Julia Ärzte zum Verlieben Band 59

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UNSER KLEINES, SÜßES WUNDER von MARINELLI, CAROL
Die hübsche Sex-Therapeutin Ava hat schon vielen Patienten des Sydney Harbour Hospitals zu Nachwuchs verholfen. Nur ans eigene Babywunder mit ihrem Mann James glaubt sie im verflixten siebten Ehejahr nicht mehr. Da verführt er sie zu einer heißen Abschiedsnacht …

ZU REICH ZUM VERLIEBEN? von LENNOX, MARION
Willkommen unter den Lebenden, hört Philippa, als sie erwacht und ihrem Lebensretter in die Augen sieht: Flying Doctor Riley Chase - der sie total verwirrt. Gibt er ihr doch das Gefühl, einfach nur eine begehrenswerte Frau zu sein und nicht die reiche Promi-Erbin …

EIN HOLLYWOOD-MÄRCHEN FÜR DR. MORGAN von FRASER, ANNE
Oh nein! Ein Blick auf sexy Stuntman Kendrick, und Elizabeth Morgan, die neue Ärztin am Filmset, möchte am liebsten weglaufen. Schließlich wollte sie über den Job eine schmerzliche Liebe vergessen. Ein Herzensbrecher wie Kendrick hilft ihr sicher nicht dabei, oder?


  • Erscheinungstag 16.08.2013
  • Bandnummer 0059
  • ISBN / Artikelnummer 9783954466757
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Carol Marinelli, Marion Lennox, Anne Fraser

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 59

CAROL MARINELLI

Unser kleines, süßes Wunder

Ehe-Aus wegen unerfülltem Kinderwunsch? Lange Jahre haben James und Ava vergeblich versucht, ein Kind zu bekommen. Aus lauter Frust hat Ava ihn jetzt aus ihrem gemeinsamen Schlafzimmer verbannt – die Trennung droht. James bleibt nur eins, um das Glück zurückzuholen: Er muss Ava noch einmal verführen und sie überzeugen, dass die Liebe niemals aufgibt …

MARION LENNOX

Zu reich zum Verlieben?

Das Herz kennt keine Verbote, oder doch? Als Flying Doctor Riley Chase die Millionenerbin Phillippa aus dem Meer rettet, wird sie seine Patientin. Eigentlich ein ganz normaler Vorgang. Doch bei der bezaubernden Phillippa ist nichts normal. Denn Rileys Prinzip „Verlieb dich nie mehr in eine reiche Frau“ gerät bei Phillippa in Gefahr …

ANNE FRASER

Ein Hollywood-Märchen für Dr. Morgan

Was für eine Frau! Hollywood-Stuntman Kendrick ist mehr als fasziniert von Elizabeth Morgan, der neuen Ärztin am Filmset. Doch die bildschöne Londonerin gibt sich kühl, versteckt sich hinter ihrer Arbeit und scheint Zärtlichkeit und Gefühle aus ihrem Leben verbannt zu haben. Eine besondere Herausforderung für Kendrick, ihr zu zeigen, was sie versäumt …

PROLOG

Ich rufe ihn an.

Ava Carmichael saß in ihrem Sprechzimmer im Sydney Harbour Hospital und starrte auf ihr Telefon, als könnte es ihr helfen, die Hand auszustrecken, den Hörer aufzunehmen und ihren Mann anzurufen.

Gerade erst hatte sie ein Paar aus der letzten Beratungsstunde entlassen und ihm das mit auf den Weg gegeben, was sie zum Ende einer Therapie am liebsten sagte: Gute Kommunikation ist der Schlüssel. Wenn ihr miteinander redet, wenn ihr euch öffnet, dann wird alles besser.

Als Spezialistin für sexuelle Funktionsstörungen – oder Sex­therapeutin, wie jeder sie nannte – gab Ava solche Ratschläge oft.

Es wird Zeit, dass Frau Doktor ihre eigene Medizin schluckt, dachte sie, griff zum Hörer und wählte James’ Handynummer. Kurz vor der letzten Ziffer überlegte sie es sich anders und legte auf. Gedankenverloren drehte sie sich eine ihrer langen dunklen Haarsträhnen um den Finger. Was soll ich ihm überhaupt sagen?

Dass sie ihn vermisste?

Dass es ihr leidtäte?

Ava wusste nicht, wo sie anfangen sollte.

Ihr Mann wohnte seit drei Monaten in Brisbane, wo er einen befristeten Lehrauftrag an einer Medizinischen Hochschule angenommen hatte. Lächerlich eigentlich, weil James mit Leib und Seele Onkologe war, ein Arzt, bei dem die Patienten an erster Stelle kamen. Und er las Forschungsergebnisse lieber, als dass er sie selbst produzierte. James, ihr James, liebte die Arbeit mit seinen Patienten. Er war kein Lehrer.

Bei dem Gedanken musste sie lächeln.

Die Medizinstudenten gingen ihm auf die Nerven. Er erklärte seine Entscheidungen nicht gern.

James war ein echter Kerl, ein Schrank von Mann, groß und gut aussehend, aufrichtig. Manchmal war er vom Dienst nach Hause gekommen, hatte sich aufs Sofa geworfen und sich beklagt, dass er seinen Patienten die Diagnose nicht unter vier Augen mitteilen konnte. Vor allem bei schlechten Neuigkeiten.

„Das Sydney Harbour ist ein Lehrkrankenhaus“, sagte sie dann, während sie auf dem Fußboden ihre Pilatesübungen machte. „Die Studenten müssen es doch lernen.“

„Ja, klar. Aber wie würdest du es denn finden, wenn zwei Studenten daneben sitzen, während du mit jemandem darüber reden willst, dass sein Ding nicht mehr funktioniert?“

Natürlich bestand ihre Arbeit nicht nur aus solchen Gesprächen, aber James hatte recht, und er brachte sie zum Lachen, als er danach zu ihr auf den Boden kam, um zu beweisen, dass seins funktionierte …

Unbeschwerte Abende wie diese hatte es gegeben, auch die unbefangenen Gespräche über die Arbeit. Nur leider schienen solche Momente unendlich lange her zu sein.

Ja, er liebte seine Patienten, und sie liebten ihn. Der wahre Grund, warum er diesen Posten angenommen hatte, war ihnen beiden bewusst, obwohl sie es nie ausgesprochen hatten: Sie brauchten Abstand voneinander, drei Monate, um sich darüber klar zu werden, wie es weitergehen sollte.

James und Ava waren seit sieben Jahren verheiratet, aber schon seit einer halben Ewigkeit zusammen. Sie hatten sich auf der Universität kennengelernt. Ava erinnerte sich noch genau, wie schüchtern sie damals mit achtzehn gewesen war, als sie zum ersten Mal die Liebe entdeckte. James, drei Jahre älter als sie, sah blendend aus und eroberte mit seinem humorvollen Charme ihr Herz im Sturm. Was bestimmt auch daran lag, dass er der erste Mensch war, der wirklich Zeit mit ihr verbringen wollte.

Wie James war auch sie ein Einzelkind, doch sie hätten nicht unterschiedlicher aufwachsen können. James wurde von seinen Eltern vergöttert, während Avas nie einen Hehl daraus machten, dass sie ein Versehen war, ein Unfall, der nicht hätte passieren dürfen. Ihr Kind war ihnen nur eine Last, sodass sie es wechselnden Kindermädchen überließen und ihr Leben weiterlebten, wie sie es gewohnt waren – für ihre Karriere und mit unzähligen Seitensprüngen, die, so versicherten sie beide, ihre Beziehung lebendig erhielt.

Nach einer trostlosen Kindheit und Jugend entdeckte sie eine völlig neue Welt, als sie James begegnete. Und sie war überglücklich, dass er die gleichen starken Gefühle für sie hegte. Beide hatten sie den Menschen gefunden, der ihr Leben vollkommen machte. In ihren Freundeskreisen galten sie als das ideale Paar, und lange Zeit war ihre Beziehung ein wahr gewordener Traum.

Inzwischen war James sechsunddreißig, aber sie brauchte ihn nur anzublicken und spürte sofort das sinnliche Prickeln wie damals mit achtzehn. Und er hatte sie immer zum Lachen gebracht. Zwar hätte sie ihn nicht gerade als romantisch bezeichnet, aber ihre Liebe zueinander ging so tief, dass Ava sie für unbesiegbar gehalten hatte.

Doch seit zwei Jahren kriselte es in ihrer Ehe. Mit jeder Fehlgeburt hatten sie sich weiter auseinandergelebt, und mittlerweile redeten sie kaum noch miteinander. Sie schrieben sich E-Mails, aber das war auch alles. Ziemlich wenig an Kommunikation, dachte Ava traurig.

Nachdenklich blickte sie auf ihren Computer und rief dann die letzte Mail von James auf. Er gab ihr nur seine Flugdaten durch und das so unpersönlich, dass es wie eine Benachrichtigung von der Verwaltung wirkte.

Sofort war es wieder da, das nagende Misstrauen, das sie schon einmal dazu gebracht hatte, ihr gemeinsames Konto zu überprüfen. Und sie fühlte sich bestätigt, als sie die Abbuchungen sah. Ava traute ihren Augen nicht – ausgerechnet James kaufte in Herrenboutiquen ein!

Ihr James, der jedes Jahr zu Weihnachten und seinem Geburtstag seinen Kleiderschrank aufstockte, aber nur, weil Ava die Sachen für ihn besorgte. In den letzten Wochen jedoch war er ein paar Mal in schicken Läden gewesen und hatte, den Beträgen nach zu urteilen, viel Spaß beim Shopping gehabt.

Und dann die Barabhebungen, hundert Dollar hier, zweihundert Dollar da. Seltsam bei einem Mann, der so gut wie nie einkaufen ging. Und wofür waren die wöchentlichen Zahlungen, die regelmäßig abgebucht wurden?

Zwei Minuten später, nach einer kurzen Recherche im Internet, hatte sie die Antwort.

Ihr Mann, der am liebsten auf dem Sofa lag und sich darüber lustig machte, dass sie bei ihren Pilatesübungen schwitzte, war vor zwei Monaten einem mit allen Schikanen ausgestatteten Fitnessstudio beigetreten.

Noch nie in ihrem Leben war Ava auf die Idee gekommen, dass James sie betrügen könnte. Jetzt hatte sie erste Zweifel. War sie zu naiv gewesen? Sie fühlte sich nicht besser, als sie merkte, dass sie mit dem Gedanken spielte, ihre Mutter um Rat zu fragen.

Ruf ihn an, sagte sie sich. Sofort, von deinem Büro aus. Denn wenn sie erst zu Hause war, würde sie so lange mit sich hadern, bis sie es gar nicht mehr wagte, und dann in Tränen ausbrechen. Es verging kein Abend, an dem sie nicht heulend im Bett lag. Vielleicht konnte sie sich besser beherrschen, wenn sie hinter ihrem Schreibtisch saß.

Und direkter sein.

„Hi!“, sagte sie betont munter, als er abnahm.

„Ava?“ Er klang überrascht. Kein Wunder, es war halb sieben abends, und sie rief selten an. „Ist alles in Ordnung?“

„Natürlich. Muss es ein Problem geben, damit ich mit dir reden kann?“

„Äh … nein.“

Er war auf der Hut, das spürte sie so deutlich, als würde sie ihm persönlich gegenüberstehen. „James, ich weiß, es war in letzter Zeit …“

„Ava, kann ich dich zurückrufen?“ Kam es ihr nur so vor, oder wirkte er verlegen? James war nie verlegen.

„Hast du Besuch?“, entfuhr es ihr.

Schweigen am anderen Ende. Dann: „Ich rufe dich in zehn Minuten zurück.“

Ein ungutes Gefühl, das sie seit Tagen nicht mehr losließ, verstärkte den Druck in ihrem Magen. Vielleicht hat er einen Kollegen bei sich, versuchte Ava sich zu beruhigen. Allerdings hatte ihn das noch nie davon abgehalten, mit seiner Frau zu sprechen.

Fünf Minuten später klingelte das Telefon. „Entschuldige bitte, da bin ich wieder.“

„Warum konntest du nicht reden?“

„Ist nicht wichtig …“ Sie sah ihn förmlich vor sich, wie er mit den breiten Schultern zuckte, ein untrügliches Zeichen, wenn er sich abschottete. „Also, was gibt’s?“

„Ist nicht so wichtig …“ Was du kannst, kann ich auch, dachte sie trotzig.

„Ava.“ Sie hörte ihm an, dass er irritiert war. „Es tut mir leid, dass ich gerade nicht reden konnte, aber jetzt geht es – du hattest nur einen schlechten Zeitpunkt erwischt.“

„Wann ist denn der richtige?“, fauchte sie. „Als ich dich neulich angerufen habe, konntest du auch nicht sprechen …“ Weil er außer Atem gewesen war! Ava hatte morgens um sieben versucht, ihn zu erreichen, aber er nahm nicht ab. Beim zweiten Versuch, ungefähr fünf Minuten später, war er rangegangen. Hatte verschlafen getan, aber immer noch atemlos geklungen.

Er hat eine Affäre, ich weiß es! Aber eigentlich wollte sie nichts davon wissen. Ava hatte immer gedacht, dass ihre Ehe scheiterte, weil sie Probleme hatten. Nicht, weil eine andere Frau dahintersteckte …

Andererseits war sie nicht blöd. Wie lange hatten sie nicht mehr miteinander geschlafen? Seit mindestens einem Jahr bestimmt. Paradiesische Zustände für James in Brisbane, er konnte tun und lassen, was er wollte. Verrückt, dass sie nicht längst darauf gekommen war!

„Soll ich für den Geburtstag deiner Mutter eine Torte bestellen?“, fragte sie, als ob nichts wäre.

„Ja, bitte.“

„Und das Geschenk?“

„Ich weiß nicht … such du etwas aus.“

Ihr Kummer schlug in Ärger um. Mit ihrer Schwiegermutter war Ava nie besonders gut ausgekommen. Veronica Carmichael war ein schwieriger Mensch, anspruchsvoll und seit sie verwitwet war, noch mehr auf ihr einziges Kind fixiert. Ava war für sie nur die Frau, die ihr den Sohn weggenommen hatte und ihr noch nicht einmal Enkelkinder schenken konnte.

Ava hatte zu Veronicas sechzigstem Geburtstag ein kleines Familientreffen arrangiert, das am nächsten Wochenende stattfinden sollte. Am Samstag würde sie ihr ein besonders hübsches Geschenk kaufen, es schön einpacken, und Veronica würde es auswickeln und James überschwänglich dafür danken. Immer wieder würde sie davon schwärmen, was für einen aufmerksamen Sohn sie hätte, während Ava sicher war, dass James auf dem Weg von der Arbeit höchstens eine Glückwunschkarte gekauft und ganz bestimmt keine Party organisiert hätte. Nicht, um seine Mutter zu missachten, sondern einfach, weil er für solche Sachen keinen Kopf hatte. Typisch Mann eben.

Kurz sprachen sie über seinen Rückflug am Montag, und keine dreißig Sekunden später war das Telefonat beendet.

Langsam legte Ava den Hörer auf und sah aus dem Fenster. Sie liebte den Blick auf das idyllische Panorama. Das Sydney Harbour Hospital lag direkt am Hafen, und das Zentrum für sexuelle Funktionsstörungen befand sich in einem der oberen Stockwerke, zusammen mit der Psychologie und der Familienberatung. Sonst würde sich hier niemand aus dem Fahrstuhl trauen, scherzte James manchmal, wenn er sie in der Mittagspause besuchte. Allerdings konnte sie sich kaum erinnern, wann er zuletzt hier gewesen war.

Nichtsdestotrotz hatte sie jeden Morgen, wenn sie ihr Sprechzimmer betrat, das Gefühl, sich kneifen zu müssen. Die Aussicht war atemberaubend. Ava betrachtete das Opernhaus und die mächtige Stahlbrücke, den blauen Ozean, gespickt mit den strahlend weißen Segeln der Boote, und wartete darauf, dass sich die gewohnte Entspannung einstellte.

Es gelang, sie wurde ruhiger, der schale Geschmack, der nach ihrem Gespräch mit James geblieben war, verflüchtigte sich.

Ja, dieser unbeschreiblich schöne Blick auf den Hafen war bei ihrem Job die Sahne auf dem Kuchen.

Der Abend zerfloss jedoch wieder in Tränen. Übernächtigt kam Ava am nächsten Morgen ins Büro.

Während sie versuchte, das friedliche Hafenbild auf sich wirken zu lassen, klopfte es kurz, dann ging die Tür auf, und ihre Sekretärin Ginny betrat das Zimmer, in der Hand einen riesigen Blumenstrauß.

„Oh, dein James ist ja so romantisch“, schwärmte sie.

Das war der endgültige Beweis. James hat eine Affäre.

Kein einziges Mal in den sieben Jahren ihrer Ehe hatte er ihr Blumen geschickt, nein, nicht einmal, als er damals um sie warb. Es passte einfach nicht zu ihm. Warum soll ich Blumen schicken? würde er achselzuckend denken. Ich habe doch nichts verbrochen.

Sie las die blütenweiße Karte.

Du fehlst mir. Wir sehen uns Montag.

James

Eine Erinnerung tauchte in ihr auf, wurde mit jedem Moment klarer.

Es war vor zwei, drei Jahren gewesen.

Ja, vor drei Jahren, an ihrem Hochzeitstag. Sie hatten über Kinder gesprochen und fanden beide, dass jetzt ein guter Zeitpunkt für ein Baby wäre. Ava stand beruflich auf festen Füßen und war zuversichtlich, dass sie Mutterschaft und Karriere unter einen Hut bringen konnte. Besser als ihre Mutter jedenfalls.

James hatte Ava einen Ring geschenkt mit einem großen, goldbraun schimmernden Bernstein, den sie heute noch täglich trug. Er erinnert mich an deine Augen, hatte James gesagt. Danach waren sie essen gegangen, in ein elegantes Restaurant, wo er einen Tisch bestellt hatte, und es wurde ein wundervoller Abend.

Zu Hause angekommen, beschwerte sie sich gutmütig darüber, dass sie keine Blumen bekommen hätte, aber dann waren sie zusammen ins Bett gefallen und hatten sich leidenschaftlich geliebt.

Die Erinnerung tat weh, als sie James vor sich sah, sein großer Körper auf ihrem, das Kinn von dunklem Bartschatten bedeckt, seine wundervollen grünen Augen – und sein sinnliches Lächeln. „Männer schicken nur Blumen, wenn sie ein schlechtes Gewissen haben“, hatte er gesagt.

„Genau, James“, murmelte Ava vor sich hin und hätte den Blumenstrauß am liebsten aus dem Fenster geworfen. Aber hier oben ließen sich die Fenster nicht öffnen, und da kam Ginny auch schon mit einer Vase.

„Stell sie bitte draußen ins Wartezimmer. Die Patienten freuen sich bestimmt.“

„Kommt nicht infrage.“ Ginny stellte Vase und Blumen auf Avas Schreibtisch. „Er hat sie für dich geschickt.“

Und da prangten sie in herrlichen Farben, und ihr süßer Rosen­duft stieg Ava in die Nase. Sie wünschte, sie würden verwelken und vergehen.

Wie ihre Ehe.

1. KAPITEL

„Sie haben die OP abgesagt.“

Ava antwortete nicht gleich, sondern betrachtete ihre Kollegin Evie Lockheart mitfühlend. Die Unfallärztin lehnte an der Wand, hatte die Augen geschlossen und kämpfte sichtlich mit den Tränen. Ava hatte sie gerade getroffen, als sie wie benommen den Krankenhausflur entlangging. Und auch wenn sie Evie nicht besonders gut kannte, so mochte sie sie. Sie hatten sich gelegentlich unterhalten, und jeder im Sydney Harbour wusste, dass Finn Kennedy heute operiert werden sollte.

Es war ein komplizierter, hochriskanter Eingriff. Ava wusste bereits, dass er gestrichen worden war. In diesem Krankenhaus verbreiteten sich Neuigkeiten wie ein Lauffeuer, und sie wagte kaum, sich vorzustellen, wie Finn reagiert hatte.

„Nicht abgesagt“, antwortete sie schließlich und berührte ihren Arm. „Nur verschoben.“

„Kann sein, dass es aufs Gleiche rauskommt“, meinte Evie matt. „Er hat nur geknurrt, sie bräuchten ihn gar nicht erst wieder auf die Liste zu setzen, und mir dann gesagt, ich sollte verdammt noch mal verschwinden.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich möchte dich damit nicht behelligen.“

„Komm mit in mein Zimmer“, schlug Ava vor, während zwei Krankenschwestern vorbeigingen und Evie neugierige Blicke zuwarfen. Finn und Evie gehörten zu den heißesten Gesprächsthemen hier am Harbour. Finn war leitender Chefarzt der Chirurgie und ein eindrucksvoller Mann, aber auch bekannt für sein grantiges Auftreten und ein seltenes Talent, so ziemlich jeden gegen sich aufzubringen. Seine fachlichen Qualitäten waren jedoch unbestritten, seine Operationen legendär.

In letzter Zeit hatte er allerdings nicht mehr operieren können, was seine ohnehin miserable Laune noch verschlechterte. Die arme Evie hatte einiges auszuhalten. „Wir können auch dort einen Kaffee trinken. Du möchtest jetzt wahrscheinlich lieber nicht in der Cafeteria sitzen, oder?“

Evie schüttelte stumm den Kopf und begleitete Ava den Flur entlang, dann nach links zu den Fahrstühlen. Oben angekommen verließen die beiden Frauen schweigend den Aufzug, nickten Donald, einem der Therapeuten, grüßend zu, bevor sie Avas Räume betraten.

Ginny hatte von einer anderen Abteilung eine Nachricht für sie.

„Ich rufe später zurück“, sagte Ava. „Die nächste halbe Stunde möchte ich nicht gestört werden, danke, Ginny.“

Sie betraten ihr Sprechzimmer, das weniger an ein Büro als eher an ein Wohnzimmer erinnerte. Zwar stand hier ein Schreibtisch, der mit Papieren und Akten übersät war, aber durch die beiden Sofas und den niedrigen Couchtisch wirkte der Raum gemütlich. In eine Wandnische war eine kleine Küchenzeile eingebaut, wo Ava Tee oder Kaffee kochen konnte. Oft nutzte sie die Gelegenheit auch, um eine Gesprächspause zu entschärfen und ihren Patienten einen Moment für sich zu gönnen.

„Finn würde mir nie verzeihen, wenn er wüsste, dass ich ins Büro einer Sextherapeutin gehe, um über ihn zu reden …“ Ein schwaches Lächeln huschte über Evies Gesicht, während sie sich auf eins der bequemen Sofas sinken ließ.

Ava wandte sich um. „Was meinst du, wie oft ich so etwas tagtäglich höre.“ Sie ahmte eine mürrische Männerstimme nach: „Also, ich hätte nie gedacht, dass ich mich hier wiederfinde …“ Ava schenkte Kaffee in zwei Tassen, ließ sich dabei aber Zeit, um Evie die Möglichkeit zu geben, sich zu fassen.

„Tja …“ Evie lachte ironisch auf. „Zumindest wissen wir, dass Finn auf dem Gebiet keine Therapie nötig hat.“

Ava widersprach nicht, dachte sich jedoch ihren Teil. Was Frauen betraf, so hatte Finn am Sydney Harbour einen besonderen Ruf weg. Es wäre interessant, der Ursache dafür auf den Grund zu gehen. Aber natürlich konnte sie nicht mit Evie darüber sprechen, warum Finn ständig neue Frauenbekanntschaften suchte.

„Was für eine Aussicht!“ Evie hatte zum ersten Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte, Augen für ihre Umgebung. „Vielleicht sollte ich vorschlagen, die Notaufnahme hierher zu verlegen.“

„Die Sanitäter würden dir nie verzeihen“, sagte Ava. „Soll ich dich allein lassen?“ Sie reichte ihr die dampfende Tasse. „Die Reinigungskräfte waren schon da.“ Unwillkürlich blickte sie zum Schreibtisch, fühlte sich wieder verspottet von den prachtvollen Rosen. „Mein nächster Patient kommt erst in einer Stunde, du wärst also ungestört.“

„Nein, bleib ruhig. Es ist schön, ein bisschen zu reden, ohne dass mich alle Leute beobachten.“

„Für Finn muss es besonders schwierig sein, sich hier operieren zu lassen – als Chef der Chirurgie. Allerdings gibt es kein besseres Krankenhaus.“ Ein anderes als das hochmoderne Sydney Harbour Hospital kam nicht infrage. Aber selbst die beste Ausstattung und die renommiertesten Operateure konnten nicht garantieren, dass der Eingriff problemlos verlief. Auch wenn Finn sich erhoffte, dass er danach wieder selbst operieren konnte, so war eine Lähmung nicht ausgeschlossen. Vielleicht würde er für den Rest seines Lebens im Rollstuhl sitzen.

Ava wusste so genau Bescheid, weil Finn vor der Operation zu einem Beratungsgespräch verpflichtet gewesen war. Im Team wurde diskutiert, wer das übernehmen sollte, und Ava hatte von vornherein abgelehnt. Zwar kannte sie Finn nicht besonders gut, aber sie waren Nachbarn im Kirribilli Views, einem Apartmenthaus, in dem viele Kollegen aus dem Harbour wohnten. Ava wollte Finn nicht in Verlegenheit bringen, wenn sie sich begegneten.

Schließlich hatte ihr Kollege Donald das Gespräch geführt.

Donald war ein sehr erfahrener Therapeut, der sowohl Familien- als auch Sexualberatungen übernahm, und seine Patienten hielten große Stücke auf ihn. Aber er war sehr direkt, und Ava fragte sich, wie Finn darauf reagiert hatte.

Sie selbst behandelte viele Patienten mit Wirbelsäulenproblemen, und sie liebte es, Beziehungen zu retten und Menschen aufzuzeigen, dass es ein Leben nach der Krankheit gab. Ja, sogar ein befriedigendes Sexualleben, selbst nach schweren Unfällen oder Erkrankungen. Ihre Arbeit konzentrierte sich mehr und mehr auf Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen, ein Grund dafür, dass sie mit Evie ins Gespräch gekommen war.

Evie arbeitete in der Notaufnahme und war eines Tages hier oben aufgetaucht, um über „einen Patienten“ zu sprechen. Ava ahnte, dass es um Finn ging. Finns Bruder war wie er Soldat gewesen. Bei einem Bombenangriff wurde er so schwer verletzt, dass er in Finns Armen starb. Ein Splitter derselben Granate, die den Bruder getötet hatte, steckte noch immer in Finns Nacken und verursachte ihm starke Gesundheitsprobleme.

Manchmal fragte sich Ava, ob Finn jemals ihre Auseinandersetzungen mit James mitbekommen hatte. Finn war immer sehr zurückhaltend, nicht der Typ, der stehen blieb, um zu plaudern, wenn sie sich mal auf der Treppe begegneten. Ein gelegentliches knappes „Guten Morgen“ war alles, was sie von ihm hörte.

Und wenn er sich morgens im Fahrstuhl über ihre verquollenen roten Augen wunderte, sagte er nichts. Er klingelte auch nicht wie ein mitfühlender Nachbar an ihrer Wohnungstür, als sie das letzte Baby verloren hatte. Bei der Erinnerung daran zuckte Ava insgeheim zusammen.

Finn stand im Lift, als bei ihr die Krämpfe anfingen, und sie wollte nur noch in ihr Apartment, ihre Ärztin anrufen und sich hinlegen. Aber dann packte sie ein messerscharfer Schmerz, und sie krümmte sich zusammen. Ohne die Miene zu verziehen, half Finn ihr zu ihrer Wohnungstür und rief James an. Danach verlor er kein Wort darüber, nickte ihr nur kurz zu, wenn sie sich im Flur trafen. Ava war ihm dankbar, dass er nie fragte, wann James zurückkäme oder wie es ihr ginge.

Es war, als respektiere er ihren Kummer als etwas, das man nicht unnötig breittrat. Wer wollte den Schmerz noch verschlimmern, indem er darüber redete? So ging Finn damit um, bei anderen – und bei sich auch.

„Ich mag gar nicht daran denken, dass wir jetzt alles noch mal durchmachen müssen“, unterbrach Evie sie in ihren Gedanken. „Bei Finn kann man nicht sicher sein, ob er der Operation wieder zustimmt.“

„Warum wurde sie verschoben? Ich dachte, das Team wäre bereit, der Eingriff seit Wochen geplant.“

„Bei einem der Instrumente gibt es Probleme“, erklärte Evie. „Sie können es nicht kalibrieren. Aus den USA kommt extra ein Techniker her, um es einzurichten. Der nächste Termin wäre frühestens in einer Woche. Aber natürlich wollen sie nicht den geringsten Fehler riskieren.“

„Was hat Finn gesagt, als er es erfuhr?“

„Nicht viel – ein paar knappe Worte, dann nahm er die Infusion ab, zog seinen Anzug an, sagte mir ziemlich unfreundlich, ich solle mich verziehen, und jetzt arbeitet er wieder. Er machte gerade Visite, und ich möchte nicht in der Haut derjenigen stecken, die in seiner Nähe sein müssen. Ava …“ Evie sah sie bedrückt an. „Finn und ich … wir sind nicht richtig zusammen, und ich weiß, wie gemein er manchmal sein kann, aber … in den letzten Tagen waren wir uns sehr nahe. Gestern Abend …“ Sie lachte verlegen auf. „Ich fasse es nicht, dass ich darüber rede!“

„Keine Sorge, ich werde nicht so schnell rot.“

„Es war eine wundervolle Nacht, nicht nur Sex, sondern so zärtlich und vertraut, wie ich mir … Liebe vorstelle.“ Evie schwieg einen Moment. „Und vorhin, einfach so, hat er mich praktisch aus dem Zimmer geworfen.“

„Lass ihm ein bisschen Zeit“, riet Ava. „Er hatte sich auf diese Operation eingestellt, und als sie in letzter Minute abgesagt wurde …“

„Aber das passiert immer wieder“, unterbrach Evie sie. „Andere Beziehungen brechen deswegen auch nicht gleich auseinander. Er meinte noch, dass er jetzt nachvollziehen kann, wie sich Patienten fühlen, deren OP wir absagen.“

„Oh, bekommen wir etwa einen neuen, mitfühlenden Finn?“

„Finn und mitfühlend?“, spottete Evie, lächelte aber, und Ava freute sich darüber. Im Grunde ihres Wesens war sie ein fröhlicher Mensch und fand, dass Humor immer half.

Nun ja, nicht immer.

Evie trank ihren Kaffee, und auch Ava sagte nichts mehr. Vielleicht brauchte Evie das angenehme Schweigen, diese friedliche Ruhe, bevor sie sich wieder in die hektische Betriebsamkeit der Notaufnahme stürzte.

Schließlich leerte sie die Tasse und stand auf. „Vielen Dank, Ava.“

„Komm gern jederzeit wieder, wenn du ein Paar offene Ohren brauchst.“

„Ach …“ Evie fiel etwas ein. „Dein toller Mann kommt heute zurück, oder?“

„Ja, heute Vormittag. Wahrscheinlich fährt er direkt zur Arbeit. So ist James nun mal.“

„Na, ihr seht euch doch heute Abend. Er ist bestimmt der glücklichste Mann der Welt, verheiratet mit einer Sextherapeutin …?“

Ava setzte ein Lächeln auf. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft am Tag ich genau das höre.“

Und sie hatte es sooo satt!

Wie musste James erst zumute sein?

Dass alle annahmen, sie müssten das perfekte Liebesleben und eine wundervolle Beziehung haben, bedeutete für sie nur zusätzlichen Druck. Als ob Ava Carmichael, mit der man über alles reden konnte und die mit sensiblen Themen äußerst geschickt umging, auch zu Hause so war!

Ava stand allein in ihrem Büro am Fenster, sah auf das im Sonnenlicht glitzernde Wasser des Hafenbeckens und fragte sich, ob sie darauf verzichten könnte. Nicht auf den spektakulären Ausblick, sondern auf ihre Arbeit am Harbour. Eigentlich nicht. Sie wollte weder in einem anderen Krankenhaus anfangen noch eine eigene Praxis eröffnen. Andererseits konnte sie nicht darauf bauen, dass James sich eine neue Stelle suchte. Wer das Glück – und die Qualifikationen – hatte, im Sydney Harbour Hospital zu arbeiten, warf es nicht einfach wieder weg.

Aber wie musste es sein, dem Exmann ständig über den Weg zu laufen?

Exmann. Da, sie hatte es gewagt, hatte das Wörtchen gedacht. Und es gefiel ihr überhaupt nicht.

Viel schlimmer noch fand sie allerdings die Vorstellung, dass sie dann ja James’ Exfrau war …

„Hübsche Blumen.“ Elise wirkte nervös, aber George war nicht so feindselig wie bei ihrem letzten Gespräch. „Von Ihrem Mann?“

„Ja.“ Ava lächelte freundlich. „Bitte nehmen Sie Platz.“

Das Ehepaar kam seit ein paar Monaten zu ihr. Für George und Elise war es ein schwieriger Prozess, bei dem es mit wenigen Sitzungen und dem Verordnen von Medikamenten nicht getan war.

Im letzten Jahr hatte es während der Arbeit einen Unfall gegeben, bei dem George schwer verletzt wurde und überdies noch mit ansehen musste, wie sein Kollege starb. Es waren nicht die körperlichen Wunden, die ihm zu schaffen machten. Wieder und wieder hatte er die schrecklichen Momente durchlebt und war danach jedes Mal in ein dunkles Loch voller Depressionen und Ängste gestürzt.

Sein Hausarzt verschrieb ihm Antidepressiva, die jedoch seine Libido beeinträchtigten. Das trieb ihn noch mehr in den Teufelskreis aus Niedergeschlagenheit und Verstörung. Als das Paar dann Ava aufsuchte, hatte es bereits aufgegeben – nicht nur ihr Liebesleben, sondern auch ihre Beziehung.

Ava vereinbarte mit ihnen gemeinsame Termine, aber auch Einzelgespräche mit George, bei denen es eher um den Unfall und die daraus entwickelte posttraumatische Belastungsstörung ging. George quälte sich oft mit dem Gedanken herum, dass der tödlich verunglückte Kollege so viel jünger gewesen war als er selbst.

„Wie geht es Ihnen?“, fragte Ava.

„Gut.“ George reichte ihr eine Mappe. „Meine Hausaufgaben habe ich gemacht.“

Ava lächelte und nahm sie. Ihre Methoden waren manchmal unkonventionell, und bei einigen Paaren achtete sie darauf, dass sie mehr Spaß miteinander hatten. George und Elise hatte sie geraten, Scrabble zu spielen, zusammen spazieren zu gehen und sich Quizfragen auszudenken, um einander besser kennenzulernen. Kleine Schritte eben.

„Elise?“ Der besorgte Ausdruck ihrer Patientin vertiefte sich, und als Elise ihre Mappe herüberreichte, war sie sichtlich den Tränen nahe. „Elise, die Aufgaben sind nur zum Spaß.“

„Das ist es nicht.“ Sie wurde rot. „Sie haben gesagt, wir sollen keinen …“ Elise brachte das Wort nicht über die Lippen.

„Ich hatte vorgeschlagen, dass Sie nicht versuchen sollten, Sex zu haben.“

Um von George den Druck zu nehmen, hatte Ava ihnen den Rat gegeben, auf Sex zu verzichten – nur küssen und Händchen halten war erlaubt. Etwas, das die beiden anscheinend seit langer Zeit nicht mehr getan hatten.

„Haben wir auch nicht“, versicherte Elise.

„Gut.“

„Wir haben uns nur ein bisschen hinreißen lassen“, gab George zu.

Mehr als nur ein bisschen, wie sich im weiteren Verlauf des Gesprächs herausstellte! Als die Therapiestunde endete, lächelten alle drei. „Ich sehe Sie dann im nächsten Monat, und Sie in zwei Wochen, George“, sagte Ava. „Und halten Sie sich diesmal an die Regeln, ja?“

Wieder allein in ihrem Büro freute sie sich über ihren Erfolg. Die beiden hatten zwar noch einen langen Weg vor sich, doch eines Tages würden sie ihr Ziel erreichen. Davon war Ava überzeugt.

„Ava?“ Es klopfte im selben Moment, als sie auch die Stimme hörte. Elise und George hatten die Tür angelehnt gelassen. Avas Magen verkrampfte sich, und sie drehte sich zögernd um.

„Hallo, James.“ Da stand er, groß, stark, gut aussehend und … verändert. Sein hellbraunes Haar, sonst meistens etwas zu lang und leicht zerzaust, hatte einen modernen Schnitt. Auch war er tadellos rasiert, was sie bei ihm selten zu sehen bekam. Sonst machte sein Kinn höchstens alle drei Tage Bekanntschaft mit einem Rasierapparat. Auch die Kleidung war anders.

Normalerweise trug James Jeans und T-Shir­t, vielleicht noch einen Pullover, je nach Jahreszeit. Seine Patienten, meinte er, hätten anderes im Kopf, als sich dafür zu interessieren, ob ihr Arzt einen Anzug anhatte oder nicht. Natürlich hatte er gelegentlich einen getragen – und darin umwerfend ausgesehen.

Heute trug er zwar keinen Anzug, aber eine graue Leinenhose und ein schwarzes Hemd, die an ihm lässig und elegant zugleich wirkten. Ava war hin und weg, und gleichzeitig zerriss es ihr das Herz. James kaufte sich nie neue Kleidung, es interessierte ihn einfach nicht. Wer hat ihm die Sachen gekauft? fuhr es ihr durch den Sinn. Oder wenn er sie selbst gekauft hat, wen wollte er damit beeindrucken?

Die Fragen taten weh, und flüchtig erschreckte sie eine Vision zukünftiger Tage: Wie würde es sein, mit James in diesem Krankenhaus zu arbeiten, zu sehen, wie der Mann, den sie liebte, sich vor ihren Augen veränderte? Nicht mehr zu ihr gehörte, mit anderen Frauen ausging …?

„Du hast abgenommen“, sagte sie. James war sehr groß und hatte nie übergewichtig gewirkt, aber jetzt stand er deutlich schlanker vor ihr, breitschultrig, durchtrainiert.

„Ein bisschen“, antwortete er achselzuckend.

„Wie war dein Flug?“ Wie steif und formell klang das! Dabei wäre sie am liebsten zu ihm gelaufen, hätte sich an ihn geschmiegt und ihm gesagt, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Stattdessen begrüßte sie ihn wie einen Kollegen, der auf Dienstreise gewesen war.

James schien den gleichen Eindruck zu haben. Er antwortete nicht auf ihre Frage, sondern warf ihr einen ungläubigen Blick zu. Ist das alles, was du mir nach drei Monaten zu sagen hast? las sie in seinen Augen.

„Wir sehen uns heute Abend“, meinte er schließlich, wandte sich ab, hielt jedoch inne. „Ava, wir müssen miteinander reden.“

Das sagte er seit Monaten, nein, eigentlich seit Jahren, nachdem sie sich mehr und mehr abgeschottet hatte. Aber sie ahnte, dass diesmal eine andere Unterhaltung gemeint war. „Ich weiß.“

„Also, dann heute Abend.“ Er kam nicht zu ihr, um ihr einen Kuss zu geben, sondern drehte sich einfach um und ging. Im Zimmer zurück blieb sein Duft, vertraut und doch fremd. James hatte bisher nie Aftershave benutzt.

Ava wünschte, sie hätte weitere Patienten heute Morgen, damit sie über die Probleme anderer nachdenken konnte statt über ihre eigenen.

Leider stand Unterricht auf ihrem Plan.

Ihr kleiner Aktenkoffer war gepackt, gefüllt mit Hilfsmitteln, die die Pflegeschüler und – schülerinnen zum Lachen bringen würden. Und wenn die Verlegenheit verflogen war und alle entspannt zuhörten, fiel ihr Vortrag sicher auf fruchtbaren Boden. Sie würden sich an ihre Worte erinnern, später im Umgang mit ihren Patienten, und dem einen oder anderen behutsam erklären können, dass Hilfe möglich war.

Doch als sie vor ihnen stand, fröhlich, lachend, die kompetente Sextherapeutin, die mit dem atemberaubenden James verheiratet war, kam sie sich wie eine Betrügerin vor.

Sie konnte sich kaum noch erinnern, wann sie zuletzt mit ihm geschlafen hatte. Körperlich waren sie sich schon lange nicht mehr nahe. Da wäre es mehr als blauäugig, darauf zu vertrauen, dass er sich in den letzten drei Monaten keine andere gesucht hatte.

Eine Frau, für die er an Gewicht abnahm, für die er seinen Körper im Fitnessstudio stählte, für die er sich schicke neue Kleidung kaufte und ein teures Aftershave. Das war nicht der James, den sie kannte. Den hatte sie vor langer Zeit verloren.

Und ihre Ehe gleich mit.

2. KAPITEL

„Hey, sieh dich an!“

Die Krankenschwester am Empfang begrüßte ihn weitaus herzlicher als Ava, als er nach drei Monaten Abwesenheit die Onkologie wieder betrat.

„Wo bist du gewesen?“, fragte Carla, die diensthabende Stationsschwester.

„In Brisbane.“

„Wow.“ Harriet tätschelte bewundernd seinen muskulösen Bauch, während sie an ihm vorbeiging. James fiel ein, dass Harriet ihm ein bisschen zu nahe gerückt war, bevor er nach Brisbane ging.

„Ava hat einen völlig neuen Mann bekommen“, sagte Carla und zwinkerte ihm zu. „Ich wette, sie ist überglücklich, dass du wieder da bist.“

„Das ist sie.“ Er sah, wie Harriet das Blut in die Wangen schoss, als er die Dinge deutlich klarstellte. „Geht mir genauso – ich war gerade bei ihr.“

In der nächsten Stunde arbeitete sich James durch Krankenakten und studierte Laborergebnisse. Ja, es tat gut, wieder hier zu sein – wenigstens auf der Station. Er versuchte, nicht an Avas lauwarmen oder vielmehr tiefgekühlten Empfang zu denken. Aber verdammt, er hatte gedacht, dass sie ihn vielleicht vom Flughafen abholen würde. Deshalb hatte er ihr die genauen Flugdaten gemailt. Und als sie nicht da war, fuhr er zu Hause vorbei in der vagen Hoffnung, sie könnte sich den Vormittag frei genommen haben, um ihn willkommen zu heißen. Doch sie war bei der Arbeit. Natürlich.

„Heute Morgen haben wir einen neuen Patienten bekommen.“ Carla reichte ihm die Akte. „Richard Edwards. Vergangenen Freitag sollte er seine erste Chemo haben, hat den Termin jedoch abgesagt. Ich dachte, du könntest mal mit ihm reden. Er macht sich große Sorgen, und es würde mich nicht wundern, wenn er sich immer noch weigert.“

„Okay.“ James sah sich die Unterlagen mit den akribischen Notizen seines Kollegen Blake an. Richard war neunzehn. Erst vor Kurzem hatte man bei ihm Prostatakrebs diagnostiziert, im ersten Stadium und mit hoffnungsvollen Werten. Nach einem ausführlichen Gespräch mit Blake war Richard bereit gewesen, sich auf eine Chemotherapie einzulassen. Anscheinend hatte er es sich anders überlegt.

„Wo ist er?“

„Im Aufenthaltsraum. Soll ich ihn in dein Sprechzimmer bringen?“

„Lass nur, ich gehe selbst.“

James machte sich auf den Weg zu dem Zimmer, das Patienten und ihren Angehörigen vorbehalten war. Dort traf er auf Richard und seine besorgten Eltern. „Ich möchte mich mit Richard unterhalten“, sagte er, nachdem er sich vorgestellt hatte.

„Gut, wir kommen mit“, antworteten die Eltern wie aus einem Mund.

James schüttelte den Kopf. „Wir sprechen nachher miteinander, zuerst würde ich gern mit Richard allein reden.“

„Aber es wird ihn sehr mitnehmen …“

„Das ist schon möglich“, meinte James beruhigend. „Deswegen gehen wir ja alles in Ruhe durch – auch mit Ihnen nachher.“

„Danke“, sagte Richard, als er im Sprechzimmer Platz nahm. „Meine Eltern sind großartig, aber …“ Er verstummte und suchte nach Worten.

„Sie stecken nicht in Ihrer Haut?“

„Genau. Sie verstehen nicht, warum ich keine Chemo will, wenn ich doch damit verhindern kann, dass die Krankheit zurückkommt. Dr. Blake hat mir zu der Therapie geraten, aber er sprach auch von Alternativen. Warten und beobachten, sagte er.“ Richard zögerte. „Ich habe gerade eine neue Stelle und eine neue Freundin, die wirklich super und verständnisvoll ist, aber ich kann mir nicht vorstellen … Also, ich achte auf meine Gesundheit, ich bin Vegetarier, und ich habe mich schon informiert …“

„Wir nennen es Beobachten und Abwarten, eine besondere Behandlungsstrategie, in der zunächst nicht behandelt, aber in regelmäßigen Abständen eine Diagnose gestellt wird. Gerade bei Prostatakrebs bietet sie sich an. Wir haben keine Anzeichen dafür entdeckt, dass der Krebs gestreut hat. Sie müssen nur zu regelmäßigen Tests herkommen, und falls sich Ihre Werte verschlechtern, bleibt Ihnen immer noch die Chemotherapie. Einige Patienten entscheiden sich für diese Form, während andere sich lieber sofort behandeln lassen, weil sie sich der Belastung nicht aussetzen möchten.“

James beantwortete geduldig alle Fragen und nannte ihm Quellen, wo er selbst recherchieren konnte. Ihm lag viel daran, dass seine Patienten gut informiert waren, und bei Richard hatte er den Eindruck, dass er besonnen an die Sache heranging. Zum Schluss kam jedoch die Frage, die James so oft gestellt wurde.

„Was würden Sie an meiner Stelle tun?“

Natürlich gab es Variationen dieser Frage: Was würden Sie tun, wenn es Ihre Frau wäre, Ihre Tochter, Ihr Sohn, Ihre Mutter? Und normalerweise antwortete er sofort. Aber vielleicht war er nach drei Monaten als Dozent ein wenig aus der Übung, denn er zögerte einen Moment.

„Das Gleiche wie Sie“, erwiderte er schließlich. „Ich würde abwägen, welcher Weg der bessere für mich ist. Möchten Sie schon einen Termin absprechen, damit wir uns wieder unterhalten können, so in zwei Wochen?“

„Das wäre toll. Reden Sie mit meinen Eltern?“

„Selbstverständlich.“

Es wurde eine schwierige Unterhaltung, doch James nahm sich auch für Richards Eltern viel Zeit und versicherte ihnen, dass ihr Sohn nicht bedenkenlos alle Türen zugeschlagen hatte. Für die Angehörigen ist es hart, sich mit den Tatsachen abzufinden, dachte er, als er später in den Behandlungsbereich zurückkehrte. Sie stehen hilflos davor und können wirklich nichts anderes tun als zusehen und abwarten.

„Keine Chemo?“, fragte Carla.

„Nicht in diesem Stadium“, antwortete James. „Ich habe ihm ein paar seriöse Internetseiten genannt, damit er sich genauer informieren kann.“

Während er seine Notizen eintrug, verstand er Richards Entscheidung mehr und mehr. Die Chemotherapie war eine aggressive Methode, zu der man sich nicht leichtfertig entschließen oder gedrängt werden sollte, wenn man wie Richard das Glück hatte, zwischen zwei Optionen wählen zu können.

James sah durch die Glasscheibe zu den Patienten, die gerade ihre Chemo bekamen. Zwei von ihnen kannte er.

Georgia war wieder da, um tapfer gegen ihren Krebs zu kämpfen. Sie hatte Kopfhörer auf, entdeckte James jedoch und lächelte ihm zu. Er erwiderte ihr Lächeln, ließ aber dann den Blick weiterschweifen, als Georgia die Augen schloss. Heath hingegen, ein junger Mann, den James vor seiner Zeit in Brisbane behandelt hatte, sah weder auf noch schien er überhaupt etwas von seiner Umgebung wahrzunehmen. Er war auf den Bildschirm seines Laptops konzentriert, vermutlich beim Bloggen, seiner Lieblingsbeschäftigung, als könnte die Welt keinen Tag ohne ihn auskommen.

Es konnte durchaus sein, dass sie es musste …

James musste auf dem Weg vom Flughafen zum Krankenhaus in der Wohnung gewesen sein, denn sein Koffer stand im Flur.

Beladen mit Taschen und Einkaufstüten hatte Ava ihr Zuhause betreten und sofort einen Hauch seines Aftershaves wahrgenommen. Ärgerlich riss sie das nächste Fenster auf, um frische Luft hereinzulassen.

Sie bewohnten ein Dreizimmerapartment in Kirribilli Views. Es war ideal für ein junges Ärztepaar und ganz in der Nähe des Sydney Harbour Hospitals. Viele ihrer Kollegen wohnten hier ebenfalls. Ava betrat James’ Arbeitszimmer, wie so oft während seiner Abwesenheit, und sah sich um. Es herrschte die übliche Unordnung. James hatte ihr verboten, hier aufzuräumen, er wüsste schon, wo er suchen müsste, wenn er etwas brauchte.

Auf seinem Schreibtisch stand ihr Hochzeitsfoto, und Ava betrachtete es traurig. Wir waren so jung und glücklich damals, dachte sie, bevor sie weiter in ihr Schlafzimmer ging. Ihr gemeinsames eigentlich, aber in den letzten drei Monaten hatte sie allein hier geschlafen.

Ava achtete zu Hause mehr als in ihrem Büro darauf, dass alles ordentlich und aufgeräumt war. Obwohl es einer Sisyphusarbeit glich, Ordnung zu halten, wenn man mit James zusammenwohnte. Zum Glück hatten sie Gladys, eine wahre Perle, die auch die Apartments der Kollegen sauber hielt. Im vergangenen Vierteljahr musste Gladys geglaubt haben, sie hätte Urlaub, wenn sie diese Wohnung betrat. Na, der Schock würde nicht ausbleiben, sobald James sich hier wieder ausbreitete.

Auch für das angrenzende Bad brachen andere Zeiten an. Arme Gladys. Ava wischte nach jedem Duschen die Glastüren trocken und hängte ihre Handtücher auf die Heizstangen. James ließ seine Kleidung fallen, wo er sich auszog, und seine Handtücher auch. Merkwürdigerweise benutzte er immer dieses Bad, obwohl er schon seit Langem auf dem Sofa schlief. Schließlich hatten sie noch ein Gästebad im Flur. Aber vielleicht wollte James nicht noch mehr das Gefühl haben, Gast in seinem eigenen Zuhause zu sein.

Ava zuckte zusammen, weil ihr Handy sich meldete. Meine Güte, bist du nervös! Sie sah auf das Display – eine SMS von James, dass er gegen sieben zu Hause sei.

Okay, er hatte es also nicht besonders eilig, am ersten Abend nach dreimonatiger Trennung wieder bei seiner Frau zu sein.

Sie räumte die Einkäufe weg und marinierte das Hähnchenfleisch mit frischen Kräutern und Zitronensaft. Dabei versuchte sie sich die ganze Zeit zu sagen, dass sie überhaupt nicht nervös sein musste.

Ihr Mann kam nach Hause, das war alles.

„Tut mir leid, dass es länger gedauert hat.“

Ava fuhr zusammen, als die Haustür aufging und James’ Stimme ertönte.

„Ich war noch bei Mum.“ Er balancierte einen Stapel Essensbehälter in einer Hand, ohne Frage von Veronica, die anscheinend befürchtete, dass ihr Junge verhungern könnte. James beugte sich vor, um Ava einen Kuss zu geben, aber es wurde eine flüchtige, halb missglückte Angelegenheit … wegen der Plastikdosen.

„Kein Problem.“ Ava war es gewohnt, dass er spät kam, sodass sie den Dampfgarer mit dem Gemüse erst aufsetzte, wenn James da war. „Abendessen ist gleich fertig.“

Als er in Brisbane war, hatte sie sich meistens von Tiefkühlgerichten ernährt, aber dazu frisches, gedämpftes Gemüse gegessen. Sie war auch wieder zum Sport gegangen. Jetzt war es doch merkwürdig, wieder für zwei zu kochen. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. James liebte Ofenkartoffeln mit Butter, und er hasste gedämpftes Gemüse. Sie wiederum mochte genau das – seit ihrer ersten Fehlgeburt ernährte sie sich gesundheitsbewusst und hatte sich daran gewöhnt.

„Möchtest du Gemüse?“, fragte sie, als sie auffüllte, und erntete einen verwunderten Blick. „Ich dachte, du machst Diät, weil du abgenommen hast.“

„Ich war im Fitnessstudio.“ Es hörte sich an, als wäre es nichts Besonderes. „Jetzt kann ich essen, was ich will. Das ist klasse.“

Gar nichts ist klasse, wollte sie aufbegehren. Da steckt doch noch mehr dahinter. Aber Ava schluckte die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, wieder hinunter. Sie wollte nicht schon am ersten Abend die Stimmung verderben.

„Du hast aber auch abgenommen“, sagte er, als er ihr zum Esstisch folgte.

Zum ersten Mal seit langer Zeit saßen sie zusammen am Tisch. Ava fühlte sich unbehaglich. „Ich habe wieder mit Reiten angefangen“, antwortete sie. „Und mit Schwimmen.“

„Das ist gut“, meinte James. „Das ist sehr gut, Ava.“

Natürlich war es das, und trotzdem fühlte sie sich, als hätte sie damit den Traum vom Mutterglück für immer begraben. Sie hatte so vieles aufgegeben, um ihr Baby zu behalten. Bei der ersten Schwangerschaft sagte ihr Arzt, selbstverständlich könnte sie reiten. Das sei ihr Körper gewohnt, und sie sei unglaublich fit. Also war sie jeden Morgen ausgeritten, hatte ihre Runden geschwommen, und sie und James liebten sich oft und leidenschaftlich, so wie immer.

Bei der zweiten Schwangerschaft hatte sie mit dem Reiten aufgehört, weil sie keinen Sturz riskieren wollte.

Bei der dritten Schwangerschaft fühlte sie sich wie ein Seiltänzer hoch über dem Abgrund und gab auch das Schwimmen auf.

Und bei der vierten James.

Nachdem sie auch dieses Baby verloren hatte, wollte Ava nicht mehr. Es war eine Erlösung, wieder die Pille zu nehmen. Kinder sollten für sie nicht sein, damit mussten sie und James sich abfinden und mit ihrem Leben weitermachen.

Aber das alte, unbeschwerte Leben war nicht mehr zurückzuholen.

Ava versuchte, nicht darüber nachzudenken, während sie das Fleisch aufschnitt. Sie mochte auch nicht an Babys denken. Schwanger zu werden, das war für sie nie ein Problem gewesen. Es zu bleiben dafür umso mehr. Sechs Wochen, neun Wochen, sieben und einmal sogar zehn …

Sie erinnerte sich daran, wie Finn sie zu ihrer Wohnungstür geschleppt hatte, hörte wieder, wie er James anrief. Doch da war es längst zu spät gewesen.

„Also, was hast du in Brisbane so gemacht?“

„Nicht viel. Vorlesungen gehalten, vorbereitet, nachbe­reitet.“

„Du schienst ziemlich beschäftigt zu sein.“

Er stand auf, um eine neue Flasche Wasser zu holen. „Ich brauche was Prickelndes.“

Ava entging die feine Spitze nicht. Nach drei Monaten Trennung wieder zusammen zu sein, wäre Anlass genug, die Korken knallen zu lassen.

„Kannst du mal nachsehen, ob der Herd ausgestellt ist?“ Sie sah, wie er die Schultern straffte. Es nervte ihn, dass sie immer noch mal prüfen musste, ob die Tür abgeschlossen, das Bügeleisen aus oder die Herdplatten abgeschaltet waren. Früher hatte er darüber gelacht.

„Und?“

„Ist aus.“ Er schenkte Mineralwasser ein und hob sein Glas. „Prost!“

Ava war sich ziemlich sicher, dass er gar nicht nachgesehen hatte, aber sie sagte nichts. Sie würde mit Sicherheit keinen Streit anfangen.

Oder besagtes Gespräch, vor dem sie am liebsten Reißaus genommen hätte.

„Das Geschenk für deine Mutter habe ich gekauft.“ Oh, in ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie so unwohl in ihrer Haut gefühlt. Ein Vierteljahr lang hatten sie sich nicht gesehen, Grund genug, es gleich hier auf dem Tisch miteinander zu treiben, weil sie die Hände nicht voneinander lassen konnten. So wie früher …

Stattdessen sahen sie sich kaum in die Augen, berührten sich nicht einmal, und ihre Unterhaltung kam immer wieder ins Stocken. Sie hatten einander nichts zu sagen, schlimmer als beim ersten Date, wenn zwei feststellen, dass die Chemie nicht stimmte.

„Was macht deine Arbeit?“

„Viel zu tun.“

„Ich habe gehört, dass Finns OP abgesagt wurde.“

„Nur verschoben.“

„Ava.“ James hatte inzwischen aufgegessen, während sie ihr Fleisch kaum angerührt hatte. „Während ich weg war, habe ich …“

„Ich habe mit Evie gesprochen …“ Sie hatte ihn unterbrochen, verstummte jetzt. „Entschuldige. Was wolltest du sagen?“ Es war zwecklos, sich vor dem entscheidenden Gespräch zu drücken. Sie mussten miteinander reden.

„Das kann warten.“ Aber anscheinend wollte James es auch noch vor sich herschieben. „Wie geht es Evie?“

Sie sahen sich zusammen einen Film an oder versuchten es zumindest. Ava mochte keine Thriller, also stand sie nach kaum der Hälfte auf und setzte sich an ihren Computer, um ihre Patientennotizen auszuwerten. Die Beziehungsprobleme anderer zu lösen statt ihre eigenen …

„Ich gehe ins Bett.“ Eine Stunde später stand sie vor ihm, machte aber keine Anstalten, sich vorzubeugen und ihm einen Gutenachtkuss zu geben.

James sah nur flüchtig auf, nickte stumm. Er hatte auch nicht genug Mumm, endlich das anzusprechen, was längst überfällig schien.

Danach saß er mit zusammengebissenen Zähnen im halbdunklen Zimmer und versuchte, sich auf den Film zu konzentrieren. Sonst wäre er in ihr Schlafzimmer marschiert und hätte etwas gesagt, das er bereuen würde.

Was für ein Willkommen!

Er war ein Nachtmensch, und früher war Ava auch länger aufgeblieben. Obwohl sie eher zu den Lerchen als zu den Nachtigallen gehörte … sie war bei Tagesanbruch aufgestanden und alltags schwimmen gegangen und am Wochenende zum Reiten. James war froh, dass sie damit wieder angefangen hatte, aber musste sie deshalb mit den Hühnern zu Bett gehen? Jetzt hieß es Licht aus um zehn, wie auf einer Klassenfahrt!

Missgelaunt erhob er sich vom Sofa und betrat sein Arbeitszimmer. Sein Blick fiel auf das Hochzeitsfoto. Was ist aus uns geworden? Frustriert schloss er die Tür wieder, kehrte ins Wohnzimmer zurück und öffnete seinen Koffer. Danach nahm er Decke und Kissen aus dem Schrank und warf beides aufs Sofa.

Oh Mann, wie er das Sofa hasste!

Im Flur war ein kleines Bad. Ava wäre es wahrscheinlich lieber, er würde das benutzen, aber er würde den Teufel tun … James schnappte sich seine Kulturtasche und ging durch das Schlafzimmer ins angrenzende Bad. Ava rührte sich nicht. Entweder tat sie, als ob sie schliefe, oder sie schlummerte tatsächlich tief und fest. Unberührt von allem, was ihn beschäftigte!

James zog sich Hemd, Leinenhose und Boxershorts aus und ließ alles achtlos zu Boden fallen. Als er sich das Aftershave abwusch, sah er die Pillenpackung in Avas Schminktäschchen. Ein bitteres Lächeln glitt über sein Gesicht, während er überlegte, ob er duschen sollte. Nein, das hatte Zeit bis morgen.

Er wand sich ein Handtuch um die Hüften und machte sich auf den Rückweg zum Sofa. Morgen reden wir, beschloss er. Oder gleich nach Mums Geburtstag. Er hatte einen Bärenhunger. Das bisschen gegrilltes Hähnchenfleisch und dazu eine Minikartoffel mit einem Klecks fettarmer Sour Cream … nicht einmal zerlassene Butter. Butter gab es in dieser Wohnung seit einer Ewigkeit nicht mehr, noch eins der Dinge, die seit Langem gestrichen waren! Vielleicht sollte er sich eine Pizza bestellen, darüber würde Ava sich richtig aufregen …

Abrupt blieb James stehen.

Keinen Schritt weiter, dachte er. Nicht zum Sofa. Er hatte das Sofa satt, und er hatte es satt, in ein Zuhause zu kommen, das keins mehr war. Und so hart es klingen mochte, aber er war Onkologe, er sollte in der Lage sein, an ein Bett zu treten und eine niederschmetternde Diagnose zu verkünden.

„Ava?“ Er trat an ihr Bett und knipste das Licht an. „Ich muss mit dir reden.“

Ihre Augen blieben geschlossen, doch er ließ sich davon nicht beirren. „In den letzten Monaten in Brisbane, da habe ich viel nachgedacht.“

„James …“ Sie drehte sich auf die andere Seite. „Es ist spät, können wir morgen darüber reden? Oder vielleicht am Wochenende?“

„Nein, jetzt. Wir haben beschlossen, es nicht weiter zu versuchen, wir haben gesagt, dass wir keine Kinder bekommen …“

Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Ava wollte nichts davon hören, doch unerbittlich fuhr James fort: „Als du anfingst, die Pille zu nehmen, dachte ich, du tust es zur Entspannung, um den Druck rauszunehmen. Aber es wurde nur schlimmer.“ Sie spürte, wie er sich über sie beugte, kämpfte mit den Tränen, die sich hinter ihren Lidern sammelten. Bei seinen nächsten Worten jedoch schlug ihr Kummer in Ärger um. „Ich meine, auch wenn wir nur miteinander geschlafen haben, damit du schwanger wirst, so haben wir es wenigstens getan.“

„Armer James.“ Gereizt starrte sie ihn an. Drei Monate Trennung, ach, und viel nachgedacht hat er auch. Aber das Einzige, was er ihr jetzt zu sagen hatte, war, dass sie „es“ nicht taten. „Du bekommst also nicht genug!“

„Ich kann so etwas nicht so gut“, sagte er unwirsch. „Ich weiß, dass ich es falsch anfange, aber kannst du mir wenigstens zuhören? Jeden verdammten Tag drängst du deine Patienten, dass sie miteinander reden sollen. Und abends, wenn du nach Hause kommst, legst du den Schalter um und weigerst dich zu reden.“

„Worüber denn, James? Dass wir es nicht tun? Tja, entschuldige bitte …“ Ava verstummte. Sie hatte einfach nicht die Kraft, sich mit ihm zu streiten. Resigniert setzte sie sich auf und sah in das kantige Männergesicht, das sie immer geliebt hatte. James hingegen blickte sie an, als hätte er eine Fremde vor sich.

„Es ist vorbei, nicht wahr?“ James sprach es aus, und Avas Magen verkrampfte sich. Sie wollte sich in ein Loch verkriechen und nur noch heulen. Dass sie kein Wort hervorbrachte, hinderte ihn nicht daran, sich seine Frage selbst zu beantworten. „Ich meine, was ist das für eine Ehe, wenn man sich drei Monate nicht gesehen hat und ich nichts Besseres zu tun habe, als mein Nachtlager auf dem Sofa aufzuschlagen? Wir sind fertig miteinander, Ava.“

Sie wusste nicht, wie sie ihn erreichen sollte. Die Mauer zwischen ihnen schien unüberwindlich. Dabei hatte sie schon so oft versucht, auszusprechen, was ihr durch den Kopf ging, oder mit ihm gemeinsam den Verlust ihrer Babys zu betrauern. Ava hätte ihm gern verständlich gemacht, wie ihr zumute war … dass es nicht nur die Babys waren, um die sie trauerte, sondern auch darum, niemals die Chance zu haben, Mutter zu sein. Um mit viel Liebe das wieder gutzumachen, was in ihrer Kindheit, mit ihrer eigenen Mutter, zerbrochen war.

Anfangs hatte sie viel geweint. James, ihr großer, starker James, nahm sie in seine Arme und sagte ihr, es würde alles gut werden. Es würde andere Babys geben.

Aber das hatte sie nicht hören wollen. Es half ihr auch nicht, als er sagte, dass sie bald versuchen würden, wieder ein Kind zu machen.

Du meine Güte, er war Onkologe. Er müsste doch wissen, wie man mit Kummer umging!

Ava erinnerte sich, wie aufgeregt sie gewesen war, bevor sie ihm von ihrer ersten Schwangerschaft erzählte. Und James versicherte ihr, dass er unbedingt Kinder wollte und es gar nicht erwarten konnte, Vater zu werden. Nach der Fehlgeburt fühlte sie sich, als hätte sie seine Träume zerstört.

„Und was machen wir jetzt?“ Sie sah ihn an.

„Keine Ahnung“, gab er zu. „Ich schätze, jeder sucht sich einen Anwalt.“

„Wir brauchen keine Anwälte.“

„Sagt das nicht jeder? Lass uns einen Anwalt nehmen und bringen wir es hinter uns.“ Er wandte sich ab und ging ins Wohnzimmer. Zum Sofa.

„Nächstes Wochenende ist die Geburtstagsfeier deiner Mutter“, rief sie ihm nach. „Hinterher wäre doch besser, oder?“

Er nickte. „Morgen nehme ich mir ein Hotelzimmer. Ich sage es ihr nach der Feier, na ja, vielleicht nicht direkt danach …“

„Okay.“ Ava ertrug die Situation nicht länger, konnte ihn nicht einmal mehr ansehen, ihre große Liebe, die sie unwiederbringlich verloren hatte. Sie drehte sich um, schaltete die Nachttischlampe aus und rang sich noch zwei Worte ab: „Nacht, James.“

Die gnädige, alles verhüllende Dunkelheit währte nicht lange. Mit zwei langen Schritten war James am Bett und knipste die Lampe wieder an. „Du weinst uns keine Träne nach, was?“, fuhr er sie an.

„Sag das nicht.“ Wenn sie jetzt anfing zu weinen, würde sie nicht wieder aufhören können.

„Du bist einfach nur froh, dass es vorbei ist, oder?“ James war wütend. „Okay, soll ich dir etwas verraten? Ich auch! Es war die Hölle …“

„Es war nicht alles schlecht.“

„Nein, Ava, es war nicht alles schlecht.“ Er wurde lauter. „Aber es war auch nicht gut, also lass den Zuckerguss weg. Das letzte Jahr war schrecklich, und ich will nur, dass es endlich vorbei ist.“ Sie zuckte zusammen unter seinem Zorn, der Verletztheit, die sie spürte.

Da hielt er inne. „Entschuldige“, sagte er und senkte die Stimme. „Es tut mir leid, okay? Ich will nicht streiten.“ James setzte sich ans Bett und nahm Avas Hand. „Wir bringen es zivilisiert zu Ende. Ich möchte keine Auseinandersetzungen mehr … Und du hast recht, es war nicht alles schlecht.“ Er sah sie an. „Vieles war sehr gut.“

„Ja, bitte, lass uns nicht streiten“, bat sie. Sie hasste Zank und Streit, sie wurde ganz krank davon, und James wusste das.

„Versprochen. Wir …“ Er zuckte mit den breiten Schultern, und sie sah die Muskeln spielen. James war durchtrainiert, er war einfach atemberaubend, und es fühlte sich so gut an, seine warme Hand auf ihrer Haut zu spüren. „Wir erinnern uns an die guten Zeiten“, sagte er da. „Wir wollen ja nicht so enden wie Donna und Neil.“

Damit entlockte er ihr ein schwaches Lachen. Donna und Neil, das war eine Geschichte für sich. Sie kannten die beiden schon lange, erst als Paar, und dann, nachdem sie sich hatten scheiden lassen, als Singles. Immer, wenn sie zusammensaßen, lästerten sie ungehemmt über den anderen. Ava erinnerte sich, wie sie und James sich vielsagende Blicke zuwarfen, während sie Getränke nachfüllten oder mehr Dips und Kräcker auf den Tisch stellten.

„Und er hält sich für unkompliziert …“ Ava ahmte Donna nach.

„Keine Ahnung, wofür sie so viel Geld ausgibt“, sagte James mit Neils Stimme.

„Im Bett war er eine Niete …“

„Also, das kannst du nicht behaupten“, meinte James wieder als James.

„Nein. Aber du vielleicht …“

„Nein.“ Er lächelte. „Denn als zwischen uns noch alles gut war …“ James beugte sich vor, und sie wusste, was geschehen würde.

Ava wusste auch genau, was sie tat, als sie die Hand auf seine Brust legte. Nicht, um ihn wegzuschieben, nein, sie strich über die glatte warme Haut und erwiderte James’ Kuss. Dies war kein verzweifelter Versuch, die Beziehung zu kitten, dies war ein Abschiedskuss. Ein letztes Mal miteinander schlafen, weil beiden klar war, dass es nie wieder vorkommen würde.

Ihre Gedanken waren seltsam klar, sie dachte sogar an Finn und Evie und daran, was Evie ihr von der Nacht vor dem OP-Termin erzählt hatte. Diese wundervolle Nacht, in der Finn ihr nahe war wie nie zuvor, solange er es noch konnte, weil niemand voraussagen konnte, wie sein Leben nach der Operation aussah.

Eine Liebesnacht zum Abschied, die alles bewahrt, was nicht mehr sein wird.

Die klaren Gedanken verblassten, lösten sich auf, als Verlangen ihre Sinne eroberte. James küsste sie leidenschaftlich, und Ava ergab sich seinen warmen forschenden Lippen, spürte die kratzigen Bartstoppeln, die ein erregendes Prickeln auf ihrer Haut hinterließen.

Oh, sie hatte seinen Mund schon immer geliebt, von jenem magischen Moment an, als James sie damals an der Uni das erste Mal geküsst hatte. Seine Schultern sind breiter geworden, dachte sie, während sie mit den Händen darüber glitt. Sie mochte seinen kraftvoll männlichen Körper, den neuen muskulösen James, und sie zog ihn dichter an sich.

Obwohl sie lange nicht mehr miteinander geschlafen hatten, stellte sich die intime Vertrautheit sofort wieder ein. Und in diesem Augenblick machte Ava die Vorstellung, dass er mit einer anderen im Bett gewesen war, nichts aus. Sie war vor dieser Unbekannten da gewesen, sie hatte ihn zuerst geliebt.

Seit sie getrennt voneinander schliefen, hatte sie sich angewöhnt, Schlafanzüge zu tragen, bequeme weite Flanellpyjamas, die bis zum Hals zugeknöpft waren. James machte ein erotisches Vergnügen daraus, ihr Jacke und Hose auszuziehen. Und dann war sie nackt, und er betrachtete sie voller Begehren. Ava wurde heiß unter seinem Blick und bog sich James sehnsüchtig entgegen, als er sie stürmisch küsste.

Obwohl er abgenommen hatte, war er immer noch groß. Groß und stark. Er drückte sie ins Kissen, zog die Bettdecke weg, um Ava überall zu liebkosen. Das Handtuch, das er um die Hüften getragen hatte, lag längst irgendwo, und dann war er auf ihr, bedeckte sie mit seinem warmen Körper. Ava konnte die Tränen nicht zurückhalten, sie spürte James’ Lippen auf ihren salzigen Wangen, als er schließlich in sie eindrang, eins mit ihr wurde, ihre erste und einzige große Liebe.

Sie erinnerte sich an ihr erstes Mal, während sie sich ihm zum letzten Mal hingab. Erinnerte sich an so vieles … ihren ersten Kuss am Strand, die erste gemeinsame Nacht in seinem Zimmer. Wie ein Karussell, das sich schneller und schneller drehte, wirbelten die Bilder durcheinander.

Auch James erinnerte sich, an die unzähligen Stunden, Tage und Wochen, in denen er um Ava geworben hatte, und an das unbeschreibliche Gefühl, als sie endlich sein wurde. Und jetzt war es genauso intensiv wie damals. James begehrte sie. Seine heiser hervorgestoßenen Worte, sein raues Stöhnen füllten das Zimmer.

Sie waren dabei schon immer laut gewesen. James war ein herrlicher, ungehemmter Liebhaber, und Ava hatte es vermisst, ihn zu hören oder sich selbst, so wie jetzt, als die Wellen der Lust über ihr zusammenschlugen. James stöhnte auf, als er kam – ein tiefer, gutturaler Laut, der mit ihrem Namen endete. Auch das würde sie vermissen …

Keiner sagte etwas, erschöpft lagen sie einfach da, miteinander vereint, bis James sich schließlich auf den Rücken rollte und zur Decke hinaufstarrte.

„Also“, begann Ava nach einer Weile. „Das war sehr zivilisiert.“

„Manchmal kann ich das.“

Sie drehte sich auf die andere Seite und fragte sich, ob er aufstehen und zum Sofa zurückgehen würde. Aber da zog er sie dicht an sich, schützte sie mit seinem großen warmen Körper in ihrer letzten gemeinsamen Nacht.

Wie so oft wachte Ava noch im Dunkeln auf. Vorsichtig entwand sie sich James’ Armen, legte sich auf den Rücken und überließ sich ihren Gedanken. Aber sie waren schwer, die Probleme unlösbar, und bald beschlich sie eine unbestimmte Furcht – vor dem neuen Tag.

Schrilles Klingeln riss James aus dem Schlaf. Wie er das Ding hasste! Er streckte den Arm aus, um auf die Schlummertaste zu drücken, überlegte es sich anders und stellte den Wecker ganz aus. James stand auf und ging unter die Dusche.

Vielleicht ist doch noch nicht alles vorbei, dachte er. Vielleicht konnten sie nach letzter Nacht endlich miteinander reden. Zwar hatte er vorgehabt, ins Hotel zu gehen, aber zum ersten Mal seit mehr als einem Jahr verspürte er so etwas wie Hoffnung. Natürlich sollte das, was heute Nacht passiert war, keine Versöhnung sein, doch irgendwie hatte es sich so angefühlt.

James dachte an Ava, wie sie warm und schläfrig nur ein paar Schritte von ihm entfernt dort drüben in dem zerwühlten Bett lag, und überlegte, ob er einfach zu ihr unter die Decke schlüpfen sollte. Die Vorstellung erregte ihn.

Wir sollten einfach reden, vielleicht auch wütend werden, laut streiten. Auch wenn Ava eine fast panische Angst vor Auseinandersetzungen hatte. Warum nicht den ganzen Ärger herausschreien … oder er könnte zu ihr gehen und … Er verwarf den Gedanken. Es wäre nicht gerade feinfühlig, voll erregt im Schlafzimmer zu erscheinen, um seine Ehe zu retten.

Also nahm er statt Duschgel ihre Haarspülung und rieb sich mit ihrem Duft ein. James musste sich auf die Lippe beißen, um nicht nach Ava zu rufen – was er vor zwei Jahren bei solcher Gelegenheit öfter getan hatte.

„Hey, Sextherapeutin! Ich habe hier ein Problem …“

Er lehnte den Kopf gegen die Kachelwand, während er sich erinnerte, wie sie zu ihm in die Dusche gekommen war, um sich „sein Problem“ genauer anzusehen. Er dachte an die Zeit vor den Babys, den Fehlgeburten, den Depressionen und der Hölle, die sich in seiner Ehe aufgetan hatte. James lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, berührte sich dort, wo er sich Avas Hände wünschte … und hielt jäh inne.

Alles schien erstarrt.

Selbst das Wasser aus dem Duschkopf. Lähmende Stille breitete sich aus, bis seine Sinne wieder funktionierten und er das Wasser rauschen hörte. Da war eindeutig ein Knoten, wo keiner hingehörte. Er versuchte, den Arzt in sich zu wecken, mit professioneller Distanz die verdächtige Stelle zu untersuchen. Aber es gelang ihm nicht. Ihm brach der Schweiß aus, rann ihm über den Nacken.

Kalter Angstschweiß.

3. KAPITEL

„Nicht nötig“, antwortete James. „Außerdem bin ich nicht in der Stimmung.“

„Dann solltest du dich in Stimmung bringen“, sagte Donald brüsk. „Natürlich wirst du hinterher noch einen Hoden haben, aber falls du eine Chemo machen musst, ist Schluss mit Zeugungsfähigkeit. Da wäre es gut, für alle Fälle eine Samenprobe einzufrieren.“

„Wir haben beide vor langer Zeit beschlossen, dass wir keine Kinder haben werden.“

„James.“ Donald war schon immer sehr direkt gewesen, ganz anders als Ava, die die Dinge lieber behutsam anging. Bei diesem Gespräch, zu dem der behandelnde Onkologe James dringend geraten hatte, saß sie nun auf der Besucherseite des Schreibtischs, und es gefiel ihr überhaupt nicht. Mit versteinerter Miene hörte sie zu. „Eure Ehe ist am Ende“, fuhr ihr Kollege fort. „Eigentlich seid ihr nur noch zusammen, um nach außen hin den Schein zu wahren.“

„Das haben wir nicht gesagt!“, entfuhr es ihr heftiger als beabsichtigt. Aber es war James gewesen, der klare Verhältnisse schuf, kaum dass sie vor Donalds Schreibtisch Platz genommen hatten. Er hatte ihre Ehe als gescheitert erklärt und gesagt, er wüsste gar nicht, warum Ava ihn begleitet hätte.

„Wenn ich keinen Krebs hätte, wärst du nicht hier, sondern bei deinem Anwalt“, sagte er jetzt. „Und ich bei meinem.“

„Nun, in diesem Raum könnt ihr den Schein vergessen. Du wolltest die OP verschieben, um deiner Mutter nicht die Geburtstagsparty zu verderben … meine Güte, geht’s noch, Mann?“

Es war Donnerstag. James hatte bereits eine Reihe von Untersuchungen hinter sich, weitere Tests standen an. Blake sollte ihn operieren, und der Eingriff war für morgen festgesetzt. Man würde den befallenen Hoden entfernen und eine Prothese einsetzen. Ein Modell lag vor ihnen auf Donalds Schreibtisch. Vorhin, als Donald es ihr gab, hatte sie es wie eine heiße Kartoffel schnell an James weitergereicht. Der drückte es flüchtig und legte es zurück. Von da an hatten sie es beide vermieden, den kleinen, mit Kochsalzlösung gefüllten Ball auch nur anzublicken. Stattdessen sah Ava aus dem Fenster, und zum ersten Mal konnte das herrliche Hafenpanorama sie nicht beruhigen.

„Die Heilungschancen sind sehr hoch“, sagte Donald. „Habt ihr zwei darüber nachgedacht? James?“ Seine Stimme wurde eindringlich. „Hast du dir überlegt, dass eine wundervolle Zukunft vor dir liegen könnte, in der du wieder kerngesund bist – und vielleicht jemanden kennenlernst, dich verliebst und mit dieser Frau Kinder haben möchtest?“

Ava hatte plötzlich das Gefühl zu ersticken. Vor ihrem inneren Auge sah sie James durch einen wunderschönen Garten laufen, dahinter das Haus, das sie kaufen wollten, wenn sie Kinder hatten.

„Drei Schlafzimmer“, sagte sie damals, während sie in Immobilienangeboten blätterten.

„Nein, vier“, antwortete er und streichelte liebevoll ihren Bauch. Sie wollten viele Kinder.

Als sie das erste Mal schwanger wurde, beschlossen sie, das Apartment in Kirribilli Views zum Verkauf anzubieten und nach einem geeigneten Haus zu suchen. Sie sah es vor sich, ein wundervolles Haus mit verwitterter weißer Holzverschalung, üppig berankt mit Blauregen und Kaskaden von Schneewittchenrosen. Und dann sah sie James, offensichtlich wieder kerngesund und glücklich, umringt von lachenden Kindern.

Während sie von der Arbeit nach Hause kam, in ihrer Einkaufstüte gesunde Tiefkühlmahlzeiten für Singles und mehrere Dosen Katzenfutter …

Als er jetzt den sterilen Behälter nahm, hätte sie ihn ihm am liebsten aus der Hand gerissen und in die nächste Ecke geschleudert.

Schweigend gingen sie den Flur entlang, James hielt Behälter und Formular für die Pathologie in der Hand. Man wies ihm einen Raum zu, und Ava blieb davor stehen. Sie hatte nicht vor, ihm einen Kuss zu geben, bevor sie ging. Wahrscheinlich wollte er es auch nicht, so hart und abweisend, wie er sie anblickte.

„Ich bin dann morgen früh hier, bevor es losgeht.“

„Das brauchst du nicht“, wehrte er ab. „Es ist kein besonders schwerer Eingriff.“

„Deine Mutter kommt, wie sieht das aus, wenn ich mich nicht blicken lasse?“ Sie wollte für ihn da sein, hätte ihn lieber heute Abend noch zu Hause gehabt. Aber er war der Erste auf der Liste und zog es vor, die Nacht davor im Krankenhaus zu verbringen – mit einer Schlaftablette, um ruhig schlafen zu können.

„Bitte, James, können wir miteinander reden?“

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
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