also – ihr Todfeind!

Ein gut aussehender Mann, das ließ sich nicht leugnen. Nein, wirklich attraktiv, das musste sie – wenn auch zähneknirschend – zugeben. Kurzes brünettes Haar, hohe Wangenknochen, ein energisches Kinn. Volle, aber nicht zu volle Lippen. Grüne ausdrucksstarke Augen.

Eigentlich wollte sie ihn hassen, aber sein Lächeln auf dem Foto war so freundlich und verführerisch, dass es ihr nicht gelang.

Unglaublich, wie Menschen sich verstellen können, dachte sie. Wenn man ihn so sieht, käme man nie auf den Gedanken, dass er ein mieser Ideendieb ist.

Sie forschte weiter im Internet, aber das meiste, was sie über Ashdown Abbey fand, bezog sich auf den britischen Hauptsitz oder andere europäische Filialen. Der Ableger in Los Angeles schien noch auf der Suche nach dem richtigen Weg zu sein, um den Geschmack des amerikanischen Publikums zu treffen.

Lily sah auf die Uhr. Mehr konnte sie im Moment nicht tun; das Treffen mit dem Ermittler fand erst in der kommenden Woche statt. Außerdem wollte sie sich ohnehin in zwanzig Minuten mit ihren Schwestern zum Abendessen treffen.

Gerade als sie das Browserfenster schließen wollte, fiel ihr auf der Homepage noch etwas auf. „Jobchancen bei Ashdown Abbey USA“. Sie klickte die Seite an und druckte die Informationen aus.

Ihr kam eine geradezu verrückte Idee. Ob sie das wirklich durchziehen sollte …?

Wenn sie ihren Schwestern davon erzählte, würden sie es ihr mit Sicherheit ausreden wollen. Der Detektiv würde ihr davon abraten und ihr dann vorschlagen, die Sache lieber ihm zu überlassen – für einen Stundenlohn, der sicherlich mindestens hundert Dollar betrug, wenn nicht sogar noch viel mehr.

Nein, das Geld konnte sie sich eigentlich sparen. Mit ihren Kenntnissen der Modewelt würde sie gut in das Unternehmen passen und könnte dort unbemerkt herumschnüffeln. Sie musste sich nur auf den Job bewerben und einen guten Eindruck machen … und das sollte ihr nicht so schwerfallen.

Es rieselte ihr kalt den Rücken herunter. Natürlich war die Sache nicht ungefährlich! Wer wusste schon, was passieren würde, wenn sie aufflog …?

Aber die Gelegenheit war einfach zu günstig. Nein, sie musste es tun, um das Rätsel der gestohlenen Entwürfe zu lösen.

Nigel Statham suchte eine neue Assistentin – und er würde genau die richtige bekommen!

2. KAPITEL

Verärgert legte Nigel Statham den Brief seines Vaters beiseite. Brief? Eher eine schriftliche Standpauke. Er fühlte sich wieder wie ein Kind in kurzen Hosen, das für sein Versagen gerügt wurde.

Das Schreiben war mit der Post aus England gekommen. Seine Eltern hielten nicht viel von „neumodischem Zeugs“ wie E-Mails; ein solcher elektronischer Schriftverkehr erschien ihnen für Leute mit Stil zu gewöhnlich. Der Inhalt war schnell umrissen: Nigels Vater war höchst unzufrieden mit der Geschäftsentwicklung der amerikanischen Filiale, die Nigel seit anderthalb Jahren leitete. Die Gewinne ließen zu wünschen übrig.

Nigel schüttelte den Kopf. Er fühlte sich, als ob sein Vater vor ihm stand und ihn persönlich tadelte. So wie früher, als er noch ein Kind gewesen war.

Seine Eltern hatten stets hundertprozentige Leistung von ihm verlangt – und diese absurd hohen Erwartungen hatte er natürlich nicht durchgehend erfüllen können. Und was den mangelnden Erfolg der US-Filiale anging: Er war der Meinung, dass anderthalb Jahre kaum ausreichten, um das Unternehmen in einem für ihn neuen Land zum Erfolg zu führen. Rom war schließlich auch nicht an einem Tage erbaut worden, und Ashdown Abbey hatte fast hundert Jahre gebraucht, um in Großbritannien den jetzigen Status zu erreichen.

Kurz: Sein Vater hatte von Anfang an zu hohe Erwartungen gehabt. Aber es war ein Ding der Unmöglichkeit, das Mr. Statham senior begreiflich zu machen!

Aufseufzend lehnte Nigel sich zurück. Er überlegte, wie lange er die Antwort auf diesen Brief vor sich herschieben konnte, bevor sein Vater einen zweiten schickte. Oder noch schlimmer – bevor er sich entschloss, höchstpersönlich nach Los Angeles zu fliegen, um seinem Sohn auf die Finger zu schauen.

Na ja, einen Tag würde er sich wohl Zeit lassen können. Zumal er schließlich noch mehr zu erledigen hatte. Er musste nämlich schon wieder eine neue Assistentin anlernen.

Drei hatte er schon durch. Drei attraktive junge Damen, die zwar nicht unbegabt gewesen waren, denen es aber an Ernsthaftigkeit und Durchhaltewillen gefehlt hatte.

Das ist eben das Problem, wenn man im Herzen von Los Angeles eine Assistentin sucht, dachte er seufzend. Entweder man bekommt eine Möchtegern-Schauspielerin, die abspringt, sobald sie eine Nebenrolle in einem Werbespot angeboten bekommt. Oder man kriegt eine Möchtegern-Modedesignerin, die enttäuscht ist, wenn sie es nicht innerhalb eines halben Jahres zu einer eigenen Kollektion bringt.

Das Dumme war: Jede neue Assistentin musste er frisch anlernen. Am liebsten hätte er extra eine Assistentin engagiert, um neue Assistentinnen auf ihren Job vorzubereiten.

Heute würde ihm die Personalabteilung die neue Assistentin schicken; er hatte den Fachleuten die Auswahl überlassen. Die Akte mit ihren Unterlagen lag schon auf seinem Schreibtisch. Er hatte sie allerdings bisher nur einmal kurz überflogen.

Gerade als er die Mappe in die Hand nehmen wollte, klopfte es an seiner Bürotür. Kaum eine Sekunde später öffnete sich die Tür, und seine neue Assistentin – sie musste es ja wohl sein – trat ein.

Sie sah hübscher aus als auf dem Bewerbungsfoto. Ihr Haar changierte zwischen brünett und dunkelblond und war zu einem lockeren Knoten zusammengefasst, ihr Gesicht war nur dezent geschminkt. Die dunkle Brille stand ihr gut.

Sie trug eine schlichte weiße Bluse und einen schwarzen engen Rock, der etwas übers Knie reichte und fantastische Beine offenbarte, dazu ein Paar schwarz-weiße Pumps mit ziemlich hohen Absätzen. Modegeschmack hat sie auf jeden Fall, schoss es ihm durch den Kopf. Und der Rest war auch nicht übel.

„Guten Morgen, Mr. Statham!“, sagte sie freundlich lächelnd. „Ich bin Lillian, Ihre neue Assistentin. Hier ist der morgendliche Posteingang. Und wenn es Ihnen recht ist, bringe ich Ihnen jetzt den Kaffee.“

Sie legte den Briefstapel auf seinem Schreibtisch ab, verschwand durch die Tür und war kurz darauf mit einer Tasse dampfenden Kaffees zurück. Offenbar hatte sie einen Spritzer Kaffeesahne hinzugefügt, genauso wie er es liebte.

Flott und freundlich. Der erste Eindruck war schon mal gar nicht schlecht!

„Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Nein, vielen Dank, im Moment nicht“, antwortete er zögernd.

Sie nickte kurz, wandte sich um und machte sich auf den Weg zur Tür.

„Äh, Lillian …?“

Blitzschnell wandte sie sich wieder um. „Ja, Sir?“

„Sagen Sie mal, Ihre Bluse und Ihr Rock … stammen die aus der Ashdown-Abbey-Kollektion?“

Sie lächelte ihn an. „Selbstverständlich.“

Das hörte sich gut an! Hatte die Personalabteilung endlich mal einen Glücksgriff getan?

Er räusperte sich. „Sie sind nicht zufällig Schauspielerin, oder?“ Am liebsten hätte er Möchtegern-Schauspielerin gesagt, aber das hatte er sich im letzten Moment verkniffen.

Sie runzelte die Stirn. „Schauspielerin? Nein, natürlich nicht, Sir.“

„Und … haben Sie mal eine Model-Karriere in Betracht gezogen?“

Sie musste lächeln. „Nein, Sir, ganz bestimmt nicht.“

Sehr gut! Er versuchte sich die wichtigsten Punkte aus ihrem Lebenslauf ins Gedächtnis zurückzurufen. Soweit er sich erinnerte, hatte sie nicht nur einen Abschluss in Design, sondern auch Business-Erfahrung.

Auf dem Papier sah das sehr gut aus, aber er wusste, dass viele Bewerber ihren Lebenslauf recht fantasievoll aufhübschten.

„Gibt es einen besonderen Grund, dass Sie sich bei einem Modeunternehmen beworben haben?“

„Der Job passt zu meiner Ausbildung. Und außerdem“ – sie lächelte entwaffnend – „interessiere ich mich auch privat sehr für Mode. Ist doch toll, wenn man schon früher als der Rest der Welt an die neueste Kollektion kommt.“

Jetzt lächelte auch er, fast gegen seinen Willen. „Dann sind Sie bei uns goldrichtig. Unsere Mitarbeiter bekommen nämlich einen großzügigen Rabatt.“

„Ich weiß“, erwiderte sie schelmisch lächelnd.

„Ich merke schon, Sie haben sich gut über uns informiert“, kommentierte er. „Das gefällt mir.“

Natürlich würde die junge Dame sich erst noch im Alltag bewähren müssen, aber der erste Eindruck war wirklich mehr als positiv. Sie sah nicht nur gut aus, sie hatte auch Grips!

„Ich nehme an, Ihre Vorgängerin hat Sie schon kurz eingewiesen. Ganz wichtig ist, dass Sie sich mit meinem Terminplan vertraut machen. Möglicherweise gibt es einige Meetings und Events, zu denen Sie mich begleiten müssen. Das ist dann jeweils neben dem Termin vermerkt, bitte achten Sie darauf. Und bitte schauen Sie im Laufe des Tages immer wieder auf den Plan. Ich habe nämlich die Angewohnheit, dort spontan und ohne Vorwarnung etwas zu ändern.“

Er nippte an seinem Kaffee. Genau richtig! Nicht zu viel Kaffeesahne, nicht zu wenig.

„Regelmäßig auf den Terminplan schauen. Wird gemacht, Sir.“

„Vielen Dank. Das wäre im Moment alles.“

Wieder wandte sie sich zum Gehen. Und wieder hielt er sie im letzten Moment zurück.

„Ach, und noch etwas, Lillian.“

Sie wandte sich zu ihm um. „Ja, Sir?“

„Der Kaffee ist richtig gut. Ich hoffe, für Tee sind Sie ebenso begabt.“

„Ich werde mir Mühe geben.“

Sie verließ das Büro und schloss die Tür hinter sich. Nigel lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und lächelte versonnen.

Kaum war die Tür zu Nigel Stathams Büro ins Schloss gefallen, begannen Lilys Knie zu zittern. Sie schaffte es gerade noch zu ihrem Sekretärinnenschreibtisch und ließ sich auf den Stuhl fallen.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Die erste Runde in ihrer falschen Identität hatte sie überstanden. Aber es würden noch viele weitere folgen …

Lillian. Eigentlich fand sie den Namen ziemlich daneben. Aber es musste ja ein Name sein, auf den sie automatisch reagierte. Und da hatte sich eine Kombination ihrer beiden Vornamen – Lily und Ann – förmlich aufgedrängt.

Für ihren falschen Nachnamen hatte sie Kindheitserinnerungen bemüht. George – so hatten ihre Schwestern und sie ihren ersten Hund genannt. Ein träger, gutmütiger Basset, den ihr Vater herrenlos auf dem Parkplatz aufgelesen hatte.

Ihre Mutter war von dem Familienzuwachs überhaupt nicht begeistert gewesen, bis sie feststellte, dass George Himmel und Hölle zusammenbellte, wenn ein Fremder das Grundstück betrat. Seitdem schätzte sie ihn als Wachhund und schloss ihn in ihr Herz.

Lily war also ab sofort Lillian George. Lillian … oje, in ihren Ohren hörte sich das eher nach einer biederen Bibliothekarin um die fünfzig an.

Irgendwie fühlte sie sich auch so. Wenigstens was ihre Kleidung anging. Sie liebte es flott, pfiffig, farbenprächtig. Nicht so eintönig, wie sie jetzt gekleidet war. Aber für ihren Job bei Ashdown Abbey wollte sie seriös wirken. Obendrein wollte sie sich so weit wie möglich von ihrem wahren Ich unterscheiden, damit man sie nicht mit Zaccaro Fashions in Verbindung brachte.

Falscher Name, anderes Outfit, Brille, dunkler getöntes Haar – sie konnte nur beten und hoffen, dass das als Tarnung reichte.

In dieser Hinsicht kam es ihr auch zugute, dass Zaccaro Fashions noch nicht so bekannt war. Ihre Schwestern und sie gehörten nicht gerade zu den Menschen, auf die die Fotografen sich stürzten. Sicher, gelegentlich tauchten sie mal in den Zeitungen auf, aber dann eher, weil ihre Familie so wohlhabend war. Als Besitzerinnen eines Modeunternehmens waren sie öffentlich bisher kaum in Erscheinung getreten.

Allmählich begann Lily sich zu beruhigen. War doch alles gut gelaufen bisher! Die Personalabteilung hatte sie eingestellt, der Chef hatte sie gesehen und offenbar für gut befunden. Auf jeden Fall hatte er ihren kleinen Schwindel nicht aufgedeckt.

Alles lief ganz normal, soweit sie es beurteilen konnte.

Wie ruhig es hier war! Bei Zaccaro Fashions hätte man jetzt Stimmen, Lachen, das Surren von Nähmaschinen gehört. Aber nicht hier. Hier, in diesem Multi-Millionen-Dollar-Unternehmen, waren natürlich Verwaltung und Produktion strikt getrennt.

Die Stille kam ihr plötzlich fast verdächtig vor. Das Surren von Nähmaschinen hätte sie beruhigt. Aber das gab es hier ja nicht. Nur diese Stille …

Reiß dich zusammen, Lily, ermahnte sie sich. Nigel Statham glaubt, du bist seine neue Assistentin, also benimm dich gefälligst auch so.

Sie beschloss, sich mit dem Computer zu beschäftigen. Zwar hatte ihre Vorgängerin ihr das Betriebssystem erklärt, aber es gab bestimmt einige Tricks und Feinheiten, die sie sich noch aneignen musste.

Und ganz wichtig: der Terminplan des Chefs! Den musste sie immer im Auge behalten, damit sie nicht von unangekündigten Änderungen überrascht wurde.

Plötzlich musste sie an ihre Schwestern denken, und das schlechte Gewissen regte sich. In den Tagen zwischen ihrer Bewerbung und ihrer Einstellung bei Ashdown Abbey hatte sie ihnen nichts von der ganzen Sache erzählt, und als sie überraschend früh ihren Job hatte antreten können, hatte sie ihnen nur einen Brief hinterlassen. Darin hatte sie ihnen beschieden, dass sie sich um eine persönliche Angelegenheit kümmern müsse. Es könne einige Zeit dauern, aber sie sei auf keinen Fall in Gefahr. Die Schwestern sollten sich keine Sorgen machen und auch nicht versuchen, sie aufzuspüren. Sie würde sich so bald wie möglich mit ihnen in Verbindung setzen.

Lily konnte nur hoffen, dass ihre Schwestern sich wirklich keine Sorgen machten. Aber sie war einfach noch nicht bereit, ihnen alles zu erzählen. Eines Tages würde sie es natürlich tun. Bei einer guten Flasche Wein. Und sie würden sich sicher köstlich darüber amüsieren.

Wenn alles gut ausging.

Falls alles gut ausging.

Bevor sie ihren Job angetreten hatte, hatte sie sich mit dem Detektiv Reid McCormack getroffen. Er sollte heimlich alle Angestellten von Zaccaro Fashions überprüfen. Lily glaubte zwar nicht, dass dabei etwas herauskam, aber sicher war sicher.

Sie hatte dem Detektiv gesagt, dass sie eine Zeit lang nicht in der Stadt wäre, ihn aber einmal in der Woche anrufen würde, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Das war sicherer, als wenn er sie zu erreichen versuchte. Ob im Apartment der Schwestern oder auf ihrem Handy, während sie in ihrer geheimen Mission unterwegs war – das konnte nur zu Komplikationen führen.

Im Stillen hoffte sie, dass der Detektiv nichts Negatives herausfinden würde. Denn es würde sie sehr schmerzen, wenn herauskam, dass jemand aus ihrem engen Umfeld sie hintergangen hatte.

Aber bis zum ersten Austausch mit dem Detektiv war es noch lange hin. Jetzt musste sie sich erst einmal auf ihren neuen Job und ihre eigenen Nachforschungen konzentrieren.

Sie vertiefte sich in Nigels Terminkalender. Heute schien ein relativ ruhiger Tag für ihn zu sein. Die meiste Zeit würde er im Büro verbringen. Er hatte eine Verabredung zum Mittagessen und nachmittags ein Gespräch per Konferenzschaltung, aber es war kein Termin dabei, zu dem Lily ihn hätte begleiten müssen. Zum Glück! Denn jedes Zusammentreffen mit Personen aus der Modebranche barg die Gefahr, dass jemand sie erkannte.

Vorsorglich sah sie sich auch gleich noch die Termine für den Rest der Woche an und nahm sich vor, sie in ein paar Stunden erneut zu checken. Wie Nigel Statham gesagt hatte – es konnte sich jederzeit ohne Vorankündigung etwas ändern!

Zu ihrer Ernüchterung musste sie feststellen, dass sie sich durchaus nicht mit allen Programmen und Anwendungen auf dem Computer auskannte. Sie konnte nur hoffen, dass nicht gleich zu viel Schwieriges auf sie einstürmen würde – oder dass das Unternehmen sie noch einmal nachschulte.

Immerhin war sie mit den Grafikprogrammen vertraut; das war ihr Fachgebiet, und das würde ihr hoffentlich helfen, dem Dieb ihrer Entwürfe auf die Spur zu kommen.

Sicher war das allerdings nicht. Obendrein war völlig unklar, ob Nigel überhaupt von dem geistigen Diebstahl wusste. Ob er wissentlich daran beteiligt war oder nicht.

Hatte er vielleicht einen Maulwurf in ihr Unternehmen eingeschleust? Oder – weniger schlimm, aber immer noch schlimm genug – hatte er die ihm vorgelegten Entwürfe abgenickt, obwohl er erkannt hatte, dass sie auf Plagiaten beruhten? Beides war denkbar, obwohl sie hoffte, dass es nicht so war. Es widerstrebte ihr einfach zu glauben, dass ein so attraktiver Mann mit einem so verführerischen britischen Akzent nur aus Profitgier so tief sinken würde. Obwohl es natürlich andererseits mit Sicherheit noch viel attraktivere Menschen gab, die noch viel schlimmere Untaten begangen hatten.

So etwas kam jeden Tag vor, überall auf der Welt, und die Tatsache, dass ein Mann gut aussah und bereits Millionär war, war keine Garantie dafür, dass er sich nicht zu geistigem Diebstahl hinreißen lassen würde, um noch ein paar Millionen mehr zu scheffeln.

Nicht dass sie jemals mit einem ihrer Entwürfe eine Million verdient hätte! Aber das Potenzial war da. Natürlich nur, wenn andere Firmen und Designer nicht ihre Ideen klauten.

Mit ein paar Mausklicks suchte sie sich zusammen, was sie im Firmen-Computernetzwerk über die California Collection finden konnte – die Kollektion von Ashdown Abbey, die ihre gestohlenen Entwürfe enthielt, nur leicht abgewandelt und mit anderen Stoffen. Allein der Gedanke daran brachte ihr Blut schon wieder zum Kochen vor Wut!

Sie klickte sich durch die Kollektion. Die Sachen waren wirklich gut ausgearbeitet – natürlich nicht so gut, als wenn Lily sie von Anfang bis Ende betreut hätte, aber auf jeden Fall nicht übel. Größtenteils waren es Kleider, die auf das fast ganzjährig gute Wetter von Kalifornien abgestimmt waren.

Nicht alle Kleider der Kollektion waren von Lilys Entwürfen kopiert. Aber das tröstete sie wenig; im Gegenteil, es konnte sich sogar zu ihrem Nachteil auswirken, falls sie in der Angelegenheit wirklich vor Gericht ging.

So konnte nämlich der Anwalt der Gegenseite argumentieren, es gebe nur bei einem Teil der Kollektion Ähnlichkeiten, und das sei auf reinen Zufall zurückzuführen. Und wer wusste schon, wie ein Richter die Angelegenheit dann beurteilte?

Sie klickte sich weiter durch den Computer. Schließlich fand sie eine weitere Grafikdatei, die Entwürfe enthielt – Entwürfe für die letzten, noch nicht fertiggestellten Stücke der California Collection.

Sie waren digital erstellt. Lily hatte auch so ein Grafikprogramm, aber sie entwarf ihre Kleider immer noch am liebsten mit Stift und Papier; das kam ihr nicht so steril vor. Doch digital oder nicht – was sie viel mehr faszinierte, war die Tatsache, dass diese Entwürfe signiert waren. Offenbar arbeitete Ashdown Abbey mit verschiedenen Designteams, statt eine ganze Kollektion von einem einzigen Modeschöpfer entwickeln zu lassen.

Eine weitere Suche auf dem Computer brachte eine Liste aller Designer zutage, die an der California Collection mitgearbeitet hatten, komplett mit Jobbezeichnungen und Listen früherer Projekte. Perfekt, genau das, was sie gesucht hatte! Sie checkte, ob der Drucker angeschlossen war, und druckte sich dann die Listen aus.

Leise surrend erledigte der Drucker seine Arbeit. Das kaum hörbare Geräusch kam Lily unendlich laut vor. Sie hatte entsetzliche Angst, erwischt zu werden.

Plötzlich ertönte ein Summen. Woher kam es nur? Voller Panik blickte Lily sich um. Ah, das Telefon! Dort blinkte ein Knopf. Wahrscheinlich die Gegensprechanlage vom Chefzimmer aus – der heiße Draht von und zu Nigel Statham!

Sie fühlte sich wie ein ertappter Dieb, als sie das Knöpfchen drückte, um das Gespräch entgegenzunehmen.

„Ja, Sir …?“, fragte sie mit zitternder Stimme.

„Kommen Sie bitte mal kurz zu mir rein?“

Dann war nichts mehr zu hören. Es dauerte einige Sekunden, bis Lily klar wurde, dass Statham einfach aufgelegt hatte, ohne auf ihre Antwort zu warten.

Blitzschnell schnappte sie sich die ausgedruckte Liste, faltete sie mehrfach und versteckte sie in der Tasche ihres Rocks. Dann ging sie auf die Tür zu Stathams Büro zu. Sie konnte nur hoffen, dass sie in der Höhle des Löwen keine böse Überraschung erwartete!

Sicherheitshalber klopfte sie einmal zaghaft, dann öffnete sie die Tür und trat ein.

Nigel war gerade dabei, sich Notizen zu machen. Nun hob er den Kopf und sah sie an. Sie stand hinter einem der Besuchersessel und wartete.

„Haben Sie heute Abend schon etwas vor?“, fragte er.

Mit so etwas hatte sie am allerwenigsten gerechnet! Völlig verblüfft stand sie da und sah ihn an. Sie brachte kein Wort hervor.

„Ich könnte Sie heute Abend nämlich brauchen“, fuhr er fort. „Ich treffe mich zum Abendessen mit einem Designer, der für unsere Firma interessant sein könnte, und ich dachte mir, es wäre schön, wenn Sie dabei wären. Das hilft Ihnen sicherlich auch bei der Einarbeitung.“

„Geht in Ordnung“, sagte sie.

Nigel nickte kaum merklich. „Fein. Sie können nach Feierabend erst nach Hause fahren und sich umziehen. Ich hole Sie dann um acht ab. Ihre Adresse habe ich ja in den Unterlagen.“

Schon vertiefte er sich wieder in die Arbeit, ohne Lily noch eines Blickes zu würdigen.

„Alles klar, Sir“, sagte sie etwas ratlos. Dann verließ sie das Büro.

Ihr schwirrte der Kopf, als sie sich wieder an ihren Schreibtisch setzte. Es war ihr erster Tag hier, und die Ereignisse überschlugen sich geradezu! Immerhin hatte sie schon die Liste der Designer, die als Ideendiebe infrage kamen, und das war mehr, als sie sich erhofft hatte. Aber dass sie gleich den ersten Abend zusammen mit ihrem Chef verbringen würde – damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.

Es ist ja nur ein Geschäftsessen, versuchte sie sich zu beruhigen. Ich bin ja nicht allein mit ihm. Trotzdem … so nah wollte ich ihm eigentlich gar nicht kommen.

Immerhin konnte der Mann ihr verflixt gefährlich werden!

Nicht nur, dass er sie ruinieren konnte, wenn er weiterhin ihre Entwürfe stahl oder stehlen ließ. Wenn er herausfand, dass sie unter falschem Namen in seinem Unternehmen spionierte, konnte er sie vor Gericht bringen. Und dann könnte sie tausendmal beteuern: „Er hat aber angefangen!“ – es würde ihr nichts nützen.

3. KAPITEL

Es war fünf Minuten vor acht, und Lily lief immer noch unruhig in ihrem Apartment hin und her. Sie war noch nicht ganz fertig, und Nigel Statham würde gleich kommen!

Sie war ja gerade erst in dieses Apartment gezogen, das sie für ihre zweite Identität angemietet hatte, und hatte nur das Nötigste aus New York mitgebracht. Das Apartment war klein und schlicht eingerichtet; es sollte ihr nur eine Übernachtungsmöglichkeit bieten, während sie inkognito bei Ashdown Abbey arbeitete.

Sie hatte ja nie damit gerechnet, dass ihr Chef – der oberste Boss der amerikanischen Niederlassung – bei ihr vorbeischauen würde, um sie zum Abendessen abzuholen!

An schicke Abendgarderobe hatte sie überhaupt nicht gedacht. Nachdem sie hier angekommen war, hatte sie ihren Kleiderschrank ausschließlich mit Ashdown-Abbey-Kleidung gefüllt, die zur Arbeit im Büro passte. So erweckte sie von vornherein den Eindruck, zur Firma zu gehören. Ein Abendkleid oder Ähnliches hatten nicht auf ihrer Shoppingliste gestanden.

Natürlich, sie würde auch einfach tragen können, was sie tagsüber schon angehabt hatte – Rock und Bluse. Schließlich nahm sie an diesem Abendessen als Nigels Assistentin teil, da konnte es nicht verkehrt sein, wenn sie auch so aussah.

Andererseits hatte Nigel für das Geschäftsessen sicher ein piekfeines Restaurant ausgesucht, und da wollte sie nicht als schlecht gekleidet auffallen. Nicht dass man sie noch mit einer Kellnerin verwechselte!

Schließlich glaubte sie, das Beste aus der begrenzten Auswahl gemacht zu haben. Prüfend betrachtete sie sich im Spiegel.

Wieder ein schwarzer Rock, aber kürzer und mit einem sexy Schlitz. Dazu eine blaue Bluse. Um das Ganze noch etwas aufzupeppen, legte sie funkelnde Ohrringe und eine Kette an. Dazu kamen hochwertige Pumps.

Schnell packte sie noch ihr Handy in die Handtasche, und schon klingelte es an der Tür. Sie zuckte zusammen.

Auf keinen Fall wollte sie, dass Nigel einen Blick in die Wohnung warf. Schließlich hatte sie in ihrer Bewerbung behauptet, schon seit einigen Jahren in der Stadt zu wohnen, und danach sah das spärlich und unpersönlich eingerichtete Apartment nun wirklich nicht aus. Also öffnete sie die Tür nur einen Spalt und huschte hinaus.

Kaum war sie auf dem Flur, schloss sie die Tür zu. Nigel lächelte sie an und musterte sie prüfend. Das machte sie ganz nervös!

Er duftete verführerisch. Welches Parfüm er wohl benutzte? Sie kannte es nicht, aber es gefiel ihr ausnehmend gut.

Jetzt mochte sie auch noch seinen Duft! Genügte es nicht, dass sie ihn verflixt attraktiv fand? Andererseits konnte sie nichts daran ändern – denn er war nun einmal attraktiv, das war eine Tatsache. Das konnte niemand leugnen.

Schön, er sah gut aus und hatte guten Geschmack, was die Auswahl seines Parfüms anging. Na und? Das galt für viele Menschen, wobei sie sich selbst nicht ausnahm. Auch sie machte etwas her und wusste, welches Parfüm zu ihr passte.

Nigel musterte sie immer noch. Dann sagte er: „Kompliment, Sie sehen fantastisch aus. Können wir gehen?“

„Ja.“

Zu ihrer Überraschung bot er ihr seinen Arm an. Dies geschah nicht als romantische Geste, sondern aus reiner Höflichkeit. Nach kurzem Zögern hakte sie sich bei ihm ein und ließ es zu, dass er sie die Treppe zum Erdgeschosses hinunterführte.

Donnerwetter, ein Kavalier der alten Schule! Ein Amerikaner hätte sich wahrscheinlich nicht so gentlemanlike verhalten, dachte sie. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Nigel Brite ist. Oder woran sonst? Auf jeden Fall gefiel es ihr. Fast schon zu sehr.

Als sie ins Freie traten, begrüßte sie eine frische Brise. Die Abendluft war kühl, aber nicht zu kalt. Ein silberfarbener Bentley stand an der Straße, und Nigel hielt ihr die Tür zum Rücksitz auf und ließ sie einsteigen.

Eigentlich hatte sie durchrutschen wollen, um für ihn Platz zu machen, aber zwischen den beiden Rücksitzen befand sich eine Armlehne, und vor dem zweiten Rücksitz war vom Vordersitz aus ein Klapptablett heruntergelassen, auf dem ein geöffneter Laptop ruhte.

Während sie immer noch das luxuriöse Interieur des prächtigen Autos bestaunte, hatte er den Wagen umrundet und stieg auf seiner Seite ein. Schnell klappte er den Laptop zu und schob das Klapptablett nach oben.

„Tut mir leid für die Unordnung“, sagte er und stellte den Laptop auf den Boden neben seinen Aktenkoffer.

Sie saß da und wusste nichts zu sagen. Er schob nun auch die Armlehne zwischen den beiden Sitzen hoch und beugte sich über sie, um ihren Sicherheitsgurt herauszuziehen und einrasten zu lassen.

Dabei berührte er unabsichtlich ganz leicht mit dem Arm ihre Brüste. Ein heißes Gefühl, das so gar nicht zum bestehenden Angestelltenverhältnis passte, durchfuhr sie. Sie bemühte sich, ganz stillzusitzen, bis diese Anwandlung vorüber war.

Nigel ahnte natürlich nicht, was er mit seiner unschuldigen Geste der Hilfsbereitschaft bei ihr ausgelöst hatte. Und sie konnte nur hoffen, dass er es auch nie erfuhr.

Sie bemühte sich, ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. „Vielen Dank“, sagte sie und zog probehalber am Sicherheitsgurt, um zu demonstrieren, dass sie durchaus noch zu normalen menschlichen Reaktionen fähig war. Um die Peinlichkeit der Situation zu überspielen, fügte sie hinzu: „Sieht so aus, als hätten Sie noch Überstunden gemacht.“ Zu ihrer Beruhigung stellte sie fest, dass ihre Stimme fest und keineswegs zittrig klang.

Er lehnte sich auf seinem Sitz zurück und atmete tief durch. „Überstunden? Gibt’s in diesem Job nicht. In meiner Position muss ich sowieso vierundzwanzig Stunden am Tag im Dienst sein.“

Lily wusste nur zu gut, was er meinte. Sie hatte ja selbst rund um die Uhr gearbeitet, um das Modelabel Zaccaro zu etablieren. Und auch nachdem ihre beiden Schwestern mit eingestiegen waren, war die Arbeitsbelastung nicht gesunken. Der einzige Unterschied war, dass sie sich nun zu dritt die Nächte um die Ohren schlugen.

Ihre Boutique war eröffnet, sie produzierten ständig neue Ware – es war eine Tretmühle, aus der man nicht so einfach herauskam. Und es wurde nicht besser dadurch, dass sich die Wohnung und der Arbeitsbereich an einem Ort befanden.

„Ein paar Dinge sollten Sie über unser Arbeitsessen noch wissen“, sagte Nigel, und sein englischer Akzent klang wie Musik in ihren Ohren. Er passte wunderbar zu seinem distinguierten Aussehen. „Wir treffen uns mit einem Modedesigner, der zurzeit noch bei Vincenze arbeitet, aber gerne zu Ashdown Abbey wechseln würde – in einer höheren Position.“

Lily war beeindruckt. Vincenze war ein sehr großes, sehr erfolgreiches Modeunternehmen. Hätte sie sich nicht dafür entschieden, selbst eine Firma aufzubauen, hätte sie liebend gern für Vincenze gearbeitet. Doch heute Abend würde sie jemanden kennenlernen, der bereit war, Vincenze zu verlassen – um zu Ashdown Abbey zu gehen!

Ihr Erstaunen darüber bedeutete nicht, dass Ashdown Abbey schlechter oder weniger erfolgreich als Vincenze war. Beide Firmen behaupteten sich sehr gut am Markt. Aber Ausrichtung und Stil der beiden Unternehmen waren doch sehr unterschiedlich, und nach ihrer Einschätzung war es für einen Modedesigner nicht so einfach, sich von der einen Linie auf die andere umzustellen. Das würde Zeit und eine gewisse Lernbereitschaft erfordern.

Aber das sollte nicht ihr Problem sein; schließlich war sie nur die Assistentin. Deshalb fragte sie: „Mir ist irgendwie noch nicht ganz klar, was meine Rolle heute Abend ist.“

„Hören Sie einfach nur zu“, riet er ihr freundlich lächelnd. „Das wird Ihnen helfen, sich bei uns einzuarbeiten.“

Jetzt grinste er verschmitzt. „Um ehrlich zu sein, ich habe Sie zu dem Arbeitsessen eingeladen, damit ich nicht mit diesem Typen allein da herumsitzen muss. Diese Arbeitsessen sind oft eine entsetzlich öde Angelegenheit. Vor allem wenn ein Jobbewerber ständig seine Vorzüge herunterleiert. Wie toll er ist, was er alles schon geleistet hat und so weiter und so weiter.“

Nun musste auch Lily lächeln. Sie wusste genau, was Nigel meinte. In der Modebranche wimmelte es nur so von Egomanen und Angebern. Sie selbst hoffte zwar von sich, dass sie nicht so war, aber grundsätzlich gehörte wohl tatsächlich ein gewisses Maß an gesundem – oder auch ungesundem – Selbstbewusstsein dazu, die eigenen schöpferischen Ideen vor der Welt zu vertreten.

„Vielleicht sollten wir ein geheimes Zeichen vereinbaren, wenn der Typ Sie zu langweilen beginnt“, schlug sie vor. „Wenn ich Ihr Signal sehe, lenke ich das Gespräch dann geschickt in eine andere Richtung. Zum Beispiel über die globale Erwärmung.“

Jetzt lächelte Nigel noch mehr. Seine weißen Zähne blitzten hervor. „Die globale Erwärmung?“, fragte er amüsiert.

„Ja, ein sehr wichtiges Thema“, sagte sie ernst. „Wenn’s drauf ankommt, kann ich bestimmt mindestens eine Stunde darüber reden.“

Er nickte bedächtig und biss sich gleichzeitig auf die Unterlippe, wie um ein Lachen zu unterdrücken. „Hm, das wäre vielleicht gar nicht so schlecht.“

„Dachte ich mir doch.“

„Was würden Sie denn als geheimes Zeichen vorschlagen?“

Sie dachte einen Moment nach. „Sie könnten an Ihrem Ohrläppchen zupfen“, schlug sie vor. „Oder Sie treten unter dem Tisch gegen mein Knie. Oder wir verabreden ein Codewort.“

„Ein Codewort …“, wiederholte er und zog eine Augenbraue hoch. „Das hört sich ja richtig nach 007 an.“

Was für ein passender Vergleich, dachte sie. Denn er erinnert mich tatsächlich ein bisschen an James Bond. Der ist ja schließlich auch Brite. Und auch sehr sexy …

Sie zuckte mit den Schultern. „Spione haben eben für alle Lebenslagen eine Lösung parat. Aber wenn Ihnen so ein Trick zu abgehoben ist … Sie können sich natürlich auch stundenlang von einem langweiligen Jobbewerber ein Ohr abkauen lassen.“

Oje, das war ihr so herausgerutscht! Eigentlich ein bisschen zu frech und flapsig für jemanden, der seinen Job noch nicht einmal zwölf Stunden lang hatte. Obendrein hätte sie den Faden mit der Spionage nicht aufgreifen sollen. Denn genau genommen war sie ja auch als Spionin in seine Firma eingetreten – und mit diesem Thema sollte er sie lieber nicht in Verbindung bringen.

Doch nun nickte Nigel zustimmend; er schien nicht verärgert zu sein. „Sie haben recht, wir brauchen einen Fluchtplan, um den Abend notfalls schnell beenden zu können. Ich könnte Sie zum Beispiel fragen, ob Ihre Kopfschmerzen vom Nachmittag weg sind. Dann können Sie sagen, dass es eher schlimmer geworden ist und Sie nach Hause müssen, um sich hinzulegen.“

„Gute Idee.“ Auf jeden Fall besser, als eine Stunde lang einen Vortrag über die globale Erwärmung zu halten.

„Und falls Sie anfangen sich zu langweilen“, fuhr er fort, „können Sie mich fragen, ob ich noch einen Martini möchte. Dann werde ich ablehnen und sagen, dass wir allmählich losmüssen, weil ich gleich morgen früh einen wichtigen Termin habe.“

„Werden Sie denn Martini trinken?“, fragte sie.

„Heute Abend schon“, antwortete er und lächelte spitzbübisch. „Muss ich ja sogar, wenn wir unseren Trick so durchziehen wollen.“

Sie lachte auf. „Wir sind noch nicht mal beim Restaurant angekommen und schmieden schon Geheimpläne, wie wir uns nach dem Essen am schnellsten verdünnisieren können.“

„Ja, aber nur, weil es so ein langweiliges Geschäftsessen ist. Wenn wir beide stattdessen ein Date hätten, wäre es genau andersherum. Dann würde ich mir Tricks überlegen, den Abend so weit wie möglich in die Länge zu ziehen. Damit Sie mir noch weit über den Nachtisch hinaus erhalten bleiben.“

Lilys Herz schlug schneller, ihre Handflächen wurden ganz feucht. So eine Aussage hätte sie von ihrem neuen Chef nicht erwartet! Und es hatte sich auch nicht wie ein freundlich-herablassendes Pflichtkompliment angehört. Es klang … total ehrlich und ernst gemeint!

Oh ja, sie konnte es sich nur zu gut vorstellen: Nigel und sie in einem vornehmen Restaurant bei Kerzenschein und Wein. Vertraut flüsternd und flirtend …

Wie schön, wie erregend diese Vorstellung war! Fast spürte sie schon, wie ihre Hand auf dem weißen Tischtuch ruhte und von seiner Hand berührt wurde …

Zum Glück bekam Nigel von ihren Träumereien nichts mit. Er war damit beschäftigt, seine Krawatte geradezurücken.

Lily strich sich ihren Rock glatt. In diesem Moment hielt der Wagen. Nigel blickte ihr ins Gesicht und lächelte aufmunternd. „Na, sind Sie bereit?“

Mittlerweile war der Chauffeur ausgestiegen und öffnete für Nigel die Wagentür. Nigel stieg ebenfalls aus, umrundete den Bentley und half Lily heraus.

Verblüfft stellte sie fest, dass sie beide vor dem Restaurant Trattoria standen. Sie stammte zwar nicht aus Los Angeles, trotzdem war ihr das feudale Restaurant ein Begriff. Nach allem, was sie gehört hatte, musste man hier drei bis vier Monate auf einen Tisch warten.

Außer man ist so reich und berühmt wie Nigel Statham, dachte sie. Sein Name ist pures Gold. Und das nicht nur in Los Angeles oder in England – sondern wahrscheinlich überall auf der Welt.

Eigentlich wusste sie sehr wohl, wie man exklusiv dinierte. Durch ihre reichen Eltern war sie schon in vielen Restaurants der Spitzenklasse gewesen. Doch in ihrer gefälschten Bewerbung für Ashdown Abbey hatte sie angegeben, aus einem Mittelklassehaushalt zu stammen. Sie durfte sich also nicht zu gewandt geben, was den Gebrauch der zahllosen Bestecke für die verschiedenen Gänge betraf. Am besten tat sie so, als wäre sie noch nie in einem derart exklusiven Restaurant gewesen.

Kaum hatten sie die Eingangstür durchschritten, wurden sie schon von einem Oberkellner im Frack empfangen. Als Nigel seinen Namen nannte, führte der Oberkellner sie zu einer ruhigen Ecke, wo ein Vierertisch stand. Ein Mann hatte dort bereits Platz genommen.

Nigel zog für Lily einen Stuhl zurück, während der andere Mann sich erhob. Er war noch recht jung – Mitte bis Ende zwanzig, schätzte Lily –, mit dunklem Haar und einem teuren Anzug. Wahrscheinlich ein Vincenze-Anzug, dachte Lily, denn da arbeitete der Mann zurzeit ja noch.

„Guten Abend, Mr. Statham“, begrüßte der Designer Nigel.

Nigel wartete, bis Lily sich gesetzt hatte, dann reichte er dem Mann die Hand. Nun stellte er die beiden einander vor. „Lillian, das ist Harrison Klein. Mr. Klein, das ist meine Assistentin Lillian George.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte Harrison und reichte ihr die Hand.

Als sie alle Platz genommen hatten, brachte der Ober die ledergebundenen Speisekarten und nahm die Getränkebestellungen auf. Wie Nigel schon angekündigt hatte, nahm er einen Martini. Er bestellte ihn sogar ausdrücklich „geschüttelt, nicht gerührt“ und zwinkerte Lily dabei vielsagend zu.

Nach der Bestellung dauerte es nicht lange, bis die Getränke und Vorspeisen serviert wurden. Nach kurzem belanglosen Small Talk begann Nigel, Klein über seine Ausbildung und seine Zeit bei Vincenze auszufragen.

Lily empfand es als merkwürdig, mit einem anderen Designer und dem Chef eines Modeunternehmens an einem Tisch zu sitzen – und nicht richtig mitreden zu dürfen. Aber sie hatte Angst, enttarnt zu werden, wenn sie zu viel Interesse und Wissen demonstrierte. Schließlich war sie ja nur eine kleine Assistentin …

Als sie mit dem Essen fertig waren und der Tisch abgeräumt wurde, bestellte Nigel noch Kaffee für alle. Dann wandte er sich an Harrison Klein: „Ich nehme an, Sie haben Ihre Mappe mit Arbeitsproben dabei …?“

Harrison wandte sich um und griff nach der großformatigen Mappe, die er gegen die Wand gelehnt hatte. Er überreichte sie Nigel, lehnte sich zurück und wartete angespannt.

Lily konnte sich nur zu gut in ihn hineinversetzen! Man hatte immer ein ungutes Gefühl, wenn jemand die eigenen Arbeiten begutachtete. Davon abgesehen fragte sie sich immer noch, warum jemand, der schon einen guten Job bei einer großen Modefirma hatte, unbedingt wechseln wollte.

Sie hatte ja einen ganz anderen Weg gewählt. Statt sich irgendwo anstellen zu lassen und sich dann langsam hochzuarbeiten, hatte sie ihr eigenes Unternehmen gegründet. Andererseits wäre es vielleicht auch nicht verkehrt gewesen, zunächst einmal bei einem großen Unternehmen Erfahrungen zu sammeln. Wenn sie dann erst anschließend ihre eigene Firma gegründet hätte, hätte sie wahrscheinlich einige der Anfängerfehler vermieden, die ihr so leider unterlaufen waren.

Nigel studierte die Mappe gründlich, Blatt für Blatt. Lily, die neben ihm saß, ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, ihm dabei über die Schulter zu schauen und die Blätter ebenfalls eingehend zu betrachten.

Das Ganze zog sich über mehr als zwanzig Minuten hin. Dann schloss Nigel die Mappe und reichte sie dem Bewerber zurück. „Sehr nett, Harrison, wirklich sehr nett. Vielen Dank.“

Am Gesichtsausdruck des Bewerbers sah Lily, dass er sich eine enthusiastischere Reaktion erhofft hatte. Fast tat der Mann ihr leid.

„Ich glaube, damit wären wir für heute Abend durch“, fuhr Nigel fort. „Wir haben ja Ihre Unterlagen, um uns bei Ihnen melden zu können.“

Klein blickte enttäuscht drein, aber dann riss er sich zusammen. „Ich würde mich wirklich freuen, von Ihnen zu hören. Vielen Dank für alles.“

Die beiden Männer schüttelten sich die Hand. Damit war das Geschäftsessen formal beendet. Doch Lily konnte es sich nicht verkneifen, Nigel zu fragen: „Sind Sie sicher, dass Sie nicht noch einen Martini möchten?“

Ganz kurz verzog er das Gesicht zu einem Lächeln. „Nein, vielen Dank. Ich glaube, ich habe genug. Wir sollten jetzt lieber alle nach Hause fahren. Sie wissen ja, ich habe gleich morgen früh diesen wichtigen Termin. Das haben Sie doch nicht vergessen …?“

„Natürlich nicht“, erwiderte sie pflichtbewusst und unterdrückte dabei ein amüsiertes Lächeln.

Als die beiden schließlich wieder in Nigels Wagen saßen, fragte er sie unvermittelt: „Na, was meinen Sie?“

Überrascht sah sie ihn an. „Was meine ich wozu?“

„Was sie zu Klein sagen. Welchen Eindruck er im Gespräch auf Sie gemacht hat. Was Sie von seinen Entwürfen halten.“

Oha, das kann gefährlich werden, schoss es ihr durch den Kopf. Natürlich habe ich mir mein Urteil gebildet. Aber ich bin nur seine Assistentin, also so etwas wie eine Sekretärin oder ein Mädchen für alles. Darf ich mir da eine Meinung erlauben? Und wie viel darf ich überhaupt sagen, damit er nicht merkt, dass ich mich in der Modebranche viel besser auskenne, als meiner Position angemessen ist?

„Sie können ganz offen sein“, sagte Nigel. „Ich möchte wirklich Ihre ehrliche Meinung hören. Das heißt nicht unbedingt, dass ich auf Sie hören würde, aber interessieren würde es mich schon. Und ich versichere Ihnen: Auf Ihre Position bei Ashdown Abbey hat es keinen Einfluss, egal ob Sie sich positiv oder negativ äußern.“

Sie konnte nur hoffen, dass das auch stimmte! „Auf jeden Fall ist er begabt“, antwortete sie gedehnt.

„Aber …?“

„Nein, ich wollte gar kein Aber folgen lassen“, sagte sie. „Er hat eindeutig eine Menge Talent.“

Nigel fixierte sie. In diesem Moment wirkte er wie ein Verhörspezialist aus einem Krimi.

„Na schön“, seufzte sie. „Er ist begabt – aber ich glaube nicht, dass seine Entwürfe und sein ganzer Stil zu Ashdown Abbey passen.“

„Und warum nicht?“, fragte Nigel leise.

„Ashdown Abbey ist ja vor allem für seine hochwertige Kleidung für Geschäftsleute bekannt, auch wenn Sie in letzter Zeit zusätzlich Sportbekleidung und Casual Wear herausgebracht haben“, erläuterte Lily. „Dieser Mr. Klein fährt in seinen Entwürfen aber mehr die Urban-Hip-Schiene. Damit ist er eigentlich bei Vincenze goldrichtig, das ist genau ihr Stil, mit dem sie in New York und Los Angeles auch viel Erfolg haben. Aber Ashdown Abbey – nicht zuletzt, weil es eine britische Firma ist – hat doch mehr einen seriöseren, gediegeneren Ruf.“

Sie hielt einen Moment inne, weil sie sich nicht ganz sicher war, ob sie nicht schon zu viel gesagt hatte.

„Es sei denn, Sie wollen jetzt auch in diese Richtung gehen“, fügte sie sicherheitshalber hinzu.

Nigel musterte sie prüfend. In seinem Gesicht war nicht abzulesen, was er gerade dachte. Dann plötzlich verzog er den Mund zu einem versonnenen Lächeln.

„Nein, in die Richtung wollen wir nicht gehen“, sagte er. „Im Moment jedenfalls nicht. Und wissen Sie was? Ihre Einschätzung trifft genau ins Schwarze. Hundertprozentig. Genau das Gleiche habe ich nämlich auch gedacht, als ich mir seine Entwürfe angesehen habe.“

Lily saß wie betäubt da. Nigels Reaktion überraschte und erfreute sie zugleich. Dabei hatte sie wirklich Angst gehabt, völlig danebenzuliegen!

Vielleicht sollte sie tatsächlich etwas selbstbewusster an ihren Job herangehen. Zeigen, was sie konnte und wusste. Das gehörte schließlich zu ihren Aufgaben. Solange ihr nichts herausrutschte, was auf ihre wahre Identität hinwies, war es doch in Ordnung, wenn sie mit ihren Fähigkeiten glänzte!

„Wer weiß, vielleicht beglückwünschen Sie sich eines Tages dazu, dass Sie mich eingestellt haben“, scherzte sie übermütig.

Er musterte sie prüfend, und sie wäre am liebsten im Erdboden versunken. Vielleicht hatte sie sich jetzt doch zu weit aus dem Fenster gelehnt!

Doch dann sagte er: „Dazu beglückwünsche ich mich schon heute. Ich glaube, mit Ihnen haben wir einen guten Fang gemacht.“

4. KAPITEL

Lily hatte beteuert, dass es wirklich nicht nötig sei, aber Nigel hatte darauf bestanden, sie bis vor die Tür ihres Apartments zu bringen. Zumindest das war er ihr schuldig, fand er, nachdem er sie schon über den Feierabend hinaus beansprucht hatte.

Wenn er ehrlich war, hätte er ihre Gesellschaft für den abendlichen Termin nämlich überhaupt nicht gebraucht. Zwar hatte er auch seine früheren Assistentinnen gelegentlich zu Arbeitsessen mitgenommen, aber das war meistens mittags während der Dienstzeit gewesen. Ja, tatsächlich – zu einem Abendessen hatte er noch nie eine seiner Assistentinnen mitgenommen, nicht einmal, wenn es sich um einen wichtigen Geschäftstermin handelte.

Aber warum habe ich Lillian darum gebeten, und das schon an ihrem ersten Arbeitstag? fragte er sich. Er konnte es sich selbst nicht richtig erklären. Hatte er vielleicht testen wollen, wie sie sich bewährte? Im Büro hatte sie ihn ja schon beeindruckt. Aber im Geschäftsleben waren Bürotätigkeiten nicht alles, und so hatte er prüfen können, ob sie sich auch außerhalb – gewissermaßen auf freier Wildbahn – kompetent zeigte.

Zumindest versuchte er sich das als Begründung einzureden. So konnte er es auch anderen erklären, falls er darauf angesprochen würde.

Doch der wahre Grund war ein anderer. Er hatte einfach Zeit mit ihr verbringen wollen.

Sie sah wirklich gut aus. Sie gefiel ihm. Das sollte wirklich nicht das Entscheidende sein, wenn es um eine Assistentin ging – aber, verflixt noch mal, er war eben auch nur ein Mann!

Und er bereute es nicht, dass er sie zu dem Abendessen mitgenommen hatte. Es hatte ihm gezeigt, dass Lillian George nicht nur verdammt gut aussah, sondern dass sie auch klug war. Ihre Unterhaltung im Auto hatte er sehr genossen. Erst war sie noch ein wenig nervös gewesen, aber dann war sie zusehends lockerer geworden und hatte ihn mit ihren Fluchtplänen für die Zeit nach dem Abendessen wirklich amüsiert.

Und das Geschäftsessen selbst? Auch hier hatte sie alles hundertprozentig richtig gemacht. Sie hatte sich nicht in den Vordergrund gedrängt, aber ihr Licht auch nicht unter den Scheffel gestellt. Ganz genau hatte sie erkannt, wann es an der Zeit war, einen Kommentar einzustreuen – und wann es besser war zu schweigen. Genau wie er sich eine Assistentin wünschte!

Wie sie wohl privat sein mochte? Es wäre sicher interessant, einmal einfach so mit ihr auszugehen. Nicht geschäftlich.

An so etwas solltest du nicht mal denken, ermahnte er sich. Aber er konnte nicht anders. Es wäre sicher angenehm, einmal so mit ihr zu plaudern, ganz privat, über alles Mögliche, nur nicht über Ashdown Abbey und die Modewelt.

Himmel, es musste Ewigkeiten her sein, dass er einmal privat mit einer Frau essen gewesen war! Er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wie lange!

Seit Caroline war es auf jeden Fall nicht mehr vorgekommen.

Und Caroline – na ja, die war ein Fall für sich gewesen. Zwar hatte sie ursprünglich nichts mit Ashdown Abbey zu tun gehabt, aber von ihrer Seite aus war es doch Berechnung gewesen. Sie war nämlich Model von Beruf und so ehrgeizig, dass sie auch ihren Körper als Waffe einsetzte, um Karriere zu machen. Sich nach oben schlafen nannte man das wohl. Und bei einer britischen Firma Erfolg zu haben, das hätte der jungen Amerikanerin vielleicht die Tür zum Weltmarkt geöffnet.

Natürlich hatte er ohnehin oft mit Models zu tun. Aber das war auf rein geschäftlicher Basis und zählte nicht.

Genauso wenig wie dieser Abend zählte. Es war ein Geschäftsessen gewesen, mehr nicht.

Als sie vor der Tür zu Lilys Apartment standen, steckte sie den Schlüssel ins Schloss, öffnete die Tür aber noch nicht. Stattdessen drehte sie sich zu Nigel um.

„Vielen Dank“, sagte sie leise. „Es war ein sehr schöner Abend.“

„Obwohl ich Sie gewissermaßen dazu gezwungen habe?“, erkundigte er sich lächelnd.

Sie lächelte zurück. „Ja, trotzdem. Ich fand es richtig und wichtig, bei so einer Geschäftsbesprechung dabei zu sein. Und ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie mich nach meiner Meinung gefragt haben, was Harrison Kleins Arbeiten betrifft. Das hätten Sie nicht zu tun brauchen – wo ich doch erst einen einzigen Tag für Sie gearbeitet habe.“

„Gerade deshalb habe ich ja gefragt“, erwiderte er. „Ich wollte Ihnen ein bisschen auf den Zahn fühlen, was Sie so draufhaben – das schien mir der schnellste Weg zu sein.“

„Dann habe ich Ihren Test bestanden?“, fragte sie.

„Ja, mit Bravour“, bestätigte er lächelnd.

„Das heißt, ich habe den Job noch und soll morgen früh wieder zur Arbeit erscheinen?“

„Ja, natürlich. Machen Sie nur so weiter, und wer weiß, vielleicht befördere ich Sie im Handumdrehen zur Vizepräsidentin der Firma!“

„Ist nur die Frage, was der jetzige Vizepräsident davon halten würde.“

Nigel zuckte mit den Schultern. „Das ist mein Onkel. Er ist ein Griesgram und steinalt dazu. Wird sowieso höchste Zeit, dass er in den Ruhestand geht.“

Lily lachte. Plötzlich fühlte sie sich ein wenig nervös. Nervös, weil sie als Assistentin so offen mit ihrem neuen Chef plauderte? Oder nervös, weil sie einem attraktiven Mann auf einem menschenleeren Flur so nahe war?

Auch Nigel spürte, dass sie beide kurz davor waren, die hauchdünne Linie zwischen beruflich und privat zu überschreiten. Er räusperte sich. „Tja, ich glaube, dann lasse ich Sie jetzt mal lieber schlafen“, murmelte er. „Morgen wartet wieder viel Arbeit auf uns. Nochmals vielen Dank, dass Sie heute Abend mitgekommen sind.“

„Und ich danke Ihnen für das wirklich wunderbare Essen. Normalerweise hätte ich mir in einem so teuren Restaurant höchstens ein Glas Wasser leisten können.“

Er lachte auf. Für ihn waren teure Arbeitsessen auf Firmenkosten nichts Besonderes, aber es stimmte schon – eine junge Frau mit einem Assistentinnen- oder Sekretärinnengehalt konnte davon in der Regel nur träumen.

„Freut mich, dass es Ihnen gefallen hat. Und geschmeckt hat – natürlich. Also … Gute Nacht!“

Er beugte sich vor und gab ihr einen schnellen Kuss auf die Wange. Eine freundschaftliche und völlig unschuldige Geste – doch Nigel wünschte sich, es könnte mehr daraus werden.

Juliet Zaccaro ging unruhig im Wohnzimmer des Loft-Apartments auf und ab, das sie sich mit ihren beiden Schwestern teilte.

„Ich weiß gar nicht, warum du dir solche Sorgen machst“, sagte ihre jüngste Schwester Zoe, die auf dem Sofa saß.

Sie lackierte sich die Fingernägel und machte sich offenbar nicht die geringsten Gedanken um die mittlere Schwester.

„Und ich weiß gar nicht, wie du so gleichgültig bleiben kannst“, schoss Juliet zurück. „Lily ist jetzt schon seit einer Woche verschwunden.“

„Aber sie hat uns einen Brief hinterlassen“, erwiderte Zoe. „Du hast ihn doch auch gelesen – wir sollen uns keine Sorgen um sie machen und auf keinen Fall nach ihr suchen. Sie weiß eindeutig, was sie tut. Wahrscheinlich braucht sie einfach nur mal eine Auszeit.“

„Kann sein, kann aber auch nicht sein“, erwiderte Juliet gereizt und verschränkte die Arme vor der Brust. „Dieses Verhalten passt einfach nicht zu ihr. Was ist denn, wenn sie in Schwierigkeiten steckt?“

„Wenn sie in Schwierigkeiten stecken würde, würde sie es uns sagen“, gab Zoe gelangweilt zurück. „Sonst hat sie uns doch auch immer um Hilfe gebeten, wenn irgendwas war.“

Juliet zog die Stirn in Falten. Sie konnte es nicht leiden, wenn Zoe – die jüngste, etwas flippige und egozentrische Schwester – recht hatte. Oder möglicherweise recht hatte.

„Trotzdem. Ich finde, es kann nicht schaden, wenn wir sie suchen gehen. Dann können wir sie direkt fragen, ob wirklich alles in Ordnung ist.“

Gedankenverloren drehte sie den goldenen diamantenverzierten Verlobungsring an ihrer linken Hand. Wohin in drei Teufels Namen konnte Lily nur gegangen sein? Warum hatte sie sich so einfach aus dem Staub gemacht? Es passte einfach nicht zu ihrer Schwester, so ohne ein Wort zu verschwinden – beziehungsweise nur so einen kurzen Brief zu hinterlassen, der mehr Fragen aufwarf, als er beantwortete.

Juliet war als älteste der Zaccaro-Schwestern traditionell die vernünftigste, aber auch Lily war schließlich kein unreifes Gör mehr. Sie hatte aus dem Nichts ein Modeunternehmen auf die Beine gestellt und ihre Schwestern dazu gebracht, mit einzusteigen. Da nahm man sich doch nicht plötzlich so mir nichts, dir nichts eine Auszeit! Jedenfalls nicht, wenn man Lily Zaccaro hieß!

Bei Zoe – ja, bei Zoe hätte Juliet sich ein so verantwortungsloses Verhalten vorstellen können. Bei der wusste man nie, ob sie morgens voller Tatendrang zur Arbeit erscheinen würde oder ob sie vielleicht aus Las Vegas anrief und mitteilte, sie habe einen Typen kennengelernt und würde in ein paar Wochen zurück sein. Aber Lily …?

Je mehr sie nachgrübelte, desto unruhiger wurde Juliet. Es war zum Haareausraufen! Nicht nur, dass sie die Abteilung Handtaschen und Accessoires bei Zaccaro Fashions leitete – gleichzeitig musste sie noch ihre Hochzeit planen. Und ihren launischen, manchmal sehr fordernden Verlobten bei Stimmung halten …

Sie hatte es ihrer Schwester noch nicht erzählt, aber Paul übte immer mehr Druck auf sie aus, dass sie doch nach den Flitterwochen zurück nach Connecticut ziehen solle. Komischerweise schien es ihm seinerzeit, als er ihr den Antrag machte, noch nichts auszumachen, dass sie in New York lebte. Zu dem Zeitpunkt war sie schon über ein Jahr hier, und er hatte den Anschein erweckt, als würde er sie bei ihrer Karriere unterstützen – einschließlich der Bereitschaft, auch hierherzuziehen, um ihr näher zu sein.

Daraufhin hatte sie seinen Heiratsantrag angenommen. Doch danach hatte sich alles allmählich geändert. Das beunruhigte sie; ja, es machte ihr richtiggehend Sorgen. Aber der Hochzeitstermin stand fest, der Veranstaltungsort war reserviert, ein Caterer bestellt, die Blumen waren ausgesucht – konnte sie das alles jetzt wirklich noch rückgängig machen, nur weil sie ein kleines bisschen Panik bekam?

Das würde schon vorübergehen, sagte sie sich immer und immer wieder. Am besten gar nicht dran denken. Sie ging zum Schrank im Flur, zog die Schublade auf und holte das Telefonbuch hervor.

Hastig blätterte sie darin. Sie suchte einen Detektiv, einen Privatermittler, den sie auf Lily ansetzen wollte. Sie würde professionelle Hilfe brauchen, denn sie selbst hatte keine Ahnung, wo sie auf der Suche nach ihrer Schwester anfangen konnte.

Und dann entdeckte sie plötzlich die Visitenkarte, die zwischen zwei Seiten lag. Sie zog sie heraus und las den Aufdruck.

McCormack Investigations

Wirtschaftsdetektei / Privatdetektei

Sie wusste nicht, woher die Karte kam, aber sie nahm es als ein Zeichen. Sie hätte sonst ohnehin nicht gewusst, für welche der zahlreichen Detekteien sie sich hätte entscheiden sollen.

Sie nahm die Karte an sich und ging zurück ins Wohnzimmer, wo Zoe gelangweilt in einer Modezeitschrift blätterte.

„Ich gehe in mein Zimmer“, murmelte Juliet.

„Ist gut“, erwiderte Zoe, klappte die Zeitschrift zu und warf sie auf den Tisch. „Dann gehe ich ins Studio rüber und arbeite noch ein bisschen. Kannst mir ja Bescheid sagen, wenn du nachher essen gehen möchtest.“

Juliet nickte nur. Selbst wenn sie jetzt ein gemeinsames Abendessen planten, war die Wahrscheinlichkeit doch sehr groß, dass Zoe noch kurzfristig ihre Meinung änderte und lieber in einem Club tanzen ging.

Juliet wartete, bis Zoe gegangen war, dann zog sie ihr Handy hervor und wählte die Nummer von McCormack Investigations. Die Sekretärin am Telefon notierte sich ein paar Stichworte und versprach, jemand aus der Firma würde so bald wie möglich zurückrufen.

Lieber hätte Juliet gleich am Telefon mit einem der Privatermittler gesprochen oder wenigstens einen Besuchstermin für den nächsten Morgen vereinbart. Aber da man ihr das nicht von selbst anbot, wollte sie auch nicht zu viel Druck machen. Schließlich handelte es sich ja nicht um einen dringenden Notfall – wenigstens noch nicht.

Himmel, hoffentlich würde es auch nie einer werden! Das Blut gerann Juliet in den Adern, wenn sie daran dachte, dass ihrer Schwester etwas zustoßen könnte …

Jetzt blieb ihr nichts weiter übrig, als zu warten. Sie konnte nur hoffen, dass der Rückruf möglichst bald kam.

Quälend langsam verrann die Zeit.

Fünf Minuten.

Nichts.

Zehn Minuten und immer noch nichts.

Juliet konnte nicht mehr stillsitzen. Unruhig ging sie auf und ab.

Zwanzig Minuten. Kein Rückruf.

Als nach dreißig Minuten immer noch nichts passiert war, ließ sie sich aufs Sofa fallen und schloss die Augen. Weitere fünf Minuten vergingen, dann klingelte plötzlich ihr Handy. Sie zuckte zusammen.

Schnell drückte sie aufs Knöpfchen, um das Gespräch entgegenzunehmen. „Hallo …?“

„Miss Zaccaro?“

„Ja.“

„Hier spricht Reid McCormack von der Detektei McCormack Investigations. Ich habe von der Sekretärin eine Notiz hereingereicht bekommen. Ihre Schwester ist verschwunden, und wir sollen Ihnen helfen, sie aufzuspüren, richtig?“

„Ja, ganz genau.“

„Wenn Ihre Schwester volljährig ist, hat sie das Recht, ihren Aufenthaltsort selbst zu bestimmen. Das heißt, sie kann gehen, wohin sie will, ohne jemandem Bescheid sagen zu müssen. Das ist Ihnen schon klar, oder?“

„Ja, das ist mir klar.“

„Hier steht, sie hat einen Brief hinterlassen. Ist das richtig?“

„Ja, das ist richtig.“ Allmählich wurde das Gespräch etwas einseitig.

„Aufgrund dieses Briefs kann sie eigentlich nicht einmal als vermisste Person gelten. Die Polizei würde Sie nur vertrösten. Man würde Ihnen sagen, Sie sollen Geduld haben und auf ein Lebenszeichen warten. Solange es keinen Hinweis auf ein Verbrechen gibt, würden die Beamten sich nicht um den Fall kümmern.“

Entnervt ließ Juliet den Kopf sinken. „Ja, ich verstehe.“

Einen Augenblick lang herrschte Stille in der Leitung. Dann sprach Reid McCormack weiter. „Kommen Sie doch am besten morgen um elf in mein Büro. Ich kann Ihnen nichts versprechen, aber wir könnten den Fall noch einmal ausgiebig erörterten. Wollen wir es so machen?“

„Oh ja, sehr gerne. Haben Sie vielen Dank.“

„Gut, bis morgen dann.“

Juliet klappte das Handy zu und ging auf ihr Zimmer. Was zog man sich nur für eine Besprechung mit einem Privatdetektiv an?

Beim Gedanken an Privatdetektive fielen ihr nur alte Schwarz-Weiß-Filme mit Humphrey Bogart ein. Aber sie konnte ja nicht im Vierzigerjahre-Look in dem Büro auftauchen!

Na, bis zum nächsten Morgen würde ihr schon noch das Passende einfallen. Und trotz aller Bedenken, die McCormack geäußert hatte, war sie sich ziemlich sicher, dass der Mann ihre Schwester finden würde.

5. KAPITEL

Früh am nächsten Morgen traf Lily im Büro von Ashdown Abbey ein. So richtig wach fühlte sie sich noch nicht, denn sie hatte nur etwa vier Stunden geschlafen, bevor der Wecker sie aus dem Land der Träume gerissen hatte.

Ein starker Kaffee würde sie auf die Beine bringen, hoffte sie. Sie musste einen fitten und wachen Eindruck machen, wenn Nigel kam.

Nachdem er sich am Vorabend von ihr verabschiedet hatte, hatte sie sich einen bequemen Baumwollpyjama angezogen. Dann war sie zurück ins Wohnzimmer gegangen und hatte gründlich die Ausdrucke studiert, die sie sich heimlich im Büro von Ashdown Abbey gemacht hatte.

Insgesamt war sie stolz auf sich, dass sie auf ihrer Mission am ersten Tag schon so viel erreicht hatte. Und das unter erschwerten Bedingungen. Denn das Problem war: Nigel Statham ließ sie nicht kalt.

Aber sie war ja nicht nach Los Angeles gekommen, um einem gut aussehenden smarten Engländer zu verfallen. Eigentlich sollte er doch ihr Feind sein, verflixt noch mal!

Ja, sie musste wirklich gegen diese aufkeimenden Gefühle ankämpfen. Sie hatte einen Plan, sie hatte eine Mission, und davon durfte sie sich nicht abbringen lassen.

Dennoch – es war ja nicht nur, dass Nigel ein attraktiver Mann war. Attraktive Männer hatte sie auch früher schon kennengelernt. Hatte mit ihnen gearbeitet, war mit ihnen ausgegangen – und mit ein paar von ihnen war auch noch ein bisschen mehr passiert.

Gutes Aussehen war ja ganz nett, aber das allein würde niemals ausreichen, sie schwach werden zu lassen. Das Gleiche galt für einen britischen Akzent, egal, wie sexy er klingen mochte.

Nein, Nigel hatte noch etwas anderes an sich – etwas, das sie geradezu verrückt machte.

Leider musste sie zugeben, dass er durchaus sympathisch wirkte. Dabei hatte sie ursprünglich ganz anders über ihn gedacht. Für sie war er ein Geschäftsführer, mit dem sprichwörtlichen silbernen Löffel im Mund geboren, der trotzdem skrupellos genug war, die Ideen eines kleinen Konkurrenten zu stehlen.

Andererseits, wenn er wirklich so charakterlos war, würde er sie um ihr Urteil bitten, was die Anstellung eines Jobbewerbers betraf? Und dann sogar noch auf sie hören? Würde er sie loben und am Abend fürsorglich zu ihrer Wohnungstür begleiten?

Irgendwie wollte das nicht zusammenpassen.

Das Verstörendste aber war der Kuss gewesen. Nur ein kurzer Kuss auf die Wange. Wie man ihn von guten Bekannten bekam, vom Onkel oder von den Eltern.

Aber gleichzeitig doch ganz anders. Sicher, ein Kuss, leicht auf die Wange gehaucht. Ein Außenstehender hätte ihn für genau das gehalten, was er sicherlich auch war: ein höflicher, gut gemeinter Gutenachtkuss. Ein Kuss, der nichts weiter sagte als: danke für den netten Abend, schlafen Sie gut.

Doch für Lily war es etwas anderes gewesen. Ihr Herz hatte wie wild gepocht, ihr war ganz heiß geworden. Und vielleicht bildete sie sich das nur ein, aber sie hatte das Gefühl gehabt, dass er seine Lippen eine Spur länger als angebracht auf ihrer Haut hatte ruhen lassen. Vielleicht nur ein paar Millisekunden, aber sie hatte es gespürt.

Dann hatte er seine Lippen von ihrer Haut gelöst und sich ganz schnell verabschiedet.

Er war fort gewesen, aber die Nachwirkungen seines Kusses waren geblieben. Die ganze Nacht über. Und selbst heute Morgen konnte sie sie noch spüren. Seine Lippen auf ihrer Haut.

Ob dieses Gefühl wohl noch den ganzen Tag über anhalten würde? Und was hatte sein kurzer Blick zum Abschied zu bedeuten gehabt? Begehren – oder Gleichgültigkeit? Er war kaum zu deuten gewesen.

Sie trank einen großen Schluck von ihrem Kaffee. Das tat gut! Kaffee intravenös wäre allerdings noch besser. Oder Kaffee mit Schuss. Ein ordentlicher Schuss Whisky zum Koffein.

Aber nein, das ging natürlich nicht. Was würde das für einen Eindruck machen? Sie musste sich jetzt zusammenreißen. Schließlich konnte Nigel jeden Moment kommen. Er und sein Kuss waren schuld daran, dass sie die halbe Nacht nicht hatte schlafen können, aber das durfte er natürlich nicht erfahren.

Sie wollte ihm die perfekte Assistentin sein. Wenigstens nach außen. Insgeheim setzte sie natürlich gleichzeitig ihre privaten Ermittlungen fort, um herauszufinden, wer ihre Entwürfe gestohlen hatte.

Sie hatte sich die heimlich ausgedruckten Listen gründlichst angesehen, bis sie endlich zu müde gewesen und ins Bett gegangen war. Heute früh konnte sie sich kaum noch an etwas erinnern. Sie würde das Ganze noch einmal durcharbeiten müssen – und dann wahrscheinlich noch ein drittes Mal. Das ging natürlich erst heute Abend, wenn sie wieder allein in ihrem Apartment war.

Von ferne hörte sie, wie der Fahrstuhl hielt und die Türen sich zischend öffneten und wieder schlossen. Schnell stellte Lily die Kaffeetasse beiseite und begann irgendetwas in den Computer zu tippen, nur um beschäftigt auszusehen.

Als Nigel die Büroräume betrat, fiel sein Blick zuallererst auf die neue Assistentin Lillian. Falls das überhaupt möglich war, sah sie heute Morgen noch attraktiver aus als am Vorabend – und auch da war sie schon umwerfend gewesen.

Irgendwie stand er auf diesen Typ Frau, den er insgeheim für sich den Typ sexy Bibliothekarin nannte. Sie trug ihr Haar in einem Dutt und hatte wieder ihre dunkel umrandete Brille auf. Das verlieh ihr ein etwas strenges Aussehen. Ihre Kleidung war bürogemäß zweckmäßig, verbarg aber kaum ihre aufregenden Formen.

Sexy Bibliothekarin. Böse, böse, verführerische Bibliothekarin. Oder in diesem Fall: Assistentin. Die ganze Nacht über hatte er an sie denken müssen.

Aber etwas mit seiner Assistentin anzufangen – das war nicht nur schlechter Stil, das konnte auch jede Menge Komplikationen nach sich ziehen. Die Frau war zum Arbeiten hier, auch wenn er ganz gerne andere Dinge mit ihr angestellt hätte.

Immer wieder hatte er sich unruhig im Bett herumgewälzt, hatte an das gemeinsame Abendessen gedacht – und vor allem an den Kuss auf die Wange.

Eigentlich ein völlig harmloser Kuss, ein Kuss, wie er ihn auch seiner weißhaarigen Tante hätte geben können. Und doch hatte er ihn fast um den Verstand gebracht. Deswegen hatte er sich anschließend auch ganz schnell verabschiedet. Nach einem letzten Blick auf Lillian.

Er hatte von ihr geträumt. Über den Inhalt dieser Träume würde er lieber kein Wort verlieren. Ihm wurde schon wieder ganz heiß, als er sie sich ins Gedächtnis zurückrief. Er konnte nur hoffen, dass er an ihrem Schreibtisch vorbeikam, ohne dass sie seine Erregung bemerkte.

„Guten Morgen!“, begrüßte sie ihn freundlich.

Wirkte ihr Lächeln ein wenig aufgesetzt? Na ja, vielleicht war sie genauso aufgeregt wie er. Nach diesem harmlosen und doch so gefährlichen Kuss von gestern Abend …!

„Ihnen auch einen guten Morgen“, erwiderte er und vermied den Augenkontakt zu ihr, während er zum Stapel der neu eingegangenen Post griff.

„Kaffee?“, fragte sie.

„Nein, vielen Dank.“

Ihr Lächeln erstarrte. Hatte er zu barsch geklungen? Hatte er sie verunsichert? Das hatte er nicht gewollt! Es war ja nicht ihre Schuld, dass er so wenig geschlafen hatte. Sie war vielleicht der Anlass gewesen – aber ihre Schuld war es nicht.

„Aber wenn Sie so nett wären, mir eine Tasse Tee zu machen …?“ So, das hatte jetzt viel freundlicher geklungen. Und prompt lächelte sie auch wieder.

Sie erhob sich und ging zur kleinen Küchenecke hinüber, die etwas versteckt im Empfangsbereich lag.

Er konnte nicht anders, er musste ihr mit seinem Blick folgen. Seine kleine, süße, verführerische Assistentin! Wie aufreizend ihre Bewegungen auf ihn wirkten! Nach außen hin brav, aber nach innen …?

Schluss mit diesen dummen Gedanken, schalt er sich. Es war wohl besser, wenn er etwas Distanz zwischen sie beide brachte. Mit dem Stapel von Briefen in der Hand ging er in sein Büro und setzte sich an den Schreibtisch.

Er hatte sich gerade eingeloggt, um seinen E-Mail-Account zu checken, als Lillian mit einem Tablett hereinkam – darauf ein ganzes Teeservice für eine Person: Kanne, Tasse, Milchkännchen, Zuckerdöschen. Er hatte dieses Service angefordert, als er seine Arbeit hier in Amerika angetreten hatte, und offenbar war es auch geliefert worden, aber er hatte es noch nie zu Gesicht bekommen. Wenn er bei seinen früheren Assistentinnen einen Tee bestellt hatte, hatte er immer nur einen Teebeutel in einer Tasse mit lauwarmem Wasser bekommen.

Nigel lehnte sich zurück, während sie das Tablett auf seinem Schreibtisch abstellte und ihm den bereits fertig durchgezogenen Tee in das zierliche Porzellantässchen goss.

„Das nenne ich mal eine Überraschung“, kommentierte er lächelnd.

Sie sah ihn fragend an.

Autor

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