Julia Saison Band 57

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VERLIEB DICH NIE IN EINEN HERZENSBRECHER! von ANNE MCALLISTER

Für den faszinierenden Playboy Alex Antonides ist es nur eine kurze Affäre - für Daisy die große Liebe, die ihr das Herz bricht. Jahre später steht Alex plötzlich wieder vor ihr - mit dem verführerischsten Lächeln der Welt. Aber nur, weil er ihre Dienste als Heiratsvermittlerin braucht …

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  • Erscheinungstag 28.08.2020
  • Bandnummer 57
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715717
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Anne McAllister, Carole Mortimer, Sandra Marton

JULIA SAISON BAND 57

1. KAPITEL

Stirnrunzelnd betrachtete Alexandros Antonides die zerknitterte Quittung mit dem Namen, der Adresse und einer Telefonnummer auf der Rückseite. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, weshalb er den Zettel überhaupt aufbewahrte. Was um alles in der Welt sollte er mit einer Heiratsvermittlerin?

Er schaute aus dem Taxifenster auf den Freitagnachmittagsverkehr, dann warf er einen Blick auf die Armbanduhr. Halb vier, und sie steckten immer noch im Zentrum Manhattans. Das Intelligenteste wäre, den Chauffeur anzuweisen, nach Brooklyn zu seiner Wohnung zu fahren.

Aber dann ließ er es doch bleiben. Stattdessen lehnte er sich zurück und glättete erneut das Stückchen Papier in seiner Hand. Daisy Connolly …

Sein Cousin Lukas hatte Namen und Anschrift für ihn notiert, als sie sich letzten Monat bei einem Familientreffen gesehen hatten. „Ruf sie an. Ich bin sicher, sie findet die richtige Frau für dich.“

„Wie kommst du darauf?“ Wohl kaum aus eigener Erfahrung, dachte er bei sich. Soviel er wusste, war Lukas weder verlobt noch verheiratet.

„Weil ihr das schon mehrmals gelungen ist. Sie muss einen sechsten Sinn haben, wenn es darum geht, den richtigen Partner zu finden. Und getäuscht hat sie sich noch nie. An deiner Stelle würde ich es mit ihr versuchen. Es sei denn …“, er zwinkerte, „… du willst gar nicht heiraten. Könnte ja sein, dass du Angst vor der eigenen Courage hast. Was meint ihr?“, fragte er an seine Brüder gewandt.

Elias und P. J. grinsten vielsagend.

Worauf Alex alle drei mit einem vernichtenden Blick bedachte. „Schön. Sollte ich mit meiner Weisheit am Ende sein, schaue ich bei deiner Bekannten vorbei, Lukas.“

„Wie viele Anwärterinnen hast du denn bisher unter die Lupe genommen?“

„Fünf.“

„Fünf! Und das in knapp einem Jahr?“

Alex schwieg. Die letzte, eine gewisse Imogen, wäre ideal gewesen. Sie war attraktiv und intelligent und ebenso wenig wie er an einer Liebesheirat interessiert. Zumindest hatte sie das behauptet – und sich dann prompt in einen Kerl verliebt, der ihr das Blaue vom Himmel versprach. „Sei nicht böse, Alex, aber er ist der Mann meiner Träume, wir heiraten in einem Monat.“ Und das war das Ende von Imogen. Nun, seinen Segen hatte sie.

„Mir scheint, das bist du schon“, meinte Lukas nachdenklich.

Was bin ich schon?“

„Mit deiner Weisheit am Ende.“

Achselzuckend wandte er sich ab. Er wollte nicht die perfekte Ehefrau, lediglich eine geeignete Gefährtin. Er war fünfunddreißig – nach Ansicht der Familie im richtigen Heiratsalter.

Denn die Männer seiner Familie heirateten durchweg, kein Antonides blieb ledig. Sie genossen ihre Freiheit in vollen Zügen, aber früher oder später landete jeder vor dem Traualtar. Es war Tradition.

Früher hatte er geglaubt, dass er mit dieser Tradition brechen würde. Er mochte Frauen und sah nicht ein, weshalb er sich auf eine beschränken sollte.

Doch seit einiger Zeit stellte er fest, dass das Jagdfieber von einst nachgelassen hatte. Immer öfter kam er zu dem Schluss, dass sich der ganze Aufwand nicht lohnte. Statt sich wie früher die Nächte um die Ohren zu schlagen, verbrachte er seine Abende jetzt lieber am Zeichenbrett, um Wohnhäuser oder futuristische Gebäude zu entwerfen.

Sex war kein Problem, denn Gelegenheiten für One-Night-Stands gab es mehr als genug. Aber auch die hatten nicht mehr den gleichen Reiz wie früher. Wie jeder Antonides erkannte Alex, dass im Leben eines Mannes der Moment kommt, alte Gewohnheiten abzulegen und erwachsen zu werden. Mit anderen Worten, in den Ehestand zu treten.

Für ihn war dieser Moment jetzt gekommen. Was fehlte, war die passende Gefährtin für eine unkomplizierte Lebensgemeinschaft ohne tiefschürfende Gefühle und ohne Kinder. Eine Frau, die ihre eigenen beruflichen Ziele verfolgte und ihn bei gesellschaftlichen Anlässen begleitete; mit der er Tisch und Bett teilte, wenn sie nicht gerade beruflich unterwegs waren. Da sich seine Junggesellenwohnung über den Büroräumen seiner Firma für ein Zusammenleben kaum eignete, war er bereit, seiner Zukünftigen ein eigenes Apartment zu kaufen. Wie groß und in welcher Gegend, darüber konnte sie selbst entscheiden, er war ein entgegenkommender Mensch.

Offenbar nicht entgegenkommend genug, denn bis jetzt war die Suche erfolglos geblieben. Woran es lag, war ihm ein Rätsel. Er stellte weiß Gott keine übertriebenen Ansprüche.

Die drei letzten Damen – Karrierefrauen um die Dreißig mit einem ebenso hektischen Lebensstil wie seinem – waren vielversprechend gewesen. Alle drei hätten eine ideale Gefährtin abgeben können. Hätten.

Wie sich herausstellte, dachten sowohl die Rechtsanwältin wie auch die Zahnärztin und die Börsenmaklerin im Grunde nur daran, die Karriere an den Nagel zu hängen und Kinder zu bekommen.

So kann man sich täuschen, ging es Alex jetzt durch den Kopf, während er erneut auf den Namen auf dem Zettel starrte. Daisy …

War es Zufall oder Vorsehung?

Vor fünf Jahren hatte es in seinem Leben eine Daisy gegeben. Honigblond, mit tiefblauen Augen. Er erinnerte sich an eine samtweiche Stimme und ein melodisches Lachen, leise Seufzer und heiße Küsse. Jene Daisy hatte ihn heiraten wollen – würde diese Daisy womöglich die geeignete Frau für ihn finden?

Weshalb scheute er eigentlich vor der Idee zurück, eine Heiratsvermittlerin einzuschalten? Im Grunde war das nichts anderes als Delegieren; Aufgaben, für die er selbst keine Zeit fand, anderen zu übertragen. In seinem Architekturbüro machte er das tagtäglich.

Miss oder Mrs. Connolly würde Kontakte herstellen und eine Vorauswahl treffen, nach den Kriterien, die er aufstellte. Das war nicht nur effizient, es ersparte ihm unangenehme Überraschungen wie die der letzten Wochen. Selbstredend blieb die endgültige Entscheidung ihm überlassen.

Lukas hatte recht: Daisy Connolly war die beste Lösung – warum hatte er sie nicht schon längst konsultiert? Vermutlich lag es an seinem chronischen Zeitmangel.

Zwanzig Minuten später hielt das Taxi an der gewünschten Adresse. Er zahlte und stieg aus. Einen Termin hatte er nicht vereinbart, und so hoffte er, dass er nicht umsonst gekommen war.

Die Straße mit den drei- und vierstöckigen braunen Sandsteinhäusern machte einen ruhigen und gepflegten Eindruck. Jetzt, Anfang Oktober, leuchtete das Laub an den Bäumen entlang der Bürgersteige in den verschiedensten Schattierungen von Gold und Orange. Es war ein schönes Bild, an dem sich der Architekt in ihm erfreute.

Als er vor drei Jahren den Sitz seiner Firma von Europa nach New York verlegte, hatte er sich auf der Suche nach einer Wohnung für ein Apartment im zwanzigsten Stock eines Wolkenkratzers entschieden. Von dort bot sich ihm ein beeindruckender Ausblick auf die Stadt. Gleichzeitig fühle er sich von den Geschehnissen um ihn her ausgeschlossen.

Ein Jahr später erteilte ihm ein Kunde den Auftrag, in Brooklyn ein Bürogebäude aus der Vorkriegszeit abzureißen, um es durch ein modernes Hochhaus zu ersetzen. Alex begutachtete das altmodische Haus und wusste sofort, dass er gefunden hatte, wonach er suchte – eine anspruchsvolle Aufgabe und eine Wohngegend nach seinem Geschmack. Er fand ein anderes Grundstück für das Hochhaus, dann erwarb und sanierte er das alte Gebäude. Jetzt beherbergte es die Geschäftsräume seiner Firma und im dritten Stock sein Apartment. Er fühlte sich nicht länger isoliert, er war, wo er sein wollte.

Daisy Connollys Straße besaß ein ähnliches Flair. Nicht weit entfernt von ihrem Haus befand sich ein Waschsalon, gegenüber ein kleines Restaurant. Auf einem unbebauten Grundstück zwischen zwei Häusern lag ein Kinderspielplatz mit Kletterstangen und einer Rutschbahn. An dem danebenstehenden Wohnhaus hing ein diskretes Messingschild mit den Sprechstundenzeiten eines Chiropraktikers.

Offerierten Heiratsvermittler ihre Dienste auch mithilfe eines Firmenschilds? Er warf einen Blick auf die Fassade von Ms. Connollys Haus und atmete insgeheim auf. Kein Schild! Abgesehen von der helleren Farbe unterschied es sich in nichts von seinen Nachbarn. Altmodische weiße Spitzenvorhänge zierten die Fenster im Erdgeschoss, wo sich vermutlich ihre Büroräume befanden. Der erste Eindruck war positiv.

Alex rückte die Krawatte zurecht, stieg die Stufen zum Eingang hinauf und betrat ein winziges Foyer. Auf dem Briefkasten mit der Hausnummer eins las er den Namen Daisy Connolly. Resolut drückte er auf den Klingelknopf daneben.

Eine halbe Minute blieb alles still. Ungeduldig verlagerte er das Gewicht. Hatte er seine kostbare Zeit doch verschwendet?

Er war im Begriff zu gehen, als er Geräusche im Flur vernahm. Dann wurde die Tür von innen aufgemacht, und eine junge Frau erschien in der Öffnung, ein Lächeln auf den Lippen. „Hi, Phil …“ Im nächsten Moment wurde sie kreideweiß.

„Alex!“

Honigblondes Haar. Tiefblaue Augen. Die Erinnerung an heiße Küsse …

„Daisy?“

Er kann es nicht sein! Ich sehe Gespenster!

Und doch war er es, daran bestand kein Zweifel. Hochgewachsen, athletisch, umwerfend wie eh und je. Es war keine Einbildung.

Warum, oh warum hatte sie nicht aus dem Fenster geschaut, bevor sie die Tür geöffnet hatte? Ganz einfach – nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass er jemals wieder auftauchen könnte.

Sie hatte Phil erwartet – Philip Cannavarro. Er hatte sich telefonisch angekündigt, um die Fotos abzuholen, die sie letzten Monat von ihm, Lottie und ihren drei Kindern im Park gemacht hatte. Als es klingelte, war sie mit dem Album zur Tür geeilt.

Jetzt entglitt es ihren gefühllosen Fingern, während sie Alex fassungslos anstarrte. Auch er rührte sich nicht. Ganz offensichtlich war er ebenso überrascht wie sie.

Ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Schnell bückte sie sich, um die verstreuten Bilder einzusammeln. Was wollte er hier? Warum stand er nach fünf Jahren plötzlich vor ihrer Tür?

Aus den Augenwinkeln sah sie, dass er neben ihr kauerte und beim Einsammeln mithalf.

„Rühr sie nicht an! Das erledige ich selbst.“ Sie versuchte, ihm die Fotos zu entreißen, doch er zog die Hand zurück. „Nein.“

Daisy zuckte zusammen. Ein einziges Wort, das gleiche wie damals. Im gleichen Ton, mit derselben Bestimmtheit. Vor fünf Jahren hatte er mit dieser einen Silbe ihre Welt zum Einsturz gebracht.

Dennoch rieselte ihr beim Klang seiner Stimme ein Schauer über den Rücken. Der samtige Bariton mit dem leichten Akzent hatte sie damals sofort verzaubert. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, und sie, naiv und verblendet, hatte geglaubt, dass es auf Gegenseitigkeit beruhte.

Sie griff nach dem letzten Foto und stand auf. „Was willst du?“, fragte sie schroff.

Alex erhob sich ebenfalls. Immer noch fassungslos, schüttelte er den Kopf. „Bist du es wirklich?“ Er schnitt eine Grimasse. „Natürlich bist du es, das sehe ich, nur … Connolly?“

Daisy hob das Kinn. „So heiße ich. Warum?“

Bevor er antworten konnte, eilte jemand die Stufen herauf und betrat das Foyer. „Phil!“, rief sie aufatmend „Komm rein.“ Sie zog die Haustür weiter auf.

Alex drehte sich um und starrte den Fremden an. „Wer ist das?“

Erstaunt sah Phil von ihm zu Daisy – weder sein schroffer Ton noch Daisys Erleichterung entging ihm. „Entschuldige, wenn ich störe, ich wollte nur …“

„Natürlich störst du nicht“, fiel sie ihm ins Wort. „Als es klingelte, dachte ich, du bist es, nicht …“ Sie verstummte und schaute auf die Fotos in ihrer Hand. „Das Album ist mir versehentlich aus der Hand gerutscht, und dabei sind die Bilder rausgefallen. Aber das bringe ich wieder in Ordnung. Es … es tut mir leid.“

„Mach dir keine Sorgen, Daisy. Lottie und ich können das auch.“ Er streckte die Hand danach aus.

Sie schüttelte den Kopf. „Das kommt überhaupt nicht infrage.“ Phil und Lottie waren alte Freunde, das erste Paar, das sie erfolgreich zusammengeführt hatte. „Morgen bin ich beschäftigt, aber übermorgen nehme ich es mir vor, das verspreche ich.“

„Es macht uns wirklich nichts aus.“ Phil zögerte. „Du kennst Lottie, sie kann es kaum erwarten, die Fotos zu sehen und …“

„Hier.“ Daisy drückte ihm die Bilder ohne das Album in die Hand. „Sag ihr, die sind nur vorübergehend. Ich drucke sie neu aus, damit ihr ein einwandfreies Album bekommt. Ich schicke es euch nach Hause, per Eilbote. Sag Lotti, sie hat es spätestens in zwei Tagen. Sag ihr …“ Sie brach ab, um nicht noch länger zu schwafeln.

„Na gut, wie du möchtest.“ Er steckte die Bilder in seine Aktentasche. „Ist alles in Ordnung, Daisy?“

„Natürlich.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. Phil und Lottie sagten immer, dass nichts sie aus der Ruhe bringen konnte, und meistens stimmte das auch. Jetzt war sie jedoch alles andere als ruhig, wofür sie sich bei Alex bedanken konnte. Seine Wirkung auf sie war anscheinend noch die gleiche.

„Daisy fehlt nichts, sie hatte nur eine kleine Überraschung“, hörte sie Alex jetzt an Phil gewandt sagen. Dabei legte er ihr einen Arm um die Schultern.

Sie zuckte zusammen, als hätte er sie mit einem glühenden Eisen berührt – viel zu gut erinnerte sie sich an seine Umarmungen. Steif wie ein Brett verharrte sie, denn wegstoßen konnte sie ihn kaum: Was würde Phil sich dabei denken?

„Ich kümmere mich um sie, keine Angst.“, versicherte Alex. Gleichzeitig drängte er Daisys Bekannten unmerklich etwas näher zum Ausgang. Phil verstand – niemand konnte sagen, dass er begriffsstutzig war.

„Dann mache ich mich jetzt auf den Weg“, meinte er nur. „Ich sage Lottie wegen des Albums Bescheid, Daisy. Bis demnächst.“ Er nickte kurz und ging.

Als die Tür ins Schloss fiel, schüttelte Daisy Alex’ Arm ab und entfernte sich ein paar Schritte. „Was willst du von mir, Alex?“, fragte sie schroff, während sie die Arme vor der Brust verschränkte.

Ein Lächeln umspielte seinen Mund. „Ich bin auf der Suche nach einer Ehefrau.“

Wie bitte? Sprachlos starrte sie ihn an.

Alex schmunzelte. „Das sollte kein Heiratsantrag sein, Daisy.“

„Da…das ist mir klar.“ Sie presste die Lippen zusammen. Wären seine Worte nicht so schmerzhaft, hätte sie laut gelacht. Stattdessen erwiderte sie: „Dann wünsche ich dir viel Erfolg.“

Alex versteifte sich unmerklich. „Ich kann mir denken, dass es dich überrascht, aber …“ Er sprach den Satz nicht zu Ende.

Daisy drehte den Kopf zur Seite. Sie wusste, worauf er anspielte, aber bevor sie ihm die Genugtuung gab, darauf einzugehen, biss sie sich lieber auf die Zunge. So selbstquälerisch war sie denn doch nicht.

Sie und Alex hatten sich vor fünf Jahren auf einer Hochzeit kennengelernt, bei der sie eine der Brautjungfern war und er Trauzeuge des Bräutigams. Ihre Blicke trafen sich, der Funke sprang über, und von da an hatten sie und er nur noch Augen für den anderen. Sie tanzten, sie flirteten, sie lachten … Die gegenseitige Anziehungskraft war stärker als der stärkste Magnet gewesen.

Das also ist sie, die große Liebe, hatte Daisy fasziniert gedacht. Nicht eine Minute hatte sie daran gezweifelt, dass Alex und sie füreinander bestimmt waren. Sie hatte nie so recht daran glauben wollen, obwohl ihre Eltern das beste Beispiel waren, dass es sie gab. Mehr als einmal hatte ihre Mutter beschrieben, wie es ist, wenn man dem Mann fürs Leben begegnet: „Man spürt es sofort, man weiß es einfach“, versicherte sie.

Und genau so war es ihr ergangen. Tief innen wusste sie, dass es für sie keinen anderen geben konnte als ihn. Und nicht eine Sekunde zweifelte sie daran, dass er für sie das Gleiche empfand.

Natürlich sagte sie das nicht laut – sie kannten sich schließlich erst wenige Stunden. Doch das hinderte sie nicht daran, die ganze Zeit auf Wolke sieben zu schweben; zu wünschen, der Nachmittag würde nie enden. Als Alex später fragte, ob er sie nach Hause bringen könne, stimmte sie glücklich zu: Es war nur ein weiterer Beweis, dass seine und ihre Gefühle identisch waren.

Auf dem Heimweg in der U-Bahn erzählte er ihr, dass er als Architekt für einen multinationalen Konzern arbeitete, demnächst aber selbst ein Architektenbüro eröffnen wollte, um eigene Ideen umzusetzen. Seine Augen leuchteten, als er beschrieb, wie er Modernes mit Überliefertem, Schönheit mit Zweckmäßigkeit kombinieren würde. „Nicht nur Menschen, auch Gebäude haben eine Seele. Zumindest sollten sie das“, schloss er.

Sein Enthusiasmus war so ansteckend gewesen, dass auch sie ihm ihre Zukunftspläne anvertraute. Sie war Praktikantin bei einem renommierten Modefotografen, Finn MacCauley. „Er ist fantastisch, und ich lerne unheimlich viel bei ihm. Aber mein Traum ist, Menschen zu fotografieren. Keine Models, ganz normale Leute. Daheim, bei der Arbeit, beim Sport. Kinder mit ihren Eltern … In der Richtung etwa. Dich würde ich auch gern fotografieren.“

„Wann immer du möchtest.“

Später, auf dem Bürgersteig, war er stehen geblieben, hatte ihre Hand in seine genommen und Daisy sanft geküsst. Es war kein leidenschaftlicher Kuss gewesen, mehr ein Versprechen auf das, was folgen würde. Ihre Erfahrung mit dem männlichen Geschlecht war begrenzt. Genau genommen hatte sie bisher nur ein Mal Sex gehabt, und den Wunsch nach mehr hatte das Erlebnis nicht geweckt. Aber mit den Empfindungen, die Alex in ihr weckte, hatte es nicht die geringste Ähnlichkeit. Plötzlich konnte sie es kaum noch erwarten, mit ihm allein zu sein.

Dennoch verspürte sie zunächst eine gewisse Scheu, als sie ihr kleines Apartment in Soho betraten. Um ihre Befangenheit zu überspielen, zückte sie die Kamera. „Darf ich?“, fragte sie.

Alex sah ihr tief in die Augen. „Nur zu“, erwiderte er mit einem Anflug von Spott. „Wenn dir danach der Sinn steht …“

Und obwohl ihnen beiden der Sinn nach anderen Dingen stand, ließ er sie eine Weile gewähren. Für Daisy war es wie Vorspiel, erotisch und erregend. Das Blut rauschte in ihren Adern, während sie ihn fotografierte, von vorn, im Profil, im Sitzen, im Stehen … Bis er ihr schließlich den Apparat aus der Hand nahm, um sie an sich zu ziehen. Ungeduldig schlüpfte er aus dem Jackett und warf es aufs Sofa. Sie knöpfte sein Hemd auf, während er den Reißverschluss in ihrem Rücken herunterzog. Doch bevor er ihr das Kleid abstreifte, griff er selbst nach der Kamera. Dann stellte er den Selbstauslöser ein, zog sie in die Arme und küsste sie.

Die Erinnerung an das Bild verfolgte sie heute noch.

Damals verschwendete sie keinen Gedanken daran. Innerhalb von Sekunden entledigten sie sich der restlichen Kleidung, und dann waren sie endlich, wo sie beide sein wollten – in ihrem Bett.

Er liebkoste sie, bis ihr fast die Sinne schwanden. Jeden Zentimeter ihres Körpers erforschte er, mit den Händen, den Lippen, der Zungenspitze, bis sie vor Wonne stöhnte. Befangenheit oder Hemmungen existierten nicht mehr, leidenschaftlich erwiderte sie seine Zärtlichkeiten. Was sie empfand, war unbeschreiblich. Und als sie gemeinsam den Gipfel der Ekstase erreichten und sie danach erschöpft in seinen Armen ruhte, eine Wange an seine Brust geschmiegt, wusste Daisy, dass Alex in jeder Hinsicht der Richtige war.

Eng umschlungen sprachen sie stundenlang über alles, was sie bewegte; erzählten sich gegenseitig aus ihrem Leben. Sie berichtete von ihrer ersten Kamera, einem Geschenk ihres Großvaters an ihrem siebten Geburtstag, er von seiner ersten Bergbesteigung und seinem Gefühl, auf dem Gipfel der Welt zu stehen. Sie sprach von ihrem Vater, den sie vor sechs Monaten verloren hatte und immer noch schmerzhaft vermisste, er von seinem Bruder, der mit dreizehn an Leukämie starb, als er selbst neun Jahre alt war. Sie trösteten sich gegenseitig, liebkosten und küssten sich, dann liebten sie sich aufs Neue.

Die Stunden verflogen, eine zauberhafter als die andere. Daisy dachte an die Jahre, die vor ihnen lagen, die Kinder, die sie haben würden … Das Leben mit dem Mann ihrer Träume erschien ihr wie ein langer goldener Pfad.

Der Sonntag dämmerte bereits, als sie endlich einschliefen. Als Daisy endlich die Augen aufschlug und auf die Uhr schaute, war es fast zehn. Halb zugedeckt lag Alex fest schlafend neben ihr. Sie betrachtete das zerzauste schwarze Haar, die markanten Züge, die muskulöse Brust. Wie schön er war! Stundenlang könnte sie ihn so betrachten. Sie dachte an die Liebkosungen, mit denen sie sich gegenseitig verwöhnt hatten, an die Momente höchster Glückseligkeit, und war versucht, ihn mit einem Kuss zu wecken.

Später, dachte sie, nach dem Frühstück.

Vorsichtig, um seinen Schlaf nicht zu stören, stand sie auf. Sie hatten noch den halben Sonntag vor sich – am frühen Abend ging, wie er ihr mitgeteilt hatte, sein Flug nach Paris, wo er den nächsten Monat verbringen würde. Vier Wochen ohne ihn … Die Vorstellung allein war abscheulich, doch sie tröstete sich mit dem Gedanken an seine Rückkehr. Vielleicht könnte sie vorher noch für ein Wochenende nach Paris fliegen. Das wollte sie sowieso schon lange, sie war noch nie dort gewesen.

Während sie in der Küche das Frühstück zubereitete – Eier mit Speck und Toast – sah sie sich und ihn bereits am linken Seine-Ufer entlang spazieren oder auf den Champs-Élysées, in einem Straßencafé bei einem Espresso …

Zwei starke Arme schlangen sich um sie, und sie fühlte seinen warmen Atem im Nacken. „Guten Morgen“, murmelte er verschlafen.

„Guten Morgen.“ Lächelnd drehte sich zu ihm. „Ausgeschlafen?“

„Mmm …“ Er gab ihr einen langen sinnlichen Kuss, dann murmelte er: „Komm zu Bett, das Frühstück kann warten.“

Sie lachte, dann löste sie sich widerstrebend aus der Umarmung. „Später. Erst wird gegessen.“

Danach verbrachten sie mehrere sehr angenehme Stunden.

Endlich setzte er sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. „Jetzt brauche ich dringend eine Dusche.“ Er legte den Kopf zur Seite und grinste. „Willst du mir nicht Gesellschaft leisten?“

„Mit dem größten Vergnügen.“

Die nächsten dreißig Minuten wurden für Daisy eine Lektion in Erotik, die alles übertraf, was sie je darüber gelesen oder gehört hatte. Sie endete erst, als der Warmwasserbehälter leer war.

Beim Ankleiden im Schlafzimmer warf Alex einen bedauernden Blick auf das zerwühlte Bett. „Schade, aber wenn ich den Flug nicht verpassen will, muss ich mich beeilen.“

Daisy schlüpfte in Jeans und Pullover „Ich bringe dich zum Flughafen.“

„Wozu? Bisher habe ich den Weg noch immer allein gefunden.“

„Das bezweifle ich nicht, aber jetzt bist du nicht mehr allein.“ Sie lächelte verführerisch.

Während der Taxifahrt küsste er sie, bis ihr der Atem verging. Und wenn schon, dachte sie, zum Luftholen habe ich einen ganzen Monat lang Zeit.

Spielerisch biss sie ihn ins Ohrläppchen. „Du fehlst mir jetzt schon“, flüsterte sie. „Ist es nicht wundervoll, dass wir uns gefunden haben? Ich wollte nie so recht daran glauben, aber du hast mich überzeugt.“

„Woran wolltest du nicht glauben?“

„An die große Liebe.“ Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, dann seufzte sie leise. „Ich hoffe nur, dass uns mehr Jahre beschieden sind als Mom und Dad.“

Alex drehte sich zu ihr. Ein merkwürdig wachsamer Ausdruck erschien ihn seinen Augen. „Wovon redest du?“

„Von meinen Eltern. Bei ihnen war es genauso. Als sie sich begegneten, wussten sie sofort, dass sie zusammengehören.“ Sie schwieg. „Sechsundzwanzig Jahre waren ihnen vergönnt statt der fünfzig oder sechzig, die es hätten sein sollen.“

Alex rührte sich nicht.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie.

Er schluckte ein paarmal – noch heute erinnerte sie sich an das Auf und Ab des Adamsapfels. „Du … du sprichst von Heirat, habe ich recht?“

Sie nickte. „Natürlich. Wovon sonst?“

Er holte tief Atem, dann brachte er mit einem einzigen Wort ihre Welt zum Einsturz. „Nein.“ Als er ihr Gesicht sah, fügte er hinzu: „Ich spreche von mir, nicht von dir.“

Verständnislos sah sie ihn an. Seine Züge glichen einer Maske, sie erkannte ihn kaum wieder. „Wa…was soll das heißen?“, stammelte sie.

„Es heißt, dass ich nicht vorhabe, jemals zu heiraten.“

„Aber …“

„Nein.“ Es klang wie ein Peitschenknall. „Weder Kinder noch Ehe … Jemanden lieben und dann verlieren – nie wieder!“

„Du … du meinst, weil dein Bruder …“ Daisy verstand nicht, wie er so denken konnte. Bis zu Dads Tod waren ihre Eltern so glücklich miteinander gewesen, wie man sich nur wünschen konnte. Noch heute versicherte ihre Mutter, dass das gemeinsame Glück sie für all das Leid während seiner langen Krankheit und nach seinem viel zu frühen Hinscheiden mehr als entschädigte. Sie nahm es in Kauf für das, was sie miteinander geteilt hatten.

Sie versuchte, Alex begreiflich zu machen, dass Liebe und Verlust manchmal Hand in Hand gingen, doch er hörte nicht zu.

„Es steht dir frei, so zu denken. Was mich betrifft, ich gehe dieses Risiko nicht ein“, entgegnete er.

„Und … und gestern Nacht? Heute Morgen … Bedeutet das nichts?“ Sie wusste, sie klammerte sich an Strohhalme, doch das war ihr gleichgültig.

„Du warst fantastisch.“ Er sah sie an, dann wandte er sich ab.

Der Rest der Fahrt verlief schweigend. Die Hände zu Fäusten geballt, schaute Alex beharrlich aus dem Fenster, während Daisy fieberhaft überlegte, wie sie ihn doch noch überzeugen könnte, sich selbst und ihr eine Chance zu geben.

„V…vielleicht ging alles zu schnell“, sagte sie zögernd, als das Taxi am Flughafen anhielt. „Wenn du zurückkommst …“

„Nein.“ Er drehte sich zu ihr. „Ich komme nicht zurück, Daisy. Du und ich, wir wollen nicht das Gleiche.“

Und so hatte es geendet. Er war aus dem Taxi gestiegen und in die Flughafenhalle gegangen, ohne sich noch einmal umzudrehen. Danach hatte sie nichts mehr von ihm gehört oder gesehen. Bis vor einer halben Stunde …

Verstohlen musterte sie ihn. Er sah noch genauso umwerfend aus wie damals – breitschultrig, schmalhüftig, athletisch. Das schwarze Haar war ein wenig kürzer geschnitten, aber genauso dicht wie früher; der Kontrast zwischen den hellgrünen Augen und dem gebräunten Teint so außergewöhnlich wie eh und je. Er trug einen tadellos sitzenden dunkelgrauen Anzug mit einem hellblauen Hemd und einer Seidenkrawatte, deren Knoten etwas gelockert war. So, wie er vor ihr stand, war Alexandros Antonides der Inbegriff des erfolgreichen jungen Geschäftsmanns. Um den wohlgeformten Mund spielte das gleiche sinnliche Lächeln wie früher.

„Warum bist du hier?“, fragte sie erneut.

„Lukas hat mich hergeschickt.“

„Lukas?“ Sein Cousin war ihr offizieller Begleiter gewesen auf jener schicksalhaften Hochzeitsfeier.

Alex zog den Zettel aus der Jackentasche und hielt ihn ihr hin. „Er meint, ich sollte mich mal mit seiner guten Bekannten, der Heiratsvermittlerin Daisy Connolly, unterhalten.“

Sie betrachtete das zerknitterte Stückchen Papier mit ihrem Namen, der Adresse und der Telefonnummer. „Ich dachte, du wolltest nie heiraten.“

Nachlässig hob er die Schultern. „Ich habe meine Meinung geändert, aber nicht meine Einstellung.“

Daisy schwieg.

„Für Romantik, Gefühle, Seelenverwandtschaft und dergleichen habe ich heute ebenso wenig Verwendung wie früher. Ich denke an eine Vernunftehe und suche eine Frau, die ihren eigenen Interessen nachgeht, so wie ich meinen. Die mich bei Veranstaltungen und ähnlichen Anlässen begleitet und mir … abends Gesellschaft leistet.“

„Du meinst, eine Bettgefährtin.“

„Eine Lebensgefährtin“, verbesserte er. „Sex ist nicht die Hauptsache.“

„Warum nimmst du dir keine Geliebte?“

„Ich will eine Gefährtin, keine Geliebte.“

„Wie dem auch sein mag, bei mir bist du an der falschen Adresse.“

„Wieso? Ich dachte, Ehen zu stiften ist dein Metier.“

„Aber keine Vernunftehen. Ich halte nämlich eine Menge von Gefühlen und Seelenverwandtschaft und dergleichen.“ Sie lächelte honigsüß. „Ich stifte, wie du es nennst, nur Liebesheiraten. Und da du von denen nichts hältst …“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich nichts davon halte, lediglich, dass ich persönlich keine möchte“, entgegnete er schroff.

Stumm sahen sie sich an. Daisys Herz klopfte zum Zerspringen. Mit jeder Faser sträubte sie sich gegen das Begehren, das dieser Mann immer noch in ihr weckte. Mit Liebe hatte es nichts zu tun, so viel stand fest. Was war es dann, dass sie nicht dagegen ankam?

Was immer es sein mochte, im Gegensatz zu damals hatte sie ihr Leben jetzt fest im Griff, sie war auch ohne ihn reich und liebenswert, nicht zuletzt seinetwegen. Allerdings wusste er das nicht und würde es auch nie erfahren.

Sie räusperte sich. „Tut mir leid, Alex, aber ich kann dir nicht helfen. Ich hoffe, du findest die Gefährtin deiner Wahl. Es war schön, dich wiederzusehen.“

Das Letzte war natürlich gelogen, aber den Wink mit dem Zaunpfahl würde er hoffentlich verstehen. Je schneller er wieder aus ihrem Leben verschwand, umso besser für alle Beteiligten. Wie tief sie in seiner Schuld stand, ging ihn nichts an.

Er betrachtete sie nachdenklich, dann lächelte er sanft.

Schnell wandte sie sich ab. „Adieu, Alex.“

„Daisy?“

Unwillig drehte sie sich um. „Was ist?“

„Lass uns essen gehen, ich lade dich ein.“

2. KAPITEL

„Auf gar keinen Fall!“

„Warum nicht?“

„Weil … weil ich nicht will.“

Alex ließ sie nicht aus den Augen. Ihr Verhalten war anders, ansonsten war sie, wie er sie in Erinnerung hatte. Das alte Verlangen nach ihr regte sich ganz deutlich, doch im Hinblick auf ihre gemeinsame Vergangenheit war das wohl keine gute Idee.

„Hasst du mich, Daisy?“, fragte er und dachte daran, wie sie sich damals getrennt hatten. Zum Glück war sie nicht in Tränen ausgebrochen, obwohl es einen Moment danach ausgesehen hatte. Aber wonach sie sich sehnte – was sie von ihm verlangte – waren Dinge, für die in seinem Leben kein Platz war. Sie erinnerten ihn an eine Epoche, an die er nicht erinnert werden wollte. Was damals zwischen ihnen hätte sein können, davon wollte er nichts wissen, heute ebenso wenig wie vor fünf Jahren. Er bedauerte, dass er ihr hatte wehtun müssen, aber die Zeit mit ihr würde er nie bedauern – sie gehörte zu seinen schönsten Erinnerungen.

„Weshalb sollte ich dich hassen? Du bist mir gleichgültig.“

Autsch, das schmerzte! Aber konnte er etwas anderes erwarten? Und im Grunde war es ja auch besser so, für sie und für ihn.

„Dann verstehe ich nicht, weshalb wir nicht miteinander essen sollten. Zur Erinnerung an alte Zeiten sozusagen.“ Er schenkte ihr sein charmantestes Lächeln.

„Es gibt nichts, woran ich mich erinnern möchte.“

„Und unser Wochenende?“

Daisy stieg das Blut in die Wangen. „Das liegt eine halbe Ewigkeit zurück; mindestens sechs Jahre.“

„Fünfeinhalb, um genau zu sein.“ Er erinnerte sich ganz deutlich – damals hatte er den Entschluss gefasst, länger als ursprünglich geplant in Europa zu bleiben. Es war sinnvoll im Hinblick auf seine Karriere gewesen und entschieden besser für seinen Seelenfrieden, den Daisy ernsthaft gefährdete.

Anscheinend gelang ihr das immer noch, doch ein oder zwei Stunden in einem Restaurant konnte er verkraften. „Na, wie sieht es aus?“

„Nein, danke.“

„Wir reden von einem Abendessen, Daisy. Ich habe nicht die Absicht, dich zu verführen.“

„Das würde dir auch nicht gelingen.“

Ich glaube schon, dachte er. Allerdings beabsichtigte er nicht, die Probe aufs Exempel zu machen. Dennoch, einfach abwimmeln lassen wollte er sich auch nicht. „Na, komm schon“, schmeichelte er. „Es gibt bestimmt eine Menge zu erzählen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht.“

Er betrachtete sie nachdenklich. Connolly … Vor fünf Jahren hieß sie anders, da war er sich ziemlich sicher. Sie hatte also geheiratet. War sie dem Mann fürs Leben begegnet, so wie sie es sich erträumt hatte? Bei dem Gedanken verspürte er einen leisen Stich, doch dann sagte er sich, dass man eben nicht alles haben konnte. Er hatte, was er wollte.

„Dann vielleicht ein andermal?“

„Nein, danke.“

Warum war sie nur so abweisend? Wollte sie ihn loswerden? „Es gab eine Zeit, da hatten wir uns eine Menge zu sagen“, bemerkte er verstimmt.

„Das ist vorbei. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigst, ich bin beschäftigt.“

„Mit Ehestiften?“

„Nein.“

„Fotografie? Ich erinnere mich, dass du damit zu tun hattest.“

„Ja.“

Gesprächig ist sie ja nicht gerade. Er machte einen neuen Anlauf. „Warum zeigst du mir nicht etwas von deiner Arbeit?“

Den Bruchteil einer Sekunde zögerte sie, dann schüttelte sie den Kopf. „Nein.“

„Warum nicht? Übrigens, was ist aus den Fotos geworden, die du von uns gemacht hast?“

Sie zuckte die Achseln und schwieg.

Wahrscheinlich existieren sie nicht mehr, dachte er. „Was hat dich bewogen, nebenbei Ehen zu stiften?“, fragte er abrupt.

„Das ist eine lange Geschichte“, entgegnete sie spröde.

„Ich habe es nicht eilig.“

„Aber ich!“ Langsam verlor sie die Geduld.

„Du hast bloß Angst.“

Daisy errötete. „Wovor sollte ich Angst haben?“

„Keine Ahnung.“ Spöttisch neigte er den Kopf zur Seite. „Vor mir? Vor dir selbst? Wer weiß?“

„Bilde dir bloß nichts ein.“ Sie hob das Kinn. „Ich habe zu tun, das ist alles. Ganz davon abgesehen haben wir uns absolut nichts zu sagen. Im Grunde genommen hatten wir das nie.“

„Das ist nicht wahr.“

„Doch. Wir hatten Sex, weiter nichts. Und jetzt gehst du besser.“ Sie wandte sich ab, doch Alex packte sie beim Arm und drehte sie zu sich. Dann neigte er sich zu ihr und küsste sie stürmisch.

Was ihn dazu trieb, hätte er nicht sagen können. Sehnsucht? Begierde? Instinkt? Was immer es sein mochte, er konnte es nicht kontrollieren.

Das Blut rauschte in seinen Adern. Ihre Lippen waren weich wie Samt und süß wie Honig, nur allzu gut erinnerte er sich daran. Auch jetzt konnte er nicht genug davon bekommen. Sie hatte einen Mund, der zum Küssen geschaffen war.

Eine Sekunde, vielleicht zwei, schien sie in seinen Armen zu schmelzen. Im nächsten Moment stieß sie ihn zurück und starrte ihn entsetzt an. Dann riss sie sich los und stürzte davon.

„Daisy! Warte!“

Mit einem Knall fiel die Tür zu ihrer Wohnung ins Schloss.

Wie angewurzelt verharrte Alex am gleichen Fleck. Der Kuss brannte immer noch auf seinen Lippen. Fünf Jahre waren vergangen, und sein Verlangen nach ihr war keinen Deut schwächer – im Gegenteil. Darauf war er nicht gefasst; es war das Letzte, was er jetzt brauchte. Dem Himmel sei Dank, dass sie ihn zurückgestoßen hatte.

Auf dem Bürgersteig warf er den Zettel mit der Adresse in eine Mülltonne – er täte gut daran, den unglückseligen Vorfall schnellstens zu vergessen.

Zehn Minuten später zitterte Daisy noch immer.

Sie starrte auf das Foto, an dem sie gerade gearbeitet hatte, aber alles, was sie vor sich sah, war Alex. Er war reifer, härter, attraktiver – bezwingender als je zuvor.

Mit bebenden Fingern rieb sie sich über den Mund, als könne sie so den Geschmack seiner Lippen auf ihren fortwischen. Natürlich war das unmöglich.

Nichts hatte sie vergessen, weder seine Küsse noch ihn. Im Lauf der Jahre war es ihr gelungen, mit den Erinnerungen zu leben, obwohl auch das nicht einfach war. Aber immerhin möglich, dachte sie.

Doch jetzt war er zurück. Keine Erinnerung, der Mann in Person. Sie hatten miteinander gesprochen, er hatte sie geküsst. Und um ein Haar hätte sie den Kuss erwidert, wäre sie im letzten Moment nicht zu sich gekommen.

Denn eins war offenkundig: Von Äußerlichkeiten abgesehen, hatte Alex sich keinen Deut verändert. Seine Einstellung war die gleiche, er selbst hatte es bestätigt. Er suchte keine Frau, sondern eine ‚Gefährtin‘ für gesellschaftliche Anlässe und fürs Bett. An einer richtigen Ehe und an Kindern war er nach wie vor nicht im Geringsten interessiert. Und das Hoffnungsflämmchen, das bei dem Kuss eine Sekunde lang aufgeflackert hatte, war ebenso schnell wieder erloschen.

Sie bedeutete ihm nichts, absolut nichts.

Er begehrte sie immer noch, das war eindeutig gewesen, als er sie an sich presste – ganz so naiv wie früher war sie denn doch nicht mehr. Aber diese Art von Begehren war nichts weiter als eine normale physische Reaktion, die man befriedigte und vergaß. Mit Liebe hatte das nichts zu tun, es berührte weder die Seele noch das Herz.

Und was das Ehevermitteln betraf, da musste er sich anderswo umsehen. Für einen Mann wie ihn würde sie keinen Finger rühren. Sie hoffte nur, er hatte es auch kapiert, denn wiedersehen wollte sie ihn gewiss nicht mehr. Auch wenn ihr Herz bei seinem Anblick immer noch schneller schlug, auch wenn sie bei der leisesten Berührung nach wie vor weiche Knie bekam – für Alex Antonides war in ihrem Leben kein Platz, so viel war sicher.

Und nicht nur in meinem, dachte sie und lächelte unwillkürlich, als sie die eiligen Schritte auf der Treppe vernahm.

„Mom?“

Die Tür wurde aufgerissen, und Charlie stürmte herein. Ihr kleiner Sohn, vier Jahre und neun Monate alt. Ihr Sonnenschein.

„Mom!“

Sie drehte sich zu ihm, als er neben dem Schreibtisch stehen blieb. „Hallo, Schatz. Was gibt es?“

„Warum arbeitest du noch?“, fragte er vorwurfsvoll. „Wir müssen gehen.“

„Ich bin fast fertig.“

„Beeil dich!“

„Noch eine Sekunde.“ Sie sicherte die Datei, an der sie seit einer halben Stunde keinen Strich getan hatte, dann schloss sie das Bildbearbeitungsprogramm mit einem Tastenklick. Wenn sich die Erinnerungen an Alex nur ebenso leicht abschalten ließen! Aber das war unmöglich – schon gar nicht, wenn sein Sohn neben ihr stand.

„Mach schnell!“ Ungeduldig trat er von einem Fuß auf den anderen.

Warten war noch nie Charlies Stärke gewesen – schon bei der Geburt hatte es ihm pressiert. Er war zwei Wochen zu früh zur Welt gekommen, am Tag vor Weihnachten. Seitdem nahm er die Welt im Sturm, jeden Tag aufs Neue. Sein Tatendrang und seine Energie waren unerschöpflich.

„Immer mit der Ruhe.“ Daisy fuhr den Rechner herunterfuhr, dann drehte sie sich wieder zu ihm.

An einem Schneidezahn fehlte eine Ecke, das Resultat seiner letzten Kletterpartie. Sein Haar war ein paar Schattierungen dunkler als ihres und schnurgerade, er war kein Lockenkopf wie seine Mutter. An seinen Vater erinnerte eigentlich nur die ungewöhnliche Form der Augen, doch daran hatte sich gewöhnt. Wenn sie ihn anschaute, sah sie nicht Alex, sondern immer nur Charlie.

Nur heute nicht. Blick, Gesichtsausdruck, Gesten, der ungeduldige Tonfall – alles erinnerte sie plötzlich an Alex.

„Du hast gesagt, dass wir um halb sieben losgehen. Jetzt ist es halb sieben.“

„Ich komme ja schon.“ Sie machte sich noch schnell eine Notiz, dann legte sie den Bleistift zur Seite und stand auf. „Fertig. Jetzt können wir gehen.“

Er nahm sie bei der Hand. „Wir müssen uns beeilen, Dad wirft als Erster.“

Dad. Ein weiterer Grund, Alex Antonides aus ihrem Leben zu verbannen.

„Na, Kleiner?“ Cal, Daisys Ex, ließ sich auf der Decke nieder, von wo aus sie und Charlie dem Baseballspiel zuschauten.

Sie hatten sich tatsächlich verspätet und Cals ersten Einsatz versäumt. Dafür konnte er ihnen jetzt bis zum nächsten Gesellschaft leisten.

„Jeff und ich haben ein Feuerwehrauto gebastelt, Dad“, berichtete der Junge voller Stolz. „Aus Pappe, es ist sooo groß!“ Er streckte die Arme aus, so weit er konnte.

„Tatsächlich! Im Kindergarten?“

Charlie nickte. „Wir könnten daheim noch eins bauen, du und ich. Willst du?“

„Warum nicht? Nächsten Samstag, wenn Grandpa zu Besuch kommt. Er kann uns dabei helfen.“

Charlie strahlte. „Prima! Jeff ist bestimmt neidisch, wenn ich ihm das erzähle.“

„Ich dachte, Jeff ist dein Freund. Und Freunde sollte man nicht neidisch machen, meinst du nicht auch?“ Über seinen Kopf hinweg zwinkerte er Daisy zu.

Sie lächelte gezwungen, doch dann sagte sie sich, dass es keinen Grund zur Besorgnis gab. Nichts hatte sich geändert. Es war ein Freitag wie jeder andere, wenn Cal mit seinen Kumpels im Central Park Baseball spielte und Charlie und sie dabei zuschauten. Ihr Ex und sie hatten sich im Guten getrennt. Sie sahen sich regelmäßig, waren weiterhin gute Freunde, und Cal war Charlies Dad. Auch daran hatte sich nichts geändert. Worüber zerbrach sie sich nur den Kopf, alles war wie …

„Hörst du mir eigentlich zu, Daisy?“

Cals Stimme riss sie aus ihrer Grübelei. „Entschuldige, ich war mit den Gedanken woanders.“

„Das sehe ich“, meinte er trocken. „Was ist los?“

„Nichts, ich habe bloß an etwas gedacht.“ Sie sah sich um. „Wo ist Charlie?“

„Dort drüben.“ Er wies mit dem Kopf zu einem Baum, unter dem der Kleine und ein anderer Junge im Sand spielten. „Charlie ist okay, aber mit dir stimmt etwas nicht.“

„Alles ist bestens.“ Das Problem mit Cal war, dass er sie so leicht durchschaute.

„Erzähl mir nichts. Du bist unruhig, das sieht ein Blinder. Außerdem seid ihr zu spät gekommen.“

„Na wenn schon!“, entgegnete sie schärfer als beabsichtigt. „Ich war beschäftigt und habe nicht auf die Uhr geschaut. Seit wann …“

„Reiß mir nicht gleich den Kopf ab, Daisy, das ist nicht deine Art. Und wieso habt ihr den Bus genommen?“

Verständnislos sah sie ihn an. „Warum fragst du?“

„Weil du normalerweise zu Fuß gehst, damit Charlie Fahrrad fahren kann. Wo ist es? Ich sehe es nirgends.“

Daisy biss sich auf die Lippe. Das Fahrrad, ein winziges Zweirad, war Charlies Ein und Alles. Cal hatte es ihm zum vierten Geburtstag geschenkt und damit den sehnlichsten Wunsch ihres Sohns erfüllt. Nachdem er gelernt hatte, wie man es benutzt, radelte er, so oft er durfte. Und dazu gehörten auch die Ausflüge in den Central Park.

Nur heute war die Zeit zu knapp gewesen, wegen ihres … Besuchers.

„Es steht daheim“, erwiderte sie unwirsch. „Er muss nicht ständig damit unterwegs sein. Außerdem ist es um diese Jahreszeit auf dem Heimweg schon zu dunkel.“

„Das stimmt.“

Sie schwiegen, während Cal, auf die Ellbogen gestützt, das Spiel verfolgte. Nach einer Weile drehte er sich zu ihr. „Nun sag schon, was dich bedrückt.“

Daisy seufzte. Er war der hartnäckigste Mensch, dem sie je begegnet war. Und er beharrte auf seiner Meinung, egal, was man ihm entgegenhielt. Cal musste selbst herausfinden, ob er sich täuschte oder nicht. Wie zum Beispiel mit seiner Behauptung, dass man lieben kann, wen man lieben will. Letztendlich hatte sie sich als ebenso falsch erwiesen wie ihre Überzeugung, dass man instinktiv wusste, wenn man der großen Liebe begegnete.

Sie gab sich einen Ruck – lügen war noch nie ihre Stärke gewesen. „Ich bin Alex wiederbegegnet.“

Vom Spielfeld kam ein scharfes Geräusch, als das Schlagholz den Ball traf, und gleich darauf lauter Jubel. Cal achtete nicht darauf. Er ließ Daisy nicht aus den Augen. „Wo?“

„Er war bei mir im Büro.“ Der Schatten eines Lächelns huschte über ihr Gesicht. „Auf der Suche nach einer Heiratsvermittlerin.“

„Wie bitte?“

„Er will heiraten.“

„Dich?“

„Natürlich nicht. Er hatte keine Ahnung, bei wem er klingelt. Als wir uns gegenüberstanden, war er genauso überrascht wie ich.“

„Dann verstehe ich nicht …“

„Lukas hat ihn geschickt.“

„Lukas sollte sich um seine Angelegenheiten kümmern, nicht um die anderer Leute.“

„So ist er nun mal. Abgesehen davon wusste er nie, dass Alex und ich … dass wir uns kennen.“ Niemand wusste das, außer Cal – und er auch nur, weil sie sich, als sie entdeckte, dass sie schwanger war, einfach jemandem anvertrauen musste. „Du kannst ihm keinen Vorwurf machen. Er hat mir schon öfter Kunden ins Haus geschickt, und normalerweise habe ich nichts dagegen. Diesmal hätte ich allerdings sehr gern verzichtet.“

„Das kann ich mir denken.“ Geistesabwesend riss Cal ein paar Grashalme aus der Erde, dann schaute er automatisch zu Charlie hinüber. „Hast du …“

„Kein Wort.“

„Aber Charlie ist sein Sohn.“

Sie schüttelte den Kopf. „Alex ist immer noch derselbe, an Kindern hat er nach wie vor kein Interesse.“

„Du sagst, dass er heiraten will.“

„Er sucht eine Vorzeigefrau für gesellschaftliche Anlässe und natürlich fürs Bett. Das erspart ihm die Arbeit, jemand zu finden und zu bezirzen.“

„So, wie er dich einmal bezirzt hat.“

Cal Connolly kannte die ganze traurige Geschichte.

Sie hatten sich kennengelernt, als Daisy nach dem Studium in Finn MacCauleys Atelier anfing. Cal war Finns Assistent gewesen, und als er sich selbstständig gemacht hatte, erhielt sie den Posten.

Danach war er regelmäßig vorbeigekommen, um mit seinem ehemaligen Boss über Fotografie zu fachsimpeln. An diesen Gesprächen nahm Daisy als Zuhörerin teil und profitierte enorm vom Können der beiden Männer. Finn war ein begnadeter Fotograf, impulsiv und oft ungeduldig, Cal eher besonnen und methodisch, ein guter Zuhörer. Finn war verheiratet und hatte Familie, Cal Junggeselle und ohne Anhang. Finn wurde ihr Vorbild, dem sie nacheiferte, Cal bald ihr bester Freund.

Mit ihm konnte sie über alles diskutieren, von Kameralinsen über Baseball-Teams bis zum Sushi, von Evolutionstheorie und freiem Willen bis zur Liebe.

Über dieses Thema redeten sich jedes Mal die Köpfe heiß. Verliebte man sich, weil man nicht anders konnte, oder entschied man selbst, wen man lieben wollte?

Das Beispiel ihrer Eltern vor Augen, glaubte Daisy trotz eigener Erfahrung an die große Liebe. „Die gibt es, Cal, davon bin ich überzeugt. Man weiß es, wenn man dem Mann oder der Frau fürs Leben begegnet.“

Cal, der Realist, war anderer Ansicht. „Du verwechselst Gefühl mit Hormonen“, spöttelte er.

„Mit Hormonen hat es nichts zu tun, nur mit Instinkt.“

„Nein. Man liebt, wen man lieben will. Es ist eine Sache der Vernunft.“

Vielleicht hatte er damit sogar recht. War Alex nicht der beste Beweis, dass ihre Theorie nichts taugte? Sie mochte Cal sehr gern, und als er sie bat, seine Frau zu werden, sagte sie Ja.

Die Ehe war ein Flop, wie sie beide schließlich zugeben mussten. Aber sie blieben Freunde, und Daisy glaubte immer noch an die große Liebe, allerdings mit einer Einschränkung: Sie war für andere, nicht für sie.

Mit einem leisen Seufzer betrachtete sie den leeren Ringfinger, während ihr all das wieder durch den Kopf ging.

„Hast du vor, eine Frau für ihn zu suchen?“, fragte Cal.

Sie sah auf. „Natürlich nicht.“

„Umso besser.“ Er schwieg. „Wie … wie war es? Ich meine, das Wiedersehen. Hast du etwas für ihn empfunden?“

Sie dachte an den Kuss, dann zog sie die Knie an und umschlang sie mit den Armen. „Er ist immer noch sehr attraktiv. Keine Bange …“, sie verzog den Mund, als er scharf den Atem einzog, „… ich bin kuriert. Ein Mal war mehr als genug.“

„Das hoffe ich.“ Er stand auf. „Ich muss zurück aufs Feld.“ Er sah auf sie hinunter. „Wenn du möchtest, rede ich mit ihm.“

„Danke, aber das ist nicht nötig. Er wird sich nicht mehr blicken lassen.“

„Bist du sicher?“

„Warum sollte er? Ich habe ihn mit keinem Wort dazu ermuntert.“

„Und Charlie?“

„Alex weiß nichts von seiner Existenz, und dabei bleibt es auch. Er wollte nie Kinder und will immer noch keine.“

„Weil er nicht weiß, dass er einen Sohn hat.“

„Von mir wird er das auch nicht erfahren.“

„Und wenn er es zufällig herausfindet?“

Daisy presste die Lippen zusammen – er ließ einfach nicht locker! „Charlie ist mein Sohn. Unser Sohn.“

Der Junge wusste, dass er zwei Väter hatte, einen leiblichen und Cal. Natürlich war er noch zu klein, um den Unterschied zu verstehen. Für Charlie gab es nur einen Vater – Dad.

Und war Cal das nicht auch, in jeder Hinsicht außer einer? Er war stets für den Jungen da. Er war ihr Ehemann gewesen, als Charlie zur Welt kam, der Junge trug seinen Namen. Sollte Alex irgendwann einmal entdecken, dass er einen Sohn hatte, würde sie einer Begegnung der beiden nicht im Weg stehen. Aber nicht jetzt. Jetzt war Charlie noch zu klein und verletzlich, um mit der Tatsache konfrontiert zu werden, dass sein leiblicher Vater ihn nicht gewollt hatte.

„Woher willst du wissen, wie Alex reagiert, wenn er die Wahrheit herausfindet, Daisy?“

„Das wird er nicht.“ Dafür werde ich sorgen.

„Dein Wort in Gottes Ohr.“

3. KAPITEL

Mehrere Tage verstrichen, aber Daisys Nervosität blieb.

Wenn das Telefon klingelte, prüfte sie zuerst die Nummer, bevor sie antwortete. Sie hielt den Atem an, sobald jemand die Treppen zur Haustür heraufkam. Sogar den Wasserkessel hatte sie heute früh fallen lassen, als sie Schritte im Flur hörte. Dabei war es lediglich ein Eilbote, der bei der Nachbarin eine Sendung ablieferte.

Jetzt war sie im Begriff, Tee zu kochen, während ihre Freundin Nell – sie hatte Charlie zum Kindergarten gebracht – ihr dabei zuschaute.

„Stimmt etwas nicht, Daisy?“

„Nein, alles ist okay. Ich … ich bin nur vorsichtig.“ Sie stellte die Kanne auf den Tisch und nahm zwei Tassen aus Küchenschrank.

„Gibt es Ärger mit Cal?“

„Natürlich nicht. Cal macht nie Ärger.“ Sie warf einen Blick in den Garten, wo Charlie und Nells Sohn Jeff mit Lastautos spielten.

„Glückspilz.“ Nell hatte ständig Probleme mit ihrem Ex.

Daisy schenkte ein. „Milch?“

„Nein, danke.“

Sie schob Nell einen Teller mit Gebäck hin. „Weißt du übrigens …“ Geschickt wechselte sie das Thema.

Sie tranken Tee, knabberten Mandelplätzchen und unterhielten sich über dieses und jenes. Schließlich stand Nell auf und rief ihren Sohn. „Jeff! Wir gehen.“

Daisy brachte sie zur Haustür, dann kehrte sie in die Küche zurück. Der kleine Schwatz mit Nell hatte sie abgelenkt, und als das Telefon klingelte, hob sie automatisch ab.

„Daisy Connolly.“

„Hallo, Daisy.“ Sein samtiger Bariton war unverkennbar. Verflixt! Warum hatte sie nicht aufs Display geschaut?

„Mit wem spreche ich?“

„Als ob du das nicht wüsstest.“

Der Ton verriet, dass er sie durchschaut hatte. „Hallo, Alex.“

„Ich wusste, dass du von allein darauf kommst.“ Er lachte.

„Was willst du?“

„Eine Frage … Bist du verheiratet?“

„Wie bitte?“

„Dein Nachname … Ich erinnere mich, es war nicht Connolly. Harris oder Morris, aber nicht Connolly.“

„Harris.“

Ein paar Sekunden blieb es still, dann: „Du hast also geheiratet.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.

„Ja.“

„Und jetzt?“

„Jetzt? Was meinst du?“

„Bist du immer noch verheiratet?“

So eine Unverschämtheit! Wie kam er dazu, sie das zu fragen? Die Versuchung, ihn anzulügen, war groß; andererseits wusste sie, dass sie keine gute Lügnerin war. Und Alex hatte ein feines Gehör.

„Ich bin geschieden“, entgegnete sie kühl.

„Ah.“

Und was, bitte schön, soll das nun bedeuten? Doch im Grunde konnte es ihr egal sein. „Was willst du von mir?“, wiederholte sie. „Ich bin beschäftigt.“

„Ich rufe geschäftlich an.“

„Vergiss es.“

„Es handelt sich nicht um Ehevermittlung, sondern um ein Fotoshooting. Willst du das auch ablehnen?“

Ja, hätte sie am liebsten erwidert. Aber da Alex nicht dumm war, könnte er erraten, dass er sie aus dem Konzept brachte. Diese Genugtuung sollte er auf keinen Fall haben. „Was für Fotos? Ich bin spezialisiert auf …“

„Familienfotos, ich weiß. Hochzeiten, Kinder im Park. Ab und zu Porträts, hin und wieder eine Fotoreportage. Habe ich etwas vergessen?“

„Wo…woher weißt du das?“

„Von deiner Webseite. Das Internet ist eine großartige Erfindung.“

Nicht unbedingt. Sie schaute in den Garten, wo Charlie immer noch mit seinem Auto spielte. Es war fast Zeit für sein Mittagessen – was, wenn er plötzlich in die Küche kam und lauthals danach verlangte? Vorsichtshalber verriegelte sie die Schiebetür, dann klemmte sie das drahtlose Telefon zwischen Ohr und Schulter und machte sich daran, Cracker, Käse und Obst auf einem Teller herzurichten. „Du hast meine Frage nicht beantwortet. Worum geht es bei dem Fotoshooting?“

„Um Material für ein Magazin, das einen Artikel über mich veröffentlicht. Sie brauchen Bilder von mir und dem Büro. Der Redakteur wollte einen Fotografen vorbeischicken, der …“

„Warum nimmst du ihn dann nicht?“

„Weil ich vorziehe, dass du sie machst.“

Warum? hätte sie gern gefragt, aber sie fürchtete sich ein wenig vor der Antwort.

„Tut mir leid, Architektur ist nicht mein Fach. Außerdem reise ich nicht gern in der Weltgeschichte herum.“

„Das Büro ist in New York, Daisy, nicht in Paris. In Brooklyn, um genau zu sein. Ist dir das zu weit?“

„N…nein. Aber momentan bin ich mit Aufträgen eingedeckt.“

„In den nächsten zwei Wochen wirst du doch wohl ein oder zwei Stunden abzwacken können, oder?“

Was er meinte, aber diesmal nicht laut sagte, war: Wovor hast du Angst? Ich weiß, dass ich dir nicht egal bin. Und ich weiß auch, dass du einem kleinen Abenteuer nicht abgeneigt wärst!

Womit er gar nicht so unrecht hat. Wenn es Charlie nicht gäbe … Doch zum Glück gab es ihn.

„Daisy? Bist du noch da?“, fragte er, als sie nicht antwortete.

Sie holte tief Luft. „Möglicherweise habe ich nächste Woche Zeit. Einen Moment, ich hole meinen Terminkalender.“ Etwas Besseres fiel ihr nicht ein, um Alex verständlich zu machen – und sich selbst einzureden –, dass sie nicht auf Abruf zu seiner Verfügung stand.

Sie legte das Telefon zur Seite, nahm den Teller mit Charlies Lunch und öffnete leise die Tür zum Garten. Der Kleine sah auf, grinste und lief ihr entgegen. Sie legte einen Finger auf die Lippen, dann zeigte sie auf das Telefon. Er verstand sofort – wenn Mommy telefonierte, durfte man nicht reden. So hatte er es von klein auf gelernt. Er nahm ihr den Teller ab und kehrte brav zu seinen Spielsachen zurück.

Daisy sah ihm nach – was für ein lieber Junge er war! Vorsichtig schob sie die Tür wieder zu, bevor sie Bleistift und Notizblock zückte und nach dem Telefon griff. „Wo in Brooklyn? Gib mir die Adresse.“

Er nannte Straße und Hausnummer. „Es ist ein altes Haus, noch aus der Vorkriegszeit, das ich restauriert habe.“

„Ich dachte, als Architekt entwirfst du Gebäude.“

„Im Allgemeinen schon, aber bei diesem habe ich eine Ausnahme gemacht. Es gefiel mir, und die Fassade war zum größten Teil intakt. Bis auf die Fenster, die mussten erneuert werden. Der Eigentümer wollte es abreißen und ein Hochhaus auf dem Grundstück bauen lassen, aber das konnte ich ihm ausreden. Bautechnisch war es noch solide, und architektonisch ist es ein Juwel, ein echtes Stück Zeitgeschichte. Deshalb schlug ich dem Besitzer einen Handel vor. Ich kaufte es ihm ab, und er erwarb ein anderes Grundstück im gleichen Viertel. Dort steht jetzt sein Hochhaus, und ich habe das Juwel für mich behalten.“

Sein Enthusiasmus erinnerte Daisy an das Wochenende, als er von seinen Plänen erzählte. Damals musste er die Anweisungen von anderen ausführen, jetzt verwirklichte er seine eigenen Ideen. So, wie er es sich vorgenommen hatte.

„Du bist also inzwischen dein eigener Boss.“

„Seit über vier Jahren.“

„Bist du zufrieden?“

„Mehr als zufrieden.“ Er schwieg. „Wie sieht es bei dir aus? Bist du immer noch bei diesem Modefotografen?“

„Finn? Nein, ich arbeite inzwischen in eigener Regie.“

„Ausgezeichnet. Die Details kannst du mir ja nächste Woche erzählen, wenn es bei dem Termin bleibt.“

Blieb es dabei? Daisy biss sich auf die Lippen. Vielleicht handelte es sich tatsächlich um einen ganz normalen Auftrag, ohne irgendwelche Hintergedanken. Aber warum hatte er sie dann neulich geküsst?

Sie schob die Erinnerung beiseite. „Um auf den Artikel zurückzukommen – um was geht es da? Ich meine, was ist das Hauptthema?“

„Das bin ich.“ Es klang eher unbehaglich. „Junger Architekt mit großer Zukunft, das übliche Blabla. Mein letztes Projekt, ein neuer Flügel für ein Krankenhaus, soll angeblich prämiert werden.“

„Gratuliere.“ Nicht, dass es sie überraschte – in seinem Metier war Alex sicherlich hervorragend. „Ist dieses Krankenhaus hier in New York?“

„Nein, im nördlichen Hinterland. Aber damit brauchst du dich nicht zu befassen, davon gibt es genügend Material. Was sie wollen, sind Aufnahmen des Gebäudes in Brooklyn – es ist meine erste Restaurierung und somit für mich eine neue Richtung. Und natürlich wollen sie Bilder von mir am Reißbrett, mit Bleistift und Blaupause, du weißt, was ich meine.“

Doch, das wusste sie – was sie immer noch nicht wusste, war, ob sie den Auftrag überhaupt wollte. Andererseits wäre das vielleicht ein Mittel, um Alex Antonides endlich zu entglorifizieren. Damit würde sie sich selbst einen riesigen Gefallen tun.

„Wie wäre es mit Donnerstagnachmittag, morgen in einer Woche? Da hätte ich ein oder zwei Stunden.“

„Ausgezeichnet. Ich hole dich ab.“

„Nicht nötig. Wir treffen uns vor Ort, die Adresse habe ich.“ Hastig legte sie auf.

Die Zweifel kamen – sollte sie oder sollte sie nicht? Ein Tag verging, dann noch einer. Es wurde Samstag, und Daisy war sich immer noch unschlüssig.

„Sag ihm doch einfach, dass du nicht kannst“, schlug Cal vor, als er am Vormittag Charlie abholen kam. Der Kleine saß bereits bei Grandpa im Auto und erzählte ihm von dem geplanten Feuerwehrauto, während Daisy im Flur ihrem Ex von dem Fotoshooting und ihren nachträglichen Bedenken berichtete. „Wenn ich nur wüsste, was ich tun soll …“ Nervös strich sie sich eine Strähne hinters Ohr.

„Ruf an und sag ihm, dass etwas dazwischengekommen ist“, wiederholte Cal.

„Und wenn er wissen will was?“

„Du bist ihm keine Erklärung schuldig, Daisy.“

„Dann denkt er sich seinen Teil.“

„Denkt sich was? Dass du seinen Sohn vor ihm versteckst?“

„Natürlich nicht, von Charlie weiß er doch nichts. Er wird annehmen, dass ich …“, sie zögerte, „… dass ich noch in ihn verliebt bin und ihm lieber aus dem Weg gehe.“

„Wahrscheinlich denkt er sich, dass du ihm nicht traust.“

Daisy traute weder Alex noch sich selbst. Die Anziehungskraft zwischen ihnen war immer noch da, das hatten sein Kuss und ihre Reaktion bewiesen. Beides hatte sie Cal verschwiegen; manche Dinge blieben besser ungesagt. „Es … es wird schon klargehen“, murmelte sie.

Er musterte sie schweigend, und unter seinem Blick wurde ihr unbehaglich. Als Fotograf sah er so manches, was anderen entging.

„Sind es lediglich Hormone, oder steckt mehr dahinter?“, fragte er schließlich.

„Rede keinen Unsinn! Ich … ich bin nur neugierig auf seine Arbeit als Architekt, das ist alles.“

„Erzähl mir nichts.“

„Wirklich.“ Daisy sah ihm fest in die Augen. „Ich würde Charlies Zukunft nie aufs Spiel setzen, das weißt du.“

„Vergiss es nur nicht.“

„Hältst du mich für einen Schwachkopf?“

„Das nicht, nur …“ Er zuckte mit den Schultern. „Du musst es schließlich wissen.“

„Im Übrigen …“, sie kaute an der Unterlippe, „…wäre es nicht schlecht, etwas mehr über ihn zu erfahren. Sollte Charlie später einmal Fragen stellen“, fügte sie hinzu.

Cal zog die Brauen hoch. „Das ist allerdings ein echtes Plus“, bemerkte er ironisch.

Daisy legte eine Hand auf seinen Arm. „Hör auf, dir Gedanken zu machen, Cal.“

„Das versuche ich.“ Er ging zur Haustür, wo er sich noch einmal umdrehte. „Du sagst, die beiden sind sich nie begegnet?“

„Nie!“

„Irgendwann …“

„Irgendwann wird es wohl dazu kommen, aber bis dahin ist noch viel Zeit. Im Moment ist Charlie zu klein und zu verletzlich; ich lasse nicht zu, dass Alex ihm wehtut. Darüber haben du und ich oft genug miteinander geredet.“ Sie lächelte. „Charlie hat einen Vater – dich. Er braucht keinen zweiten.“

„Dad!“, rief der Kleine wie auf Kommando. „Kommst du endlich?“

Daisy grinste. „Beeil dich, Dad, lass ihn nicht warten. Und hör auf, dir Sorgen zu machen. Ich weiß, was ich tue. Ich werde ihn und das Haus fotografieren, sein Können bewundern, und damit hat es sich. Vertrau mir.“

Sie fand das Gebäude ohne Schwierigkeiten. Es stand an der Kreuzung einer schmalen Allee und einer baumlosen Geschäftsstraße, die ihr reichlich Spielraum zum Fotografieren ließ.

Sie war absichtlich etwas früher gekommen. Nicht nur, um die Umgebung auszukundschaften, sondern um sich seelisch auf das Wiedersehen mit Alex vorzubereiten.

Das Wetter hätte nicht besser sein können. Es war kühl und sonnig, der Himmel tiefblau und das Laub an den Bäumen herbstlich bunt. Daisy schlenderte den Bürgersteig entlang und begutachtete das Haus kritisch von allen Seiten.

Die Sonne stand bereits niedrig genug, um Schatten zu werfen, wodurch die gemeißelten Sandsteinreliefs am oberen Rand der Fassade vorzüglich zur Geltung kamen. Sie trat ein paar Schritte zurück, zückte die Kamera und knipste eine Serie von Fotos aus verschiedenen Perspektiven.

Das schmale dreistöckige Ziegelsteingebäude unterschied sich durch nichts von seinen Nachbarn, dennoch fand Daisy, dass es anders aussah. Es kam ihr vor, als ob seine Mauern mehr Licht absorbierten als die der übrigen Häuser, und sie fragte sich, woran das liegen mochte.

Im Erdgeschoss befand sich ein Geschäft für elektronische Geräte, was in dem altmodischen Gebäude eigentlich fehl am Platz anmuten sollte. Das Gegenteil war der Fall – moderne Technik und ehrwürdiger Baustil vereinten sich aufs Beste. Und jetzt erkannte sie auch, was anders war: die Fenster! Alex hatte etwas von neuen Fenstern erwähnt, und wirklich, sie waren höher und etwas breiter als die der anderen Häuser, aber immer noch in der ursprünglichen Spitzbogenform. Wirklich eine ausgezeichnete Idee – der Effekt war bemerkenswert.

Ihr Blick glitt zum ersten Stock. An den Scheiben des Mittelfensters – es war größer als die übrigen – stand in schwarzen Buchstaben Antonides Architectural Design. Einfach, ohne jeden Schnörkel, und gerade deshalb sehr elegant.

Die Idee für eine Serie von Bildern ging ihr durch den Kopf. Erst würde sie Alex von hier unten hinter dem Fenster mit dem Schriftzug fotografieren. Sie sah es bereits vor sich – der stolze Besitzer eines zukünftigen Imperiums. Danach im Büro, über das Reißbrett gebeugt … konzentriert … eine schwarze Haarsträhne in der Stirn …

Weitere Motive würden sich bieten – vielleicht ein geschwungener Treppenaufgang, ein altmodischer Aufzug mit schmiedeeiserner Tür … In einem Gebäude wie diesem waren die Möglichkeiten mit Sicherheit unbegrenzt.

Daisy lächelte glücklich. Der Ehrgeiz hatte sie gepackt; plötzlich war sie felsenfest überzeugt, dass sie Alex’ Anforderungen gerecht werden und den Auftrag mit Kompetenz und Ideenreichtum ausführen würde.

Rasch wandte sie sich um – und prallte mit voller Kraft gegen eine stahlharte Männerbrust.

4. KAPITEL

Daisy schwankte, doch Alex hielt sie fest. „Ich habe dich auf der Straße auf und ab gehen sehen und dachte, du hättest die Hausnummer vergessen.“

Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Hastig befreite sie sich aus seinen Armen und trat einen Schritt zurück. „N…nein, ich … ich wollte mir das Gebäude nur aus … aus jeder Perspektive einprägen“, stammelte sie.

Was war es nur, das sie an diesem Mann so faszinierte? Er zog sie an wie das Licht die Motte. War es sein Äußeres? Sein Sex-Appeal? Die maskuline Ausstrahlung? Alex war die personifizierte Männlichkeit.

„Sobald du dir alles eingeprägt hast, zeige ich es dir von innen.“ Er schenkte ihr eins dieser Tausend-Watt-Lächeln, bei dem ihr gesunder Menschenverstand jedes Mal aussetzte.

Ausgesetzt hatte, korrigierte sie sich. „Worauf warten wir dann?“

Er griff nach der Kameratasche und dem schweren Stativ. „Deine Ausrüstung hättest du im Flur abstellen können, statt sie mit dir herumzuschleppen“, bemerkte er, während sie die Straße überquerten.

„Ja, das hätte ich.“

„Wie bist du hergekommen?“

„Mit der U-Bahn.“

Er blieb stehen. „Mit der schweren Tasche? In Manhattan fahren Taxis, Daisy.“

„Mit der U-Bahn geht es genauso schnell, wenn nicht schneller.“

„Ich hätte es dir bezahlt.“

„Taxifahrten gehen auf Geschäftskosten; wenn ich ein Taxi will, nehme ich eins. Können wir jetzt bitte weitergehen?“ Auf seine Hilfe und Belehrungen verzichtete sie gern.

Kopfschüttelnd öffnete Alex die Haustür und trat beiseite, um ihr den Vortritt zu lassen. Neugierig schaute Daisy sich um.

Von der Eingangshalle führte eine Tür in das Elektronik-Geschäft, das sie bereits kannte, die gegenüberliegende in einen Schreibwarenladen.

„Zukunft und Vergangenheit unter einem Dach.“ Sie nickte beifällig – ein hübscher Aspekt, der ein paar Fotos wert war.

Als Erstes besichtigte sie das Elektronik-Geschäft, wo Alex sie auf die ursprüngliche Wandverschalung und restaurierte Zinndecke aufmerksam machte. Der Rest der Einrichtung – Einbauregale, Schränke und Ladentisch – war modern, und die kunstvolle Mischung von alt und neu schuf einen spektakulären Rahmen für die letzten elektronischen Neuheiten.

Das Schreibwarengeschäft war mehr oder weniger nach dem gleichen Prinzip ausgestattet und bot eine reiche Auswahl an feinstem Büttenpapier, teuren Füllfederhaltern, Kugelschreibern und Bleistiften sowie Zeichen- und Malutensilien für die Liebhaber von Kunst und Kalligrafie. Entlang der Fenster standen Polstersessel und kleine Tische, an denen Kunden in aller Ruhe das Kaufobjekt ihrer Wahl begutachten oder testen konnten. Jeder Tisch war belegt, viele von Kunden, die ebenso jung und hip waren wie die im Elektronik-Geschäft gegenüber.

„Im Büro zeige ich dir Fotos, wie es hier früher ausgesehen hat“, murmelte er. „In der Zwischenzeit kannst du nach Herzenslust fotografieren. Daniel und Carolyn – ihnen gehören beide Geschäfte – wissen Bescheid und sind einverstanden.“

„Großartig, vielen Dank. Lass dich nicht aufhalten“, fügte sie hinzu, als er keine Anstalten zum Gehen machte. „Wenn ich hier fertig bin, komme ich rauf ins Büro.“

„Für diesen Nachmittag stehen keine Termine auf meinem Kalender.“ Er stellte die Kameratasche ab und lehnte sich an die Wand.

Daisy zuckte mit den Schultern. „Wie du möchtest.“ Sie machte sich an die Arbeit und tat ihr Bestes, seine Anwesenheit zu ignorieren. Doch das war nicht so einfach – sein Blick begleitete sie auf Schritt und Tritt. Als sie nach den Innenaufnahmen nach draußen ging, um sich die Hausfassade vorzunehmen, folgte er ihr auch dorthin.

Sie musterte ihn nicht eben freundlich, was er mit einem unschuldigen Lächeln quittierte.

„Na gut“, murrte sie. „Da du schon da bist, stell dich vor den Eingang und mach ein freundliches Gesicht.“

Bereitwillig kam er der Aufforderung nach. Daisy nickte zufrieden: Er sah aus wie das, was er war – ein junger Architekt mit großer Zukunft. Sie machte eine Reihe von Bildern und ließ die Kamera sinken. „Fertig.“

„Dann zeige ich dir jetzt das Büro.“

Ein Fahrstuhl – leider war er modern und zweckmäßig – brachte sie in den ersten Stock und öffnete die Türen zu einem großen hellen Loft mit dunklem Parkett und mehreren hellgrauen Teppichen. In einer Ecke stand ein Schreibtisch, hinter dem eine Frau mittleren Alters telefonierte. Bücherregale bis zur Decke nahmen die gegenüberliegende Wand ein, daneben erwartete ein moderner Loungebereich die Besucher und Kunden.

In der Mitte des Raums befanden sich mehrere Tische mit maßstabgerechten Modellen verschiedener Bauprojekte. Ein wenig abseits, aber für jedermann zugänglich, standen vier Reißbretter. Vor zweien saßen ein junger Mann und eine junge Frau. Sie sahen kurz auf, als Daisy und Alex hereinkamen, dann widmeten sie sich wieder ihrer Tätigkeit

„Wow!“ Voller Bewunderung ließ Daisy den Blick durch den Saal schweifen. „Sehr beeindruckend.“

„Mir gefällt es. Komm, ich stelle dir meine Mitarbeiter vor.“

Alison, die Dame am Schreibtisch, war Büroleiterin; die zwei an den Reißbrettern hießen Naomi und Steve und waren angehende Architekten. Naomi lächelte flüchtig, bevor sie sich wieder auf ihre Arbeit konzentrierte, aber Steve hatte Fragen zu seinem Projekt. Während er und Alex ein Problem diskutierten, zückte Daisy die Kamera und fotografierte.

Er war sichtlich in seinem Element. Über das Reißbrett gebeugt, deutete er mit dem Finger auf einen Punkt der Blaupause, während er Steve mit gedämpfter Stimme etwas zu erklären schien. Schnell machte Daisy mehrere Bilder: Genau so hatte sie ihn sich vorgestellt – kompetent, konzentriert, Herr der Situation. Als sie fertig war, schlenderte sie umher, fotografierte den Rest des Büros.

Nach einer Weile gesellte Alex sich ihr wieder zu. „Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“

„Keine Bange, ich war beschäftigt. Welches ist dein Zeichenbrett?“

„Das steht oben. Komm, ich zeige es dir.“

Er führte sie zu einer altmodischen Wendeltreppe, die Daisy im Stillen bereits bestaunt und auch fotografiert hatte. Mit dem schmiedeeisernen Geländer war sie ein echter Blickfang.

„War diese Treppe von Anfang an hier?“

„Nein, aber sie stammt aus der gleichen Epoche wie das Gebäude. Ich habe sie bei einem Trödler entdeckt.“

„Sie ist perfekt.“ Als Alex sie mit einer Handbewegung einlud, voranzugehen, schüttelte sie den Kopf. „Nach dir.“ Auf halbem Weg sagte sie: „Dreh dich um!“ Flink machte sie ein paar Fotos von ihm, bevor sie die restlichen Stufen hinaufstiegen. Von seinem wohlgeformten Hinterteil machte sie wohlweislich keins – ein Andenken an diesen Teil seiner Anatomie brauchte sie nicht unbedingt.

Sein Büro war bedeutend kleiner, aber ähnlich ausgestattet wie das Loft. Auch hier hatte man die ehemaligen Spitzbogenfenster durch neue und größere ersetzt.

„Hier oben hat niemand Zugang“, sagte er. „Ich brauche meinen Freiraum.“

„Einer der Vorteile, wenn man sein eigener Boss ist. Es gefällt mir.“ Sie ging zum Bücherregal und begutachtete den Inhalt. Die meisten Bände befassten sich mit Architektur und Design, daneben gab es Werke über Geschichte, Kunst und Fotografie. Erstaunt stellte sie fest, dass zahlreiche der Titel auch daheim auf ihrem Regal zu finden waren. Anscheinend beschränkte sich das, was zwischen ihnen existierte, nicht allein aufs Physische.

Sie schob den Gedanken beiseite. „Darf ich?“, fragte sie, auf die Kamera deutend.

„Natürlich.“

Während sie umherging und fotografierte, bemerkte sie: „Soviel ich weiß, geht der Trend dahin, Fenster zu verkleinern, um die Heizungskosten zu verringern und Energie zu sparen. Davon scheinst du nicht viel zu halten.“

„In meinem Metier ist gutes Licht eine Voraussetzung, ohne die es nicht geht. Dafür nehme ich höhere Heizungskosten gern in Kauf.“

Sie senkte die Kamera. „Verständlich. Als Fotografin weiß ich, wie wichtig gutes Licht ist.“

Er schwieg einen Moment, dann sagte er abrupt: „Komm mit! Ich zeige dir, was wirklich gutes Licht ist.“

Ohne zu warten, stieg er auf der gleichen Treppe eine Etage höher. Daisy folgte schulterzuckend – hatte er noch ein Büro hier untergebracht?

Sie wurde eines Besseren belehrt: Als er nach der letzten Stufe die Tür vor ihm aufschloss, erkannte sie, dass sie sich in einem Apartment befanden. Seinem Apartment.

Ein alter Perserteppich in Rostrot, Marineblau und Gold lag auf den Eichenholzdielen. Die Wände waren hell, die Möbel schlicht, aber nicht streng. Hier und da erblickte sie die gerahmte Skizze eines Bauprojekts. Auf dem Couchtisch lagen Fachzeitschriften und Magazine. Alles in diesem Raum – Farben, Formen, Dekoration – veranschaulichten den Mann, den sie damals in ihm gesehen hatte. Und nicht nur das: So stellte sie sich auch ihr zukünftiges Heim vor – sie fühlte sich augenblicklich wie zu Hause.

Sofort verdrängte Daisy den unsinnige Gedanken – sie hatte hier nichts zu suchen!

Sie räusperte sich. „Sehr hübsch, aber ich dachte, du wolltest mir ‚wirklich gutes Licht‘ zeigen.“

„Einen Moment.“ Er durchquerte das Wohnzimmer und stieß eine Tür auf. „Bitte sehr.“

Wie angewurzelt blieb Daisy stehen, als ihr klar wurde, wo sie waren. „Ich wollte doch nicht dein Schlafzimmer …“

Alex grinste. „Nein?“

Die Herausforderung war unüberhörbar. Sie schluckte, dann atmete sie tief durch – so leicht ließ sie sich von ihm nicht mehr aus der Fassung bringen! Sie trat über die Schwelle, blieb vor dem niedrigen Bett stehen – es war so riesig, dass es fast den ganzen Raum einnahm – und betrachtete das quadratische Dachflächenfenster darüber. „Nicht schlecht“, sagte sie kühl, dann drehte sie sich um. „Wenn es dir recht ist, würde ich mich gern noch etwas umsehen.“

„So viel du möchtest. Lass dir Zeit.“

Aber Daisy hatte es plötzlich eilig. Seine Wohnung sagte mehr über ihn aus, als ihr lieb war; sie hatte kein Verlangen, alte Wunden neu aufzureißen.

Er führte sie in die Küche. Eine aufgeschlagene Zeitung lag auf dem Tisch, im Spülbecken stand noch das Frühstücksgeschirr. Auch hier herrschte ein Flair von Behaglichkeit – die ganze Wohnung besaß eine persönliche Note. Eine Wand war von oben bis unten mit einer griechischen Landschaft bemalt. Zumindest sah es nach Griechenland aus: blauer Himmel, blaues Meer und steile Klippen, weiß getünchte Häuser und Kirchen mit blauen Kuppeldächern.

„Hat Martha das gemalt?“, fragte sie.

Martha war Lukas’ Zwillingsschwester, Daisy war ihr schon mehrmals begegnet. Martha verbrachte einen Teil des Jahres in Montana, die übrigen Monate in Long Island oder mit ihrem Mann Theo auf einem Segelboot – in der Ägäis, der Karibik, wo auch immer. Für Daisy, die in Colorado aufgewachsen und nach dem Abi nach New York übergesiedelt war, führte Martha ein sehr exotisches Leben.

Alex nickte. „Etwas überwältigend, findest du nicht?“

„Mir gefällt es.“

„Mir hat es zu Anfang nicht zugesagt.“

Erstaunt sah sie ihn an. „Wieso?“

„Zu viele Erinnerungen.“

Einen Moment lang wusste sie nicht, was er meinte, dann fiel es ihr wieder ein: Sein Bruder war in Griechenland gestorben, als sie noch Kinder waren.

„Warum lässt du es nicht übertünchen?“

Autor

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