Dir verzeih ich alles - 2. Kapitel

2. KAPITEL

Der Regen hielt den ganzen Nachmittag an und ließ erst nach dem Abendessen nach, das Belle und Lucy allein zu sich nahmen. Cage hatte nur kurz vorbeigeschaut und verkündet, dass sie sich etwas aus dem Gefrierschrank aufwärmen und nicht auf ihn warten sollten.

     Lucy hatte sich ihre Enttäuschung nicht anmerken lassen, aber ihre Miene hatte sich verdüstert. Und dieser Gesichtsausdruck verfolgte Belle noch bis in den Abend hinein und hielt sie davon ab, sich in ihr Zimmer zurückzuziehen.

     Vielmehr blieb sie im Wohnzimmer, denn sie wusste, dass Cage früher oder später hier durchkommen musste, um nach oben zu gelangen. Doch entweder hatte sie seine Entschlossenheit unterschätzt, ihr aus dem Weg zu gehen, oder er hatte so viel Schreibkram zu erledigen, dass er noch stundenlang in seinem kleinen Büro hinter der Treppe beschäftigt sein würde.

     Als ihr die Augen über dem Krimi zufielen, den sie sich aus dem Regal im Flur genommen hatte, gab sie schließlich auf und ging nach oben. Die Tür zu seinem Schlafzimmer stand offen. Belle blieb stehen und spähte hinein. Nur das Flurlicht brannte, aber es reichte, um zu erkennen, dass die Wände pinkfarben gestrichen waren.

     Sie hielt es für ein gutes Zeichen, dass er die Farbe nicht übergetüncht hatte, als würde Lucy das Zimmer nie wieder beziehen. Allzu viele Leute begannen eine Physiotherapie, ohne an den Erfolg zu glauben. Das schien hier zumindest nicht der Fall.

     Trotz der Farbe wirkte der Raum nüchtern. Von der Tür aus waren nur ein Bett mit einer dunklen Tagesdecke, eine Kommode und ein Nachttisch mit einem gerahmten Foto darauf zu erkennen.

     "Haben Sie was Interessantes entdeckt?"

     Belle wirbelte herum und sah Cage auf den Treppenabsatz treten. Er sah so müde aus, wie sie sich fühlte. "Pink", murmelte sie.

     Verständnislos zog er die Brauen zusammen. "Was?"

     "Die Wände sind pinkfarben gestrichen. Das ist mir nur aufgefallen."

     "Lucy mag Pink. Sie ist eben ein junges Mädchen."

     "Meine Schwester mag Pink auch." Insgeheim schalt Belle sich für diese Bemerkung.

     "Und Sie?"

     "Und ich … was?"

     "Gefällt Ihnen Pink nicht?"

     "Doch, doch. Aber ich stehe eher auf Rot."

     "Sie haben Pizza gebacken?"

     Sie blinzelte über den abrupten Themenwechsel. "Ja. Es ist noch welche da."

     "Ich weiß. Aber ich bezahle Sie nicht dafür, dass Sie Köchin spielen."

     "Es hat mir nichts ausgemacht, und Lucy …"

     "Mir macht es etwas aus."

     Sie versteifte sich. "Was? Dass es vegetarische Vollkornpizza ist? Dass Lucy nicht die Reste essen wollte, wie Sie es ihr befohlen haben? Oder dass ich es gewagt habe, Ihre Küche zu benutzen? Gibt es sonst noch irgendwelche Regeln, die ich kennen sollte?"

     Offensichtlich entging ihm die Ironie ihrer Worte. "Halten Sie sich von den Stallungen fern."

     "Befürchten Sie, dass eine Day den Pferden schaden könnte? Wieso haben Sie mich überhaupt überredet, den Job anzunehmen?"

     "Das Pferd, das Lucy abgeworfen hat, steht im Stall. Ich will nicht, dass sie in seine Nähe kommt, und wenn Sie hingehen, dann wird sie es auch wollen. Und das Einzige, was meine Tochter von Ihnen braucht, ist Ihr Fachwissen."

     "Was Sie mir anscheinend absprechen, Ihrem Ton nach zu urteilen. Es wundert mich immer mehr, dass Sie mich sogar zwei Mal aufgesucht haben, damit ich Lucys Fall übernehme."

     "Sie haben die richtigen Referenzen."

     "Nur den falschen Stammbaum", erwiderte sie brüsk.

     Seine markanten Züge erstarrten. "Ist Ihr Zimmer bequem genug?"

     "Es ist okay." Sie holte tief Luft und entschied sich für eine Offensive. "Früher oder später müssen wir aber darüber reden. Was passiert ist, war tragisch, aber es ist lange her."

     Seine versteinerte Miene wurde so abrupt lebendig, dass Belle zurückwich und sich prompt den Ellbogen an der Wand stieß.

     "Lange her? Das werde ich meiner Mutter gegenüber erwähnen, wenn ich sie das nächste Mal besuche. Allerdings wird es sie nicht sonderlich kümmern, weil ihr Verstand leider nicht mehr so wirklich intakt ist."

     Ihr Magen verkrampfte sich vor Mitgefühl und Schuld. Doch auch wenn Cage das wüsste, würde es ihn unbeeindruckt lassen. Dazu waren die Fronten zu verhärtet.

     Damit musste sie jetzt fertig werden, schließlich hatte man sie gewarnt. "Ich hätte nicht herkommen sollen. Es ist wohl besser, ich arbeite in Weaver mit Lucy." Offiziell war sie nicht berechtigt, die Krankenhauseinrichtungen zu benutzen, aber sie hatte Beziehungen. Ihre Schwägerin Dr. Rebecca Clay konnte ihr bestimmt helfen, ein Arrangement zu treffen.

     "Ich will Sie hier haben. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt."

     Belle strich sich das Haar zurück. "Aber das ergibt einfach keinen Sinn. Ich weiß, die Fahrt bis in die Stadt ist lang …"

     "Meine Tochter soll die bestmögliche Versorgung bekommen. Wenn Sie das für übertrieben halten, ist es mir gleich. Und ich will nicht bei jeder Gelegenheit diese sinnlose Diskussion führen. Ihre Anwesenheit hier sollte produktiver eingesetzt werden. Ich zahle Ihnen weiß Gott genug dafür."

     Sie presste die Lippen zusammen, um ihm nicht zu sagen, was er mit seiner Bezahlung machen konnte, die beträchtlich geringer als üblich war, wie sie beide wussten. "Ich möchte meine Zeit ebenfalls produktiv verbringen", erklärte sie nachdrücklich. "Mir liegt nichts daran, unnötig viel Zeit unter Ihrem Dach zu verbringen."

     "Nun, dann sind wir uns ja zumindest in diesem Punkt einig."

     "Und da ist noch etwas, über das wir uns einigen sollten. Wenn Lucy merkt, dass Sie mich verachten, bedeutet es zusätzlichen Stress für sie, den sie nicht gebrauchen kann. Deshalb sollten Sie versuchen, sich mir gegenüber ein bisschen positiver zu geben."

     "Was meine Tochter braucht oder nicht, müssen Sie mir nicht sagen. Ich ziehe sie seit ihrer Geburt allein groß."

     "Und sie hat sich erstaunlich gut entwickelt", bemerkte Belle unbedacht. "Oh, Entschuldigung. Ich habe es nicht so gemeint. Das war …"

     "Durchaus zutreffend. Sie ist erstaunlich."

     Sie seufzte. "Lucy ist ein wundervolles Kind, und ich will ihr wirklich helfen."

     Ein Muskel an seiner Wange zuckte. "Das glaube ich auch, sonst wären Sie nicht hier."

     Sie wusste, ein größeres Zugeständnis konnte sie von Cage nicht erwarten, zumindest nicht in absehbarer Zeit. Zum Glück hatte sie irgendwann gelernt, dass ein Rückzug nicht immer eine Niederlage bedeutet. "Nun dann, höchste Zeit fürs Bett." Ihre Wangen brannten, als ihr bewusst wurde, wie zweideutig diese Bemerkung geklungen haben musste. Ihre Vorgängerin Annette Barrone hatte er schließlich wegen ihrer hyperaktiven Hormone entlassen. Deshalb war es wichtig klarzustellen, dass Cage in dieser Hinsicht nichts zu befürchten hatte.

     Als er sich nicht rührte, sagte Belle ruhig: "Ich habe mir vorhin die Scheune angesehen. Die Ausstattung ist beachtlich." Und sie bewies, wie sehr Cage seine Tochter liebte. Alle Trainingsgeräte, die man sich nur wünschen konnte, waren vorhanden. Das Krankenhaus in der Stadt hätte sich glücklich geschätzt für eine so umfangreiche Einrichtung. "Ich habe einige Geräte ein bisschen umgestellt. Hoffentlich ist es Ihnen recht."

     Cage sah sie aus seinen klaren blauen Augen durchdringend an, und ein erregender Schauer durchrieselte sie. "Das steht Ihnen frei."

     "Fein. Dann also Gute Nacht." Sie erwartete, dass er sich jetzt zurückziehen würde, doch er rührte sich nicht. Also zwängte sie sich an ihm vorbei und ging in ihr Zimmer, das direkt neben seinem lag – nicht wie erhofft am anderen Ende des Flurs.

     Einen Moment später hörte sie den Fußboden knarren und dann das Schließen einer Tür.

     Erleichtert zog sie sich aus und schlüpfte in einen bequemen Pyjama. Sie ließ sich aufs Bett fallen und fischte ihr Handy aus der Handtasche, um ihre Zwillingsschwester anzurufen.

     "Du bist also heil angekommen?" Nikki klang erleichtert.

     Belle stopfte sich ein Kissen in den Rücken und lehnte sich dagegen. Das schmiedeeiserne Bettgestell quietschte, wie um ihr mitzuteilen, dass es jahrelange Benutzung überstanden hatte. Das Geräusch wirkte fast tröstlich. "Ja." Sie sprach leise. Das Haus mochte stabil wirken, aber die Wände waren so dünn, dass sie das Rauschen der Dusche aus dem Badezimmer gegenüber hören konnte. "Die Straße war höllisch in dem Regen."

     "Tja, Squire hat oft genug betont, wie sehr Cage Buchanan Besucher verabscheut. Wieso sollte er da die Zufahrt zu seinem Haus in Schuss halten?"

     "Ich weiß." Squire Clay war seit einigen Jahren ihr Stiefvater. "Na ja, es ist schon spät. Warst du schon im Bett?"

     "Ja, aber ich hätte ohnehin noch nicht schlafen können ohne ein Lebenszeichen von dir. Hab schon befürchtet, der Kerl schießt dich über den Haufen."

     "So schlimm ist er nun auch wieder nicht."

     "Nicht so schlimm anzusehen vielleicht. Ich kann es immer noch nicht fassen, dass du den Auftrag angenommen hast. Was willst du damit beweisen?"

     "Nichts. Es ist nur ein Job, der mich über den Sommer bringt, bis …, falls ich wieder in der Klinik anfange."

     Nikki schnaubte. "Mir scheint eher, du hältst es für deine letzte Chance, dir selbst zu beweisen, dass du keine Versagerin bist."

     "Sei nicht albern, Nik."

     "Gib's schon zu. Warum sonst hättest du auf die Forderung dieses Mannes eingehen sollen?"

     "'Dieser Mann' hat einen Namen", wandte Belle ein. "Aber reden wir lieber von was anderem. Wie läuft es so in der Klinik?"

     "Gut. Sie haben immer noch keinen Ersatz für dich eingestellt, falls du dir darüber Sorgen machst."

     "Das ist ja immerhin etwas." Und es grenzte an ein Wunder angesichts der großen Zahl an Patienten, die in der angesehenen Klinik behandelt wurden. Vermutlich lag es an Nikkis Position als Verwaltungsassistentin, dass Belle nur beurlaubt statt entlassen worden war.

     "Und ich weiß, dass du es wissen möchtest, aber nicht danach fragen wirst", verkündete Nikki. "Also sag ich es dir einfach. Scott kommt jetzt nur noch ein Mal in der Woche zur Behandlung."

     Belle wusste nicht recht, was sie darauf erwidern sollte. Scott Langtree war ein ehemaliger Patient, den sie nicht hatte heilen können, und ihr ehemaliger Verlobter, dem sie nicht hätte trauen sollen. "Hast du ihn gesehen?"

     "Um Gottes willen! Ich verkrieche mich in mein Büro, sobald er hier auftaucht. Wenn er mir unter die Augen käme, würde ich ihm bestimmt einen Tritt verpassen. Sie begleitet ihn jetzt immer und nervt das ganze Personal mit ihrer Arroganz. Ich will wirklich nicht beschönigen, was Scott getan hat, aber nach allem, was hier so über seine Frau erzählt wird, ist es kein Wunder, dass er von ihr weg wollte."

     "Aber du hast sie nicht gesehen?"

     "Nein. Zum Glück! Ihr hätte ich auch einiges zu sagen, und damit würde ich meinen Arbeitsplatz genauso riskieren wie du."

     Belle lächelte wehmütig. "Du wärst zumindest nie so dumm, dich in einen Mann zu verlieben, der schon verheiratet ist."

     "Und dir wäre das auch nicht passiert, wenn Scott dich nicht belogen hätte. Herrje, er hat dir sogar einen Heiratsantrag gemacht! Es ist doch nicht deine Schuld, dass er dabei vergessen hat zu erwähnen, dass er bereits in festen Händen ist."

     "Ich habe einen Skandal verursacht."

     "Nicht du, sondern Scott", wandte Nikki nachdrücklich ein, "und es ist ein halbes Jahr her. Aber du strafst dich immer noch deswegen."

     Belle wollte es leugnen, doch wozu? Ihre Beziehung zu Scott Langtree hatte für einen gewaltigen Skandal gesorgt und zu ihrer Beurlaubung geführt. Aber es war weniger der Skandal an sich, der sie belastete, als vielmehr Scotts Vorwürfe zum Schluss: dass sie beruflich wie privat eine totale Versagerin sei – Anschuldigungen, die sie sich zu Herzen nahm, weil sie fürchtete, sie könnten womöglich ein Körnchen Wahrheit enthalten. "Und? Wie läuft es sonst so? Hast du die Gehaltserhöhnung gekriegt?"

     "Noch nicht."

     "Hast du darum gebeten?"

     "Nein, aber …"

     "Kein Aber. Du setzt dich andauernd für mich ein. Das musst du endlich auch für dich selbst tun. Alex wäre verloren ohne dich, und es wird höchste Zeit, dass er das einsieht. Es würde ihm ganz recht geschehen, wenn du kündigst", murmelte sie, aber sie wusste, dass Nikki diesen Schritt niemals tun würde.

     Alexander Reed leitete die Huffington Sports Clinic, war stolzer Besitzer unzähliger Diplome und Nikkis Ansicht nach ein Genie in geschäftlichen Dingen.

     "Und? Wie ist er denn so? Cage, meine ich. Ein richtiger Fiesling?"

     "Nein, nicht wirklich", gab Belle widerstrebend zu.

     "Rede dir das nur weiter ein, Annabelle, aber pass bitte trotzdem auf dich auf."

     Belle unterdrückte ein Gähnen. "Es ist schon spät, geh jetzt lieber schlafen. Ich melde mich wieder." Sie unterbrach die Verbindung und legte das Handy auf den Nachttisch. Belle war überzeugt, dass sie von Cage nichts Schlimmes zu befürchten hatte. Aber das bedeutete nicht, dass sie nicht weiterhin auf der Hut sein wollte.

Als das Bett nebenan zum wohl hundertsten Mal quietschte, starrte Cage finster auf die Wand zwischen den beiden Zimmern. Selbst im Schlaf war die Frau eine Nervensäge. Er nahm sich fest vor, die Sprungfedern gleich am nächsten Morgen zu ölen.

     Das fehlte ihm gerade noch, Nacht für Nacht die kleinste Bewegung aus dem Bett zu registrieren, das schon in seiner Kindheit uralt gewesen war.

     Seltsam, bei ihren beiden Vorgängerinnen hatte er das Quietschen gar nicht bemerkt – weder bei Hattie McDonald mit ihrer ausgeprägten Aversion gegen Heiterkeit und die abgeschiedene Lage der Ranch noch bei Annette Barrone, die ohnehin lieber in seinem Zimmer geschlafen hätte.

     Seufzend schwang er die Beine über die Bettkante und stieg in seine Jeans. Er hatte nie unter Schlaflosigkeit gelitten – bis zu jenem Tag vor sechs Monaten, als der erste Brief von Lucys Mutter gekommen war. Sie wünschte ihre Tochter zu sehen, die sie eigentlich gar nicht hatte haben wollen. Er hatte abgelehnt, davon ausgehend, dass sie die Drohung nicht wahr machen würde, ihre wohlhabenden Eltern einzuschalten, gegen die sie früher stets rebelliert hatte.

     Aber Sandi hatte nicht geblufft. Und es war wesentlich schwerer, eine Aufforderung zu ignorieren, die von den Anwälten ihrer Eltern stammte.

     Seit Lucys Unfall hatte sich Cages Schlaflosigkeit verschlimmert. Er hatte auf Kaffee verzichtet, Schäfchen gezählt und sogar diesen scheußlichen Tee getrunken, den Emmy Johannson – eine der wenigen in Weaver, die er schätzte – ihm empfohlen hatte. Doch nichts hatte geholfen.

     Und nun gesellte sich auch noch das quietschende Bett zu den nächtlichen Störfaktoren.

     Barfuß verließ er sein Zimmer, ging die Treppe hinunter und sah nach Lucy. Die Bettdecke war heruntergerutscht, und Cage breitete sie fürsorglich über seine Tochter. Seufzend drehte sie sich auf die Seite und schob sich beide Hände unter die Wange, wie sie es schon als Baby getan hatte.

     Manchmal erschien es ihm, als wären seitdem gerade mal zwölf Wochen, nicht zwölf Jahre vergangen. Und doch war Lucy fast schon ein Teenager.

     Das ist das Problem mit kleinen Mädchen. Sie werden groß und glauben, dass sie nicht mehr Daddys kleine Mädchen sind.

     Cage schlich sich aus dem Zimmer und ließ die Tür angelehnt, damit er sie hören konnte, wenn sie im Schlaf schrie. Sie schlief beinahe so schlecht wie er, seit sie von dem verdammten Pferd abgeworfen worden war, das er postwendend an ihre Großeltern hätte zurückschicken sollen.

     Er brauchte kein Licht zu machen, um sich im Haus zurechtzufinden. Es war ihm so vertraut wie seine Westentasche. Fast das Einzige, das sich seit seiner Kindheit geändert hatte, war das Bett. Auch das hätte er nicht gekauft, wenn er geahnt hätte, wie sehr die verschiedenen Anwalts- und Arztkosten seine Finanzen strapazieren würden.

     Cage trat hinaus auf die Veranda. Die Luft war noch feucht, obwohl der Regen inzwischen aufgehört hatte. Es war recht kühl, doch er achtete nicht darauf. Gedankenverloren setzte er sich in den großen Schaukelstuhl, den seine Mutter einst so sehr geliebt hatte.

     Sie hatte darin gesessen und Erbsen enthülst, Pullover gestrickt und mit ihrem Mann diskutiert. Cage hätte ihr das Möbelstück gern ins Pflegeheim gebracht, aber ihr Zimmer war nicht groß genug. Außerdem konnte sie sich an den Schaukelstuhl bestimmt ebenso wenig erinnern wie an Cage.

     Er lehnte sich zurück, legte die Füße auf die Verandabrüstung und starrte in die Dunkelheit.

     Bald tauchte Strudel auf und ließ sich hinter den Ohren kraulen. Offensichtlich hatte er seine Verbannung aus dem Haus verziehen, nachdem er wieder einmal ein Paar Stiefel zerkaut hatte. Nach einer Weile sank er mit einem leisen Winseln auf den Boden, und kurz darauf schnarchte er.

     Glückliches Tier.

     Cage wünschte sich viele Dinge im Leben. Doch momentan stand Schlaf ganz oben auf der Liste. Und tatsächlich war er gerade eingenickt, als ein schriller Schrei die Stille zerriss.

     Hastig sprang Cage auf, stürmte ins Haus und stieß prompt mit Belle zusammen, die gerade das Treppengeländer umrundete. Als sie rückwärts taumelte, packte er sie bei den Schultern und stützte sie.

     "Lucy …" Ihre Stimme klang atemlos. Wahrscheinlich hatte der Aufprall ihr den Atem verschlagen.

     "Seit dem Unfall leidet sie unter Albträumen." Cage wurde bewusst, dass er immer noch ihre Schultern umklammerte, und er ließ Belle abrupt los. Seine Augen waren an die Dunkelheit gewöhnt, sodass er ihre helle Haut schimmern sah – sehr viel nackte Haut. Sie trug Shorts und ein dünnes Top mit Spaghettiträgern, das ihre weiblichen Rundungen deutlich erkennen ließ.

     Cage ging auf Distanz und verschwand im Kinderzimmer. Doch Lucy hatte sich schon wieder beruhigt und schlief tief und fest, als wäre nichts geschehen.

     Gähnend rieb er sich den Nacken und die Augen, denn er war völlig erschöpft. Als er plötzlich eine leichte Berührung im Rücken spürte, zuckte er zusammen. Er drehte sich um, zog die Tür zu und fragte schroff: "Was ist denn?"

     "Entschuldigung", sagte Belle leise. "Ich dachte …" Sie zuckte die Achseln. "Nichts."

     Sie stand so dicht vor ihm, dass er ihren frischen, natürlichen Duft wahrnahm, der ihn an Sommerregen erinnerte. Je eher sie wieder in ihr Zimmer ging, desto besser. Ihn interessierte nicht, was sie dachte. Oder wie sie roch. Oder warum sie keine fünf Minuten stillliegen konnte in dem alten Bett. "Sie dachten was?", hakte er trotzdem nach. Im Stillen wünschte er, der Mond würde nicht so hell durch das große Fenster im Wohnzimmer scheinen. Dann würden ihm ihre verlockenden Kurven nicht derart den Sinn verwirren.

     Als ob sie seine Gedanken ahnte, rückte sie die Spaghettiträger zurecht und schlang die Arme um die Taille. "Es ist nicht wichtig."

     "Gut. Dann gehen Sie wieder zu Bett."

     Sie lachte leise. "Sie klingen wie mein Dad."

     Er wusste, das war nur eine harmlose Antwort auf seinen barschen Befehl. Und doch fiel es ihm schwer, eine zornige Reaktion zu unterdrücken. Bevor er etwas sagen konnte, das sie veranlasst hätte, auf der Stelle in ihren klapprigen Jeep zu steigen und zu verschwinden, wandte er sich ab und ging die Treppe hinauf.

     "Cage …"

     Doch er wollte nichts mehr hören. Die verhängnisvollen Worte, die ihn daran erinnerten, wer sie eigentlich war und zu welch verzweifelten Maßnahmen er zum Wohl seiner Tochter griff, waren bereits heraus: mein Dad.

     "Gehen Sie einfach schlafen", sagte er ohne einen Blick zurück.

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