Dir verzeih ich alles - 10. Kapitel

10. KAPITEL

Belle stand vor dem großen Panoramafenster im Wohnbereich und blickte auf den riesigen Swimmingpool hinaus. Er war von unten her beleuchtet und glitzerte strahlend blau – fast wie Cages Augen.

     "Wer war die Frau vor dem Restaurant?", fragte Belle ohne Umschweife. Sie drehte sich zu Cage um und wartete mit angehaltenem Atem auf seine Antwort.

     Nach kurzem Zögern erwiderte er: "Niemand von Bedeutung."

     Sie wollte ihm glauben, wollte von ihm hören, dass sie ihm wichtig war, und das war geradezu beängstigend absurd. Schließlich kannten sie einander ja kaum. "Es sah so aus, als sei sie eine gute Bekannte." Immerhin hatte die aufgerüschte Blondine sein Haar gestreichelt und dabei sehr besitzergreifend gewirkt.

     Bedächtig schüttelte er den Kopf und trat zu ihr. "Das ist sie nicht. Nicht mehr."

     Das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie strich glättend über das Kleid, das jetzt ziemlich zerknittert aussah. Was in aller Welt hatte sie überhaupt bewogen, sich dieses Outfit auszuleihen? Wenn die elegante Blondine auf der Straße seinem Typ entsprach … "Na ja, es geht mich sowieso nichts an."

     "Du siehst sehr hübsch aus in dem Kleid."

     "Ich erwarte keine Komplimente von dir."

     "Du glaubst, dass ich es nicht ernst meine? Tatsache ist, dass ich dich in allem hübsch finde."

     Ein Anflug von Panik stieg in Belle auf, als er dicht an sie herantrat. Sie durften nicht vergessen, wer sie waren und wo. "Caspar", stieß sie plötzlich hervor.

     "Wie bitte?"

     "Sechs Buchstaben. Zwei Silben." Sie wich zurück und stieß gegen die große Klimaanlage unter dem Fenster.

     "Ich habe dir doch gesagt, dass mein Name unique ist."

     "Findest du Caspar etwa nicht ziemlich einzigartig?"

     Cage schüttelte lächelnd den Kopf und beugte sich vor.

     Abwehrend legte sie ihm die Hand auf die Brust. "Hey, Cowboy. Wohin soll das führen?"

     "Muss ich dir das wirklich sagen?" Er umfasste ihr Handgelenk und ließ die Finger langsam ihren Arm hinauf- und wieder hinabgleiten.

     Ihre Haut prickelte. Und Cage brauchte ihr weiß Gott nicht zu sagen, wohin das führen würde. "Aber … warum jetzt?"

     Seine Miene wurde ernst. "Weil ich gestern Abend Unsinn geredet habe. Natürlich habe ich Zeit für so was. Ich bin es leid, mich zu verstellen."

     "Deine Tochter ist nebenan."

     "Glaubst du etwa, das habe ich vergessen?"

     Sie schüttelte den Kopf. Selbstverständlich würde er seine Tochter niemals vergessen. Unter anderem war es ja gerade seine väterliche Fürsorge, die ihn so attraktiv machte.

     "Sie schläft, und wenn sie nicht wieder schlecht träumt, wacht sie auch nicht auf." Sanft strich er ihr durch das seidige Haar.

     "Cage …"

     "Ich liebe deine Haare", murmelte er, während er die üppigen Locken mit beiden Händen anhob und durch die Finger gleiten ließ – immer wieder. "Es gefällt mir, dass du sie so selten offen trägst. Es ist, als sei das Vergnügen dieses Anblicks allein mir vorbehalten."

     Seine sanfte Stimme und seine streichelnden Finger wirkten äußerst verführerisch. Belle rang um Beherrschung, um nicht zu tun, wonach sie sich so verzweifelt sehnte: Cage zu umarmen, von Kopf bis Fuß zu liebkosen …

     Er streichelte ihren Nacken, und ein wohliger Schauer rann ihr über den Rücken. "Wir können nicht … Lucy …"

     Sanft knabberte er an ihrem Ohrläppchen. "Bitte, nur eine Minute weitermachen. Oder zwei." Mit den Fingern kämmte er durch ihr seidiges Haar.

     Ihr Herz pochte schneller, und die Knie wurden ihr weich. Dann spürte sie seine weichen, warmen Lippen auf ihrem Hals, hörte sein Seufzen. Instinktiv umfasste sie seine Schultern.

     "Fass mich lieber nicht an", warnte er sie. "Das ist zu gefährlich."

     "Ich weiß, dass du gefährlich bist", flüsterte sie erregt.

     "Ich berühre dich doch kaum."

     "Trotzdem. Es macht mich ganz …"

     Er streichelte ihren Nacken, während er mit der anderen Hand ihre Brust umfasste. "Es macht dich … was?"

     Belle legte den Kopf zurück und blickte ihn an. "Merkst du das nicht?"

     Ihre Wangen glühten. Ihre Brustspitzen waren hart aufgerichtet vor Verlangen. Ihr Atem kam stoßweise, und sie zitterte von Kopf bis Fuß. Nie zuvor hatte sie einen Mann derart begehrt.

     "Ja, ich merke es", gestand Cage mit rauer Stimme. "Ich wünsche es mir schon so lange …" Aufstöhnend drängte er sich an sie, ließ sie deutlich seine Erregung spüren. "Wenn ich nachts im Bett liege, denke ich an dich und frage mich, ob du dich in dem quietschenden Bett wälzt, weil du davon träumst, mit mir zusammen zu sein."

     Sie erschauerte. Seine Worte trafen genau ins Schwarze.

     Cage lehnte die Stirn an ihre. Sie spürte seine Wärme, sehnte sich nach seiner Berührung.

     "Letzte Woche, als du Lucy Nachhilfe gegeben hast, war ich in deinem Zimmer. Ich wollte die Federn ölen. Aber ich habe es nicht getan. Ich habe mich einfach aufs Bett gesetzt und mir vorgestellt, wie du darin liegst, dich von einer Seite zur anderen drehst, wie sich die Decke um deine Beine schmiegt, wie sie sich zwischen deine Schenkel schiebt …"

     Es war, als hätte er sie beobachtet, Nacht für Nacht, Woche für Woche. Sie stöhnte leise bei der Vorstellung.

     Er schob die Finger in ihr üppiges Haar und zog ihren Kopf zurück, sodass sie ihn ansehen musste. "Sag mir, wovon du nachts träumst. Sag es mir, damit ich endlich Gewissheit habe, so oder so."

     Wortlos blickte Belle ihn an. Unzählige Worte lagen ihr auf der Zunge, doch sie wagte nicht, sie auszusprechen.

     Er küsste sie auf die Stirn, die Augen, die Wangen und schließlich auf den Mund, sanft und genüsslich, ohne zu fordern, ohne zu drängen.

     Ihr ganzer Körper glühte. "Ich träume davon, dass du mich anfasst", flüsterte sie an seinen Lippen.

     Cage schloss sie seufzend in die Arme und drückte ihren Kopf an seine Brust. "Ich träume auch davon. Dass wir einander Streicheln und das Bett bei jeder Bewegung ein wenig lauter ächzt."

     Sie zitterte so sehr, dass sie sich an ihn klammerte, weil ihre Beine sie kaum noch trugen. "Hör auf, bitte …"

     Zärtlich umschloss er ihr Gesicht mit beiden Händen. "Und ich träume von deinem wunderschönen Haar, das auf dem Kissen ausgebreitet liegt."

     "Cage, du machst mich …"

     "Lass es geschehen", flüsterte er ihr ins Ohr. "Lass unsere Träume wahr werden." Erneut strich er ihr durchs Haar. "Immer wieder habe ich mir ausgemalt, wie du in diesem Bett zum Höhepunkt kommst."

     Sie stöhnte leise.

     "Deswegen habe ich die Federn nicht geölt. Ich wollte dich hören."

     Seine verführerische Stimme, seine aufreizenden Worte erregten sie fast so sehr, als würde er mit ihr schlafen.

     "Ich will es jetzt", stieß er fordernd hervor.

     "Küss mich", bat sie.

     Er drückte die Lippen auf ihre, zunächst sanft, dann mit wachsender Leidenschaft, während er eine Hand zwischen ihre Schenkel schob und sie liebkoste. Sein Kuss dämpfte den kleinen Aufschrei, den sie nicht unterdrücken konnte.

     Als er die wonnigen Schauer spürte, die ihren Körper durchrieselten, schloss er Belle fest in die Arme. Wieder küsste er sie, diesmal sehr zärtlich.

     Schließlich trug Cage Belle zum Sofa, setzte sich und zog sie auf den Schoß. Einen Moment lang presste er sie hart an sich. Dann lockerte er seinen Griff, seufzte tief und lehnte den Kopf an das Polster. "Danke."

     Belle spürte, dass seine Erregung nicht abgeklungen war. "Aber du bist doch noch gar nicht …"

     Er legte ihr einen Finger auf die Lippen. "Sag nichts. Bleib einfach hier bei mir sitzen. Es wird vergehen."

     Belle ergriff seine Hand, verflocht ihre Finger mit seinen und kuschelte sich wohlig an ihn.

     "Allerdings könnte es ein paar Monate dauern", meinte er düster.

     Da konnte sie nicht anders, sie musste einfach lachen.

     Er blickte ihr in die Augen, zunächst fragend. Und dann lachte auch er. Laut und herzhaft und volltönend.

     Und sie wusste, dass sie niemals ein wundervolleres Geräusch hören würde.

Es war Belle äußerst schwergefallen, sich schließlich von Cage zu verabschieden und mit seinem Auto zu Nikkis Haus zu fahren. Aber sie wusste, dass es so am besten war, auch wenn sie sich vor Sehnsucht nach ihm verzehrte.

     Als sie das Wohnzimmer betrat, saß Nikki auf dem riesigen Sofa, blickte von dem Buch auf ihrem Schoß auf und meinte abschätzig: "Hoffentlich bist du zurückgekommen, um das Chaos zu beseitigen, das du in meinem Schlafzimmer angerichtet hast."

     Das hatte Belle total vergessen. "Oh, natürlich. Übrigens danke, dass du mir das Kleid geliehen hast."

     "Ich hoffe, du hast wenigstens das Preisschild entfernt. Eigentlich steht es dir viel besser als mir. Behalt es. Es wird deinem spartanisch ausgestatteten Kleiderschrank guttun."

     Belle setzte sich zu ihr und nahm ihre Hand. "Geht es dir gut?"

     Als Antwort seufzte Nikki nur leise. "Und dir?"

     "Mir wird es gut gehen, sobald du mir gesagt hast, was los ist."

     "Du sieht ganz so aus, als wärst du mit jemandem im Heu gewesen." Nikki musterte ihre Schwester eindringlich. "Scott ist ja inzwischen abgehakt, also muss es Cage Buchanan sein. Stimmt's?"

     Belles Teint war vielleicht noch ein wenig rosig von der Berührung mit seinen Bartstoppeln, aber sicherlich sah sie nicht so aus, als hätte sie mit ihm geschlafen. Leider. Sie hatten es ja nicht bis ins Bett geschafft. Belle bezweifelte, dass sie je wieder in dem quietschenden Bett auf der Lazy B schlafen konnte. Womöglich musste sie sich auf den Fußboden legen. "Ich war bei Cage", gab sie zu. "Und Lucy. Na ja, sie hat im Nebenzimmer geschlafen. Sie haben mich mit hierher genommen, weil mein Auto kaputt ist."

     "Weil es hundert Jahre alt ist."

     "Nicht jeder kann sich wie du alle zwei Jahre einen neuen Wagen leisten. Also los, raus damit. Was ist los?"

     "Ich bin schwanger. Man sollte meinen, dass ich mich daran gewöhnen würde, diese Worte auszusprechen. Ich bin schwanger. Ich bin schwanger. Aber nein, ich flippe immer noch aus."

     Belle schloss sie in die Arme. "Liebst du ihn? Den Typ, über den du nicht reden willst?"

     "Liebst du ihn denn? Cage?", konterte Nikki.

     Belle wusste, dass Leugnen zwecklos war. Als Zwillingsschwestern standen sie einander sehr nahe, und keine hatte je etwas vor der anderen verborgen. "Ich fürchte, es fängt an. Ich kann mir nicht mal mehr vorstellen, nach Cheyenne zurückzukommen, und das ist …" Sie schüttelte den Kopf. "Aber ich bin nicht hier, um über mich zu reden, sondern weil ich wissen möchte, was mit dir ist."

     Nikki seufzte. "Später. Wollen wir jetzt schlafen oder Eis essen?"

     "Eis essen. Unbedingt."

     "Zum Glück bin ich damit gut bestückt."

     Eine ganze Weile später, nachdem sie einen riesigen Eisbecher verzehrt hatten, schliefen sie beide auf der Couch ein, ohne dass Belle etwas aus Nikki hatte herauslocken können.

     Sie wachte im Morgengrauen auf, musterte ihre Schwester im Schlaf und dachte: Nikki wird Mutter. Sacht legte sie sich die Hände auf den Bauch und versuchte, sich vorzustellen, wie es sein mochte, ein neues Leben in sich wachsen zu spüren.

     Der Gedanke daran erinnerte sie unweigerlich an Cage, und an Schlaf war nicht mehr zu denken.

     Vorsichtig stand sie auf, deckte Nikki mit einer Wolldecke zu und brachte den leeren Eisbecher und die Löffel in die Küche. Sie schaltete die Kaffeemaschine ein und ging nach oben, um zu duschen und sich anzuziehen. Anschließend räumte sie den Kleiderberg in den Schrank, den sie auf dem Bett hinterlassen hatte.

     Sie platzierte eine Thermoskanne mit entkoffeiniertem Kaffee für Nikki auf dem Couchtisch, verließ das Haus und fuhr zum Hotel. Von der Rezeption aus rief sie in Cages Zimmer an, wie sie es am vergangenen Abend vereinbart hatten.

     Es war ein wundervoll sonniger Sonntagmorgen. Nur vereinzelt zogen kleine Schäfchenwolken über den strahlend blauen Himmel. Belle beschloss, am Swimmingpool zu warten.

     "Hast du deine Schwester angetroffen?", erkundigte Cage sich sofort, als er eine Viertelstunde später mit Lucy nach draußen kam.

     "Ja, sie war zu Hause."

     "Und?"

     "Und ich fühle mich besser. Danke, dass du mich mitgenommen hast."

     "Es war mir ein Vergnügen." Er bedachte sie mit einem eindringlichen Blick.

     Nervös zog sie sich den Pferdeschwanz über die Schulter, nur um ihn rasch wieder zurückzuwerfen, als sie daran dachte, was Cage über ihre Haare gesagt hatte. "Also, wie steht's mit Frühstück?" Sie wandte sich an Lucy. "Was möchtest du? Waffeln oder Eier?"

     "Wir können ja bei Grandma im Heim frühstücken. Das tun wir sonst auch. Sonntags gibt es da immer ein riesiges Büfett. Dann kann Belle Grandma auch kennenlernen. Oder, Dad?"

     Er zögerte. "Das soll sie selbst entscheiden."

     Belle wäre überall lieber hingefahren als in das Pflegeheim, doch gegen Lucys hoffnungsvollen Blick war sie machtlos. "Was verstehst du denn unter 'riesig'?"

     "Es gibt zum Beispiel Eier in fünf verschiedenen Zubereitungen. Und ich weiß genau, dass du gern Eier isst."

     "Das stimmt allerdings", räumte Belle mit einem Lächeln ein.

     Also machten sie sich gemeinsam auf den Weg zu dem Heim, in dem Cages Mutter lebte.

     Belle hatte eine nüchterne, krankenhausähnliche Atmosphäre erwartet, wurde jedoch angenehm überrascht. Die ganze Einrichtung wirkte ansprechend und gemütlich, ähnlich wie in einem Hotel. Der hübsche Garten wurde von großen alten Bäumen beschattet, die Eingangshalle und Flure zierten Grünpflanzen, und das Personal trug keine gestärkten weißen Kittel.

     Auf dem Weg durch die Korridore wurden Cage und Lucy von vielen Bewohnern begrüßt. Alle zeigten sich begeistert, dass sie seit ihrem letzten Besuch große Fortschritte gemacht hatte und nun so gut an Stützen gehen konnte.

     Schließlich blieb Lucy vor einer offenen Tür stehen und klopfte flüchtig an, bevor sie eintrat. "Hi, Grandma."

     Belle schluckte nervös. Sie war es gewohnt, mit zeitweise oder auch dauerhaft gehandicapten Menschen umzugehen, doch all ihre Berufserfahrung hatte sie nicht auf diesen Moment vorbereitet. Und dann war da ja auch noch ihre persönliche Verstrickung. Plötzlich befürchtete Belle, Cage könnte ihre Anwesenheit hier als eine Art Affront betrachten.

     Doch er ließ sich nichts weiter anmerken. Im Gegensatz zum vergangenen Abend im Hotel, wo er wie durch ein Wunder endlich aufgetaut war, gab er sich nun wieder gewohnt zugeknöpft.

     Lucy dagegen wirkte außergewöhnlich lebhaft und deutete mit einer Stütze zur Tür, während sie das Zimmer durchquerte.

     Belle packte Cage aufgeregt am Arm. "Guck mal."

     "Was denn?"

     "Sie hat einen Schritt ohne Stützen gemacht", raunte sie ihm zu. Mehr sagte sie nicht – schon gar nicht zu Lucy. Es war noch zu früh, Lucy ihre beachtlichen Fortschritte bewusst zu machen, und Belle wollte keinen Rückfall riskieren.

     Lucy hielt immer noch die Stütze hoch und winkte Belle damit ins Zimmer. "Komm rein. Ich will dich Grandma vorstellen."

     Diese saß in einem Sessel neben einem kleinen runden Tisch und hielt ein Buch auf dem Schoß. Eine leichte Brise wehte durch den zarten weißen Store zum geöffneten Fenster herein.

     Cages Mutter war wunderschön. Die alten Schwarz-Weiß-Fotos im Haus der Lazy B wurden ihrem Aussehen bei weitem nicht gerecht. Sie hatte die gleiche Haarfarbe, die gleichen strahlend blauen Augen wie ihr Sohn. Ihre Haut war zart und beinahe faltenfrei. Sie trug ein schlichtes altrosafarbenes Kleid und dazu zierliche Pumps und sah aus wie eine vollkommen gesunde Frau in Sonntagskleidung.

     "Das ist meine Freundin Belle Day", teilte Lucy ihr fröhlich mit.

     Belle hielt den Atem an. Aber Cages Mutter lächelte sie nur sanft an. Der Name sagte ihr offensichtlich nichts. Belle erwiderte das Lächeln und trat vor. "Guten Tag, Mrs. Buchanan."

     "Wie schön, dass Sie mir Lucy gebracht haben." Nur wenn man ganz genau hinhörte, bemerkte man ihre leicht schleppende Sprechweise. Mit beiden Händen, die zart, sanft und kühl waren, drückte sie Belles Hand. Dann blickte sie freundlich zu Cage. "Und wer sind Sie?"

     Betroffen beobachtete Belle, wie er sich zu seiner Mutter hinunterbeugte, ihre Hände nahm und ihre Wange küsste. "Hi, Mom." Seine Stimme klang zärtlich. "Wir sind gekommen, um mit dir zu frühstücken. Ich hoffe, dass du noch nicht im Speisesaal warst."

     Sie nickte. Seine liebevolle Begrüßung schien sie nicht weiter zu berühren. "Ich habe gelesen und ganz vergessen zu essen." Sie lachte verlegen, legte das Buch auf den Tisch und stand auf. Sanft strich sie Lucy übers Haar. "Du siehst sehr hübsch aus heute. Bist du gewachsen?"

     "Ich bin jetzt ein Teenager, Grandma. Vorgestern hatte ich Geburtstag." Lucy drehte sich zur Tür um. "Vielleicht sehe ich in diesen Tennisschuhen größer aus. Sie sind cool, oder? Belle hat sie mir geschenkt. Irgendwie meint sie, dass ich Pink mag. Glaubst du, dass es heute Blaubeerwaffeln gibt? Die habe ich echt vermisst, als wir letztes Mal hier waren."

     Ihr ungekünsteltes Geplapper wehte über den Korridor, als sie zusammen mit ihrer Großmutter das Zimmer verließ.

     Gedankenverloren blickte Belle den beiden nach.

     Cage berührte sie am Arm. "Ist alles okay?"

     Verwundert schaute sie ihn an. Diese Frage hätte sie eigentlich ihm stellen müssen. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. "Es tut mir so leid."

     "Mir auch."

     Einen Moment lang presste sie die Lippen zusammen. Dann murmelte sie: "Weißt du, mein Dad war nach dem Unfall nicht mehr derselbe. Körperlich hatte er zwar keinen Schaden davongetragen, aber seelisch …"

     Cage sagte nichts dazu.

     "Ein Jahr später erlitt er einen schweren Herzanfall. Ich war damals fünfzehn."

     "Du hattest immer noch deine Mutter. Und deine Schwester."

     "Und du hattest praktisch niemanden." Ihre Augen wurden feucht. Inzwischen wusste sie, wie viel ihm seine Familie bedeutet. "Deine Mutter …"

     "Sie hatte eine schwere Gehirnverletzung. Motorik und Sprechfähigkeit sind kaum beeinträchtigt. Aber sie kommt nicht auf die Idee, nach rechts und links zu schauen, bevor sie eine Straße überquert, oder sich die Schuhe auszuziehen, bevor sie ins Bett geht, oder dass sie sich mit einem scharfen Messer schneiden könnte. Und Lucy ist die einzige Person, an die sie sich seit dem Unfall erinnert. Warum das so ist, wissen wir nicht."

     Tränen rannen Belle über die Wangen.

     "Ich habe sie einmal auf die Lazy B geholt. Lucy war damals fünf. Die Versicherungssumme war aufgebraucht, und ich wollte meine Mutter zu Hause haben. Ich dachte, es würde ihr helfen. Aber sie hat sich nicht eingelebt, und auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, konnte ich ihr nicht helfen. Sie braucht eine geschützte Umgebung, und die kann ich ihr auf der Ranch nicht bieten." Er schaute sich im Zimmer um. Die Wände waren rosafarben gestrichen, ähnlich wie in Lucys Zimmer, und die gesamte Einrichtung wirkte hübsch und feminin. "Also habe ich alles außer der Ranch verkauft, was ich besaß, und meine Mutter wieder hierher gebracht."

     Seine Miene wirkte ausdruckslos, doch Belle wusste, dass es ihm das Herz gebrochen hatte. Er machte nach wie vor ihren Vater verantwortlich, obwohl Gus Day offiziell von jeder Verantwortung freigesprochen worden war.

     "Es ist meine Schuld", bekannte Belle. "Ich wollte unbedingt mit einer Schulfreundin und ihren Eltern nach Mexiko in die Winterferien. Ich war knapp vierzehn, und Cheyenne war für mich der langweiligste Ort auf dem ganzen Planeten. Mein Vater hat es mir nicht erlaubt, und meine Mutter stand wie immer auf seiner Seite. Er mochte die Eltern meiner Freundin nicht. Er hielt sie für verantwortungslos. Ich fand sie cool, eher wie Freunde als Eltern."

     "Belle …"

     "Lass mich bitte ausreden." Wenn sie es sich jetzt nicht von der Seele redete, dann brachte sie es vielleicht niemals fertig. Doch Cage verdiente es, die ganze Wahrheit zu erfahren, auch wenn er Belle dann mit anderen Augen betrachten würde. Dieses Risiko musste sie eingehen. "Mein Vater hatte natürlich recht, aber das habe ich erst nachher eingesehen."

     "Du musst deswegen nicht weinen. Ich mache dich nicht für den Unfall verantwortlich, auch wenn ich zuerst anders dachte. Ich fand es einfach nur so ungerecht, dass du und deine Schwester immer noch hattet, was mir genommen worden war."

     "Aber begreifst du denn nicht, es ist alles meine Schuld!", rief sie verzweifelt aus. "Ich wollte unbedingt nach Mexiko, und Daddy hat es mir verboten, und ich habe ihm gesagt, dass ich ihn hasse und ihm nie verzeihen werde. Dann bin ich von zu Hause weggelaufen und zu meiner Freundin. Ihre Eltern müssen gewusst haben, dass ich nicht mitfahren durfte, aber sie haben mich trotzdem mitgenommen."

     Trotz ihrer Tränen bemerkte Belle seine plötzlich unbewegte Miene. Und das Herz wurde ihr schwer. Seinetwegen. Wegen der Vergangenheit. Wegen der Zukunft.

     "Dad hat uns nach ungefähr zwanzig Meilen eingeholt", fuhr Belle fort. "Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken vor Scham, als er uns stoppte. Wir waren auf dem Rückweg nach Cheyenne, als der Unfall passierte. Ich war so wütend auf Dad, dass ich nicht mal neben ihm sitzen wollte. Ich habe mich auf den Rücksitz verkrochen und ihn ignoriert … wie ein verzogenes Kind."

     Sie schloss die Augen. "Falls Dad irgendeine Schuld an dem Unfall trifft, falls er abgelenkt war, dann nur meinetwegen. Und selbst wenn es nicht an ihm, sondern bloß am Eis oder Schnee lag, bin ich trotzdem der Auslöser." Sie sah Cage an. "Wir waren nur unterwegs, weil ich unbedingt meinen Dickkopf durchsetzen wollte."

     Mit angehaltenem Atem wartete Belle auf die Worte, die sie vernichten würden.

     Stattdessen fragte Cage: "Warum erzählst du mir das alles?"

     Wortlos musterte sie ihn, von den bronzefarbenen Haaren über das kobaltblaue Hemd, das seine Augen noch mehr leuchten ließ, bis zu den Spitzen seiner schwarzen Stiefel. Es waren andere als die, die er auf der Ranch trug, neuer und auf Hochglanz poliert – zu Ehren seiner Mutter, obwohl er wusste, dass sie sich nicht an ihn erinnern würde.

     "Weil ich … Ich habe mich in dich verliebt", gestand sie. "Weil du das Recht hast, zumindest die richtige Person zu verurteilen." Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und wandte sich zum Gehen.

     Doch Cage hielt sie zurück, packte sie am Handgelenk.

     Sein Griff war schmerzhaft. Aber Belle wusste, dass der Schmerz, den er ertragen hatte – den er immer noch ertrug, wenn er dieses Zimmer betrat, das den Lebensinhalt seiner Mutter ausmachte –, ihren um ein Vielfaches übertraf.

     "Ist das dein Ernst? Du liebst mich?" In seinen Augen lag ein Ausdruck, den sie noch nie darin gesehen hatte.

     "Ja."

     Ein Muskel zuckte an seinem Kiefer. Er löste den harten Griff um ihr Handgelenk und streichelte sanft ihren Arm. "Vielleicht ist es an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen", sagte er leise. "Meine Mutter ist glücklich hier. Sie kennt nichts anderes. Sie ist zufrieden. Das ist die Gegenwart." Er umschloss Belles Gesicht mit beiden Händen und lehnte seine Stirn an ihre.

     Heiße Tränen rannen ihr über die Wangen. Zögernd berührte sie seine Schultern, strich ihm mit zitternden Fingerspitzen über den Nacken. Sie spürte seine Anspannung und wagte kaum zu glauben, welches Wunder hier gerade geschah.

     "Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich mich mit dem, was jetzt ist, zufriedengebe. Ich muss aufhören, der Vergangenheit nachzutrauern." Er hob ihr Kinn an und küsste sie zärtlich. "Weine nicht. Ich verkrafte das nicht."

     Diese Bemerkung ließ erst recht ihre Tränen fließen. Hilflos schmiegte sie sich an ihn. Cage schob sie behutsam zum Sessel. Er setzte sich und zog Belle auf den Schoß, den Arm fest um ihre Schultern gelegt.

     Doch Belle konnte sich nicht beruhigen. Er drückte ihr eine Packung Papiertaschentücher in die Hand und sagte rau: "Dann lass es raus."

     Sie hielt sich an ihm fest, als ob sie ihn nie wieder loslassen wollte, und ließ den aufgestauten Emotionen langer Jahre freien Lauf. Während ihr Schluchzen allmählich abebbte, streichelte Cage die ganze Zeit beruhigend ihren Rücken.

     Endlich spürte sie eine seltsame Ruhe in sich aufsteigen. Sie lehnte sich ein wenig zurück, trocknete sich die Tränen und sah Cage in die Augen. "Und was sollen wir jetzt tun?"

     Er schwieg einen Moment, spielte gedankenverloren mit ihrem Pferdeschwanz. "Wir gehen frühstücken, und dann fahren wir nach Hause."

     Belle nickte matt. "Und?"

     "Dann warten wir ab, was passiert."

     "Möchtest du denn, dass ich weiter mit Lucy arbeite?"

     "Ja."

     "Okay."

     "Ich möchte außerdem, dass du mit mir arbeitest."

     "Oh … Woran denn?"

     Er beugte sich vor und strich mit den Lippen zärtlich über ihre. "Daran, mich nicht länger wie ein Ungeheuer aufzuführen."

     "Das tust du doch gar…", protestierte sie, bevor er ihr den Mund mit einem leidenschaftlichen Kuss verschloss.

     "Wow! Kein Wunder, dass ihr so lange braucht!"

     Belle fuhr erschrocken auf. Ihre Lippen fühlten sich geschwollen an, und ihr Pferdschwanz hatte sich so ziemlich aufgelöst.

     "In flagranti ertappt", raunte Cage ihr zu. Dann blickte er zu Lucy. Ihre Augen leuchteten. Das wunderte ihn nicht, denn sie betete Belle geradezu an. Doch es überraschte ihn, dass sie gar nicht schockiert wirkte. "Wir kommen in einer Minute."

     "Wow!", rief sie erneut, während sie auf den Stützen kehrtmachte.

     Belle löste sich von Cage und kam zitternd auf die Beine. "Vielleicht solltest du mit ihr reden."

     "Worüber? Glaubst du etwa, sie weiß nicht, was ein Kuss zu bedeuten hat? Du selbst hast sie doch aufgeklärt, als sie zum ersten Mal ihre Periode hatte. Das hat sie mir erzählt." Und es hatte ihn erleichtert, auch wenn er mit Lucy längst über die Tatsachen des Lebens gesprochen hatte und sie als Tochter eines Ranchers natürlich wusste, woher der Nachwuchs kommt.

     "Na ja, ich wusste nicht, ob du dem gewachsen bist …"

     "Ich habe dir doch gesagt, dass sie über alles mit mir reden kann."

     "Ich unterschätze dich anscheinend immer wieder", sagte Belle leise.

     "Was die Liebe zu meiner Tochter betrifft?"

     "Nicht nur. Übrigens habe ich sie auch sehr lieb."

     Damit sagte sie ihm nichts Neues, er wusste es längst. Anderenfalls hätte er sich nie mit ihr eingelassen. "Komm." Er nahm ihre Hand. "Gehen wir frühstücken."

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