Die Jahrtausend-Party - 3. Kapitel

3. KAPITEL

Jubel brach in der Menge aus, und die Band begann die Nationalhymne zu spielen. Es regnete Luftschlangen, Konfetti und bunte Luftballons auf die Gäste, die sich küssten, sich umarmten und sich die Hände schüttelten. Aber Maggie merkte all das kaum. Um sie vor neugierigen Blicken zu beschützen, fasste Luke sie um die Taille und führte sie zur Terrasse. Draußen zog er sein Jackett aus und legte es ihr um die Schultern.

     Ein Kaleidoskop von Farben explodierte am Himmel, als am North Avenue Beach das Feuerwerk begann. Maggie beugte sich über die Terrassenbrüstung und atmete tief die kalte Luft ein. „Ein frohes neues Jahr“, murmelte sie.

     Luke umfasste zärtlich ihre Schultern. „Oh, Maggie, es tut mir ja so leid. Ich hätte nie gedacht …“

     „Was tut dir leid?“, fragte sie erstickt. „Du hattest nichts damit zu tun.“

     Sanft drehte er sie zu sich herum und wischte ihr mit dem Daumen eine Träne von der Wange. „Vielleicht ist es am besten so. Wenn er sowieso nicht wollte …“

     „Hör auf!“, rief Maggie und entzog sich ihm. „Du brauchst mich nicht mehr zu verteidigen! Ich bin diejenige, die zugestimmt hat, ihn zu heiraten. Ich bin diejenige, die er im Stich gelassen hat.“ Sie presste die Handflächen an die Schläfen und schüttelte den Kopf. Nachdem der erste Schock verflogen war, sah sie nun das Absurde ihrer Situation. Mit ihren so praktischen Überlegungen zur Ehe hatte sie es nicht einmal bis zur Bekanntgabe der Verlobung geschafft!

     Sie lachte rau. „Ich sollte froh sein! Wenigstens hat er mich vor der Heirat verlassen – statt hinterher. Ein wahrer Gentleman, mein Colin.“

     „Warum tust du das?“ Ärger klang jetzt in Lukes Stimme mit. „Warum suchst du nach Entschuldigungen für Menschen, die dir wehgetan haben? Das hast du schon als Kind gemacht. Hör auf damit.“

     „Wusstest du von den anderen Frauen? Er war vorher schon verlobt. Mehrmals sogar.“

     Luke war sichtlich überrascht. „Ich wusste, dass er eine ernsthafte Beziehung nach dem College hatte, aber er sagte mir, die Trennung sei von der Frau ausgegangen.“

     Ein Frösteln durchzuckte Maggie, und sie hatte das dringende Bedürfnis, das Gebäude so schnell wie möglich zu verlassen. „Was soll ich tun?“, fragte sie, während sie Luke zur Tür zog. „Warten und hoffen, dass er zur Besinnung kommt? Oder soll ich gehen? Wie verhält man sich, wenn man vor vierhundert Gästen von seinem Verlobten versetzt wird?“

     „Maggie, sie wussten nichts von der Verlobung. Du brauchst dich nicht zu schämen.“

     „Warum tut er das? Ich meine, wenn er nicht heiraten wollte, warum hat er mir dann diesen protzigen Diamantring gekauft?“ Sie versuchte, den Ring abzustreifen, aber er wollte sich nicht bewegen, und sie zerrte noch heftiger, bis ihr vor Schmerz die Tränen kamen. Aufstöhnend barg sie das Gesicht in den Händen.

     Luke trat vor sie und zog sie an sich. „Er verdient dich nicht. Wenn er dich wirklich lieben würde, wäre er um Mitternacht bei dir gewesen.“

     Schluchzend drückte sie ihr Gesicht an seine Schulter. „Es wird alles gut, mein Liebling“, sagte er beruhigend. „Ich werde alles wieder in Ordnung bringen.“ Sanft hob er ihren Kopf an und küsste ihr die Tränen von den Wangen.

     Aber sie wollte sein Mitleid nicht und entzog sich ihm wieder. „Ich sollte wieder hineingehen.“

     „Da sind Sie ja!“

     Beide fuhren herum, als Eunice auf die Terrasse kam. Ein kostbarer Nerzmantel lag locker um ihre Schultern, und selbst im starken Wind wirkte ihr platinblondes Haar, wie frisch frisiert. Zwei Männer folgten ihr. „Ich bin überzeugt, dass Colin etwas zugestoßen ist. Wir haben den Sicherheitsdienst verständigt und die Männer auf die Suche nach ihm geschickt. Und die Polizei ist auf dem Weg hierher. Wir werden bald wissen, was geschehen ist, Maggie.“

     Eunice nahm ihren Arm und zog Maggie zur Tür. „Mäuse und Männer“, murmelte sie. „Sie sind einfach nicht zu fassen.“

     Maggie warf Luke einen bittenden Blick zu, woraufhin er ihnen folgte. Aber dann wurde Eunice von ihren Gästen aufgehalten, sodass Maggie und Luke mit den beiden Wachmännern allein vor den drei Liften standen.

     Keiner der Aufzüge schien zu funktionieren, und sie warteten schon zehn Minuten, als ein grauhaariger Mann in einem grauen Overall die Treppe hinuntergehastet kam. Irv – er trug ein Namensschild auf der Brust – berichtete keuchend: „Es ist dieser verdammte Jahrtausendvirus! Wir mussten das gesamte Programm neu konfigurieren. Wir können froh sein, dass wir einen Notgenerator haben.“ Er betrachtete die Anzeigetafel. „Die Aufzüge werden gleich wieder funktionieren.“

     Und tatsächlich flammten kurz darauf die Lichter auf, und alle Lifte glitten langsam ins Erdgeschoss hinunter, bevor sie den Aufstieg zur obersten Etage antraten. Dort öffneten sich dann alle Türen gleichzeitig.

     „Wenn Mr. Spencer noch im Gebäude ist, finden wir ihn“, versprach einer der Sicherheitsbeamten Maggie. „Wir werden unten im Büro Ihre Aussage aufnehmen und dann …“

     „Welche Aussage?“, warf Maggie ein.

     Der Wachmann wirkte verwirrt. „Sie waren es doch, die Mr. Spencer zuletzt gesehen hat.“

     „Nein, ich habe ihn fast den ganzen Abend nicht gesehen. Glauben Sie, sein Verschwinden hat etwas mit mir zu tun? Dass er meinetwegen fortgegangen ist?“

     Der Mann runzelte die Stirn. „Nun, ich weiß nicht. Mrs. Spencer dachte …“

     „Miss Kelley ist Colins Verlobte“, knurrte Luke. „Sie weiß nicht, wo er ist. Lassen Sie sie in Ruhe“, verlangte er, bevor er Maggie bei der Hand nahm und sie in den Lift zog. Als die Wachmänner ihnen folgen wollten, schüttelte er den Kopf. „Nehmen Sie einen anderen Aufzug.“

     Seufzend lehnte Maggie sich mit dem Rücken an die Wand des Lifts. Dabei stieß sie mit dem Fuß gegen eine leere Champagnerflasche. „Wenigstens einer, der gefeiert hat.“

     „Du brauchst nicht mit dem Sicherheitsdienst zu reden, wenn du nicht willst. Du kannst auch einfach gehen.“

     „Sie glauben, ich hätte etwas mit Colins Verschwinden zu tun“, erwiderte Maggie. „Und so ist es vielleicht ja auch. Er hat es sich mit der Verlobung anders überlegt und sich verdrückt. So einfach ist das.“

     „Maggie …“

     „Aber es könnte ihm natürlich auch etwas zugestoßen sein. Vielleicht ist er mit einem der Aufzüge stecken geblieben?“ Ein Hoffnungsschimmer erschien in ihrem Blick. „Das wäre doch möglich, oder?“

     Luke zuckte mit den Schultern. „Möglich schon.“

     „Ja“, flüsterte Maggie leise. „Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie wir denken.“

     Schweigend stand sie neben Luke und bedachte alle Möglichkeiten. Was, wenn Colin mit einer plausiblen Entschuldigung zurückkam? Dann konnte alles weitergehen wie geplant. Aber diese kleine Bodenwelle auf dem Weg zum ehelichen Glück hatte sie doch sehr erschüttert.

     Und da war noch etwas, was sie nicht länger ignorieren konnte: Erleichterung. Als es Mitternacht geschlagen hatte und Colin nicht da gewesen war, hatte sie unwillkürlich aufgeatmet. All die nagenden kleinen Zweifel, die sie immer wieder beschäftigt hatten, seit sie Colins Antrag angenommen hatte, waren nach wie vor da. Jetzt waren sie sogar noch stärker und so intensiv, dass sie sie nicht mehr beiseiteschieben konnte. Deshalb war sie insgeheim froh, dass die Verlobung nicht bekannt gegeben worden war. Denn das verschaffte ihr Zeit zum Nachdenken.

     Von Eunice und Edward Spencers einzigem Sohn wurde erwartet, dass er heiratete und eine Familie gründete, das wusste Maggie. Schon seit seinem Collegeabschluss verlangten seine Eltern, dass er eine Frau fand und einen Erben zeugte. Sie teilte diese Einstellung nicht, aber sie hatte die Denkweise der Superreichen ja eigentlich noch nie so recht verstanden.

     „Wir können gehen, wenn du willst, Maggie. Du brauchst jetzt keine Fragen zu beantworten.“

     Sie schaute auf zu Luke und ließ den Blick auf seinem attraktiven Gesicht verweilen. Eine Welle der Emotionen erfasste sie. Er war ihr Held. Ihr Beschützer. Und plötzlich wollte sie nur noch in seine Arme sinken und ihre tröstende Kraft und Wärme spüren, sein Gesicht berühren, mit den Fingern durch sein Haar streichen, ihm ihre Lippen bieten und …

     Maggie schluckte und unterdrückte den absurden Wunsch. Es musste der Champagner sein … oder all diese aufgestauten Emotionen in ihr. Ihr Verlobter hatte sie gerade erst im Stich gelassen, und sie fantasierte bereits von einem anderen Mann!

     „Ich … Es geht schon, Luke. Aber danke. Es tut gut, zu wissen, dass ein tapferer Ritter in den Kulissen wartet.“

     Der Aufzug hielt, und ihre Schritte hallten auf dem Marmorboden der Eingangshalle, während sie zum Büro des Sicherheitsdienstes hinübergingen.

     „Geh wieder hinauf, Luke. Isabelle wartet sicher schon auf dich.“

     „Ich bleibe bei dir, Maggie. Isabelle wird es verstehen.“

     Sie schüttelte den Kopf. „In ein paar Minuten wird sich alles aufklären. Und es besteht kein Grund, Isabelle den Abend zu ruinieren. Bitte, geh zurück zur Party. Ich sehe dich dann später oben.“

     Einen flüchtigen Moment lang dachte sie, er würde nachgeben. Doch nun legte er seine Hände um ihr Gesicht und presste seinen Mund auf ihre Lippen. Dann trat er schnell wieder zurück, und ein leiser Fluch entrang sich seinen Lippen. „Er verdient dich nicht.“

     Maggie starrte ihn an. Der Duft seines Rasierwassers umwehte sie und verwirrte ihre Sinne. Es hatte ihr schon immer gefallen, wie Luke roch, nach frischer Luft und Abenteuer … Sie schluckte. „Ich …“ Die Worte kamen einfach nicht heraus.

     „Tu, was du zu tun hast. Ich werde hier sein, wenn du fertig bist.“ Luke nickte ihr kurz zu und ging wieder zu den Aufzügen.

     Sie hatte ihn nie dringender gebraucht als jetzt und war versucht, ihn zurückzurufen und sich in seine Arme zu werfen, damit er sie erneut küsste. Doch sein Kuss hatte eine ganze Reihe neuer Probleme aufgeworfen – Probleme, mit denen sie sich später auseinandersetzen würde.

     Der Mann an den Überwachungsmonitoren sprang auf, als Maggie mit seinen Kollegen das Büro betrat. „Wir haben ihn gefunden! Hier ist er! Auf diesem Videoband.“ Er deutete auf den ersten Monitor, der die Aufzugtüren in der Eingangshalle zeigte.

     Maggie stockte der Atem, als sie Colin aus dem Lift treten und auf den Seiteneingang zugehen sah. Und ihr Herzschlag setzte fast aus, als sie erkannte, wer an seiner Seite war.

     „Isabelle!“

     „Ist das ihr Name?“, fragte der Wachmann. „Isabelle …?“

     „Channing. Isabelle Channing.“

     „Nun, wir haben noch eine andere Aufnahme von den beiden draußen auf der Straße. Sie sind in einer Limousine weggefahren, deren Kennzeichen ich leider nicht erkennen konnte. Es schien jedoch kein Zwang im Spiel zu sein.“ Der Mann hielt inne und räusperte sich. „Sie wirkten … betrunken. Schauen Sie.“ Er zeigte auf den Monitor. „Sie schwankt ein bisschen, und er hat Schwierigkeiten mit der Wagentür.“

     „Ich verstehe“, sagte Maggie tonlos. Ihr Verlobter war also mit ihrer besten Freundin durchgebrannt! Sie erinnerte sich an das Gespräch mit Isabelle und wie negativ sie auf die Verlobung reagiert hatte. War es möglich, dass Isabelle die ganze Zeit in Colin verliebt gewesen war? Oder war dies alles nur wieder einer dieser verrückten Ideen, die Isabelle manchmal hatte?

     „Das ist ja wie in einem schlechten Film“, murmelte Maggie und wandte sich vom Bildschirm ab. Ihr dröhnte der Kopf, ihre Knie zitterten, als sie zu den Aufzügen hinüberging. Vielleicht ist alles nur ein böser Traum, dachte sie.

     Doch egal, wie sehr sie sich das wünschte, sie wusste, dass dieser neue Tag Veränderungen mit sich bringen würde, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Dabei war sie so sicher gewesen, dass ihr Leben nach der Jahrtausendwende geregelt sein würde. Aber das neue Jahr hatte begonnen und ihr bisher nur Chaos beschert.

Der Lärm auf der Straße war so unerträglich, dass Maggie keinen klaren Gedanken fassen konnte. Nur das Spencer Center war noch hell erleuchtet, das Licht in den meisten übrigen Gebäuden in der Michigan Avenue war erloschen. Wie erwartet, war der Strom ausgefallen, sodass nur noch die Scheinwerfer von Autos und Taxis die Straße erleuchteten.

     Nachdem Maggie mit dem Sicherheitsdienst gesprochen hatte, war sie zu Colins Wohnung hinaufgefahren und hatte einige ihrer Sachen eingepackt. Obwohl sie praktisch bei Colin lebte, erschien es ihr falsch, jetzt noch zu bleiben. Sie würde in ihr kleines Einzimmer-Apartment in Wicker Park zurückkehren. Dort konnte sie Pläne für die Zukunft schmieden – eine Zukunft ohne Ehemann und Kinder.

     Doch jede Facette ihrer Existenz war so vermischt mit Colins, dass sie sich fragte, wie sie sich je wieder aus diesem Netz befreien sollte. Der Wagen, den sie fuhr, gehörte ihrem Verlobten. Das Kleid, das sie trug, war mit Colins Kreditkarte bei Bloomingdale’s bezahlt worden. Und was am schlimmsten war – sie hatte den Mietvertrag ihres Blumengeschäfts in der Clark Street gekündigt, um ein kleines Lokal unten im Spencer Center zu übernehmen.

     Maggie biss sich auf die Lippen, um einen neuen Strom von Tränen zurückzudrängen. In ein paar Monaten, zum Kündigungstermin des Mietvertrages, würde sie nicht einmal mehr einen Arbeitsplatz haben. Ihr Leben war ein Chaos, und sie wusste nicht, wie sie es wieder in den Griff bekommen sollte. Aber vielleicht …

     Könnte sie Entschuldigungen und Erklärungen akzeptieren und so weitermachen, als ob nichts gewesen wäre? Oder war dies das Ende ihrer Träume?

     Fröstelnd rieb sie ihre Hände und ging zum Straßenrand, um ein Taxi anzuhalten.

     „Maggie?“, hörte sie eine vertraute Stimme.

     Langsam drehte sie sich um und seufzte, als sie den Blick zu Luke hob. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und die Revers von Colins Smokingjacke hochgestellt. Trotzdem sah er so gut aus, dass es ihr den Atem raubte.

     „Was tust du hier draußen in der Kälte?“, fragte er. „Ich war in Colins Apartment, aber du warst nicht mehr da.“

     „Ich konnte nicht mehr bleiben. Ich fahre heim.“ Sie zeigte auf die Tüten, die sie in Colins Apartment rasch gepackt hatte. „Ich habe auch deine Lederjacke, die Jeans und so weiter. Ich wollte sie in deinem Büro abgeben.“

     „Du hast Colin also nicht gefunden?“

     „Nein.“

     Er nickte. „Ich war oben, um Isabelle zu suchen, aber auch sie war nicht mehr da. Wahrscheinlich ist sie doch wütend, dass ich sie allein gelassen habe. Aber ich denke, sie ist alt genug, um ihren Weg selbst zu finden.“

     „Ich glaube, den hat sie schon gefunden.“ Maggie schluckte und wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht. „Sie ist mit Colin weggefahren. Die Überwachungskamera hat sie aufgenommen. Ich habe das Band selbst gesehen.“

     „Was? Isabelle ist der Anlass all dieser Probleme? Meine Isabelle?“

     „Nun ja … so wie es ausschaut, ist sie nicht mehr deine, sondern Colins Isabelle.“

     Luke fluchte und begann unruhig auf dem Bürgersteig auf und ab zu gehen. „Sie hat sich ja schon viel geleistet, aber das setzt nun wirklich allem die Krone auf! Verdammt, Maggie, sie wusste doch, was Colin dir bedeutet! Wie konnte sie so herzlos sein?“

     Dass Isabelle meine Gefühle kennt, stimmt, dachte Maggie. Isabelle hatte ihre lustlosen Erklärungen, sie liebe Colin, mühelos durchschaut. Vielleicht hatte Isabelle sie sogar vor dem Unvermeidlichen bewahren wollen – einer Ehe ohne Liebe. Oder einer Scheidung.

     „Ich weiß es nicht“, antwortete sie. „Und eigentlich interessiert es mich auch nicht. Ich will jetzt nur ein Taxi und nach Hause.“

     Luke nahm ihre Hände und rieb sie sanft. Sie blickte auf seine Finger an. Er hatte wirklich sehr schöne Hände, und langsam drehte sie ihre zwischen seinen, und war verblüfft, dass seine bloße Berührung schon genügte, um sie zu beruhigen.

     „Komm, Maggie. Mein Wagen steht dort vorn. Ich fahre dich nach Hause.“

     Sie nickte dankbar. „Aber versprich mir etwas.“

     „Was du willst.“

     „Lass uns nicht mehr über die Vorfälle des heutigen Abends reden. Zumindest heute Nacht nicht.“ Sie lehnte sich an seine Schulter. „Jeder Mensch auf dieser Welt wird sich erinnern, wo er sich um Mitternacht der Jahrtausendwende aufgehalten hat. Er wird sich an die Menschen erinnern, die bei ihm waren, an das Lied, das im Hintergrund gespielt wurde, und an die Kleidung, die er trug. Ich möchte lieber daran denken, dass du mich heimgefahren hast statt an die Ereignisse dort oben.“

     Als sie die Michigan Avenue hinunterschlenderten, kehrte plötzlich der Strom zurück, und Tausende winziger Lichter flammten in den Bäumen auf den Bürgersteigen auf. Maggie stockte der Atem, als kunstvolle Weihnachtsdekorationen zum Leben erwachten und farbenfrohe Kontraste zu dem frisch gefallenen Schnee unter ihren Füßen bildeten. Es war ein zauberhafter Augenblick, und so blieb sie stehen und beobachtete, wie eine nach der anderen auch die Straßenlaternen wieder angingen.

     Sie schaute zu Luke hinüber und sah, dass auch er sie anschaute. Einen Herzschlag lang begegneten sich ihre Blicke, und jeglicher Gedanke an Colin war wie ausgelöscht. Ihre Gedanken galten nur noch dem Mann an ihrer Seite, der ihr wieder einmal zu Hilfe gekommen war – dem Mann, der sie so unverhofft geküsst hatte in der Eingangshalle. Schneeflocken fingen sich in seinen dichten Wimpern, der Wind zerzauste sein dunkles Haar, und sie konnte auch nicht eine Sekunde den Blick von ihm lösen.

     Sie kämpfte gegen den Impuls an, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und ihn zu küssen. Nur ein rascher Kuss auf die Wange, ein Dankeschön für alles, was er für sie getan hatte. Ihr Blick glitt zu seinen wohlgeformten Lippen, und sie fragte sich, wie er wohl reagieren würde, wenn sie seinen Mund mit ihren Lippen streifte. Würde diese starke Anziehungskraft, die er auf einmal auf sie ausübte, in leidenschaftliches Begehren umschlagen? Würde er sie küssen wie vorhin in der Halle? Oder war ihre Sehnsucht nach einem Kuss nur ein Versuch, ihren Schmerz über Colins Verrat zu überwinden?

     „Maggie?“

     Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Was? Ach ja. Lass uns weitergehen. Mir ist kalt.“

Bis sie in Lukes Jeep vor ihrer Garage hielten, hatte Maggies Herzschlag sich beruhigt. Sie hatte die ganze Fahrt den Blick geradeaus gerichtet, aus Angst, in weitere absurde Fantasien zu verfallen. Dankbarkeit für ihren Helden, mehr war es nicht, was sie empfand. Er hatte sie aus einer demütigenden Situation gerettet, und ihre Dankbarkeit war irgendwie zu sexuellem Interesse ausgeartet.

     „Möchtest du, dass ich mit hereinkomme?“, fragte er, als sie vor ihrer Haustür standen.

     „Nein, danke“, murmelte sie. „Isabelle sagte …“ Sie hielt inne, um den Namen aus ihrem Bewusstsein zu verbannen. „Du brichst also morgen schon zu einer weiteren Reise auf?“

     „Ja, nach Albanien. Dort droht eine Revolte, und ich habe ein Interview mit dem Anführer der Rebellen ausgehandelt.“

     Sie legte ihre Hand an seine Wange und blickte in das Gesicht, das mit den Jahren so unendlich attraktiv geworden war. „Pass gut auf dich auf, ja? Und spiel nicht den Helden, obwohl du das ja sehr gut kannst.“

     Er beugte sich vor und küsste sie auf die Stirn. „Bist du sicher, dass du allein zurechtkommst?“

     Sie nickte und gab ihm einen impulsiven Kuss auf die Lippen. So hatte sie ihn schon oft geküsst, aus unzähligen Gründen. Aber diesmal war es anders. Diesmal wollte sie sich nicht damit zufriedengeben.

     Einen flüchtigen Moment lang glaubte sie, Verlangen in seinen Augen aufflackern zu sehen. Wider alle Vernunft küsste sie ihn noch einmal, aber diesmal etwas länger. Der Ausdruck, der daraufhin auf seinem Gesicht erschien, ließ sie vor Verlegenheit erröten. Er wirkte verblüfft und schien sich unbehaglich zu fühlen, als bereue er, was zwischen ihnen vorging.

     „Es … es tut mir leid“, stammelte sie und presste die Finger auf ihre feuchten Lippen. „Ich wollte nicht …“

     Weiter kam sie nicht, weil Luke seinen Mund zu einem leidenschaftlichen, ungestümen Kuss auf ihren presste. Seine Zunge drängte sich zwischen ihre Lippen, und sie öffnete sie bereitwillig, während sie ihre zitternden Finger unter das Haar in seinem Nacken schob.

     Sein Kuss wurde noch fordernder, als er sie hart an seinen Körper zog und gegen die Tür drückte. Mit den Händen glitt er unter ihren offenen Mantel und fasste sie so verlangend um die Hüften, dass sie beinahe aufgeschrien hätte. Eine Woge des Begehrens durchzuckte sie, und plötzlich war ihr nicht mehr kalt.

     Dann, so unvermittelt, wie er sie geküsst hatte, trat er zurück, schob die Hände in die Hosentaschen und schüttelte den Kopf. „Es ist spät. Ich muss jetzt gehen.“ Stirnrunzelnd wandte er sich ab, drehte sich jedoch noch einmal um. „Das hätten wir nicht tun sollen.“

     Sie lächelte nervös. „Wir haben zu viel Champagner getrunken“, erklärte sie, obwohl sie kaum welchen angerührt hatte.

     „Richtig. Zu viel Champagner“, stimmte er ihr zu, obwohl sie das sichere Gefühl hatte, dass auch er nicht viel getrunken hatte. Aber es musste doch eine Erklärung geben für das, was zwischen ihnen vorgefallen war! Luke war ihr Freund, ein Mann, der immer wie ein großer Bruder für sie gewesen war. Sie hatte nie etwas anderes in ihm gesehen. Dennoch wünschte sie sich jetzt, er möge sie wieder in die Arme nehmen, mit seinen starken Händen über ihren Körper streichen und mit seiner warmen Zunge …

     Sie schluckte und griff hinter sich nach dem Türknauf. „Ich … ich gehe dann jetzt lieber hinein.“

     „Das wäre wohl das Beste“, sagte er, ohne den Blick von ihr zu lösen.

     „Danke, dass du mich heimgefahren hast. Ruf mich an, wenn du zurück bist, ja?“

     „Pass auf dich auf, Maggie. Ich hoffe, morgen wird alles besser aussehen“, murmelte er, bevor er sich endgültig umwandte und zu seinem Wagen ging.

     Seufzend betrat Maggie ihre Wohnung. Als sie die Tüten absetzte, fiel ihr ein, dass sie Luke seine Kleider nicht zurückgegeben hatte, und sie holte sie aus der Tüte, legte sie auf den Boden und hockte sich daneben. Das Gesicht an Lukes Lederjacke gepresst, atmete sie tief ein, schloss die Augen und ließ sich von dem vertrauten Duft seines herben Rasierwassers beruhigen.

     Sie hatte in einer Woche einen Verlobten gewonnen und verloren, war vor seinen Eltern gedemütigt und von einer Frau verraten worden, der sie vertraut hatte. Aber schlimmer noch als all das war, dass sie aus einem dummen Impuls heraus eine Freundschaft aufs Spiel gesetzt hatte, die ihr wichtiger war als alles andere im Leben. Nun würde es nie mehr so wie früher zwischen ihr und Luke sein.

     Maggie strich über ihre Lippen, als könnte sie damit die Erinnerung an seinen warmen Mund fortwischen. Dann starrte sie in ihre Handfläche. Selbst im schwachen Licht konnte sie den kleinen Stern an ihrem Daumenansatz sehen.

     „Das Zeichen des Millenniums“, murmelte sie. „Das ist der Grund, warum ich nicht an Wahrsagerei glaube.“

Luke rieb sich die müden Augen und richtete den Blick wieder auf den Bildschirm. Doch wie sehr er sich auch konzentrierte, er konnte an nichts anderes als an Maggie denken.

     Zwei Stunden war er ziellos durch die Stadt gefahren, nachdem er sie heimgebracht hatte, hatte dann sein Gepäck geholt und war in sein Büro gegangen, um noch etwas zu arbeiten, bevor er nach Albanien aufbrechen würde.

     Warum nur hatte er ihre wundervolle Freundschaft durch einen dummen Kuss aufs Spiel gesetzt? Mit dem Ersten, den er ihr in der Eingangshalle von Spencer Enterprises gegeben hatte, hatte er kaum mehr als seine Frustration loswerden wollen. Aber er hatte damit eine Tür geöffnet, die bis zu diesem Augenblick verschlossen gewesen war und die Maggie weiter aufgestoßen hatte, als sie ihn vor ihrem Haus küsste.

     Es war der Kuss, den er ihr daraufhin gegeben hatte, den er bereute – ein Kuss, zu dem er sich aus purer Begierde hatte hinreißen lassen. Er hatte Maggies Lage schamlos ausgenutzt. Was für ein Mann war er, um für einen flüchtigen Moment der Leidenschaft eine Freundschaft zu riskieren, die ihm das Wertvollste im Leben war?

     Luke lehnte sich zurück und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. Trotz allem konnte er aber nicht verleugnen, dass der Kuss ihm sehr gefallen hatte. Maggie hatte sich so gut in seinen Armen angefühlt und anders, als er es erwartet hatte. Wann immer er an Maggie gedacht hatte, sah er Bilder aus der Kindheit vor sich. Doch nun konnte er sich kaum noch entsinnen, wie sie als Kind gewesen war, weil seine Gedanken erfüllt waren von der Frau, die sie geworden war – eine Frau, die er eigentlich nicht begehren dürfte!

     Er stöhnte und rieb sich noch einmal die Augen. Es war fast vier Uhr morgens. Sein Flieger würde in genau drei Stunden starten. Normalerweise war er immer aufgeregt vor einem neuen Auftrag, doch seltsamerweise zögerte er heute, ein Flugzeug zu besteigen und Chicago zu verlassen. Er war es plötzlich leid, aus dem Koffer leben zu müssen, sich mit Übersetzern herumzuzanken und schlechte Telefonverbindungen zu verfluchen. Und er wollte auch keine Kugeln mehr um seine Ohren pfeifen hören und sich vor Minen fürchten müssen.

     Blinzelnd streckte Luke die Hände nach der Tastatur seines Computers aus. Nimm dich zusammen! rief er sich zur Ordnung. Du hast einen Fehler gemacht, na schön. Wenn du zurückkommst, kannst du das mit Maggie klären …

     „Hey, was machst du denn hier? War die Party schon so früh zu Ende?“

     Luke drehte sich zu seinem Chef um. Tom Wilcox hatte seit Korea über jeden Krieg berichtet. Er hatte zweimal den Pulitzerpreis gewonnen, einmal als er bei der „L. A. Times“ war und als Reporter der „Washington Post“. Heute, als Siebzigjähriger, leitete er einen Stall ehrgeiziger Journalisten und wagemutiger Fotografen, die nur hoffen konnten, jemals so gut zu sein, wie er es an seinem schlechtesten Tag gewesen war.

     „Ich bin früher gegangen. Und der Jetlag ist leichter zu ertragen, wenn ich die ganze Nacht aufbleibe. Was ist mit dir? Sag bloß nicht, du hättest die Jahrtausendwende im Büro verbracht.“

     Tom lachte. „Während der Tet-Offensive hockte ich in einem Schützengraben und fragte mich, ob ich den Jahrtausendwechsel jemals miterleben würde. Damals versprach ich dem alten Chefredakteur dort oben im Himmel, dass er mich nach Silvester neunundneunzig hinschicken könne, wohin er wolle, wenn er mich bloß heil aus Vietnam herausbrächte.“

     „Wie ich dich kenne, wirst du auch zur nächsten Jahrtausendwende noch dabei sein.“

     Toms Grinsen verblasste. „Hör zu, Fitzpatrick. Ich will, dass du dort draußen deine sieben Sinne beisammen hältst. Bring dich nicht in eine Lage, in der du dich gezwungen siehst, Versprechungen wie meine abzugeben. Keine Story ist einen toten Reporter wert.“

     Luke antwortete lange nicht. Im Grunde genommen wollte er gar nicht nach Albanien. Der größte Coup seiner journalistischen Karriere, ein Exklusivinterview mit dem Anführer der Rebellen, war ihm praktisch in den Schoß gefallen, und er war bereit, auf diese Gelegenheit zu verzichten. Jeder seiner Kollegen hätte einen Mord für eine solche Chance begangen. Aber er würde jetzt lieber in Chicago bleiben, in Maggies Nähe.

     „Darüber wollte ich mit dir reden, Tom. Ich dachte, ich könnte meine Reise vielleicht verschieben. Nur ein paar Tage. Mit Janaz treffe ich mich erst Montag in einer Woche, und ich habe vorher noch etwas Wichtiges in Chicago zu erledigen.“

     Wilcox lachte. „Lass die Scherze, Luke. Glaubst du, die Rebellen scheren sich um Termine? Ich will, dass du vor Ort bist und bereit, dich zu bewegen.“

     „Du könntest einen anderen hinschicken“, schlug Luke vor. „Nur für den Notfall. Außerdem werden sie mich sowieso nicht früher in ihr Lager bringen.“

     „Es ist dein Interview. Janaz will nur mit dir sprechen.“

     „Das wird er auch. Am Montag in einer Woche, wie geplant.“

     Wilcox schüttelte entschieden den Kopf. „Tut mir leid, Luke. Aber es ist die heißeste Story im Moment. Und ich werde nicht riskieren, sie zu verlieren.“

     Luke fluchte im Stillen. Je mehr er darüber nachdachte, desto heftiger widerstrebte es ihm, Chicago im Moment zu verlassen. Maggie brauchte ihn jetzt mehr als je zuvor. Und wenn er blieb, bot sich ihm vielleicht noch einmal eine Gelegenheit, sie zu küssen.

     „Ich kann nicht“, sagte er und erhob sich seufzend. „Nicht heute. Du kannst mir kündigen, wenn du willst, aber ich bleibe vorerst in Chicago.“ Er schnappte sich seine Jacke und stopfte Papiere in den Koffer mit dem Laptop. „Ich rufe dich übermorgen an, dann können wir die Termine neu absprechen.“

     „Treib es nicht zu weit, Luke“, warnte Wilcox. „Wir brauchen diese Story!“

     „Und ich brauche Schlaf, Tom. Wir reden später weiter.“

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