Julia Royal Band 1 – Leseprobe
»Der Prinz der Herzen« von Lisa Kaye Laurel
1. KAPITEL
„Es ist unsinnig, in einem Märchen zu leben, das einfach nicht der Wirklichkeit entspricht und auch niemals wahr wird.“
„Aber ich …“ Danielle Davis verstummte, als ihr bewusst wurde, dass die Lehrerin nicht sie gemeint hatte. Früher waren diese Worte an sie gerichtet worden. Heute jedoch nicht mehr. Danielle blickte sich im Klassenzimmer der Schulanfänger um und wandte sich wieder an die Lehrerin. „Sie sprechen von meiner Tochter, nicht wahr?“
„Natürlich spreche ich von Lisa“, entgegnete Mrs. Vittorini verwundert. „Weshalb sonst hätte ich Sie dringend herbestellt?“
Die Nachricht auf dem Anrufbeantworter im Büro hatte Danielle fast einen Herzinfarkt beschert – typische Reaktion einer Mutter. Sofort war sie zur Schule gefahren und hatte mit größter Erleichterung festgestellt, dass es nicht um gebrochene Knochen oder ansteckende Krankheiten ging. Leider bestellten Lehrer niemals Eltern wegen einer erfreulichen Angelegenheit zu sich.
„Vermutlich hat es mit Lisas Tick zu tun, eine Prinzessin zu sein“, bemerkte Danielle fragend.
„Allerdings, und ich fürchte, dass sie es zu weit getrieben hat.“
Das hatte Danielle schon vorhergesehen. Es gab für ihre sechsjährige Tochter nicht den geringsten Grund, sich für eine Prinzessin zu halten. Trotzdem war Lisa restlos davon überzeugt. Bereits ziemlich lange lebte die Kleine in dieser Rolle, ging völlig in ihren märchenhaften Fantasien auf und trug stets eine selbst gefertigte Krone oder ausgefallene Kleidung. Danielle war der Meinung, dass dieses Rollenspiel einen wichtigen Teil der Kindheit bildete. Daher hatte sie die Fantasie ihrer Tochter nicht gezügelt und bloß gehofft, die Phase würde bald enden.
„Vor Kurzem haben die Kinder sich bei Lisa nach ihrem Vater erkundigt“, fuhr die Lehrerin fort. „Wissen Sie, was Lisa geantwortet hat?“
Danielle schüttelte den Kopf und hielt den Atem an.
„Lisa sagte, sie hätte zwar keinen Vater, würde aber einen Prinzen bekommen.“
„Einen … Prinzen?“
Mrs. Vittorini nickte. „Im Bastelunterricht hat Lisa eine magische Lampe hergestellt. Die anderen Kinder haben zugesehen, während Lisa die Lampe rieb und den Prinzen beschwor, auf der Stelle zu erscheinen. Nun, ich habe die Kinder abgelenkt und ihnen andere Aufgaben zugeteilt. Aber einige haben doch über Lisa gelacht.“
Danielle tat ihre Tochter leid. Sie selbst hatte sich eine harte Schale zugelegt, um überleben zu können. Auf ihre empfindsame Tochter traf das leider nicht zu. Es tat weh, zu wissen, dass sie Lisa nicht pausenlos beschützen konnte.
„Vielen Dank, dass Sie sich um Lisa kümmern, Mrs. Vittorini.“
„Es geht noch weiter. Gestern hat sie sich an den Utensilien für den Kunstunterricht bedient und überall im Klassenzimmer glitzerndes Pulver verstreut. Das war angeblich Zauberstaub, und damit wollte sie ihren Prinzen erscheinen lassen.“
„Ach, du lieber Himmel! Das tut mir aufrichtig leid.“
Mrs. Vittorini winkte ab. „Bei uns herrscht öfters eine derartige Unordnung, das können Sie mir glauben. Lisa hat das meiste selbst wieder weggeputzt.“
„Sehr gut, und falls noch etwas passieren sollte …“
„Dieser Fall ist bereits eingetroffen.“
Danielle seufzte. „Und was …?“
„Heute Vormittag beim Spielen hat sie versucht, einen Prinzen aus Jason Greenwells Hut zu ziehen. Die anderen Kinder haben laut über sie gelacht.“ Besorgt schüttelte die Lehrerin den Kopf. „Bevor der Naturkundeunterricht für die gesamte Schule in der Sporthalle weiterging, hat Lisa lauthals verkündet, dass ihr Prinz auf jeden Fall noch heute auftauchen würde.“
„O nein“, murmelte Danielle.
„Leider ja. Deshalb habe ich Sie angerufen“, erklärte Mrs. Vittorini. „Ich weiß einfach nicht, was als Nächstes an die Reihe kommt. Abgesehen davon macht Lisa sich dermaßen große Hoffnungen, dass sie unvermeidlich auf eine bittere Enttäuschung zusteuert. Die Kinder werden bald zurückkommen, und ich dachte, Ihre Anwesenheit könnte …“
Laute Rufe und Gelächter aus der Sporthalle alarmierten die Lehrerin. Hastig stand Mrs. Vittorini auf und eilte mit Danielle aus dem Klassenzimmer und den Korridor entlang. Die Kinder waren außer Rand und Band.
Ein Blick in die Sporthalle reichte Danielle. Jetzt sah sie mit eigenen Augen, was diesen Aufruhr verursachte. Es war eine Katastrophe.
Die Kinder saßen auf langen Bänken. An der Stirnseite des Saals standen Käfige und Terrarien, und bei einem der Behälter stand Lisa. Auf dem Kopf trug sie eine Krone, in der Hand hielt sie einen Frosch, den sie mit einem strahlenden Lächeln küsste.
„Da ist kein Prinz!“, schrien einige Kinder.
„Wo bleibt der Prinz?“, schrien andere.
„Der kommt gleich!“, versicherte Lisa unbeirrbar, griff nach einem zweiten Frosch und küsste auch ihn.
„Da ist kein Prinz! Da ist kein Prinz!“
Das Gelächter und die Sprechchöre wurden immer lauter, doch Lisa griff nach einem dritten Frosch. „Gleich wird er hier sein!“
Danielle stand wie erstarrt da. Einerseits bewunderte sie die Zielstrebigkeit und den Mut ihrer Tochter. Andererseits sah Danielle mit Bangen der unvermeidlichen Blamage entgegen, die Lisa drohte, wenn sie den letzten Frosch küsste. Mrs. Vittorini eilte den anderen Lehrerinnen und Lehrern zu Hilfe, die vergeblich versuchten, die Ordnung wiederherzustellen.
Kuss.
„Da ist kein Prinz!“
„Der kommt gleich!“
Kuss.
„Da ist kein Prinz!“
„Der kommt gleich!“
Lisa griff nach dem letzten Frosch.
Kuss.
„Da ist kein Prinz!“, schrien die Kinder.
Danielle brach das Herz. Lisa stand vor der Menge, klein und allein, Frösche in den Händen und unfähig, auch nur einen Ton von sich zu geben. Schon tat Danielle den ersten Schritt, als eine tiefe Männerstimme das kreischende Gelächter übertönte.
„Doch, da ist ein Prinz!“
Tiefe Stille senkte sich über die Halle. Fassungslos blickte Danielle auf den Mann, der hinter einem hohen Terrarium auftauchte und zu Lisa trat. Mit ihm hätte Danielle niemals gerechnet, doch er war hier. Nach all den Jahren war er nach Land’s End zurückgekehrt. Bei seinem Anblick erstarrte sie und konnte nichts weiter tun, als ihn mit Blicken zu verschlingen.
In Jeans und Lederjacke wirkte er eher wie ein ungezügelter Rebell und nicht wie ein Märchenprinz. Trotzdem hätte jede Frau auf der Welt den so genannten Prinzen der Herzen sofort erkannt. Die Lehrerinnen im Saal bildeten offenbar keine Ausnahme, wie Danielle an ihren erstaunten Gesichtern ablas.
Mit ernster Miene verbeugte er sich vor Lisa. „Ich bin Prinz Nicolas d’Alderney.“
Danielle merkte, dass ihr Mund offen stand. Sie schloss ihn und versuchte, ihre aufgewühlten Gefühle in den Griff zu bekommen. Die Überraschung über das Wiedersehen mit Nicolas wurde rasch verdrängt, als der Prinz das strahlende Gesicht des kleinen Mädchens forschend betrachtete.
Und dann drehte Nicolas sich um, ließ den Blick über die Anwesenden gleiten und richtete ihn direkt auf Danielle. Sie sahen sich an, und nun blieb ihr tatsächlich das Herz für einen prickelnden Moment stehen. Es war fast so, als würden sie sich körperlich berühren. Um keinen Preis der Welt hätte sie diesen Kontakt unterbrechen können.
Nicolas tat es, indem er sich an Lisa wandte, die ihn verzückt betrachtete.
„Ich bin hier, wie du es gewünscht hast.“
Nicolas’ Vater herrschte über die kleine Kanalinsel Alderney. Seine Mutter war jedoch hier in Land’s End geboren worden und aufgewachsen, und Nicolas hatte seine Studienzeit in England verbracht. Trotzdem sprach er mit einem ganz leichten Akzent, der zusammen mit seiner tiefen Stimme erregende und verbotene Gedanken weckte.
Niemand konnte das besser beurteilen als Danielle, die als Erste einer langen Reihe von Frauen Nicolas’ männlichen Reizen erlegen war. Prinz war er durch Abstammung, und sein gutes Aussehen verdankte er den Genen seiner Eltern. Den Ruf als Prinz der Herzen hatte er jedoch ganz allein sich selbst zuzuschreiben.
Danielle rief sich energisch ins Gedächtnis, dass sie ihm zwar als Erste verfallen war, sich aber auch als Erste wieder von ihm gelöst hatte.
Vor Kurzem hatte sie ihn zum ersten Mal nach sieben Jahren bei der Hochzeit ihrer Freundin Julie mit seinem Bruder Prinz Eric gesehen. Zwischen den vielen Gästen war es Danielle ein Leichtes gewesen, sich von ihm fernzuhalten. Davor war sie Nicolas das letzte Mal in jenem Sommer nahe gewesen, in dem sie sich so heftig in ihn verliebt hatte, dass sie glaubte, nicht mehr ohne ihn leben zu können.
Jetzt erkannte sie deutlich, dass seine Anziehungskraft mit den Jahren noch gewachsen war. Die Medien übertrieben nicht, wenn sie ihn als einen ungewöhnlich attraktiven Mann beschrieben. Er war tatsächlich ein Traumprinz mit strahlend blauen Augen, schwarzem Haar und einer schlanken kräftigen Figur. Smoking oder Laufshorts – er sah immer hinreißend aus. Und dann dieses Lächeln! Davon schwärmten alle – und von nun an sicher auch ihre Tochter, die Nicolas fasziniert betrachtete und dabei mit einer Hand ihre Krone aus Goldpapier auf dem Kopf festhielt.
Ihre Tochter bedeutete Danielle alles, und sie war entschlossen, dieses Kind bis zu ihrem letzten Atemzug zu beschützen und zu verteidigen.
Lisa … Angst schnürte Danielle die Kehle zu. Nicolas durfte niemals die Wahrheit herausfinden. Darum musste sie Lisa um jeden Preis von ihm fernhalten.
Doch nun standen die beiden einander gegenüber. Danielle fiel es schwer, nicht hinzulaufen und Lisa wegzuzerren. Die Vernunft sagte ihr, dass Nicolas keine Ahnung hatte. Und er hatte die Kleine schon bei der Hochzeit gesehen. Weshalb also sollte er jetzt etwas vermuten? Danielle beruhigte sich. Außer ihr kannte niemand die Wahrheit, und sie würde Nicolas niemals etwas sagen.
„Ich bin Prinzessin Lisa aus der ersten Klasse“, erklärte Lisa stolz und knickste. Dann schenkte sie ihm ihr bezauberndes Kleinmädchen-Lächeln, bei dem sie die Lücke zwischen den unteren Zähnen zeigte und ein Grübchen in ihrer linken Wange erschien.
Offenbar verriet es auch das Geheimnis, das Danielle seit sieben langen Jahren belastete. Sie erkannte es daran, wie Nicolas’ Gesichtszüge erstarrten. Verzweifelt schloss sie die Augen. Als sie wieder hinsah, hatte sich jedoch nichts verändert. Die Anwesenden flüsterten und tuschelten noch immer aufgeregt.
„Zu Euren Diensten, Prinzessin“, sagte Nicolas förmlich.
„Danke, Hoheit“, erwiderte Lisa feierlich und griff wegen des Anlasses auf die würdigsten Ausdrücke zurück, die ihr überhaupt einfielen. „Wenn ich Eure Dienste erneut benötige, werde ich Euch wieder zu mir bestellen.“
Der Prinz verneigte sich vor Lisa. „Dann wünsche ich Euch einen sehr schönen Tag“, sagte er und verschwand so plötzlich, wie er aufgetaucht war.
Allerdings warf er Danielle vorher noch einen eindringlich fragenden Blick zu, der nichts Gutes ahnen ließ.
Zum Glück schrillte die Pausenklingel. Die Lehrerinnen ließen die Schüler an den Ausgängen antreten. Alle waren noch aufgeregt und redeten darüber, dass Lisa tatsächlich einen leibhaftigen Prinzen herbeigezaubert hatte. Während sie sich einreihte, lächelte Lisa verträumt.
Mrs. Vittorini gesellte sich erneut zu Danielle. „Ich war überzeugt, dass ihr eine schlimme Enttäuschung bevorsteht. Aber dann hat es ja doch noch ein Happy End für Ihre Tochter gegeben. Ich wünschte nur, der Prinz wäre länger geblieben und hätte uns verraten, wie Lisa das angestellt hat.“ Die Lehrerin seufzte geistesabwesend. „Nun ja, Sie können jetzt wieder gehen. Mit Lisa ist endlich alles in bester Ordnung. Und was uns Frauen angeht …“ Sie sprach nicht weiter, doch ihre Augen funkelten verräterisch.
Danielle erkannte an Mrs. Vittorinis erhitztem Gesicht, dass nicht nur sie von dem unerwarteten Auftauchen des Prinzen beeindruckt war. „Ich bin Ihnen unbeschreiblich dankbar, dass Sie sich um Lisa kümmern“, versicherte sie, weil sie nicht wie die Lehrerin über die Gründe für Nicolas’ Besuch spekulieren wollte. „Und ich möchte mich für die Störung entschuldigen, die meine Tochter verursacht hat. Ich versichere Ihnen, dass ich ihr dieses Verhalten austreiben werde.“
„Gehen Sie nicht allzu hart mit ihr um. Sie hat schon genug Schlimmes einstecken müssen, wie schließlich jeder von uns, nicht wahr?“, meinte Mrs. Vittorini lächelnd. „Sie ist ein sehr kluges Mädchen mit einer ungezügelten Fantasie. Mit der nötigen liebevollen Unterstützung wird sie ihren Weg finden und sich in dieser Welt behaupten.“
„Hoffentlich erlebe ich das auch“, erwiderte Danielle nüchtern und rang sich ein Lächeln ab. „Neben den Aufgaben einer Mutter wirkt meine Arbeit als Polizeichefin wie ein Kinderspiel.“
Mrs. Vittorini lachte herzlich. „Niemand hat behauptet, Kindererziehung wäre einfach, ich am allerwenigsten. Ich habe drei heranwachsende Kinder.“
Und dazu noch neunzehn Sechsjährige, dachte Danielle, während die Lehrerin die Gruppe quirliger Schüler aus der Sporthalle führte.
Danielle verlor keine Zeit und machte sich ebenfalls auf den Weg. Jetzt wollte sie nicht mit Nicolas reden, obwohl es sie schon interessiert hätte, wie er von Lisas Problem erfahren hatte. Allerdings war Danielle sein Blick zum Abschied nicht freundlich erschienen, darum vermied sie lieber ein Zusammentreffen.
Leider traf sie mit Nicolas beim Verlassen der Schule jedoch sogar im wahrsten Sinn des Wortes zusammen. Offenbar hatte er auf Danielle gewartet. Die Hände in die Hüften gestützt, stand er da und musterte sie durchdringend.
„Das war deine Tochter“, sagte er gefährlich leise. Es war eine Feststellung und keine Frage.
„Ja.“ Es gelang Danielle, seinem Blick standzuhalten. „Danke, dass du ihr geholfen hast. Sie hatte sich ganz schön in die Ecke drängen lassen. Wenn du nicht …“
„Vergiss es“, unterbrach er sie schroff.
„In Ordnung. Lebe wohl.“ Sie wollte nur noch weg und wandte sich ab.
„Wir sollten uns unterhalten, Danielle.“ Der warnende Unterton in Nicolas’ Stimme hielt sie zurück.
Bloß das nicht, sagte sie sich und bemühte sich um einen möglichst lockeren Ton. „Leider muss ich dir einen Korb geben, Hoheit, weil ich keine Zeit zum Plaudern habe. Manche Menschen auf dieser Welt müssen für ihren Lebensunterhalt arbeiten. Ich gehöre nun mal zu diesen Leuten. Wenn du mich also entschuldigst. Es ist schon spät, und ich muss zurück ins Büro.“
„Dein Büro kann mir gestohlen bleiben! Du kommst mit mir“, erklärte er und führte sie zu der Limousine, die am Straßenrand parkte.
Danielle stemmte sich gegen ihn. „Ich fahre nicht mir dir!“
„Na schön, dann reden wir eben gleich hier auf dem Bürgersteig.“
Es war klar, dass er es ernst meinte. Danielle warf einen Blick zu den Fenstern des Schulgebäudes. Hinter einer der vielen Scheiben spielte jetzt Lisa.
„Also gut“, lenkte sie ein, „ich habe wohl keine andere Wahl.“
Der Fahrer wollte aussteigen. Aber Nicolas winkte ab und hielt selbst Danielle die Wagentür auf. Weder beim Einsteigen noch während der kurzen Fahrt sah Danielle ihn an.
Nicolas ließ den Fahrer außerhalb der Kleinstadt auf einem Parkplatz halten, von dem aus man einen herrlichen Blick aufs Meer hatte. Hier waren sie ungestört.
Sobald der Wagen hielt, stieß Danielle die Tür auf und stieg hastig aus. Nicolas folgte ihrem Beispiel, allerdings langsamer. Mit eisiger Miene wandte Danielle sich ihm zu und versuchte, wenigstens auf ihn zornig zu sein. Zorn war im Moment ihr einziger Schutz.
„Worüber wolltest du denn so dringend mit mir sprechen, dass du mich praktisch entführt hast, Hoheit?“, fragte sie so beherrscht wie möglich, obwohl ihr Herz dermaßen laut schlug, dass sie kaum das Donnern der Brandung an den Felsen hörte.
Sein Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt. „Du schuldest mir eine Antwort, Danielle.“
„Eine Antwort? Worauf?“, fragte sie und verschränkte die Arme, damit sie zu zittern aufhörten.
„Lass die Spielchen! Die Sache ist für dich genauso wichtig wie für mich.“
Danielle hielt sich kerzengerade und sah ihn kämpferisch an.
Er nahm die Herausforderung an. Aus seinen blauen Augen traf sie ein eisiger Blick.
„Erkläre mir bitte eines“, sagte er gepresst. „Wieso weist hier in Land’s End an der Küste von Cornwall ein kleines Mädchen eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Kinderporträt auf, das im Schloss meines Vaters auf Alderney hängt? Und ich spreche nicht von irgendeinem Porträt, Danielle, sondern von meinem.“
2. KAPITEL
Diesen Moment hatte Danielle jahrelang gefürchtet. Nun war er da, und alles kam noch viel schlimmer als erwartet.
Der Mutterinstinkt verlangte, dass sie Lisa mit allen Mitteln beschützte. Doch das Gewissen sagte ihr, dass Nicolas ein Recht hatte, die Wahrheit zu erfahren – was immer auch daraus entstehen mochte.
„Danielle!“ Nicolas klang heiser vor Aufregung. „Sag es mir! Ist Lisa meine Tochter?“
„Ja.“ Danielle konnte nur flüstern. Dieses eine Wort würde das Leben dreier Menschen unwiderruflich verändern. Sie hatte gar keine andere Wahl. Es war eine Sache, nicht zu Nicolas zu gehen und ihm zu sagen, dass er ein Kind hatte. Ihm auf eine direkte Frage mit einer Lüge zu antworten war etwas ganz anderes.
„Verdammt, warum hast du es mir nie gesagt?“, fragte er gereizt.
Sie war froh, dass er zornig wurde. Denn dadurch fand sie die Kraft, ihm standzuhalten. „Du warst nicht hier“, hielt sie ihm vor. Noch heute schmerzte sie diese Tatsache. In seiner Liebe hatte Danielle sich dermaßen sicher gefühlt, dass sie zum ersten Mal im Leben zu träumen wagte. Was war sie doch für ein albernes Mädchen gewesen!
Sie hatte sich ein Luftschloss gebaut. Und als ihr Prinz fortging, brach es über ihr zusammen. Erst nach seiner Abreise erfuhr Danielle, dass sie schwanger war. Irgendwie hatte sie das überlebt. Dann würde sie auch den heutigen Tag durchstehen.
„Als ich fortging“, sagte er kühl, „hatte ich keinen Grund anzunehmen, du könntest schwanger sein. Wie ist es überhaupt dazu gekommen?“
Anstatt zu antworten, zog sie bloß spöttisch die Augenbrauen hoch.
„Du weißt schon, wie ich das meine“, entgegnete er ungeduldig. „Wir waren immer vorsichtig.“
Weil ihre Mutter sie zurückgelassen hatte, war Danielle von der Großmutter aufgezogen worden. Sie hatte sich geschworen, niemals den Fehler ihrer Mutter zu wiederholen. Nicolas war ihr erster – und einziger – Liebhaber. In jenem herrlichen Sommer hatte er trotz aller Leidenschaft stets darauf geachtet, sie zu schützen. Das empfand Danielle damals als einen weiteren Beweis seiner Liebe. Heute dachte Danielle anders darüber: Leider zeigte es nur, dass zwei Fehler gleichzeitig passieren können.
„Nichts ist absolut sicher“, sagte sie, „und wir sind nicht die Einzigen, denen so etwas jemals passiert ist.“
„Na gut“, erwiderte er kurz angebunden. „Ich war nicht hier. Aber du hast gewusst, wo du mich findest. Warum hast du es nicht einmal versucht?“
„Nun, was denkst du wohl?“, fragte sie kühl und sah ihm direkt in die Augen.
Er wandte den Blick ab, und für einen Moment tat er ihr sogar leid. Tu das nicht, warnte sie sich. Warum sollte sie es Nicolas erleichtern? Wahrscheinlich erinnerte er sich noch an den Tag, an dem er ihre Träume zerstört hatte.
Nach einigen Sekunden schaute er sie an. „Ich finde trotzdem, dass du mir wegen des Kindes hättest Bescheid sagen müssen.“
Als ob sie nicht oft mit dem Gewissen gerungen hätte! Der Stolz hatte sie von Nicolas ferngehalten, weil ihr eine schmerzhafte Lektion genügte. Danielle brauchte keine zweite. Allerdings ging es damals nicht um sie, sondern um das Kind. War es für Lisa schlimmer, gar keinen Vater in ihrem Leben zu haben? Oder würde sie unter einem Mann mehr leiden, der kein Vater sein wollte und sie jederzeit im Stich lassen konnte – so, wie er ihre Mutter sitzen gelassen hatte? Im Lauf der Jahre berichteten die Medien so ausführlich über den Prinzen der Herzen, dass Danielle sicher war, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
„Ich habe dir nichts gesagt“, erklärte sie abweisend. „Und wärst du nicht von selbst dahintergekommen, würde ich es auch jetzt nicht tun.“
„Dein Geheimnis ist keines mehr, Danielle, und das ändert alles.“
„Wie meinst du das?“, fragte sie ängstlich.
„Sieben Jahre lang hast du Schicksal gespielt, doch damit ist nun Schluss!“
„Aber keiner weiß es, Nicolas, das schwöre ich dir! Niemand weiß, dass wir ein Paar waren. Und ich habe niemandem verraten, wer Lisas Vater ist. Ich werde dich nie in der Öffentlichkeit bloßstellen oder dich verklagen oder sonst etwas unternehmen. Das hätte ich schon längst machen können, wenn ich es nur wollte. Lisa und mir geht es gut, und darum braucht sich nichts zu ändern. Wir beide gehen unseres Weges, und du gehst deines Weges.“
„Erwartest du im Ernst“, fragte er ungläubig, „dass ich mich einfach umdrehe und meine Tochter vergesse?“
Obwohl sie zornig war, erkannte Danielle deutlich den Unterschied zwischen dem Neunzehnjährigen, der die Verantwortung scheute, und dem erwachsenen Mann, der soeben von seinem Kind erfahren hatte. Allerdings spielten nicht seine Gefühle, sondern Lisas Belange die größere Rolle. „Nicolas, bitte, um Lisas willen! Unternimm nichts!“
Entschlossen schüttelte er den Kopf. „Ich werde ganz sicher etwas unternehmen.“
„Und was wirst du unternehmen, Hoheit?“, fragte Danielle scharf. Die Sorge um ihre Tochter verlieh ihr ungeahnte Kräfte.
„Woher soll ich das wissen?“, erwiderte er hitzig. „Aber mir wird schon etwas einfallen, auch wenn du mir nicht dabei helfen willst.“
„Ich will, dass du wie vor sieben Jahren verschwindest. Du möchtest ja offenbar lieber Schwierigkeiten machen. Und deshalb hör mir gut zu! Ich werde genau darauf achten, wie sich etwas auf meine Tochter auswirkt!“ Etwas sanfter fügte sie hinzu: „Mir geht es nur darum, dass Lisa glücklich ist.“
Nicolas’ Ärger verflog auf der Stelle. „Mir auch, ob du es glaubst oder nicht“, versicherte er. „Wir müssen eine Lösung finden, wir beide.“
Doch Danielle winkte ab. „Jetzt kann ich nicht mit dir darüber reden. Ich muss zur Arbeit.“ Vor allem musste sie weg von ihm, um wieder klar denken zu können.
„In Ordnung“, lenkte er ein. „Heute Abend. Ich komme zu dir.“
„Nein!“, rief sie betroffen.
„Dann im Schloss. Hast du jemanden, der sich um Lisa kümmert?“
„Ja“, entgegnete Danielle erschöpft. „Ich werde um acht da sein.“
Danielle stieg auf dem Parkplatz der Schule aus, wo sie ihren Wagen abgestellt hatte. Anschließend wies Nicolas den Fahrer an, ihn nach Hause zu fahren.
Nach Hause. Für Nicolas klang das merkwürdig. Man nannte ihn einen Weltbürger, und er war stets mehr auf Reisen gewesen als zu Hause. Auf absehbare Zeit würde er allerdings in Cornwall in dem Schloss leben, das seit langer Zeit zum Besitz seiner Familie gehörte. Dabei war Nicolas nicht aus freien Stücken nach Land’s End gekommen, sondern auf Anweisung seines Vaters.
In seiner Jackentasche raschelte das Blatt Papier, das er bei der Ankunft auf Alderney Castle am schmiedeeisernen Portal vorgefunden hatte. Dieses Blatt war nicht nur der Grund für seinen Besuch in der Schule. Es hatte Nicolas’ Leben auf den Kopf gestellt.
Er sah wieder das hübsche kleine Mädchen vor sich, das er heute kennengelernt hatte. Sein kleines Mädchen … Er schluckte heftig, als er sich an ihr Gesicht erinnerte, das seinem unglaublich ähnelte. Wie hatte Danielle nur verschweigen können, dass er eine Tochter hatte?
„Telefon für Sie, Hoheit“, meldete der Fahrer.
Es war Nicolas’ Vater. „Ich wollte hören, wie es dir seit der Abreise von Alderney ergangen ist“, sagte König Victor.
„Du meinst, seit du mich weggeschickt hast“, stellte Nicolas klar. Nach der Herzoperation seines Vaters hatte Nicolas die Hauptlast der Regierungsgeschäfte getragen. Doch nun hatte König Victor sich völlig erholt. Außerdem war Nicolas’ älterer Bruder Eric, der Thronerbe, mit seiner Frau Julie aus den Flitterwochen zurück und widmete sich wieder seinen Pflichten. Daher wollte der König, dass Nicolas andere Aufgaben erfüllte.
„Ja, seit ich dich nach Land’s End geschickt habe“, bestätigte König Victor.
Nicolas hatte schon längst gelernt, dass es keinen Sinn hatte, mit seinem Vater über die ihm zugeteilten Aufgaben zu diskutieren. Außerdem gab es für Nicolas im Moment Wichtigeres – worüber er allerdings nicht mit seinem Vater sprechen würde. Lisas Existenz hätte den König nur in der Ansicht bestärkt, dass sein jüngerer Sohn kein Verantwortungsgefühl besaß.
„Hast du schon entschieden, was ich machen soll?“, fragte Nicolas.
„Was würdest du denn gern machen?“
Auf solche Spiele ließ Nicolas sich nicht ein. „Ich stehe wie üblich für alles bereit“, versicherte er ruhig.
Sein Vater schwieg einen Moment, als müsste er überlegen. „Wie wäre es mit Urlaub?“
„Urlaub? Wieso denn das?“
„Nun, ich hatte durch die Operation eine Pause, und Eric war auf Hochzeitsreise. Warum solltest du nicht auch eine Weile ausspannen?“
„Ich brauche keine Ferien“, wehrte Nicolas ab. Wonach er sich jetzt dringend sehnte, war sein üblicher ruheloser Lebensstil, um Energie abzubauen. Vor allem wollte Nicolas nicht zum Nachdenken kommen. „Was soll ich also machen, solange ich hier bin?“
„Wonach dir gerade ist.“
„Ich soll …? Als Prinz?“ Nicolas lachte, doch es klang alles andere als heiter. Er war nicht wie sein Vater oder sein pflichtbewusster älterer Bruder. Schon immer hatte Nicolas Grenzen überschritten und war oft übers Ziel hinausgeschossen. Zwar durch Geburt ein Prinz, entsprach sein Charakter eher einem Rebellen. Auch wenn Nicolas sich nie einer königlichen Anordnung widersetzt hatte, die Erwartungen seines Vaters enttäuschte er dennoch stets.
„Tu, was getan werden muss, mein Sohn. Und vertrau darauf, dass mit der Zeit alles an den rechten Platz rückt“, entgegnete der König unbeeindruckt.
„Wie du wünschst.“ Nicolas legte den Hörer in die Halterung des Autotelefons, nachdem sein Vater die Verbindung unterbrochen hatte. Heftig schüttelte Nicolas den Kopf. Es trieb ihn zum Wahnsinn, wenn sich der König dermaßen unklar ausdrückte.
Die Limousine passierte die Zufahrt zum Schloss und hielt vor dem schmiedeeisernen Tor. Diesmal steckte dort kein Zettel. Nicolas kam es vor, als hätte er die Nachricht bereits vor endlos langer Zeit gefunden, jene Botschaft, die er zuerst zerreißen wollte. Auf den zweiten Blick hatte er festgestellt, dass die Worte nicht mit Lippenstift, sondern mit einem roten Buntstift geschrieben worden waren. Und Nicolas hatte die ungelenke Schrift eines Kindes erkannt.
Seines Kindes! Hatte es ihn deshalb unwiderstehlich zur Schule hingezogen?
Nachdem er das Tor geöffnet hatte, lenkte der Chauffeur den Wagen zum Haupteingang.
„In welches Zimmer soll ich Ihr Gepäck bringen, Hoheit?“
„Ist mir egal.“
„In dieser Jahreszeit hat man von der Nordsuite einen schönen …“
„Ja, ja, wie auch immer.“
„Kann ich anschließend etwas für Sie …“
„Ja“, erwiderte Nicolas. „Verschwinden Sie.“
Der junge Mann sah ihn verblüfft an. „Wie bitte?“
„Sie haben mich schon verstanden, Sloane. Verschwinden Sie!“
„Meinen Sie … für immer? Ihr Vater sagte bei der Einstellung, meine Dienste würden mindestens bis zum Jahresende gebraucht.“
Nicolas sah ihn sich genauer an. Er ist jung, etwa neunzehn, genau in dem Alter also, in dem man aus Selbstsucht dumme Fehler begeht, dachte Nicolas. Attraktiv, selbstsicher und offenbar redselig – das alles ärgerte ihn im Moment unbeschreiblich. „Wie heißen Sie richtig?“
„Sloane, Gary Sloane, aber Gary klingt für einen Chauffeur nicht gut“, erwiderte der junge Mann und fügte verlegen hinzu: „Hoheit …“
„Wie alt sind Sie?“
„Neunzehn.“
Also ein Volltreffer. „Hören Sie, Sloane. Wenn ich Sie feuern möchte, sage ich, Sie sind gefeuert. Wenn ich will, dass Sie verschwinden, sage ich, Sie sollen verschwinden. Verstehen Sie den Unterschied?“
„Selbstverständlich, Hoheit.“
„Gut.“ Nicolas lief die Stufen hinauf und riss die Tür auf.
„Hoheit!“
Nicolas blieb stehen und drehte sich um. „Sind Sie noch nicht verschwunden, Sloane?“
„Nein, ich meine, noch nicht ganz. Ich wollte nur wissen, wie lange ich verschwunden bleiben soll.“
„Bis morgen früh.“
„Aber, Hoheit“, wandte der Fahrer ein, „ich wohne hier im Schloss. Der König hat mich auch als Hausmeister und Verwalter eingestellt. Das war früher Julies Aufgabe, aber nachdem sie Prinz Eric geheiratet hat und …“
Nicolas winkte ab. „Kommen Sie woanders unter?“
Sloane runzelte die Stirn. „Na ja, vielleicht bei meiner Schwester. Sie ist …“
„Schön, machen Sie das. Nun verschwinden Sie. Bis morgen früh.“
„Ja, Hoheit.“
„Ach, Sloane, noch etwas.“
„Ja?“
„Wohin ich gehe, was ich tue und mit wem ich spreche, geht nur mich etwas an. Nicht Sie oder Ihre Schwester oder sonst jemanden. Ist das klar?“
„Glasklar, Hoheit“, versicherte Sloane und salutierte schneidig.
Seufzend betrat Nicolas das Schloss und schlug das schwere Portal hinter sich zu.
Zum Glück traf an diesem Nachmittag bei der Polizei kein Notruf ein. Danielle konnte sich ganz auf ihre Sorgen konzentrieren.
Nicolas wusste Bescheid!
Was, wenn er ihr Lisa wegzunehmen versuchte? Er war reich und mächtig und würde einen Prozess mühelos gewinnen. Wie sollte sie ohne Lisa leben? Die Angst machte Danielle fast verrückt.
Allein die Vorstellung war ihr unerträglich, sodass Danielle die schrecklichen Gedanken verbannte. Nicolas würde so etwas nie machen. Das konnte er ihr nicht antun. Ein Frauenheld wie er wollte sich bestimmt nicht mit einem Kind belasten. Nein, in dem Punkt brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. In anderen Fragen lagen die Dinge anders.
Lisa sehnte sich nach sehr viel Zuwendung und Aufmerksamkeit. Nicolas käme wie gerufen und konnte die Lücke füllen – zumindest für eine Weile. Er war charmant, und kein weibliches Wesen konnte seiner Ausstrahlung widerstehen. Das Alter spielte dabei keine Rolle. Außerdem hatte er Lisa gerettet. Danielle sah noch deutlich vor sich, wie dankbar ihre Tochter ihn angestrahlt hatte. Vor allem aber war er ein Prinz, allein schon deshalb musste Lisa ihn ins Herz schließen.
Wohin sollte das führen? Danielle kannte die Antwort. Genau zu jener Katastrophe, die sie selbst erlebt hatte – zu Einsamkeit und zerstörten Träumen.
Nicolas ging ruhelos durch die langen Korridore des Schlosses.
Was er an diesem Tag erfahren hatte, warf ihn völlig aus der Bahn. Er hatte ein Kind – eine Tochter!
Nichts hatte ihn darauf vorbereitet, und nun wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte. Kam er am Kühlschrank vorbei, hätte er am liebsten eine Flasche Champagner geöffnet und gefeiert. Kam Nicolas in die Bibliothek, sehnte er sich nach etwas Stärkerem aus dem Barschrank, um die Nerven zu beruhigen.
Beim Anblick des Telefons überlegte er, ob er seinen Bruder oder seinen Freund Prinz Jean-Luc anrufen sollte, damit sie ihn moralisch unterstützten. Sah Nicolas zufällig aus einem Fenster zur Stadt, überlegte er, was seine Tochter jetzt tat. Blickte er in einen Spiegel, überlegte Nicolas, was er eigentlich machte. Wenn die große Standuhr schlug, fragte er sich, wie er durchhalten sollte, bis Danielle um acht Uhr heimkam.
Bisher hatte er nie mit dem Gedanken gespielt, Vater zu werden. Zur Vaterschaft war schließlich einiges nötig. Zuerst sagte ein Geistlicher: „Sie dürfen die Braut jetzt küssen.“ Und irgendwann sagte ein Arzt: „Gratuliere, es ist ein …“
Es ist ein Mädchen. Schlagartig plagte ihn schlechtes Gewissen, weil er Lisa bei Erics und Julies Hochzeit hier auf Alderney Castle nicht weiter beachtet hatte. Der jüngste Gast des Festes war allerdings voll auf den König konzentriert gewesen, den Lisa mit ihrem bezaubernden Lächeln für sich gewonnen hatte.
Nicolas’ Aufmerksamkeit richtete sich mehr auf Danielle, die er nach sieben Jahren zum ersten Mal wiedersah. Die unverändert starke Anziehungskraft überwältigte ihn völlig. Dabei sprach er nicht mal mit Danielle, weil sie ihm aus dem Weg ging. Nicolas war klar, dass er ihr damals das Herz gebrochen hatte. Darum respektierte er ihre Wünsche und suchte ihre Nähe nicht. Trotzdem konnte er den Blick nicht von ihr wenden.
Bei der Hochzeit traf es ihn wie ein Schlag, dass das kleine blonde Mädchen Danielles Tochter war. Eifersucht packte Nicolas, weil Danielle so schnell einen anderen Mann geliebt hatte. Doch wieso eigentlich nicht? Schließlich hatte er sich von ihr zurückgezogen, damit sie einen Mann fand, der sie heiratete, der Verantwortung übernahm und auf den sie sich verlassen konnte. Dieser andere Mann sollte ihr Kinder und alles Glück schenken, das sie verdiente.
Als Nächstes fand er heraus, dass es gar keinen Ehemann gab. Es machte Nicolas zornig, dass sein Nachfolger Danielle mit dem Kind allein gelassen hatte. Keinen Moment dachte er daran, dass das Kind von ihm selbst sein könnte. Da schätzte Nicolas Lisa noch auf vier oder höchstens fünf Jahre. Erst die Tatsache, dass sie schon zur Schule ging, hatte ihm heute Vormittag die Augen geöffnet. Die Ähnlichkeit zwischen ihnen hatte den letzten Zweifel beseitigt.
Danielles kleines Mädchen hatte keinen Vater, weil er selbst der Vater war!
Er brauchte keine neun Monate auf sein Kind zu warten. Nicolas war von einem Moment zum anderen Vater geworden. Dabei wusste er herzlich wenig über kleine Mädchen und noch weniger über seine Tochter. Lisa hatte die ersten sechs Lebensjahre ohne ihn verbracht. Sie hatte Vorlieben und Abneigungen, liebenswerte und weniger angenehme Charakterzüge sowie Stärken und Schwächen entwickelt, von denen Nicolas nichts wusste.
Nein, so ganz stimmte das nicht. Alles Königliche faszinierte sie so sehr, dass sie sich für eine Prinzessin hielt – ohne zu wissen, dass es sogar zutraf. Wie sie sich unbeirrt vor den anderen Kindern präsentierte, bewies, dass Lisa den Mut ihrer Mutter geerbt hatte. Und sie war verwundbar. Deshalb hatte Nicolas sie gerettet, obwohl er sie da noch gar nicht kannte. Beim Lesen der Nachricht hatten ihn nicht nur die mit rotem Buntstift geschriebenen Worte berührt. Es war mehr gewesen.
Hatte sie schon in der Vergangenheit Hilfe gebraucht? Würde sie ihn in Zukunft wieder brauchen? Er wollte Lisa helfen und sie beschützen. Doch er hatte keine Ahnung, wie Danielle das sah. Dass es Lisa gab, hatte sie ihm verschwiegen und kein Geheimnis aus ihrer schlechten Meinung von ihm gemacht.
Eines stand für Nicolas fest: Er könnte niemals vergessen, dass er eine Tochter hatte.
Am späten Nachmittag kam er sich wie ein Tiger im Käfig vor. Er musste weg von hier, einfach nur weg. Entschlossen griff er nach seiner Lederjacke und stürmte aus dem Schloss.
Das Geräusch eines Motorrades war in Land’s End so ungewöhnlich, dass Danielle sofort aus dem Fenster ihres Büros blickte. Trotz ihrer persönlichen Krisensituation erfüllte sie den Job als Polizeichefin. Das bedeutete in dieser Kleinstadt zwar eher Papierkram als Jagd auf Gesetzesbrecher, aber Danielle musste herausfinden, welcher Jugendliche sich ein neues Spielzeug angeschafft hatte. Und dann würde sie ihm ins Gewissen reden, damit er nicht zu schnell fuhr und in einer Kurve von den Klippen stürzte.
Die Sorge war nicht unbegründet. Das wusste Danielle aus eigener Erfahrung. Als Jugendliche hatte sie selbst mit einem Motorrad auf den kurvenreichen Straßen die Geschwindigkeitsgrenzen getestet – als Nicolas’ Beifahrerin. Bis heute wusste Danielle nicht, wie sie diese unbekümmerte und wilde Zeit überlebt hatte.
Heute konnte sie sich kaum noch vorstellen, dass sie früher sorglos und frei gewesen war. Seit Lisas Geburt zeichnete Danielle sich durch Reife und Verantwortungsbewusstsein aus.
Und was sie jetzt nicht brauchen konnte, war ein Prinz in ihrem Leben.
Bevor Danielle sich um den Motorradfahrer kümmern würde, musste sie jedoch Lisa von der Schule abholen.
An diesem Tag redeten die Kinder nur über den Prinzen. Die Mädchen fanden ihn niedlich, die Jungen hielten ihn für echt cool.
„Mommy“, sagte Lisa auf der Heimfahrt, „hast du schon gehört, was heute passiert ist?“
„Ich habe es sogar gesehen“, erwiderte Danielle.
„Du warst da? Du hast gesehen, wie der Prinz wie durch Zauber erschienen ist?“
„Das war kein Zauber, Lisa“, korrigierte Danielle behutsam. „Wir leben nicht in einem Märchen, und Nicolas d’Alderney ist auch kein Märchenprinz.“
„Aber er ist ein echter Prinz“, hielt Lisa ihr vor.
Danielle hielt alle Bemerkungen zurück, die für die Ohren einer Sechsjährigen ungeeignet waren. „Deine Lehrerin hat mir von deinem Verhalten der letzten Tage erzählt.“
Lisa richtete die großen grünen Augen auf sie. „Ja, Mommy, tut mir leid. Aber es war doch wichtig.“
„Hoffentlich kommt das nicht mehr vor.“
„Aber nein“, beteuerte Lisa fröhlich. „Jetzt ist der Prinz ja da.“
Danielle ließ sich nicht anmerken, wie frustriert sie war. „Kannst du mir erklären, wieso er in die Schule gekommen ist?“
„Weißt du“, erwiderte Lisa ernsthaft, „ich habe dringend einen Prinzen gebraucht. Und darum habe ich eine Nachricht für König Victor geschrieben.“
Das war keine Überraschung, weil Lisa bei Erics und Julies Hochzeit den König für sich gewonnen hatte. „Du hast König Victor um einen Prinzen gebeten?“
„Ja, und ich habe die Nachricht am Schlosstor befestigt, als wir dort an der Straße Blumen gepflückt haben. Und dann ist der Prinz aufgetaucht. Ich habe es gewusst, Mommy.“
Danielle seufzte. „Warum brauchst du denn überhaupt einen Prinzen?“
„Als Helden.“
„Als … Helden?“
„Ja, so wie einen Ritter in diesen Geschichten, in denen er edlen Damen hilft. Mein Prinz wird mein Held sein.“
Die Kleine hatte keinen Vater. Darum wünschte sie sich einen Prinzen als starken und furchtlosen Helden, der für sie da war. Es versetzte Danielle einen Stich ins Herz.
„Du glaubst wirklich“, fragte sie, „dass Nicolas dein Prinz wird?“
Zu ihrer Erleichterung runzelte Lisa die Stirn. „Ich weiß noch nicht, ob er der Richtige ist. Das muss er erst beweisen. Weißt du, das ist sehr wichtig.“
Danielle erinnerte sich an die Geschichten, die sie gemeinsam gelesen hatten, und glaubte, ihre Tochter zu verstehen. „Soll das heißen, dass du ihn prüfen wirst, ob er auch würdig ist, dein Prinz zu sein?“
„Genau!“
Na toll! Mit seinem unerwarteten Erscheinen hatte Nicolas einen glänzenden Start hingelegt. Danielle merkte, wie ihr geordnetes Leben bröckelte. Darum klammerte sie sich an einen Bereich, der sich nie ändern würde, nämlich an die Notwendigkeit zu essen. „Wir sind bei McCreedy’s“, sagte sie, während sie den Wagen abstellte.
Gemeinsam gingen sie auf den kleinen Lebensmittelladen zu, der sich im Familienbesitz befand und ganz Land’s End versorgte. Lisa eilte wie stets voraus und hüpfte auf die schwarze Gummimatte vor dem Eingang.
„Öffne dich im Namen von Prinzessin Lisa!“, befahl sie und zeigte lachend auf die Tür, die prompt zur Seite glitt.
Danielle folgte ihrer Tochter in den Laden, drehte sich um und deutete ihrerseits auf die Tür. „Schließe dich im Namen des Gesetzes“, verlangte sie.
Während Lisa über die gehorsame Tür lachte, fragte Danielle sich, wie lange sie noch so unbeschwert leben konnten.
Nicolas hatte sein altes Motorrad im Nebengebäude gefunden und kontrolliert. Anschließend schwang er sich auf die Maschine und fuhr schneller, als eigentlich ratsam war, die kurvenreiche Straße vom Schloss zur Stadt. Diese Strecke verlief genau an der Kante der Klippen, die steil zum Meer abfielen.
Er liebte Geschwindigkeit. Und dennoch konnte er nie schnell genug fahren, um den Erinnerungen zu entkommen. Überall lauerten sie auf ihn.
Das erste Haus, das er erreichte, gehörte Danielle.
Er kannte Danielle fast schon sein ganzes Leben lang. Als Kind und Jugendlicher verbrachte er die Sommerferien in Land’s End mit Danielle und Julie zusammen. In jenem Sommer vor sieben Jahren war Julie jedoch nicht dabei. Deshalb wusste sie nichts von der heimlichen Romanze zwischen ihm und Danielle. Die überwältigenden Gefühle machten Nicolas Angst. Das war die wahre Liebe, selbstlose, wahre Liebe. Danielle wollte einen Traum verwirklichen, er hingegen wollte nur das Beste für sie. Ein Mann wie er mit rebellischem langen Haar, Motorrad und Krone, konnte für sie nicht das Beste sein. Das alles passte nicht zusammen, und es passte schon gar nicht zu Danielle. Darum verließ er sie.
Nachdem er stundenlang ziellos über Seitenstraßen gejagt war, drosselte er die Geschwindigkeit und ließ das Motorrad durch die stillen Straßen der Kleinstadt rollen. Seit damals war er weit herumgekommen. Stolz empfand er nicht wegen seines Rufs als Herumtreiber. Aber Nicolas war stets sicher gewesen, sich Danielle gegenüber richtig verhalten zu haben. Heute geriet diese Überzeugung ins Schwanken.
Als er an der einzigen Tankstelle der Stadt hielt, hörte er eine bekannte Stimme.
„Sieh nur, Mommy! Da ist der Prinz!“
Vor dem kleinen Lebensmittelladen gleich nebenan standen Danielle und Lisa, Danielle sichtlich betroffen, Lisa dagegen strahlend. Die Kleine drückte eine Einkaufstüte an sich und trug noch immer die selbst gebastelte Krone.
Am liebsten hätte er Lisa auf die Arme gehoben und an sich gedrückt. Stattdessen stieg er bloß ab und verneigte sich. „Prinzessin Lisa, darf ich Eure Bürde tragen?“
Sie nickte scheu und überließ ihm die Tüte. Bevor Danielle einen Einwand erheben konnte, nahm Nicolas auch ihr die Einkäufe aus der Hand.
„Wo steht denn die königliche Kutsche?“, fragte er.
Lisa lief voraus und zeigte auf einen Kleinwagen, der schon bessere Tage gesehen hatte, viele bessere Tage sogar. „Wo kommst du denn her?“, fragte Lisa, während Danielle schweigend den Kofferraum öffnete.
Er stellte die Tüten ab. „Ich bin auf meinem Motorrad vom Schloss hierher gefahren. Ich bleibe in Land’s End.“
Lisa nickte. „Und wieso bist du heute in die Schule gekommen?“
„Ich habe deine Nachricht am Tor gefunden.“
„Hast du meinen Zauber gespürt? Hat mein Kuss magisch gewirkt? Hast du dich von einem Frosch in einen Prinzen verwandelt?“
„Hm, ich war schon vorher ein Prinz. Darum konnte mich dein Kuss nicht in einen verwandeln“, erklärte er aufrichtig. Weil sie sichtlich enttäuscht war, fügte er hinzu: „Aber die Frösche haben eindeutig gelächelt, als du sie geküsst hast.“
Lisa kicherte und schoss sofort die nächste Frage auf ihn ab. „Bist du ein Fremder?“
„Lisa“, ermahnte Danielle sie hastig und schloss den Kofferraum, „wir müssen los.“
„Gleich, Mommy. Ich muss das wissen. Bist du ein Fremder?“
Nicolas überlegte. Die Frage konnte er nicht leicht beantworten. Eigentlich war er für Lisa ein Fremder, und gleichzeitig war er doch mit ihr eng verbunden.
„Warum willst du das wissen?“, erkundigte er sich schließlich und ging vor ihr in die Hocke, um auf gleicher Höhe zu sein.
„Weil wenn du ein Fremder bist, kann ich etwas nicht tun, was ich gern tun möchte.“
„Frag lieber deine Mommy, Prinzessin.“
„Ist er ein Fremder, Mommy?“
Danielle zögerte. „Ich kenne Nicolas, seit er so alt war wie du. Nein, er ist kein Fremder.“
Mehr wollte Lisa nicht hören. Sie rückte die glitzernde Krone zurecht, beugte sich zu Nicolas und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
Lisa und ihre Mutter waren bereits fort, als Nicolas wieder aufstand. Bestimmt hatte Danielle gemerkt, wie tief berührt er war.
Frosch oder nicht Frosch – Lisas Kuss war tatsächlich magisch und hatte ihn in einen Vater verwandelt.
3. KAPITEL
Danielle brachte Lisa ins Bett und drückte sie länger als sonst an sich. Doch damit konnte sie nicht verhindern, dass ihre Tochter unweigerlich verletzt würde. Betont fröhlich wünschte Danielle ihrer kleinen Prinzessin eine gute Nacht und schaltete das Licht aus.
Sie musste ihrer Freundin Sarah, die bei Lisa blieb, sagen, wohin sie ging. Zum Glück war ihre Freundin nicht neugierig. Sarah stammte zwar nicht aus der Gegend, wusste aber, dass Danielle und Nicolas seit Kindertagen befreundet waren. Daher erschien es ihr nur selbstverständlich, dass die beiden sich trafen.
Danielle ging zu Fuß zum Schloss, um sich zu beruhigen. Das Rauschen der Brandung und des Windes verliehen ihr sogar Mut. Als Danielle schließlich ans Portal klopfte, hätte sie es mit der ganzen Welt aufgenommen.
Niemand öffnete. Daher klopfte sie erneut, diesmal lauter. Im nächsten Moment schwang der schwere Torflügel auf.
„Tut mir leid“, sagte Nicolas und ließ sie eintreten. „Ich habe deinen Wagen nicht gehört.“
„Ich bin zu Fuß gegangen. Es ist nicht weit.“
„Ich weiß“, sagte er leise. „Ich erinnere mich.“
Sie wandte den Blick ab. Auch sie erinnerte sich daran, wie er sie nachts zum Haus ihrer Großmutter begleitet hatte und danach zum Schloss gegangen war. Und zum Abschied hatten sie sich zärtlich und leidenschaftlich geküsst. Doch das alles gehörte zur Vergangenheit. An diesem Abend lag ein wichtiges Gespräch vor Danielle. Sie durfte nicht schwach werden.
„Fangen wir an“, sagte sie kurz angebunden. „Sarah kümmert sich um Lisa, aber sie muss morgens ihren Coffee Shop zeitig öffnen.“
Wortlos nickte Nicolas und führte sie durch die Eingangshalle. Er trug noch immer die Jeans, die ihm wie angegossen passte. Danielle zwang sich, ihn nicht zu betrachten, und sah sich interessiert im Raum um.
Das Schloss war vor langer Zeit von Nicolas’ Vorfahren aus dem dunklen Stein der Gegend erbaut worden. Die Familie nutzte es als zweites Zuhause, für Geschäftstreffen auf dem Festland und vor allem für ungestörte Urlaube. Hier veranstaltete König Victor auch sämtliche Wohltätigkeitsbälle. Den letzten hatte Julie, zu dem Zeitpunkt noch Schlossverwalterin, geplant. Weil Nicolas’ Vater nach der Herzoperation noch im Krankenhaus bleiben musste, vertrat Prinz Eric ihn. Und dann überraschte Eric alle, als er auf diesem Ball seine Verlobung mit Julie bekannt gab.
Heute lag der Ballsaal im Dunkeln, als Danielle hinter Nicolas in die Bibliothek ging. Höflich, aber bestimmt lehnte Danielle ab, als er ihr etwas zu trinken anbot, und setzte sich ihm gegenüber in einen Ledersessel.
„Du musst bitte …“, begann sie.
„Ist Lisa schon im Bett?“, unterbrach er sie leise.
„Ja“, erwiderte sie überrascht. „Acht Uhr ist ihre Schlafenszeit.“
Er schloss für einen Moment die Augen. Seine Tochter ging um acht Uhr schlafen. „Hast du sie ins Bett gebracht?“
„Ja, wie jeden Abend.“
Also war Danielle nur selten abends nicht daheim. Das gefiel ihm. Er war Lisa kein Vater gewesen, aber offenbar nahm auch kein anderer Mann diesen Platz ein.
„Mag sie es, wenn du ihr eine Geschichte vorliest?“
„Jeden Abend.“
„Lass mich raten. Märchen?“
„Das sind ihre liebsten Geschichten“, bestätigte Danielle.
„Schläft sie mit einem Teddybären im Arm?“
Lisa konnte ohne einen Plüschfrosch nicht einschlafen. Doch darüber wollte Danielle nicht sprechen, weil sie mit Nicolas’ geradezu sehnsüchtig klingenden Fragen nicht umgehen konnte. „Hör mal, das macht es nicht leichter.“
„Ich wünschte, ich könnte es uns erleichtern“, versicherte er. „Das Leben verläuft aber nicht wie in Lisas Märchen.“ Zumindest hatte er noch nicht die leiseste Ahnung, wie diese Geschichte ein Happy End finden sollte.
Danielle lächelte flüchtig. „Ich bin ganz deiner Meinung. Ein Spielzeugdrache würde vielleicht eher ins Bild passen.“
Während er ihr Lächeln erwiderte, fiel ihm auf, dass sie sich bedroht fühlte. Das wollte er nicht.
„Danielle, sieh mal, niemand hat das so geplant. Und nichts wird besser, wenn wir beide nicht am selben Strang ziehen. Wir haben eine gemeinsame Vergangenheit, und darum sollten wir gemeinsam die Gegenwart angehen.“
„Unsere Vergangenheit war ein Fehler“, wehrte sie heftig ab. „Ein Fehler, den zwei unvorsichtige Jugendliche begangen haben. Jetzt sind wir älter und klüger. Und wir werden keinen noch größeren Fehler begehen.“ Aus Dummheit hatte sie einen Traum verfolgt und dafür bezahlt. Lisa sollte nicht auch einen so hohen Preis bezahlen.
„Du hast recht“, bestätigte Nicolas. Was sie einen Fehler nannte, hatte nichts mit Lisa zu tun. Danielle meinte die Beziehung mit ihm, und das schmerzte. „Was Lisa betrifft, müssen wir vorsichtig sein.“
Forschend betrachtete sie ihn. „Willst du wirklich das Beste für Lisa?“
„Natürlich. Was denkst du denn?“
„Was glaubst du, was ich denke?“, fragte sie herausfordernd. „Vor sieben Jahren hast du Land’s End und mich verlassen, um ein Leben nach deinen Vorstellungen zu führen. Seither stehst du im Rampenlicht und schwirrst von einem besonderen Ort zum nächsten – und von einer sagenhaften Frau zur nächsten. Du bist der Prinz der Herzen. Und ich bin Lisas Mutter. Ich werde alles nur Menschenmögliche tun, damit sie nicht verletzt wird.“
Ein scharfer Blick aus ihren grünen Augen traf ihn.
„Jetzt bist du wieder hier. Aber hör mir gut zu, Hoheit! Meine Tochter macht im Moment genug durch, auch ohne dass sie dem internationalen Medienzirkus ausgesetzt ist. Nur über meine Leiche kommst du an sie heran, um eine Weile mit ihr zu spielen und sie danach fallen zu lassen. Du wirst sicher wieder fortgehen, und dann müssen wir für unser ganzes Leben die Folgen tragen.“
Nicolas hörte schweigend zu. Nachdem Danielle geendet hatte, stand er auf und wandte ihr den Rücken zu. Nicolas ging an den Barschrank und füllte ein Glas. Der Alkohol zeigte eine ähnlich brennende Wirkung auf ihn wie Danielles Worte. Gleichwohl bewunderte Nicolas sie insgeheim, obwohl sie ihn verletzte. Schon früher hatten ihn ihr Temperament, ihre Begeisterungsfähigkeit und Leidenschaftlichkeit angezogen. Er war ihr erster Liebhaber gewesen. Danielles unverhüllte Sehnsucht nach ihm hatte ihm Gefühle geschenkt, die er bei keiner anderen Frau erleben konnte.
Der Whisky beruhigte ihn ein wenig. Er war bereit, Danielles Worte nicht als Angriff zu werten. Sie wollte nichts weiter, als ihre Tochter zu verteidigen. Wie jede Mutter, die ihr Kind schützt.
Durchs Fenster blickte er aufs Meer hinaus. Ja, Danielle hatte Grund, sich von ihm bedroht zu fühlen. Er hatte sie tatsächlich verlassen. Ihm wurde auch nachgesagt, von einer Frau zur anderen zu wandern. Die Gründe dafür kannte allerdings nur er.
Langsam drehte er sich wieder um und betrachtete Danielle. Aus dem Mädchen war eine Frau geworden. Das damals lange blonde Haar trug sie heute kurz geschnitten, und die flotte Frisur passte zu ihrer Persönlichkeit. Die grünen Augen schimmerten rätselhafter als früher. Ihre Lippen waren voll und verlockend. Das traf auch auf ihren Körper zu, zierlich und schlank, aber mit sanften Rundungen.
„Es stimmt, dass ich dich verlassen habe“, räumte er ein und setzte sich. „Aber was du noch gesagt hast, beruht nur auf Vermutungen. Ich werde allerdings keine Zeit damit verschwenden, dir zu widersprechen. Meiner Meinung nach sollte man einen Mann an seinen Taten und nicht an seinen Worten messen. Und du hast das Recht, mich zu messen, wenn es Lisa anbelangt.“
„Wie meinst du das, Nicolas? Was genau willst du?“
Seufzend strich er sich übers Haar. „Ehrlich gesagt weiß ich es nicht“, gestand er. „Ich habe schließlich erst heute erfahren, dass ich Vater bin.“
Danielle fiel das Sprechen schwer. „Das alles hört sich an, als wolltest du Lisas Vater sein.“
„Ja“, erwiderte er nachdenklich, „das ist wohl so.“
„Denk nicht mal im Traum daran, dich um das Sorgerecht zu bemühen!“, erwiderte sie heftig. „Lisa gehört zu mir. Dafür werde ich bis zu meinem letzten Atemzug kämpfen.“
„Ich will sie dir nicht wegnehmen“, beteuerte er. „Du bist ihre Mutter, und das kann durch nichts ersetzt werden.“
Sekundenlang herrschte tiefe Stille, bis Danielle leise fragte: „Willst du wirklich Vater sein?“
Die Vergangenheit lastete schwer auf Nicolas. Vor sieben Jahren hatte er auf dieselbe Frage mit einem eindeutigen Nein geantwortet. Damals wollte er weder Ehemann noch Vater sein, weil es ihm schon schwer genug fiel, seinen Pflichten als Prinz nachzukommen.
„Willst du das?“, fragte Danielle erneut. „Willst du für Lisa tagtäglich da sein, in guten wie in schlechten Zeiten? Willst du sie auch nicht im Stich lassen, wenn es schwierig wird und du dich ausschließlich um sie kümmern musst? Willst du für immer ein Teil ihres Lebens, ihrer Zukunft sein?“
Er sah ihr unverwandt in die Augen. „Ich habe keine Ahnung, ob ein Mann wie ich überhaupt jemals die traditionelle Rolle eines Vaters ausfüllen kann. Spontan würde ich Nein sagen. Ich habe schon genug falsch gemacht. Aber instinktiv meine ich auch, dass ich eine gewisse Rolle in Lisas Leben spielen sollte.“
Danielle gestand sich ein, dass er die Sache vernünftig anpackte. Könnte ich nur genauso denken, ging es Danielle durch den Kopf. Doch hier ging es um Lisa, und darum siegte bei ihr Gefühl über Vernunft.
„Hat sie jemals nach mir gefragt?“, erkundigte er sich.
„Lisa hat nicht so viele Fragen nach ihrem Vater gestellt, wie man erwarten würde.“ Danielle strich gedankenverloren über die glatten Armlehnen des Sessels. „Sie hat ganz allgemein gefragt, und ich bin nicht ins Detail gegangen. Wir haben über Familien gesprochen, und ich habe ihr gesagt, dass manche Kinder mit beiden Elternteilen leben und manche nicht. Sie weiß, dass ich auch ohne Vater aufgewachsen bin, und sie ist nicht das einzige Kind in Land’s End mit nur einem Elternteil.“
„Wie hat sie es aufgenommen?“
Danielle zuckte die Schultern. „Kinder nehmen so etwas einfach hin. Sie kennt es nicht anders, und darum war sie stets zufrieden.“
„Du bist eine gute Mutter.“
„Es ist nicht einfach, Nicolas“, antwortete sie aufrichtig.
„Zum Beispiel, als sie gefragt hat, ob ich ein Fremder bin?“
Danielle seufzte. „Manchmal muss man sich schlicht auf seinen Instinkt verlassen.“
„Und genau das sollten wir beide tun. Schließlich brauchen wir nicht an einem einzigen Abend über die Zukunft zu entscheiden.“
„Ich weiß, was mir mein Instinkt rät“, hielt Danielle ihm vor, obwohl er bereits beteuert hatte, dass er sich nie mehr völlig zurückziehen wolle. „Wie ist das bei dir?“
Er überlegte einen Moment. „Ich möchte Lisa kennenlernen, und sie soll mich kennenlernen.“
„Als ihren Vater?“
„Das braucht sie vorerst nicht zu erfahren – und auch sonst niemand.“
„Soll das heißen, dass du mit niemandem darüber sprechen wirst?“, fragte Danielle misstrauisch.
„Nicht einmal mit meinem Vater oder meinem Bruder, wenn du das wünschst.“
Die nächste Frage musste sie einfach stellen. „Keine Trompeten, keine Fanfaren und keine saftigen Interviews in Klatschzeitschriften?“
„Danielle!“ Nicolas unterdrückte im letzten Moment eine scharfe Antwort. „Wie oft muss ich noch sagen, dass ich für Lisa das Beste will? Gib mir doch die Gelegenheit, es zu beweisen.“
Sie wusste, dass sie sich nicht richtig verhielt. Nichtsdestotrotz hatte der Bruch mit ihm sie tief verletzt. Andererseits brach Nicolas vor sieben Jahren kein Versprechen, weil er nie eines gegeben hatte. Letztlich trug sie selbst die Schuld. Die Liebe zu ihm hatte Wärme ins Herz eines Mädchens gezaubert, das kaum so viel Zuneigung kannte. Die Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft konnten jedoch nicht wahr werden. Das hatte Danielle bitter enttäuscht und Schmerz zugefügt.
Als sie beide in jener letzten Nacht eng umschlungen unter dem Sternenhimmel lagen, war Nicolas mutig genug, ehrlich zu sein. Deshalb war es falsch, ihm mit Zorn zu begegnen. Doch um Lisas willen musste Danielle vorsichtig bleiben. Ihre Tochter wies ihm in ihren Träumen eine Rolle zu, die er nicht ausfüllen wollte.
„Also gut“, meinte sie schließlich und stand auf. „Ihr beide lernt euch kennen, weil du ein alter Freund von mir bist und wir uns daher öfters sehen.“
„Wann?“, fragte er und erhob sich ebenfalls. Als er merkte, dass sie sich bedrängt fühlte, setzte er hinzu: „Ich überlasse dir den ersten Schritt.“
„Gut.“
Die Vereinbarung war getroffen und sollte besiegelt werden. Nicolas wartete ab, bis Danielle ihm langsam die Hand reichte. Er griff danach, ließ sie jedoch nicht los, sondern legte seine Rechte darauf. Vielleicht gelang es ihm, auf diese Weise das zerbrechliche Vertrauen zu stärken, das Danielle ihm schenkte.
„Etwas möchte ich dir noch sagen, bevor du gehst, Danielle. Ich bin froh, dass ich Lisa kennenlernen und vielleicht sogar einen Platz in ihrem Leben finden darf. Aber du bist die Mutter, eine sehr gute, soweit ich das beurteilen kann. Bei dir wird immer die letzte Entscheidung liegen.“
„Danke“, flüsterte Danielle erstickt, entzog ihm die Hand und verließ das Schloss.
Bestimmt hätte sie nicht gewollt, dass er sie begleitete. Um sich aber zu vergewissern, dass sie sicher nach Hause kam, trat er vor das Gebäude und ging zum schmiedeeisernen Tor. Nach einer Weile konnte er sie im Schein ihrer Verandabeleuchtung erkennen und beobachtete, wie sie ihr Haus betrat.
Langsam kehrte er ins Schloss zurück. So gern er Danielle in dieses Haus gefolgt wäre, in dem sie mit ihrer Tochter lebte, er musste warten.
Am nächsten Nachmittag bastelte Nicolas gerade an seinem Motorrad, als er Danielle und Lisa näher kommen sah. Die Kleine lief voraus, bückte sich und untersuchte etwas im Gras, lief weiter und hob die Krone auf, die ihr vom Kopf gefallen war. Dann bemerkte Lisa ihn und machte mit den Armen auf sich aufmerksam.
Lächelnd winkte er zurück. Gerade hatte er die ölverschmierten Hände an einem Lappen abgeputzt, als ihn die beiden erreichten.
„Ich grüße Euch, o Prinz!“, sagte Lisa feierlich und knickste.
Aus lauter Freude hätte er beinah aufgelacht. Doch er hielt sich rechtzeitig zurück.
Lisa lächelte sonnig. „Das habe ich mal in einem Märchen gehört. Gefällt es dir, wenn die Leute nicht nur schlicht Hallo sagen?“
„Prinzessin Lisa, du kannst mich begrüßen, wie du willst, wenn du es nur recht oft machst“, erwiderte er und wandte sich an Danielle, die versuchte, keine Nervosität zu zeigen. „Schlicht hallo“, sagte er leise.
„Dir auch schlicht hallo“, antwortete sie.
„Was machst du denn da?“, erkundigte sich Lisa.
„Ich bringe mein Motorrad in Ordnung.“
„Warum überlässt du das nicht den Dienern?“
„Weil ich keine habe“, antwortete er lachend.
„Wieso denn nicht? Du bist doch ein Prinz.“
„Tja, wir leben nicht in längst vergangenen Zeiten. Wenn ich Hilfe brauche, stelle ich Leute ein und bezahle sie auch. Das sind dann meine Angestellten.“
„Ach, wie Mr. Sloane?“
Sloane war am Vormittag zurückgekommen. Nicolas fing an, ihn zu mögen – sofern er ihn mit seinem Übereifer verschonte. „Mein Vater hat ihn eingestellt.“
„Ich habe König Victor bei Julies Hochzeit kennengelernt. Und er hat mich seine Krone tragen lassen. Warum trägst du deine nicht?“
„Soll ich dir denn ein Geheimnis anvertrauen?“, fragte Nicolas.
„Ja!“ Lisa bekam leuchtende Augen. „Ich behalte Geheimnisse für mich.“
„Ich habe keine Krone.“
„Nein?“, fragte sie sichtlich enttäuscht. „Wieso nicht?“
„Weil nur der König eine hat.“
„Ach so“, murmelte sie, lächelte aber gleich wieder strahlend. „Ich habe eine. Gefällt sie dir?“
Langsam ging er um das kleine Mädchen herum. „Ja“, urteilte er schließlich, „sie wirkt leicht und bequem. Ich finde sie sehr schön.“
„Ich habe sie aus Glanzpapier gemacht. Darum glänzt sie.“
„Das sehe ich“, meinte er. „Du hast sie selbst gemacht?“
„Ja, ich mache alle meine Kronen selbst.“
„Wenn das so ist, lasse ich mir vielleicht auch eine von dir anfertigen.“
Lisa schüttelte den Kopf. „Ich glaube, so viel Glanzpapier habe ich nicht mehr“, sagte sie entschuldigend und brachte Nicolas zum Lachen. „Weißt du eigentlich, warum wir hier sind?“
„Du brauchst keinen Grund, um mich im Schloss zu besuchen, Prinzessin Lisa.“
„Schön, aber diesmal sind wir wegen der Plätzchen hier.“
Sie wollte Plätzchen? Er hatte keine Ahnung, ob welche im Schloss waren. Um die Vorräte hatte Nicolas sich nicht gekümmert. Und Sloane brachte gerade die Limousine zur Inspektion.
Danielle reichte ihm einen Karton. „Wir backen immer Plätzchen, wenn ein neuer Nachbar einzieht“, erklärte sie.
„Vielen Dank.“ Nicolas lächelte ihr und Lisa zu. „Aber eigentlich bin ich nicht neu hier.“
„Für mich schon“, widersprach das Mädchen. „Darum bekommst du Plätzchen. Außerdem mag ich dich.“
„Ich dich auch“, beteuerte er und bekam Herzklopfen. „Leistet ihr mir bei Plätzchen und Milch Gesellschaft?“
Lisa wandte sich an ihre Mutter. „Können wir, Mommy? Bitte“, drängte sie, als Danielle zögerte.
„Also schön“, entschied Danielle und folgte den beiden ins Schloss. Es störte sie, dass ihre Tochter Nicolas mochte. Dabei sollte Danielle sich darüber freuen. Aber sie fühlte sich ausgeschlossen. „Du bist ja wirklich ein Prinz“, raunte sie Nicolas zu, als er ihr die Küchentür öffnete.
„Nicht freiwillig“, erwiderte er leise.
Lisa hatte es trotzdem gehört. „Du bist von Geburt an Prinz, nicht wahr?“
„Ja, und ich bin von Geburt an Linkshänder.“
„Ich auch!“, rief Lisa begeistert.
Er wechselte mit Danielle einen Blick, rückte ihr einen Stuhl zurecht und bot Lisa den Platz am Kopfende des Tisches an. Danach wusch Nicolas sich die Hände und holte Gläser, Teller und Milch.
Danielle war überrascht, als er sich ihr gegenübersetzte, sodass Lisa zwischen ihnen war.
Eine Weile aßen sie schweigend Plätzchen, bis Lisa erneut Fragen hatte. „Hast du schon einmal ein Fräulein in Nöten gerettet?“
„Lisa, Nicolas ist kein Märchenprinz“, warf Danielle ein.
Ehe er antwortete, trank er einen Schluck Milch. „Habe ich aber tatsächlich gemacht.“
„Wirklich?“, rief Lisa. „Wann? Wie denn?“
Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete er Danielle. Sie sah aus, als wollte sie ihm den Mund am liebsten mit einem besonders großen Plätzchen stopfen. „Das war vor ungefähr fünfzehn Jahren. Das Fräulein saß oben in ihrem Baumhaus. Eine Freundin hatte ihr einen Streich gespielt und die Leiter weggenommen. Ich habe die Leiter wieder an den Baum gelehnt.“
„Das ist alles?“, meinte Lisa enttäuscht. „Das kann doch jeder.“
„Mag sein, aber das Fräulein war mir sehr dankbar. Nicht wahr, Danielle?“
Lisa riss die Augen weit auf. „Er hat dich gerettet, Mommy?“
„Stimmt“, bestätigte sie. „Ich habe dir doch erzählt, dass er mit Julie und mir gespielt hat, als wir noch Kinder waren.“
„Dann hat also Julie die Leiter weggenommen?“
„Ja“, erklärte Danielle, „sie hat sich gerächt, weil ich ihr Tannennadeln in die Bluse gesteckt habe.“
„Nicht wahr, Mommy, du hast gewusst, dass Prinz Nicolas dich retten wird?“
„Ich musste sie retten“, warf Nicolas ein.
Lisa nickte wissend. „Weil du ein Prinz bist.“
„Nein, sondern weil sie geschrien hat, dass sie mir Tannennadeln ins Hemd steckt, wenn ich ihr nicht helfe.“
Sie lachten, und Lisa stellte aufgeregt die nächste Frage. „Prinz Nicolas, hast du schon einen Drachen getötet?“
„Es gibt keine Drachen“, erwiderte er behutsam.
„Aber wenn, dann hättest du bestimmt einen getötet.“
„Das glaube ich nicht. Ich tue keinem Tier weh.“
„Stimmt“, bestätigte Danielle. „Früher hat er nicht einmal eine Ameise zertreten. Und er hatte einen Hund, den er wie einen Prinzen behandelt hat. Was wurde eigentlich aus ihm?“
Nicolas freute sich, weil sie seinen alten Freund erwähnte. „Er war bis zum letzten Jahr bei mir.“
„Wo ist er jetzt?“, fragte Lisa.
Er hätte sie gern vor der harten Wahrheit beschützt, doch er antwortete aufrichtig. „Er ist gestorben.“
Die Miene der Kleinen verdüsterte sich. „Bist du mit ihm nicht zum Tierarzt gegangen?“
„Doch, aber der Tierarzt konnte ihm leider auch nicht helfen, Prinzessin.“
„Warum hast du nicht einen königlichen Zauberer geholt, der deinen Hund heilt?“
„Niemand kann einen solchen Zauber vollbringen, Lisa“, erklärte er. „Aber der Tierarzt hat dafür gesorgt, dass er sich besser fühlte, bevor er gestorben ist.“
„Tut mir leid“, erwiderte Danielle mitfühlend. „Ich weiß, wie sehr du an ihm gehangen hast.“
„Danke.“ Er wusste, dass sie es ehrlich meinte, weil sie zu den wenigen gehörte, die seine besondere Beziehung zu diesem Hund verstanden. „Hast du auch ein Haustier?“, fragte er Lisa, um sie wieder aufzumuntern.
„Nein, aber ich mag Hunde. Ich habe mit Rufus gespielt, als er hier bei Prinz Eric war. Mommy hat versprochen, dass ich ein Tier haben darf, wenn ich älter bin.“
„Das hoffe ich für dich. Jedes Kind sollte einen besonderen Spielkameraden haben.“
„Kann ich dich haben?“, fragte Lisa eifrig. „Du spielst doch gern.“
Im ersten Moment wusste Nicolas nicht, was er antworten sollte.
„Ich habe gehört, wie Mommy das zu Sarah gesagt hat“, erklärte Lisa.
Danielle errötete verlegen und dachte, dass Lisa zum Glück nicht verstand, was eigentlich gemeint war.
„Vor allem aber bist du ein Prinz“, fuhr Lisa fort. „Und ich könnte einen Prinzen brauchen.“
„Du brauchst also einen Prinzen“, sagte Nicolas vorsichtig. „Wofür denn?“
„Ach, für eine ganze Menge.“ Lisa zählte an den Fingern ab. „Er soll mich retten und verteidigen und mir überhaupt immer zu Diensten sein, genau wie im Märchen.“
Daraufhin verdrehte Danielle die Augen und seufzte.
Nicolas lächelte bloß, obwohl es ihm nie gefiel, wenn jemand in ihm den Prinzen sah. Eigentlich entsprach er nicht dem Bild eines Helden, der auf einem Schimmel dahergeritten kam und das Königreich rettete. „Vielleicht bin ich in diesen Dingen nicht so gut, wie du denkst“, warnte er.
„Möglich, aber das werde ich schon merken“, erwiderte Lisa zuversichtlich. „Möchtest du es versuchen?“
Danielle stand auf. Sie wollte nicht, dass er Lisas Prinz wurde. „Wir sollten jetzt gehen, damit Nicolas weiterarbeiten kann.“
Auch Lisa stand auf und ging zu Nicolas. „Weißt du noch, was du gestern gesagt hast? Dass du mir zu Diensten bist?“
An den Vorfall in der Schule erinnerte er sich nur zu gut. „Ich werde mich bemühen, Prinzessin“, versprach er.
Danielle warf ihm einen warnenden Blick zu, während sie die Küche verließen. „Was führt dich eigentlich nach Land’s End?“, erkundigte sie sich.
„Mein Vater hat mich hergeschickt.“
„Und wann reist du wieder ab?“
Lisa wandte sich betroffen an ihre Mutter. „Der Prinz reist wieder ab?“
„Ganz bestimmt, Schätzchen“, sagte Danielle. Manchmal schmerzte die Wahrheit, aber ihre Tochter musste sie kennen.
Betrübt sah Lisa ihn an. „Du reist ab?“
Am liebsten hätte er geschworen, dass er sie niemals verlassen würde. Aber entsprach das den Tatsachen? Nicolas wusste es nicht. Obwohl es ihm schwerfiel, antwortete er so aufrichtig wie möglich. „Bisher bin ich immer abgereist, Prinzessin.“
Schmerzlich erinnerten diese Worte Danielle an die letzte gemeinsame Nacht mit Nicolas. Trotzdem war Danielle ihm dankbar. Statt nach Entschuldigungen für sein Verhalten zu suchen, antwortete er ehrlich. Genau wie damals.
Lisa sah das ganz anders. „Also, dass du immer abgereist bist, heißt doch nicht, dass du es wieder machen wirst“, meinte sie unbekümmert.
Darauf wusste weder Nicolas noch Danielle eine Entgegnung.
„Wie soll ich dich eigentlich nennen?“, erkundigte sich Lisa, als sie das Gittertor erreichten. „Prinz Nicolas, wie du in der Sporthalle gesagt hast, oder Prinz der Herzen, wie sie dich in den Nachrichten nennen, oder Mister …“
„Mr. d’Alderney“, warf Danielle ein.
„Oder Mr. d’Alderney“, fuhr Lisa fort, „oder vielleicht Hoheit oder …“
Oder Daddy, dachte Nicolas und las Danielle an den Augen ab, dass ihr der gleiche Gedanke gekommen war. „Wie möchtest du mich denn nennen?“
„Prinz Nicolas“, entschied sie.
Am Tor blieb er stehen und verabschiedete seine Gäste.
Nach einigen Schritten drehte Lisa sich noch einmal um. „Ach, Prinz Nicolas, ich wollte dich was fragen.“
„Tatsächlich?“, entgegnete er trocken. „Ich dachte schon, dir würde nichts mehr einfallen.“
„Aber klar doch! Ich habe nicht gefragt, ob du jemals eine schlafende Prinzessin geweckt hast.“
Nicolas’ und Danielles Blicke trafen sich. Beide dachten in diesem Moment an jene Sommernächte, in denen er zu ihrem Schlafzimmerfenster gekommen war. Der sinnliche Zauber von damals schlug sie wieder in seinen Bann.
Ja, Nicolas hatte mit einem Kuss aus tiefster Seele eine schlafende Prinzessin geweckt – doch nicht nur das. Er hatte auch in sich ein Gefühl geweckt, dessen Verleugnung ihn beinah zerstört hätte. Und er fürchtete, dieses Gefühl könnte nun allmählich wieder wachsen. Ein schwer zu beschreibender Schmerz, gepaart mit starker Sehnsucht, stieg in ihm auf, mochte er sich auch noch so wehren.
„Hast du, Prinz Nicolas?“, drängte Lisa.
„Vor langer Zeit dachte ich es“, erwiderte er, ohne Lisa anzusehen. „Aber ich fürchte, das war nur ein Traum.“
„Glaubst du, Mommy, er hat geträumt?“
Es fiel Danielle schwer, den Blick von Nicolas zu wenden. „Wahrscheinlich“, sagte sie möglichst unbekümmert. „Ich hatte früher einen ähnlichen Traum. Dann aber habe ich erkannt, dass sich eine kluge Prinzessin im wirklichen Leben auf keinen launenhaften Prinzen verlassen sollte.“