Die Jahrtausend-Party - 5. Kapitel
5. KAPITEL
Maggie bückte sich, um die Schnürsenkel ihrer Schlittschuhe zu binden. Die Eisbahn in der State Street war im Winter immer einer ihrer Lieblingsplätze in der Stadt gewesen. Sie und Luke waren hier zum ersten Mal an einem Neujahrstag Schlittschuh gelaufen, im selben Jahr, als sie nach Chicago umgezogen war. Jeden Winter hatte sie sich auf ihre „Verabredung“ gefreut, auf die Zeit, wenn sie Luke ganz für sich allein hatte und der erste Tag im neuen Jahr mit einem Lächeln ausklang. Sie waren auch für heute Abend verabredet gewesen, aber Luke hatte wegen seiner Reportage in Albanien abgesagt. Sie war enttäuscht gewesen, aber nach allem, was geschehen war, war sie jetzt nicht sehr begierig, noch mehr Zeit mit ihm zu verbringen.
Seufzend richtete Maggie sich auf und glitt anmutig auf die Bahn hinaus. Aber sie hatte nicht mit den Jungen mit Hockeyschlägern gerechnet, die vom anderen Ende der Bahn herübergejagt kamen. Sie rief ihnen eine Warnung zu, aber ihr blieb keine Zeit mehr, anzuhalten oder auszuweichen. Einer der Hockeyschläger stieß gegen ihre Kufen, und schon rutschte sie auf dem Bauch über das Eis. Vor der niedrigen Wand am Rand der Bahn kam sie zum Halten und richtete sich stöhnend auf.
Das scharfe Kratzen von Schlittschuhkufen ertönte hinter ihr, und eine Hand griff über ihre Schulter, um ihr beim Aufstehen zu helfen.
„Du hast wohl immer noch nicht stoppen gelernt?“ Schmunzelnd schaute Luke auf sie herab, das Gesicht gerötet von der Kälte, das dunkle Haar zerzaust vom Wind.
Ihr Herz schlug schneller bei seinem unverhofften Anblick. „Was machst du denn hier?“
„Ich war bei dir zu Hause und im Laden. Als ich dich dort nicht fand, wollte ich es auf der Eisbahn versuchen. Hast du vergessen, dass heute Neujahr ist? Wir laufen immer Schlittschuh am ersten Januar.“
„Du hattest abgesagt.“
„Und jetzt bin ich hier. Also lass uns starten.“
Maggie schüttelte den Kopf und lief zurück zur Tribüne. Aber Luke überholte sie, drehte sich mühelos auf seinen Hockeyschlittschuhen um und bedachte sie mit einem mutwilligen Grinsen, während er langsam rückwärts fuhr.
Sie ignorierte den Schauer, der ihr über den Rücken rann, und schrieb ihn ihrem feuchten Hosenboden zu. Luke trug einen verwaschenen Hockeypullover mit dem Emblem der Chicago Blackhawks und abgetragene Jeans, die auf dem einen Knie ein Loch hatte. Sein Kinn war mit dunklen Bartstoppeln bedeckt, und seine blauen Augen glitzerten im Licht der Flutlichter der Eisbahn. Verglichen mit Colins stets korrekter Erscheinung sah Luke fast schäbig aus – und unbestreitbar sexy.
„Ich habe meine Reise nach Albanien verschoben“, erklärte er. „Nun schon zum zweiten Mal.“
„Warum?“
„Damit ich mit dir Schlittschuh laufen kann.“ Er zog sie aufs Eis. Seine Hände waren warm, obwohl er keine Handschuhe trug. Einen Moment war sie versucht, sich loszureißen, weil sie glaubte, die Flut der Gefühle, die sie übermannte, nicht ertragen zu können. Aber dann lief sie schweigend mit ihm und warf ihm nur ab und zu verstohlene Blicke zu, wenn sie anderen Läufern auswichen.
„Ich bin froh, dass ich dich gefunden habe“, meinte er, als er sie schließlich zum Rand der Bahn führte. „Ich muss dir etwas sagen.“
„Ich will nichts mehr hören.“
Er zog sie auf eine Bank und schaute ihr in die Augen. „Ich war nicht ehrlich zu dir. Weder gestern Abend auf der Terrasse noch heute früh in deinem Laden.“
„Ich weiß nicht, ob ich die Wahrheit hören will.“ Sie starrte auf ein Loch in ihren Fausthandschuhen. „Deine Lügen waren beschämend genug.“
Er nahm ihre Hände zwischen seine. „Ich sage es trotzdem. Ich habe etwas dabei empfunden, als ich dich geküsst habe.“
„Du Mist… Wirklich?“
Er nickte. „Ich wollte es nicht zugeben, aber es war … aufregend, dich zu küssen, Maggie.“
Schmetterlinge schienen auf einmal in ihrem Bauch zu tanzen. „Und wieso hast du mich geküsst?“, hakte sie nach.
„Weil du mich zuerst geküsst hast.“
„Das ist keine Antwort.“
Er lächelte. „Keine Ahnung. Aus Neugierde vielleicht. Oder, weil ich dachte, du würdest dich dann besser fühlen. Aber du musst verstehen, dass ich niemals etwas tun würde, um unsere Freundschaft zu gefährden. Du bist die einzige Familie, die ich habe, und das will ich nicht aufs Spiel setzen. Und falls du Colin noch immer heiraten willst, sollst du wissen, dass ich deine Entscheidung akzeptiere. Wenn du willst, helfe ich dir, ihn zu suchen. Ich habe noch eine Woche Zeit, bevor ich nach Albanien muss.“
„Eunice war heute bei mir. Sie sagt, Colin sei in Las Vegas. Was mag er dort nur wollen?“
Luke zuckte die Schultern. „Er ist mit Isabelle zusammen. Wer weiß, zu welchen verrückten Sachen sie ihn überredet hat.“
„Du glaubst also wirklich, dass er mich gar nicht heiraten will?“
Luke starrte auf das Eis hinaus. „Ich weiß nicht, was er will.“
„Aber ich weiß, was seine Mutter will. Sie wollte heute Nachmittag ein Brautkleid mit mir kaufen. Und demnächst will sie mit mir das Porzellan, das Silber und die Gläser aussuchen. Eunice ist überzeugt, dass diese Hochzeit doch noch stattfindet.“
„Und du? Was willst du?“, fragte Luke leise.
Maggie schwieg einen Moment. Sie hätte ihm jetzt sagen können, dass sie nicht mehr vorhatte, Colin zu heiraten, sondern stattdessen ihn haben wolle. Doch das war ein Traum, der sich niemals erfüllen würde.
„Ich weiß nicht mehr, was ich will.“ Sie blickte Luke fest an. „Vielleicht habe ich ihn nicht genug geliebt.“
Er runzelte die Stirn. „Colin?“
„Oder vielleicht hat er mich nicht genug geliebt.“
„Warum hätte er dich dann bitten sollen, seine Frau zu werden?“
„Liebe ist nicht der einzige Grund, zu heiraten“, erklärte sie. „Wir hätten auch so eine gute Ehe führen können. Ich hielt Colin für solide und zuverlässig. Aber jetzt bin ich mir dessen nicht mehr sicher. Wie zuverlässig ist ein Mann, der mit der besten Freundin seiner Verlobten nach Las Vegas durchbrennt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Wieso ausgerechnet Isabelle? Ich dachte, Colin könnte sie nicht leiden.“
„Ich wünschte, ich wüsste es.“
Schweigend saßen sie nebeneinander und beobachteten die Schlittschuhläufer. Schließlich nahm Luke ihre Hand, und zum ersten Mal, seit Colin sie im Stich gelassen hatte, begann Maggie wieder so etwas wie Zufriedenheit zu verspüren.
„Sind wir noch immer Freunde?“, fragte sie.
Lächelnd drückte er ihre Hand, und sie erwiderte die Geste. „Eins musst du mir aber versprechen, Luke. Keine Küsse mehr. Die verderben bloß alles.“ In Wirklichkeit hoffte sie jedoch, dass er ihre Bitte ablehnen und sie noch einmal küssen würde.
„Na schön“, stimmte er zu. „Keine Küsse mehr.“
„Und noch etwas. Jetzt, wo wir wieder Freunde sind, solltest du nach Albanien fliegen.“
„Maggie, ich …“
Sie legte einen Finger an seine Lippen. „Luke, ich bin dir für deine Bemühungen wirklich dankbar, aber du musst auch an deine Karriere denken. Dieser Auftrag ist sehr wichtig für dich.“
„Nicht wichtiger als du.“
„Das ist lieb von dir, aber ich kann allein mit meinen Problemen fertig werden.“
Er zog sie auf die Beine. „Komm, lass uns noch ein paar Runden drehen.“
Sie liefen noch zwei Stunden, und sie tat ihr Bestes, um das Gefühl seiner warmen Hände auf ihrer Taille zu ignorieren, seiner starken Finger, die mit ihren verschränkt waren, und das raue Kratzen seiner Bartstoppeln an ihrer Wange. Er berührte sie sicher nur ganz unbewusst, wie er es immer schon getan hatte. Aber sie empfand es jetzt anders. Wann immer sie miteinander in Kontakt kamen, geriet ihr Blut in Wallung und ihr Entschluss, an einer platonischen Beziehung festzuhalten, geriet ins Wanken.
Wie konnten sie je wieder Freunde sein, wenn seine bloße Berührung schon solch schwindelerregendes Verlangen in ihr weckte? Als es immer später wurde, beschloss sie, heimzufahren. Luke begleitete sie zur Metro, und dort verabschiedeten sie sich. Zu ihrer Erleichterung unternahm er nichts, um sie zu küssen. Wahrscheinlich hätte sie ihm dann die Arme um den Nacken geschlungen und versucht, die Erinnerungen an gestern Abend heraufzubeschwören. Stattdessen stieg sie in den Zug und wartete ungeduldig, bis sich die Türen zwischen ihnen schlossen.
Die Sonne war schon aufgegangen, als Maggie am nächsten Morgen aufwachte. Aber es war erst acht! Gähnend schloss sie die Augen und versuchte, wieder einzuschlafen. Aber die Erinnerungen an den Vortag ließen ihr keine Ruhe, und nach wenigen Minuten richtete sie sich seufzend auf.
Barfuß ging sie in die Küche, schaltete das Radio ein und hörte die Morgennachrichten, während sie Kaffee aufbrühte. Dann füllte sie einen großen Becher und ging ins Schlafzimmer zurück. Sie wollte gerade wieder unter die Decken kriechen, da klingelte es an der Tür.
Ein eisiger Wind schlug ihr entgegen, als sie öffnete. Der Chauffeur der Spencers stand auf der Veranda, die Arme beladen mit Kartons. Colins Mutter spähte über seine Schulter und winkte Maggie fröhlich zu.
„Guten Morgen, Liebes.“ Ungeduldig schob sie Hamilton beiseite und bedeutete ihm mit einer Geste, ihr zu folgen. „Legen Sie die Sachen auf den Tisch dort“, wies sie ihn an, bevor sie sich an Maggie wandte. „Wir haben in zwei Stunden einen Termin bei einem Hochzeitsberater, und danach werden wir uns ein paar Häuser in Kenilworth ansehen.“
Maggie riss verblüfft die Augen auf. „Häuser?“
„Ja, Liebes. Edward und ich schenken euch ein Haus zur Hochzeit. Über die Einrichtung können wir uns dann beim Dinner unterhalten.“
Das muss aufhören! sagte sich Maggie energisch. „Ein Haus zur Hochzeit? Was soll das sein, Bestechung?“
„Das ist eine etwas vulgäre Art, es auszudrücken, aber seien wir doch ehrlich, Liebes. Edward und ich wollen, dass unser Sohn eine Familie gründet. Und er schien sich für Sie entschieden zu haben – zumindest, bis dieses kleine Miststück in sein Leben trat.“
„Sie heißt Isabelle!“ Maggie bemühte sich, ihren Ärger zu beherrschen. Sie hatte Eunice noch nie gemocht, aber immerhin versucht, einen guten Eindruck bei der Frau zu hinterlassen. Jetzt jedoch, wo die sich als wahre Pest erwies, pfiff sie darauf, was Eunice Spencer von ihr dachte.
„Zuerst war ich nicht glücklich über Sie“, bemerkte Eunice, „aber jetzt bin ich bereit, über die gesellschaftlichen Unterschiede hinwegzusehen. Mein Vater war schließlich auch nur der Sohn eines Metzgers. Aber lassen Sie sich eins gesagt sein: Sie finden keine bessere Partie als meinen Sohn. Er ist mehr, als was ein Mädchen von Ihrer Herkunft eigentlich erwarten dürfte. Also lassen Sie uns zusammenarbeiten. Ich will, dass diese Hochzeit schnell über die Bühne geht, bevor dieser Idiot von meinem Sohn eine weitere Gelegenheit bekommt, davonzulaufen.“
Maggie konnte es nicht mehr hören. Eunice war offenbar vollständig außer Kontrolle geraten und ging ihr nur noch auf die Nerven. „Bringen Sie das alles wieder in den Wagen, Hamilton“, verlangte sie, bevor sie an Eunice gewandt mit fester Stimme sagte: „Ich werde Ihren Sohn nicht heiraten.“
Eunice öffnete verblüfft den Mund. Dann griff sie sich mit einem theatralischen Stöhnen an die Brust und taumelte. „Das können Sie doch nicht ernst meinen!“
„Todernst. Und Sie sollten jetzt lieber gehen, Mrs. Spencer.“
„Ich denke nicht daran, Sie undankbares Ding! Sie können meinen Sohn nicht einfach sitzen lassen …“
„Sie scheinen zu vergessen, dass er derjenige ist, der mich hat sitzen lassen. Und jetzt gehen Sie. Ich muss packen.“
„Wohin reisen Sie?“
Maggie rieb sich die Stirn. „Irgendwohin, wo ich in Ruhe denken kann. Wo ich mein Leben wieder in den Griff bekommen und Pläne für die Zukunft machen kann. Denn das geht ja hier in Chicago ganz offensichtlich nicht.“ Damit wandte sie sich ab. „Sie finden gewiss allein hinaus.“
Im Schlafzimmer zog sie einen Koffer aus dem Schrank und begann Kleider hineinzuwerfen. Als die Haustür ins Schloss fiel, lächelte sie erleichtert. Ein weiteres Problem, das sie von ihrer Liste streichen konnte. Was sollte sie mitnehmen? Da sie noch nicht wusste, wohin sie wollte, packte sie Sachen für wärmeres Wetter und einige Pullover für die winterliche Kälte ein.
Nachdem sie den Koffer zu ihrem Wagen gebracht hatte, rief sie Kim, ihre Verkäuferin im Laden, an und bat sie, sich in den nächsten Tagen allein um das Geschäft zu kümmern.
Nur wenige Minuten später saß Maggie in ihrem Kleinbus und fuhr Richtung Flughafen. Sie würde einfach irgendwohin fliegen, wo die Sonne schien, egal, wie weit es war oder wie viel das Ticket kostete, solange sie nur aus Chicago fortkam.
Ein Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie sich einen sonnenbeschienenen Strand vorstellte. Sie würde in der Sonne liegen und die Wärme in sich aufnehmen, bis ihre Haut einen sanften Bronzeton annahm.
Doch während sie ihre Fantasie ausschmückte, erschien ein weiterer Darsteller darin, ein großer, attraktiver Mann mit dunklem Haar und blauen Augen. Sie waren Fremde, die einzigen Amerikaner in einem pittoresken Dorf. Sie würde Schwierigkeiten haben, und er würde ihr zu Hilfe kommen, da er sich mit der Kultur und der Sprache dieses fremden Landes auskannte. Und sobald sich ihre Blicke trafen, würden sie und er von einer überwältigenden Leidenschaft erfasst werden, einer Leidenschaft, die sie nicht verleugnen konnten.
Sie sah sich überall mit diesem Mann – am Strand, in einer wundervollen Villa, an einem Pool. Sie würde ihn auf die gleiche Art berühren, wie sie Luke in jener Nacht in Colins Wohnung berührt hatte, als sie mit den Fingerspitzen über seine ausgeprägten Muskeln und seine glatte Haut gestrichen hatte. Und dann würde er sie küssen, wie Luke sie auf der Terrasse geküsst hatte, voller Leidenschaft und unbändigem Verlangen …
Als die Abzweigung zum O’Hara Airport kam, ignorierte Maggie sie und fuhr einfach weiter, weil sie ihren Tagtraum nicht beenden wollte. Beim Fahren schuf sie sich eine vollkommene Fantasiewelt. Mehrfach änderte sie den Schauplatz und die Umstände ihrer Begegnung mit ihrem Traummann, und schließlich perfektionierte sie auch noch die Liebesszene, bis jedes Element so realistisch war, dass sie das Gefühl hatte, alles wirklich zu erleben.
Erst nachdem sie ihr letztes und erotischstes Abenteuer beendet hatte, kam Maggie zu Bewusstsein, dass sie seit sechs Stunden am Steuer saß und nur einmal kurz zum Tanken angehalten hatte. Ein Schneetreiben hatte begonnen, und die Sicht wurde zunehmend schlechter.
Beunruhigt hielt sie an einer Tankstelle, um sich die Karte anzusehen.
„Oh nein“, murmelte sie, als sie merkte, wo sie war. „Ich bin heimgefahren …“ Heim nach Potter’s Junction!
Verstimmt stieg Maggie aus. Das hatte sie nun von ihren absurden Fantasien! Seit der Beerdigung ihrer Mutter vor fünf Jahren war sie nicht mehr in Wisconsin gewesen, und selbst damals hatte sie sich nicht dazu überwinden können, durch ihre Heimatstadt zu fahren. Die einzigen angenehmen Erinnerungen, die sie mit Potter’s Junction verband, hatten etwas mit Luke zu tun – und der war in Albanien!
Seufzend stieg sie wieder ein. Für heute blieb ihr keine andere Wahl, als hier zu bleiben. Die schmalen, kurvenreichen Straßen waren gefährlich bei einem Schneesturm, und die Städte und Dörfer lagen sehr weit auseinander. Sie würde sich ein Zimmer für die Nacht nehmen und morgen umkehren.
Es war still in Potter’s Junction, als Maggie durch die Stadt fuhr. Im Sommer zog die Stadt mit ihren Souvenirläden und nahen Seen sehr viele Besucher an. Aber im Winter waren die meisten Motels und Ferienanlagen für die Saison geschlossen. Und so hielt Maggie schließlich am Stadtrand vor dem While-A-Way, einer schäbigen Ansammlung von Blockhütten.
Der ältere Mann, der an der Rezeption erschien, musterte sie prüfend. „Sie sind Maggie Kelley, nicht wahr?“, sagte er.
Sie blinzelte erstaunt. „Kenne ich Sie?“
„Nein. Aber ich kannte Ihre Mutter. Und Sie auch, als Sie noch ein kleines Mädchen waren.“ Er musterte sie durch seine Brillengläser. „Sie sehen aus wie Marlene, als sie jünger war.“
„Sie kannten meine Mutter?“, fragte Maggie betreten. Aber andererseits – wer kannte Marlene Kelley nicht in Potter’s Junction? Sie war schon zu ihren Lebzeiten eine Legende gewesen.
Der Mann lachte. „Ein richtiger Wildfang, dieses Mädchen. Wir waren zusammen auf der Highschool. Alle Jungen waren verliebt in sie. Sie war das hübscheste Mädchen hier im Ort.“
Maggie hatte mit anzüglichen Bemerkungen über die Affären ihrer Mutter gerechnet, aber nicht mit den angenehmen Erinnerungen eines alten Schulfreunds. „Ich brauche ein Zimmer“, sagte sie.
„Sie müssen zu dem Festival gekommen sein“, bemerkte der Mann, während sie das Anmeldeformular ausfüllte. „Es findet im Fireman’s Park statt und dauert bis Ende dieser Woche. Ich habe Tickets für alle Veranstaltungen. Wollen Sie welche?“
„Nein, bloß meinen Schlüssel. Ich bleibe nicht lange.“
Der Mann gab ihn ihr. „Schließen Sie abends nach zehn die Hütte ab“, riet er.
Maggie nickte, holte ihr Gepäck aus dem Wagen und schleppte es durch den Schnee zu ihrer Hütte. Dort rief sie als erstes Kim an, ihre Verkäuferin.
„Gut, dass du dich meldest!“
Maggie erschrak über die Panik in Kims Stimme. „Was ist? Hattet ihr wieder einen Stromausfall?“
„Nein, nein“, beruhigte Kim sie rasch. „Es handelt sich um Luke.“
„Luke?“ Jetzt war es Maggie, die fast in Panik geriet. „Was ist mit ihm? Ist ihm etwas zugestoßen?“ Schreckliche Visionen eines Flugzeugabsturzes überfielen sie.
„Zugestoßen?“
„Er ist doch nach Albanien unterwegs …“
„Er ist hier in Chicago, Maggie, und hat angerufen und nach dir gefragt. Ich habe ihm gesagt, du seist verreist, hättest aber versprochen, anzurufen. Was machst du in Las Vegas?“
„Las Vegas? Ich bin nicht in Las Vegas.“
„Luke dachte, du wärst Colin nachgereist.“
Maggie seufzte. „Ich rufe ihn an“, versprach sie. „Und morgen bin ich wieder in Chicago, falls das Wetter sich nicht verschlechtert.“ Sie gab Kim noch rasch die Telefonnummer des While-A-Way und legte auf.
Aber irgendwie konnte sie sich dann doch nicht dazu überwinden, Luke anzurufen. Es geschah ihm nur recht, wenn er jetzt glaubte, sie sei Colin nachgereist. Vielleicht lernte er dadurch, sich nicht in ihre Angelegenheiten einzumischen! Trotzdem schmeichelte ihr seine offensichtliche Besorgnis.
Er hatte seine Reise nach Albanien nun schon zum dritten Mal abgesagt. Auf einen so wichtigen Auftrag zu verzichten, sah ihm gar nicht ähnlich. Es sei denn …
Das Klingeln des Telefons unterbrach ihre Gedanken.
„Maggie?“
Luke! Ihr Herz schlug unwillkürlich schneller. „Hi. Kim hat mir erzählt, dass du im Laden angerufen hast.“
„Dreimal schon“, erwiderte er gereizt. „Wo steckst du eigentlich?“
„Im While-A-Way in Potters Junction.“
Langes Schweigen folgte ihren Worten, dann lachte er ungläubig. „In Potters Junction? Was, zum Teufel, willst du dort?“
„Ich weiß es selber nicht“, gab sie zu. „Ich stieg in den Wagen, um zum Flughafen zu fahren, weil ich irgendwohin in die Sonne fliegen wollte. Doch dann fuhr der Wagen immer weiter in Richtung Norden, und plötzlich war ich hier in Potters Junction.“ Ihre sechsstündige erotische Fantasie verschwieg sie ihm. „Ich komme morgen zurück, wenn sich das Wetter bessert.“
„Überstürz nichts“, riet Luke. „Nimm dir Zeit. Ich möchte nicht, dass du bei schlechtem Wetter fährst.“
Er klang aufrichtig besorgt, und sie lächelte. „Vielleicht. Ich werde es mir überlegen.“
Er schwieg einen Moment. „Gut, dann lege ich jetzt auf. Meine Maschine nach Albanien startet in drei Stunden. Ich rufe dich von dort aus an. Pass gut auf dich auf, Maggie.“
„Du auch“, sagte sie.
„Ich liebe dich.“
Und damit legte er auf, und sie starrte fassungslos auf den Hörer. Hatte sie richtig gehört? Er liebte sie? Wie konnte er das gemeint haben? So etwas hatte er in all den Jahren noch nie zu ihr gesagt. Wahrscheinlich liebt er mich wie eine Schwester, dachte sie. Mehr hatte er sicher nicht damit ausdrücken wollen. Und es wäre absurd, sich etwas anderes einzureden.
Die Sonne ging gerade auf, als Luke vor Maggies Hütte trat. Die Fahrt nach Norden war riskant gewesen, aber sein Jeep war zuverlässig, obwohl er fast doppelt so lange für die Strecke gebraucht hatte wie im Sommer.
Luke klopfte einmal kurz, und als nach einer Weile keine Antwort kam, noch einmal.
„Sie haben sich in der Tür geirrt“, rief Maggie.
Er klopfte erneut.
„Gehen Sie!“, schrie sie. „Ich möchte schlafen.“
„Maggie? Ich bin’s, Luke.“
Sekunden später schwang die Tür auf, und Maggie erschien auf der Schwelle, in einem kurzen, sexy T-Shirt, das den Blick auf ihre langen, schlanken Beine freigab. Blinzelnd schaute sie zu ihm hoch und strich sich das vom Schlaf zerzauste Haar zurück. Aber sie rührte sich nicht von der Stelle.
„Willst du mich nicht hereinlassen?“
Fröstelnd rieb sie sich die Arme. „Was machst du hier? Wolltest du nicht nach Albanien?“
Er hörte diese Frage viel zu oft in letzter Zeit. Obwohl er vor ein paar Stunden noch fest entschlossen gewesen war, seine Maschine zu besteigen, hatte er die Reise nun schon zum dritten Mal verschoben. „Könnten wir nicht drinnen weiterreden? Es ist eisig kalt hier draußen.“
Sie trat beiseite, lief stöhnend zu ihrem Bett zurück und kroch unter die Decken. Er blieb mitten im Zimmer stehen und kämpfte gegen die Versuchung an, sich zu ihr zu legen. Aber das wäre falsch gewesen. Er war schließlich nicht hergekommen, um das Bett mit ihr zu teilen.
„Wie spät ist es?“, murmelte sie schläfrig.
„Sechs Uhr morgens.“
Stöhnend drückte sie das Gesicht ins Kissen. „Wirst du mir jetzt sagen, was du hier willst, oder wirst du dort Wurzeln schlagen?“
Er ging zum Bett und setzte sich zu ihr. Obwohl er jetzt gern ihre Hand genommen hätte, verzichtet er darauf, weil er nicht wusste, wie er auf die Berührung ihrer warmen Finger reagieren würde. Immerhin waren sie ganz allein in einer Blockhütte – und Maggie sah unglaublich verführerisch in diesem T-Shirt aus.
„Ich bin gekommen wegen unseres Telefongesprächs von gestern Abend. Ich wollte dir erklären, was ich meinte.“
Sie blinzelte. „Das brauchst du nicht. Ich weiß, was du gemeint hast.“
„Bist du sicher?“
Maggie nickte. „Du meintest brüderliche Liebe. Keine romantische. Um mir das zu sagen, brauchtest du nicht herzukommen.“
Seufzend lehnte er sich an die Wand. Das war es, was er hätte meinen sollen. Aber seine Gefühle für Maggie waren alles andere als brüderlich. Dennoch war er auch nicht ihr Geliebter. Er stand irgendwo dazwischen, in einer seltsamen Übergangsphase, die ihn zutiefst verwirrte.
Er schloss die Augen und atmete tief ein. „Ja. Das war es, was ich meinte.“
Maggie seufzte. „Das hättest du mir auch am Telefon sagen können“, murmelte sie verschlafen.
Er widerstand dem Bedürfnis, sie zu küssen, seine Lippen auf ihre Stirn zu pressen, auf ihre Augenlider, ihre hübsche kleine Nase und ihren weichen Mund. „Ich wollte nicht, dass du denkst …“
„Dass du mich liebst, wie ein Mann eine Frau liebt?“
„Hm … Wahrscheinlich.“
Sie kuschelte sich noch tiefer unter die Decken. „Das hätte ich sowieso niemals gedacht.“
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus, und er hörte, dass Maggies Atemzüge immer ruhiger und flacher wurden. Er hatte noch nie Gelegenheit gehabt, sie derart unverhohlen zu betrachten, und als er es jetzt tat, begann ihm etwas klar zu werden. Manchmal hatte er in den letzten Jahren in Maggie immer noch das kleine Mädchen gesehen, das sie einst gewesen war; bei anderen Gelegenheiten hingegen hatte er angefangen, die erwachsene Frau in ihr zu sehen. Aber was er jetzt sah, war noch erheblich mehr. Er sah die Frau, die ihm alles bedeutete, eine Frau, von der er sich sehr viel mehr wünschte als nur Freundschaft. Die Frau, die tief in ihm etwas weckte, was sich nicht nur mit körperlichem Verlangen erklären ließ.
Mit der Fingerspitze strich er so sacht und behutsam über ihre Wange, dass er ihre weiche Haut fast nicht berührte. Ihre Lider flatterten, ein leiser Seufzer entrang sich ihren Lippen, aber dann schlief sie ruhig weiter.
Während er sich dann neben Maggie legte, merkte er, dass auch ihm die Lider schwer wurden, und er schloss die Augen, um sich eine Weile auszuruhen, bevor er aufstehen würde, um sich ein eigenes Zimmer zu besorgen.
Doch dann begann er einzudösen und schmiegte sich an Maggies warmen Körper, froh, dass er alles wieder in Ordnung gebracht hatte – für den Augenblick zumindest.