Die Jahrtausend-Party - 4. Kapitel
4. KAPITEL
Ich brauche einen Plan, dachte Maggie, als sie den Wagen vor ihrem Geschäft in der Clark Street parkte und ihr ihre Probleme wieder in vollem Ausmaß zu Bewusstsein kamen.
Ihren kleinen Laden hatte sie nur noch für zwei Monate; danach würde hier eine Kaffeebar eröffnet werden. Von welcher Seite sie es auch betrachtete, sie hatte einen ungünstigen geschäftlichen Entschluss getroffen. Auf Colins Drängen hin hatte sie zugestimmt, ein Risiko einzugehen und mit ihrem Geschäft von der Clark Street in die Eingangshalle des Spencer Centers umzuziehen. Aber das Risiko war gering gewesen angesichts der vielen Vorteile, die der Umzug mit sich brachte. Und Colin hatte ihr einen beträchtlichen Mietnachlass gewährt. Im Hinblick darauf war es ihr nicht voreilig erschienen, ein Darlehen aufzunehmen, um den neuen Laden einzurichten.
Sie stieg aus, schlug die Wagentür zu und zog vor dem eisigen Wind die Schultern hoch, während sie zu ihrem Laden eilte. Dann blieb sie wie angewurzelt stehen. Ein Mann stand dort im Eingang. Colin? Verflixt, sie war noch nicht bereit, mit ihm zu reden!
Aber es war nicht Colin, der nun aus dem Eingang trat, sondern Luke – der einzige Mensch, den sie noch weniger als Colin sehen wollte. Erinnerungen an seinen Kuss durchzuckten sie. Sie setzte ein erzwungenes Lächeln auf und nahm eine gelassene Haltung an, aber ihr Herz hämmerte wie verrückt, und ihre Knie fühlten sich wie Watte an.
„Luke! Was tust du denn hier?“
„Ich wollte dich zu einem Spaziergang abholen“, sagte er und griff nach ihrer Hand. „Wir müssen miteinander reden, Maggie.“
Im ersten Augenblick bekam sie keine Luft, und ihr war, als sähe sie Luke mit ganz neuen Augen. Er trug Jeans, ein Baumwollhemd und eine abgeschabte Lederjacke. Und was ihr früher immer schäbig vorgekommen war, erschien ihr jetzt auf einmal sexy.
Sein Haar, das sie immer ein bisschen zu lang gefunden hatte, streifte seinen Kragen jetzt in der idealen Länge, schwarz, dicht und zerzaust vom frischen Winterwind. Ebenso hatte sie nie bemerkt, was für einen ungewöhnlichen Farbton seine Augen hatten, eine seltsame Mischung aus Blau und Grau. Obwohl er wirkte, als hätte er die ganze Nacht kein Auge zugetan, fand sie, dass er der attraktivste Mann war, dem sie je begegnet war.
Früher hatte sie Colin für den attraktivsten Mann der Welt gehalten. Wann hatte sich das geändert? Als sie ihn mit Isabelle am Arm aus dem Spencer Center gehen sah? Oder als Luke sie in die Arme gezogen und geküsst hatte?
„Ich dachte, du wolltest nach Albanien“, sagte sie und schloss den Laden auf. „Findet die Revolution jetzt doch nicht statt?“
Lukes Gesichtsausdruck war grimmig. „Ich konnte nicht hinfliegen. Nicht nach allem, was geschehen ist.“
„Und was ist geschehen?“, fragte sie und wollte durch den Laden zu dem kleinen Hinterzimmer gehen.
Doch Luke hielt sie zurück. „Maggie, ich weiß, wie aufgebracht du sein musst. Und mein Benehmen gestern Nacht war nicht sehr hilfreich. Ich bin hier geblieben für den Fall, dass du mich brauchen solltest.“
„Dich brauchen?“
„Um zu reden“, sagte er.
Sie zog den Mantel aus. „Was zwischen uns vorgefallen ist, war ein Ausrutscher. Ich war emotional erschöpft. Und das mit Colin ist mein Problem, nicht deins. Du kannst also ruhig nach Albanien fliegen.“
„Deine Probleme sind auch meine Probleme.“
Seufzend lehnte sie sich an die Theke. „Danke. Ich weiß deine Unterstützung wirklich zu schätzen. Aber ich war es, die zugestimmt hat, Colins Frau zu werden. Und ich muss nun entscheiden, ob ich ihm verzeihe oder nicht.“
Luke stützte rechts und links von ihr die Hände auf die Theke und schaute sie beschwörend an. „Verzeihen? Himmel, Maggie, er ist mit deiner besten Freundin durchgebrannt! Du denkst doch wohl nicht im Ernst daran, ihm zu verzeihen?“
Natürlich nicht. Aber das wollte sie Luke nicht sagen. „Ich weiß noch nicht, was eigentlich geschehen ist“, erwiderte sie leise. „Und bis ich mit Colin geredet habe, sind wir verlobt. Also kannst du ruhig fahren. Ich komme schon zurecht.“
„Warum tust du das, Maggie? Colin ist doch ganz offensichtlich nicht der Richtige für dich. Wie kannst du da an eine Versöhnung denken?“
„Wie kommst du darauf, dass du zu bestimmen hast in meinem Leben?“ versetzte sie empört und richtete sich auf. „Ich habe dich im letzten Jahr vielleicht viermal gesehen. Ich erfahre mehr von Isabelle über dein Leben als von dir.“
Ein Stich der Eifersucht durchzuckte sie, der ihre Wut auf Isabelle verdoppelte. Isabelle hatte ihr nicht nur den Verlobten weggenommen, sondern auch ihren besten Freund! Und sie hatte das zugelassen. Aber ihr Zorn galt auch Luke. Er war derjenige, der ihre Freundschaft hatte abflauen lassen. Er war in der Welt herumgereist und hatte sie sich selber überlassen. Und er war es, dessen Küsse ihr Leben auf den Kopf gestellt hatten!
„Ist das der eigentliche Grund? Hast du Spencers Antrag bloß deshalb angenommen, weil ich dich nicht genug beachtet habe?“
Sie lachte hart auf. „Du bist ganz schön eingebildet, was?“ Aber so absurd seine Bemerkung ihr zunächst auch vorkam, so musste sie sich doch eingestehen, dass er in gewisser Weise sogar recht hatte. Denn wenn Luke bei ihr gewesen wäre, hätte sie Colins Antrag dann ebenfalls angenommen? Und sich so schnell auf eine Heirat eingelassen?
„Die Welt dreht sich nicht nur um dich“, entgegnete sie. „Und mein Leben sowieso schon lange nicht mehr.“
„Maggie, wenn du wütend auf mich bist …“
„Hör zu, Fitzpatrick. Es ist nicht deine Sache, ja? Und jetzt solltest du gehen. Ich habe viel zu tun.“
„Nicht, bevor wir nicht über das geredet haben, was gestern zwischen uns vorgefallen ist.“
Seufzend schüttelte sie den Kopf. „Es hatte keine Bedeutung für mich“, behauptete sie.
„Bist du dir sicher?“
Mit einem unterdrückten Fluch nahm sie sein Gesicht zwischen ihre Hände und küsste ihn auf den Mund. Genauso schnell zog sie sich wieder zurück und lächelte. „Siehst du? Wir haben uns schon unzählige Male so geküsst, und es ist nie etwas dabei passiert.“
Luke starrte sie an. Seine Augen waren dunkel vor Verlangen, und unwillkürlich erschauerte sie. Wie hatte sie nur so dumm sein können, ihn zu provozieren?
Er beugte sich zu ihr vor, und sie hielt gespannt den Atem an. Ihr war klar, dass sie sich jetzt besser abwenden sollte – aber sie wollte ihre Neugier stillen und sich beweisen, dass der Kuss gestern Nacht tatsächlich nichts als eine einmalige Entgleisung gewesen war.
„Na los doch“, forderte sie ihn auf. „Ich werde nichts dabei empfinden. Was gestern Nacht war, hatte nicht das Geringste zu bedeuten.“
In der nächsten Sekunde spürte sie seinen Mund auf ihrem. Entnervend langsam strich er mit der Zunge über ihre Lippen und gab ihr Gelegenheit, sich ihm zu entziehen. Aber sie konnte es nicht. Heißes, unbändiges Verlangen erfasste sie, und pulsierende Hitze breitete sich in ihrem Körper aus.
Noch nie in ihrem Leben war sie so geküsst worden. Jede Empfindung war neu und doch perfekt. Sie kam sich weder ungeschickt vor, noch empfand sie Scham. Sie fühlte sich, als bräuchte sie nur die Arme auszubreiten, um zu fliegen.
Und selbst wenn sie es gewollt hätte, hätte sie jetzt nicht aufhören können. Zeit und Raum schienen nicht mehr zu existieren. Ihre ganze Wirklichkeit war jetzt sein Kuss, die Wärme seiner Lippen, die Kraft seiner Hände, die ihre Arme streichelten, sein Duft und seine schnellen, flachen Atemzüge.
Als Luke sich schließlich von ihr löste, öffnete Maggie die Augen und presste mit einem leisen Ausruf die Finger an die Lippen, als ob sie sich verbrannt hätte.
„Sag mir, dass du nichts dabei empfunden hast, Maggie.“
Sie schluckte. „Es … Ich habe nichts gespürt.“
Lukes Blick wurde hart, weil ihre Worte ein Verrat an dem Vertrauen waren, das sie stets verbunden hatte. „Ja, du hast recht. Auch ich habe nichts dabei empfunden. Es war, als hätte ich meine Großmutter geküsst.“
Seine Worte schnitten Maggie ins Herz, und sie biss sich auf die Lippen, um ihr Zittern zu unterdrücken. „Ich möchte, dass alles wieder so wie früher wird“, flüsterte sie.
„Es wird nie wieder so wie früher sein. Wir können nicht die Zeit zurückdrehen.“
„Warum nicht? Wir könnten einfach all das vergessen und wieder Freunde sein. Und wenn Colin wiederkommt …“
„Wirst du zu ihm zurückkehren.“
„Das weiß ich nicht. Aber ich schulde ihm zumindest eine Chance, mir alles zu erklären.“
„Und wirst du ihm auch erzählen, was zwischen uns geschehen ist?“
Maggie seufzte. „Was immer ich auch tue, es wird meine eigene Entscheidung sein.“ Sie schaute zu Luke hoch. „Flieg nach Albanien oder wohin auch immer du wolltest. Und wenn du zurückkommst, wird alles wieder gut sein, das verspreche ich.“
Er fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Versprich mir, dass du nicht zu ihm zurückkehrst. Dass du nicht zustimmst, seine Frau zu werden, bevor wir noch einmal Gelegenheit hatten, miteinander zu reden.“
„Ich habe bereits zugestimmt“, sagte sie leise und deutete auf den Ring.
Fluchend wandte Luke sich ab und verließ ohne ein weiteres Wort den Laden.
Luke wollte sich gerade einen ruhigen Platz im Flughafengebäude suchen, da ihm noch drei Stunden bis zum Abflug blieben, als sein Handy klingelte.
„Fitzpatrick“, meldete er sich knapp.
„Luke! Ich bin’s, Colin.“
Zuerst glaubte er, sich verhört zu haben. Die Verbindung war nicht gut. Aber dann wiederholte die Stimme am anderen Ende seinen Namen.
„Spencer?“, fragte er noch einmal nach. Woher hatte Colin seine Handynummer?
„Ja, ich bin’s. Ich habe in deinem Büro angerufen und gesagt, es sei ein Notfall. Sie haben mir diese Nummer gegeben. Wo bist du?“
„Im Flughafen. Und wo bist du?“
„Das ist doch egal. Du musst mir einen Gefallen tun.“
„Ich werde dich windelweich prügeln“, schrie Luke ins Telefon. „Wie konntest du Maggie das antun?“
„Deshalb rufe ich dich ja an. Ich möchte, dass du dich ein bisschen um sie kümmerst. Ich brauche noch etwas Zeit, um einige Dinge in Ordnung zu bringen, dann komme ich zurück und erkläre ihr alles.“
Luke stellte seine Reisetasche ab. „Was? Du hast noch immer vor, Maggie zu heiraten?“
„Ja“, erwiderte Colin. „Das will ich.“
„Scher dich zum Teufel, Spencer!“ Luke unterbrach die Verbindung, steckte das Handy wieder in seine Jacke, nahm seine Tasche und ging weiter. Aber nach ein paar Schritten blieb er wieder stehen. Es war ihm früher immer leichtgefallen, zu einem neuen Auftrag aufzubrechen, aber diesmal empfand er jeden Schritt, der ihn dem Ticketschalter näherbrachte, als ungemein beschwerlich. Diesmal wollte er bleiben, aber nicht nur, um sich um Maggie zu kümmern. Nein, seine Gründe waren sehr viel weniger nobel. Er wollte bleiben, um herauszufinden, was ihn auf einmal in Chicago hielt.
Sosehr er sich auch bemühte, er konnte an nichts anderes als an Maggie denken. Aber warum jetzt, nach all den Jahren? Nervös strich er sein Haar zurück und schaute zu den Taxiständen. Vielleicht, weil Maggie zu heiraten beabsichtigte. Vielleicht, weil der Gedanke, sie an einen anderen zu verlieren, ihn gezwungen hatte, sich über seine eigenen Gefühle für sie klar zu werden.
Doch was empfand er für sie? War er verliebt in Maggie Kelley? Oder wollte er bloß, was er nicht haben konnte? Er war mit ihr aufgewachsen. Während die meisten Kinder Eltern und Geschwister gehabt hatten, war er bei seiner Großmutter groß geworden und hatte niemand anderen als Maggie gehabt. Sie war seine Verbindung zu dem, was er war und woher er stammte. Ohne sie besaß er keine Vergangenheit.
Aber es gab keine gemeinsame Zukunft für sie. Maggie hatte sich immer eine eigene Familie gewünscht – ein großes Haus, einen liebevollen Ehemann und Kinder. Sie hatte sich verzweifelt danach gesehnt, das zu finden, was ihr in ihrer Kindheit so gefehlt hatte: Geborgenheit und Sicherheit.
Und das waren die einzigen zwei Dinge, die er ihr niemals geben konnte. Er wusste nie, wo er am nächsten Tag sein würde, da seine Termine davon abhingen, wo gerade welcher bewaffnete Konflikt ausbrach. Und die Presseagentur bezahlte ihm nicht genug, um sich ein Haus in Kenilworth zu kaufen, wie Maggie es haben würde, wenn sie Colin heiratete.
Vielleicht war sie mit Spencer gar nicht so schlecht dran. Viele Männer machten einen Fehler und besserten sich später. Wer war er, um sich in Maggies Leben einzumischen? Sie hatte ein Recht auf ihre eigenen Entscheidungen, und es stand ihr frei, Colin seinen Fehltritt zu vergeben.
Luke hob die Tasche auf die Schulter und machte einen weiteren Schritt in Richtung Ticketschalter. Aber wieder drängte sein Instinkt ihn, umzukehren und zurückzufahren. Zu Maggie und etwas, das unendlich viel wichtiger war als ein Artikel über irgendeine Revolution am anderen Ende dieser Welt. Sonst würde er nie Klarheit über seine Gefühle für Maggie gewinnen.
Maggie schaltete das Licht im Laden aus und schloss die Tür ab. Obwohl sie das Geschäft heute nicht geöffnet gehabt hatte, war es ein anstrengender Tag gewesen.
Als sie müde auf ihren Kleinbus zuging, hielt eine Limousine vor dem Laden. Die getönte Scheibe hinten im Fond glitt hinab, und Eunice Spencer winkte. „Maggie! Ich habe Sie schon überall gesucht. Was haben Sie gemacht?“
„Gearbeitet.“
Eunice wirkte sichtlich perplex. „Sie arbeiten? Wozu?“ Sie wartete, bis der Chauffeur ihr den Wagenschlag öffnete und aus der Limousine half. Eunice trug einen ihrer vielen Pelzmäntel, diesmal einen kurzen weißen Nerz, in dem sie wie ein stämmiger kleiner Polarbär mit einer Vorliebe für teuren Schmuck aussah. „Das gefällt mir aber gar nicht, dass meine zukünftige Schwiegertochter in irgendeinem …“ Sie deutete in Richtung Laden. „Was ist das für ein Laden?“
„Ich bin Floristin“, erwiderte Maggie kühl. „Und das ist mein Geschäft.“
Eunice warf einen kritischen Blick darauf und ergriff dann Maggies Hand. „Egal. Ich bin hergekommen, weil ich Neuigkeiten habe. Kommen Sie, ich fahre Sie nach Hause.“
„Aber ich habe meinen Wagen hier“, wandte Maggie ein.
Colins Mutter zog sie zur Limousine. „Dann fahren Sie ein Stück mit mir. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.“
Widerstrebend stieg Maggie ein. Drinnen reichte Eunice ihr lächelnd ein Glas Champagner. „Wir wissen, wo Colin ist und wie er dorthin gekommen ist.“
Maggie wollte nicht über Colin reden, aber jetzt saß sie praktisch in der Falle und konnte nichts dagegen tun. Wenn sie an der nächsten roten Ampel nicht ausstieg, würde sie sich anhören müssen, was Eunice zu sagen hatte.
„Er hat unseren Privatjet genommen“, erklärte Eunice. „Hamilton, unser Chauffeur, hat ihn zum Flughafen gefahren.“
„Sie haben ein eigenes Flugzeug?“
Eunice starrte Maggie an, als käme sie von einem anderen Stern. „Selbstverständlich! Also, Colin hat den Jet genommen. Wir wussten allerdings nicht, wohin er damit geflogen war, bis heute Morgen der Pilot zurückkam. Mir scheint, mein Sohn hat eine kleine Spritztour nach Las Vegas unternommen. Wir haben ihm Privatdetektive hinterhergeschickt und lassen seine Kreditkartenbelege und Telefonanrufe überprüfen. Ich bin sicher, dass er heute Abend wieder daheim sein wird.“
„Mrs. Spencer, ich …“
„Nennen Sie mich Eunice. Sie gehören doch praktisch schon zur Familie.“
„Darüber wollte ich mit Ihnen reden …“
Eunice hob die Hand und schüttelte den Kopf. „Ich weiß, dass Sie sich Sorgen machen, aber das ist nicht nötig, Liebes. Mr. Spencer und ich werden dafür sorgen, dass Colin wieder zur Vernunft kommt.“
„Zur Vernunft?“
„Er hatte zu viel getrunken. Er war nicht mehr er selbst. Und bei all dem Stress, den seine Arbeit mit sich bringt, ist es kein Wunder, dass er …“
„Darunter zusammengebrochen ist?“, fragte Maggie.
Eunice rümpfte die Nase und faltete die Hände im Schoß. „Nun ja, so könnte man es vielleicht nennen. Nicht dass mein Sohn psychische Probleme hätte. Die gibt es nicht in der Familie Spencer. Das war nur ein …“
„Ausrutscher?“, wandte Maggie in Erinnerung an ihre eigenen Worte ein.
„Ja“, stimmte Eunice zu, der die Bezeichnung zu gefallen schien. „Ein Ausrutscher, der leicht verzeihbar ist, wenn Colin die richtigen Erklärungen vorbringt. Er hat Ihnen ein Versprechen gegeben, und das wird er halten. So einfach ist das.“
„Mrs. Spen…“ Maggie unterbrach sich und atmete tief ein. „Eunice, Sie scheinen zu vergessen, dass Colin mit einer anderen Frau weggelaufen ist.“
„Das ist nur der Drang, sich einmal ordentlich auszutoben. Ein Mann muss sich eben die Hörner abstoßen, Liebes. Edward war vor unserer Heirat genauso. Bei ihm war dieser Drang so stark, dass er die Hälfte aller Damen in ganz Illinois beglückt hat. Das ist etwas, was die Spencer-Männer alle tun. Aber nach der Hochzeit habe ich dem energisch ein Ende gemacht.“
Ein schwaches Lächeln spielte um Maggies Lippen. Als sie aus dem Fenster schaute, sah sie, dass sie Richtung Zentrum fuhren. Kurz darauf hielt der Wagen vor einer Reihe von Geschäften, und Hamilton half ihnen aus dem Wagen. Eunice hakte sich bei ihr unter, als wären sie die besten Freundinnen.
„Hier ist es!“, rief sie und blieb vor einem Laden stehen.
Maggie runzelte die Stirn. „Ein Brautmodengeschäft?“
„Nicht irgendein Brautmodengeschäft, sondern ‚Simone’s‘. Das einzige Brautmodengeschäft in ganz Chicago, das Kleider verkauft, die angemessen sind für eine Spencer-Braut. Kommen Sie, meine Liebe. Ich habe extra für uns einen Termin bekommen, obwohl heute offiziell geschlossen ist. Wir werden jetzt Ihr Brautkleid aussuchen! Ist das nicht wunderbar?“
Maggie stöhnte innerlich. Ihr Brautkleid? Eunice scherzte wohl! Noch keine achtundvierzig Stunden zuvor war Colin mit einer anderen Frau davongelaufen. Sein Benehmen ließ auf einen starken Widerwillen gegen die Ehe schließen.
„Meinen Sie nicht, wir sollten auf Colins Rückkehr warten?“
„Verschüttete Milch“, meinte Eunice.
„Wie bitte?“
„Es ist sinnlos, über verschüttete Milch zu weinen. Was mich betrifft, so haben wir den Boden aufgewischt und machen weiter.“
„Können wir es nicht ein andermal aussuchen? Ich bin müde. Ich habe nicht viel geschlafen gestern Nacht …“
Eunice zog Maggie weiter. „Warum trödeln, wenn Rom bereits in Flammen steht?“, versetzte sie. „Wir schreiten zur Tat und werden jetzt Ihre Hochzeit planen.“ Und damit zog sie Maggie in den Laden.
Simone’s hielt, was Eunice versprochen hatte. Drei Verkäuferinnen bedienten sie und schleppten Brautkleider aus Seide und aus Spitze an. Maggie schaute sich alle geduldig an, doch als Eunice nach einer Stunde noch immer nichts gefunden hatte, was ihr zu gefallen schien, wollte Maggie der Sache ein Ende bereiten und entschied sich für das nächste Kleid, das ihr gebracht wurde. Auf Eunices ausdrücklichen Wunsch probierte sie es sogar in einer der Kabinen an.
Das Kleid war eine fantastische Kreation aus Shantungseide. Das handbestickte Mieder saß wie angegossen, und als der letzte Knopf geschlossen war, trat Maggie zurück, um sich im Spiegel zu betrachten.
Ein atemberaubender Anblick bot sich ihr. Sie hatte noch nie etwas so Schönes, so Perfektes gesehen. Sie sah darin aus wie eine Prinzessin. „Es ist wundervoll“, sagte sie mit einem kleinen Seufzer.
„Werden Sie es nehmen?“, fragte eine der Verkäuferinnen.
Maggie nickte. „Könnten Sie mich bitte einen Moment allein lassen?“
Die Frau nickte und ging, aber Maggie merkte es kaum. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt ihrem Spiegelbild. Den Kopf zurückgelegt, schloss sie die Augen.
Hochzeitsbilder entstanden vor ihr – eine festlich geschmückte Kirche, extravagante Blumenarrangements, Musik … und ihr Bräutigam, der sie am Altar erwartete. Das Bild wurde schärfer, als sie und Luke vor dem Pfarrer …
Entsetzt schlug sie die Augen auf. „Nein!“, rief sie und versuchte fieberhaft, die winzigen Knöpfe an ihrem Rücken zu öffnen. Aber es gelang ihr nicht. Frustriert sank sie auf einen Stuhl und schlug die Hände vors Gesicht.
Was ging bloß vor in ihrem Kopf? Ich bin übermüdet, dachte sie. Und diese ganze Sache ist schon viel zu weit gegangen. Sie hatte nicht vorgehabt, Luke in ihre Fantasievorstellungen einzufügen. Sie hatte sich überhaupt nichts vorstellen wollen! Und schon gar nicht nach allem, was geschehen war.
Ein paar Küsse von Luke, und sie war bereit, ihn in ihren Traummann zu verwandeln – obwohl eine liebeskranke Braut mit Sicherheit das Letzte war, was er sich wünschte.
Maggie schaute erneut in den Spiegel und schüttelte den Kopf. Sie war nicht unattraktiv, aber auch nicht der Typ Frau, für den sich Luke interessierte. Er liebte schöne, sexy Frauen, die eine aufregende Figur hatten und vor Charme sprühten. Sie dagegen war für ihn wie eine kleine Schwester, was so ungefähr das genaue Gegenteil von sexy war.
„Alles in Ordnung?“
Sie wandte sich zu einer der Verkäuferinnen um, die in der Tür stand und sie fragend ansah. Rasch stand sie auf und kehrte ihr den Rücken zu. „Ziehen Sie mir das Kleid aus!“, verlangte sie.
Kaum war der letzte Knopf geöffnet, streifte Maggie das Brautkleid ab und zog sich hastig wieder an. Als sie den Umkleideraum verließ, hing das Kleid wieder auf seinem Bügel, und Eunice betrachtete kritisch das Mieder.
„Sind Sie sicher, Liebes, dass es dieses Kleid ist, was Sie wollen? Jetzt, wo ich es mir genauer ansehen konnte, glaube ich nicht, dass es elegant genug ist.“ Eunice schaute sich das Preisschild an und rümpfte die Nase. „Wenn schon …“, sagte sie kopfschüttelnd.
„Denn schon?“, warf Maggie ein.
„Genau. Ich meine, eine Spencer-Braut sollte in einem speziell für sie entworfenen Kleid zum Altar schreiten und nicht in einem, das jedes andere Mädchen auch tragen könnte. Und wir können uns gewiss mehr leisten als neuntausend Dollar für ein Kleid.“
Maggie riss die Augen auf. „Neuntausend Dollar? Dieses Kleid kostet neuntausend Dollar? Das ist mehr, als ich für meinen Transporter bezahlt habe.“
„Sie haben recht“, meinte Eunice. „Wir können mehr tun. Warum fliegen wir nicht morgen nach New York und schauen bei einigen Designern vorbei? Und wenn wir dort nichts finden sollten, fliegen wir nach Paris.“
„Ich muss jetzt gehen“, sagte Maggie und wandte sich zur Tür. „Ich rufe Sie an.“
Bevor Eunice etwas erwidern konnte, schlüpfte Maggie durch die Tür und hastete zur nächsten Straßenecke, wo sie zum Glück sofort ein Taxi fand.
Ihr war nie richtig bewusst gewesen, wie reich Colins Familie war. Klar, sie besaßen dieses riesige Bürogebäude in der Michigan Avenue und eine Menge anderer Immobilien in der Stadt. Aber beinahe hätte sie in eine Familie eingeheiratet, die einen eigenen Jet besaß, rauschende Feste für die Chicagoer High Society gab – und fünfstellige Summen für ein Hochzeitskleid ausgab!
„Was habe ich mir bloß dabei gedacht?“, murmelte Maggie.
„Ich weiß es nicht, Lady, aber ich bin kein Telepath. Sagen Sie mir, wohin Sie wollen, oder verlassen Sie mein Taxi.“
„In die Clark Street“, sagte sie rasch. „Zwei Blocks südlich von Diversey.“
Als das Taxi abfuhr, bedachte Maggie ihre Möglichkeiten. Wenn sie in Chicago blieb, würde Eunice ihr keine Ruhe lassen und für eine Heirat plädieren, die nie …
Maggie richtete sich auf. Es ist ganz einfach, dachte sie. Ich werde ihn nicht heiraten! Und nichts, was er sagt, wird etwas daran ändern. Denn wenn es darauf ankam, konnte sie keinen Mann heiraten, den sie nicht liebte.
Sie lächelte. Jetzt musste sie nur noch aufpassen, dass sie sich nicht in einen Mann verliebte, der sie nicht lieben konnte.