Dunkle Visionen

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Dunkle Visionen weisen dem FBI-Agenten Kyle und der schönen Madison den Weg: In ihren Furcht erregenden Träumen sieht Madison Frauen in Todesangst - wie damals ihre Mutter, die von einem Wahnsinnigen niedergestochen wurde. Jahre sind seitdem vergangen, doch es scheint, als ob der Täter wieder neue Opfer sucht. Und es sind Frauen aus Madisons unmittelbarer Nähe, die ermordet werden. Immer deutlicher werden ihre Visionen, immer enger wird das Netz, das der Mörder zieht - und immer größer Kyles Angst. Denn in Momenten höchster Gefahr hat er erkannt, dass er und Madison zusammengehören...


  • Erscheinungstag 10.12.2012
  • ISBN / Artikelnummer 9783955761738
  • Seitenanzahl 192
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Heather Graham

Dunkle Visionen

Roman

Aus dem Amerikanischen von
Emma Luxx

Image

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

If Looks Could Kill

Copyright © 1997 by Heather Graham Pozzessere

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V., Amsterdam

Herstellungsleitung: fredeboldpartner.network, Köln

Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Köln

Titelabbildung: Corbis, Düsseldorf

Satz: Berger Grafikpartner, Köln


ISBN 978-3-95576-173-8

Genehmigte Sonderausgabe für

Verlagsgruppe Weltbild GmbH

Steinerne Furt, 86167 Augsburg

Deutsche Hardcover-Erstausgabe 2004

Bereits erschienen bei MIRA Taschenbuch als

Deutsche Taschenbuch-Erstausgabe Mai 2003

Cora Verlag GmbH & Co. KG,

Axel-Springer-Platz 1, 20350 Hamburg

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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PROLOG

Madison konnte die Stimmen aus dem Schlafzimmer hören, und sie machten ihr Angst.

Sie war zwölf, fast dreizehn, deshalb war sie nicht mehr so leicht zu erschrecken, immerhin hatte sie schon einiges mitbekommen von der Welt. Ihre schöne, flatterhafte Mutter hatte den ebenso flatterhaften und temperamentvollen Maler Roger Montgomery geheiratet, und seitdem waren oft Stimmen und Geräusche aus dem Elternschlafzimmer gedrungen.

Aber heute Nacht …

Irgendetwas war anders als sonst. Es war nicht der übliche hitzige Streit, der da ablief. Sie bezichtigten sich nicht beide wie sonst so oft gegenseitig der Untreue. Da war eine andere Stimme in dem Raum, eine heisere Stimme …

Eine drohende Stimme, die Madison einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagte. Die Stimme war böse. Madison wusste es. Sie versuchte sich einzureden, dass sie sich etwas einbildete, dass es vielleicht doch die Stimme ihrer Mutter sei, immerhin war Lianie Adair eine berühmte Schauspielerin, die bekannt war für ihre fast unheimlich anmutende Fähigkeit, alle möglichen Stimmen und Akzente nachahmen zu können.

Aber es war nicht ihre Mutter, die da sprach. Madison war sich sicher.

Sie wusste, dass ihre Mutter im Bett keine Spielchen spielte oder irgendwelche Sexphantasien ausagierte. Irgendjemand, irgendetwas … Böses … war in dem Raum.

Sie fragte sich, ob Roger ebenfalls da war. Sie wusste es nicht. Sie hörte, wie die Stimme ihrer Mutter eine Oktave höher kletterte und wieder abfiel, ein leiser Unterton von Hysterie, ein Flehen schwang darin mit. Dann vernahm sie wieder das tonlose Flüstern. Die andere Stimme.

Die böse Stimme.

Die Stimme, bei deren Klang sie eine Gänsehaut bekam.

Ohne nachzudenken war sie aus ihrem Zimmer geschlüpft, und jetzt stand sie im Flur, ein vor Angst bibberndes Gespenst in ihrem übergroßen Baumwoll-T-Shirt. Sie tappte barfuß den Flur hinunter, begierig darauf, so schnell wie möglich zu ihrer Mutter zu kommen, gleichzeitig jedoch fürchtete sie sich schrecklich davor. Sie konnte sich den grässlichsten Horrorfilm anschauen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, und sie scheute selbst vor der waghalsigsten Wette nicht zurück. Schon als kleines Mädchen hatte sie der sehr realen Möglichkeit von Monstern in ihrem Schrank oder unter ihrem Bett getrotzt, indem sie sich immer wieder vorgesagt hatte, dass sie schlicht keine Angst hatte. Normalerweise fürchtete sie sich nicht im Dunkeln, das ließ sie einfach nicht zu.

Aber heute Nacht …

Oh Gott, hatte sie Angst. Es lag an der Stimme. Diese zischende, drohende Stimme, in der unüberhörbar das Böse mitschwang. Der Flur schien überhaupt kein Ende nehmen zu wollen, obwohl es sicher nur wenige Meter von ihrer Türschwelle bis zu der ihrer Mutter waren. Je mehr sie sich zwang, sich zu bewegen, desto mehr schien sie mit dem Fußboden zu verwachsen. Angst schnürte ihr die Kehle zu, deshalb konnte sie nicht schreien, obwohl sie es wollte, gleichzeitig wusste sie jedoch, dass sie nicht schreien sollte, um die Stimme nicht wissen zu lassen, dass sie unterwegs zum Elternschlafzimmer war.

Sie musste sich bewegen, um die Person zu sehen, die zu der Stimme gehörte.

Sie wollte rennen, aber sie konnte es nicht, weil irgendetwas Schreckliches geschehen könnte, wenn sie es täte.

Es sei denn, dieses Schreckliche geschah bereits, dann musste sie sehr tapfer sein. Sie musste das Böse aufhalten.

Das Böse lag in der Luft und drückte sie nieder. Es machte ihr das Atmen schwer, sodass jeder Schritt eine Qual war. Die Tür ihrer Mutter wirkte irgendwie seltsam verzerrt, als hätte das Böse dahinter sie anschwellen lassen, während durch die Türritzen merkwürdig blutrotes Licht zu fallen schien.

Sie musste einen klaren Kopf bewahren.

Bestimmt stritt sich ihre Mutter mit Roger.

Sie musste ruhig und vernünftig bleiben. Und ihre Mutter in sachlichem Ton daran erinnern, dass sie ein Recht auf ein paar Stunden ungestörten Schlaf hatte. Doch falls Lainie sich mit Roger zankte, war es natürlich durchaus auch möglich, dass sich die beiden bereits wieder versöhnt hatten, wenn sie beim Schlafzimmer angelangt war, und wenn sie dann reinstürmte, nun …

Sie wünschte sich, Lainie und Roger bei irgendeiner lasterhaften Sexakrobatik zu stören, aber sie wusste, dass das nicht der Fall sein würde.

Sie wusste es. Gott möge ihr helfen, aber sie wusste es.

Sie konnte spüren, was ihre Mutter verspürte, und Lainie verspürte Angst. Sie wurde bedroht, und sie versuchte, die Bedrohung mit Worten abzuwenden. Sie redete verzweifelt und schnell, mit beschwörender Stimme. Sie versuchte …

Madison blieb abrupt stehen, sie zitterte am ganzen Körper, ihr T-Shirt war mit kaltem Angstschweiß durchtränkt. Weil sie nicht einfach nur fühlte, was Lainie fühlte.

Sie sah es! Sie sah, was Lainie sah. Madison sah durch Lainies Augen.

Und Lainie sah ein Messer.

Ein langes, silbern aufblitzendes Messer, scheußlich scharf. Ein Fleischermesser. Madison hatte es schon früher gesehen, in der Küche. Es gehörte dorthin, in den Holzblock auf dem Tresen, in dem alle großen Küchenmesser steckten. Es hing wie ein Damoklesschwert in dem gedämpften Licht des Schlafzimmers in der Luft, direkt über Lainie.

Lainie schaute es an … und Madison sah durch ihre Augen.

In diesem Moment sauste das Messer nach unten.

Lainie schrie, aber Madison hörte den gellenden Schrei ihrer Mutter nicht, weil sie selbst schrie, während sie auf dem Absatz kehrtmachte und den Weg, den sie gekommen war, zurückrannte. Wobei sie fühlte. Das fühlte, was ihre Mutter fühlte.

Das Messer.

Wie es in sie eindrang. Wie es sie direkt unterhalb der Rippen durchbohrte.

Madison taumelte und wäre fast gefallen. Sie lehnte sich gegen die Wand, spürte den schrecklichen Schmerz, die Kälte, die Todesangst. Sie spürte den Tod kommen. Sie fasste sich an die Taille, und als sie nach unten schaute, sah sie Blut an ihren Händen …

Ihr war kalt, eisig kalt. Dunkelheit umfing sie. Sie tastete an der Wand nach Halt. Sie versuchte erneut zu schreien, doch noch ehe sie tief Luft geholt hatte, schluckte die Dunkelheit sie, und sie fiel in ein gähnendes schwarzes Loch.

„Madison. Madison!“

Sie erwachte beim drängenden Klang ihres Namens und öffnete die Augen. Sie lag auf der Couch im Wohnzimmer, und Kyle war da, Rogers Sohn. Er war achtzehn, fünf Jahre und ein paar Monate älter als sie, aber er spielte sich in der Regel so auf, als wären es mindestens zwölf. Schwarze Haare, grüne Augen, Quarterback seines Footballteams. Die Hälfte der Zeit hasste sie ihn, besonders wenn er sie „Pimpf“ und „Dödel“ oder „Klein Doofi“ nannte. Doch wenn seine Freunde nicht da waren und er nicht alle Hände voll damit zu tun hatte, bei den Cheerleaders Eindruck zu schinden, konnte er manchmal sogar ganz nett sein. Und wenn sie wieder einmal felsenfest davon überzeugt war, das Produkt der kaputtesten Familie aller Zeiten zu sein, sagte er ihr, dass sie aufhören solle herumzujammern, und dass es eine Menge Leute gab, die Stief- und Halbbrüder und -schwestern hatten. Wenn er nicht ihr Stiefbruder gewesen wäre, hätte sie vielleicht sogar für ihn geschwärmt. Doch da er es nun einmal war, gestattete sie sich nicht, auch nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden.

Okay, dann hatte sie eben ein paar mehr Stiefgeschwister als die meisten anderen. Und okay, Lainie war nicht nur eine ungewöhnlich coole Mom, sie war Spitzenklasse. Genau betrachtet, war es gar nicht mal so schlecht, Lainie zur Mutter zu haben oder Roger zum Stiefvater. Ihr richtiger Dad, Jordan Adair, war ein berühmter Schriftsteller. Und wen interessierte es schon, wie viele Stiefmütter sie hatte?

Manchmal hasste Madison Kyle regelrecht, aber es gab auch andere Zeiten, und wenn ihr wieder mal stinklangweilig war, konnte er sie immerhin ziemlich gut zum Lachen bringen. Und manchmal, manchmal wurde ihr ganz warm, wenn sie ihn anschaute. Dann war er ihr plötzlich irgendwie ganz nah.

Doch jetzt glitzerten in seinen grünen Augen Tränen. „Madison?“

„Madison … bist du okay, Madison?“

Sie wandte leicht den Kopf. Roger war auch da. Roger, der seinen Tränen freien Lauf ließ.

„Roger, geh mal einen Schritt zur Seite, bitte.“

Es war ihr Vater, der sprach. Der Jordan Adair, ein überaus attraktiver Endvierziger mit langem silbergrauen Haar, einem silbergrauen Bart und dunklen, durchdringenden Augen. Er und ihre Mutter waren geschieden. Lainie war bereits bei ihrem dritten Ehemann angelangt; zuerst war sie mit einem Rockstar verheiratet gewesen, dann mit einem Schriftsteller und schließlich mit einem Maler. Jordan bevorzugte ebenfalls Künstlerinnen, allerdings schien er nicht ganz so wählerisch zu sein. Neben einer Opernsängerin, einer Balletttänzerin und Lainie war er auch mit einer Stripteasetänzerin verheiratet gewesen, und dann hatte er das Muster durchbrochen und eine Sextherapeutin geehelicht. Obwohl er Lainie immer geliebt hatte. Immer. Und Madison wusste, dass er sie ebenfalls liebte.

Wie Roger und Kyle hatte auch Jordan Tränen in den Augen.

Dann hörte sie die Sirenen. Und sah, wie sich das Foyer wenig später mit Polizisten füllte. Roger ging weg. Sie sah noch mehr Leute aus ihrer Familie, ihre Schwester und ihre Stief- und Halbgeschwister, die betreten im Wohnzimmer herumstanden.

Die Mädchen, Jassy und Kaila. Jassy, die Tochter ihres Vaters aus erster Ehe, war hübsch und zierlich, eine dunkeläugige Blondine. Kaila war Madisons einzige richtige Schwester. Sie und Kaila hatten genau wie Lainie rote Haare und blaue Augen.

Ihre anderen Brüder waren ebenfalls anwesend. Trent, der Sohn ihres Vaters aus zweiter Ehe, hatte sandfarbenes Haar und Jordans durchdringende dunkle Augen. Rafe, Rogers Sohn aus erster Ehe, war zwanzig und vom Typ her völlig anders als Roger und Kyle; seine Augen waren silbergrau und sein Haar schimmerte in einem nordischen Blond. Wie alle anderen stand auch er blass und schweigend da, mit erschrockenem Gesichtsausdruck und Tränenspuren auf den Wangen.

Kaila, die nur ein Jahr jünger war als Madison und ihr wie ein Ei dem anderen glich, begann plötzlich laut aufzuschluchzen. Ihre Knie gaben nach, aber Rafe legte fürsorglich einen Arm um sie, bevor sie hinfallen konnte.

Plötzlich fiel Madison alles wieder ein.

Sie schrie und schrie und fing an zu zittern. Im Haus waren Sanitäter, und noch während sie schrie und herumstotterte und hysterische Erklärungen abzugeben versuchte, kam irgendjemand mit einer Spritze und stach ihr die Kanüle in die Armbeuge. Sie hörte, wie jemand sagte, dass sie jetzt auf keinen Fall von der Polizei vernommen werden könnte und selbst wenn, was hätte es noch für einen Sinn? Dann begann das Beruhigungsmittel zu wirken, und wieder senkte sich Dunkelheit auf sie herab.

Diesmal wachte sie im Haus ihres Vaters auf. Kyle saß auf ihrer Bettkante. Sie hörte ein leises Schluchzen aus dem Zimmer nebenan. Eine ihrer Schwestern.

„Meine Mutter ist tot“, flüsterte sie.

Überrascht hob Kyle den Blick. Er schaute sie mitfühlend an und nickte.

„Irgendjemand hat sie getötet, Madison. Es tut mir so Leid. Dein Dad ist drüben bei Kaila, aber ich kann ihn holen, wenn du …“

„Ich habe es gesehen, Kyle.“

Er verengte die Augen.

„Ich habe es gesehen.“

„Was meinst du damit, du hast es gesehen? Du warst im Flur. Ist der Mörder an dir vorbeigerannt? Hast du gesehen, wer es getan hat?“

Sie schüttelte den Kopf und suchte nach den richtigen Worten, um das zu beschreiben, was sich ereignet hatte. Die Tränen schossen ihr in die Augen. „Sie hatte Angst, schreckliche Angst. Sie sah das Messer. Ich sah es auch. Ich spürte es.“

„Madison, du warst etliche Meter von ihrem Zimmer entfernt, als wir dich fanden. Warst du denn bei ihr drin?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Dann kannst du auch nichts gesehen haben.“

„Doch. Ich habe das Messer gesehen.“

„Und wer hat sie getötet?“

„Das weiß ich nicht. Ich konnte das Gesicht nicht erkennen. Ich habe nur das Messer gesehen. Wie es runtersauste. Und ich habe es gespürt. Ich konnte spüren, wie es sie durchbohrte.“ Sie begann wieder zu zittern und in sich hineinzuschluchzen. Ihre Mutter war umgebracht worden, und es fühlte sich an, als ob sich eine Million winzig kleiner Messer in ihr Herz bohrten. Lainie war egoistisch gewesen und eigensinnig und rücksichtslos, aber sie war ihre Mutter gewesen, diejenige, die sie gehalten, die sie umsorgt, die mit ihr gelacht hatte, die den Kopf über sie geschüttelt und sich die Zeit genommen hatte, im letzten Februar mit ihrer Schulklasse aus Pfeifenreinigern rote Herzchen für den Valentinstag zu basteln. Ihre Mutter war tot, und sie glaubte nicht, dass sie das ertragen konnte.

Kyle sagte jetzt nichts mehr. Er saß auf ihrer Bettkante und nahm sie ungeschickt in den Arm, während sie weinte. Irgendwann kam ihr Vater und löste Kyle ab, und sie weinte immer noch. Sie versuchte, ihrem Vater zu sagen, dass sie das Messer gesehen, dass sie gespürt hatte, wie Lainie gestorben war.

Ihr Vater war sanft und zärtlich, und er tat so, als ob er ihr glaubte, aber sie wusste, dass er es nicht tat.

In den nachfolgenden Tagen und Wochen setzte die Polizei alles daran, den Mordfall aufzuklären. Man unterzog Lainies Ehemann sowie ihren Ex-Ehemann endlosen Verhören, weil es nach Meinung der Polizei durchaus wahrscheinlich war, dass einer von beiden der Täter war. Ein Verbrechen aus Leidenschaft erschien allen das Naheliegendste. Natürlich berichteten die Tageszeitungen und alle großen Illustrierten ausführlich über den Aufsehen erregenden Mordfall.

Auch Madison wurde von der Polizei vernommen. Sie sprach mit mehreren Polizeibeamten verschiedener Dienstgrade. Sie erzählte ihnen, dass sie das Messer gesehen, dass sie gespürt hatte, wie ihre Mutter gestorben war. Aber man glaubte ihr nicht. Bis auf einen Polizisten, der zumindest ein bisschen netter war als die anderen. Jimmy Gates. Er war noch relativ neu im Morddezernat, jung, mit warmen braunen Augen, sandfarbenem Haar und einer Sanftheit im Wesen, von der sie sich getröstet fühlte. Er wollte genau wissen, was sie gesehen hatte; er drängte sie dazu, sich zu erinnern. Als er sie ausfragte, sah sie die Hand wieder vor sich, die das Messer gehalten hatte. Und dann wusste sie auf einmal, dass der Mörder dünne fleischfarbene Handschuhe, die wie Arzthandschuhe aussahen, angehabt hatte.

Sie war überrascht über das, was sie sah. Und es verstörte sie.

Zuerst stand Roger ganz knapp davor, unter Mordverdacht festgenommen zu werden, dann ihr Vater. Aber in beiden Fällen reichte die Beweislage am Ende für eine Anklageerhebung nicht aus. Kyle, Kaila und Madison waren zum Zeitpunkt von Lainies Tod alle zu Hause gewesen; Roger war kurz danach heimgekommen. Kyle hatte sofort nach Entdeckung der Tat Jordan Adair angerufen. Bei dem Verhör hatte die Polizei die Vermutung geäußert, dass Roger, nachdem er Lainie getötet hatte, das Haus durch ein Fenster verlassen und die Tatwaffe irgendwo versteckt haben könnte, um anschließend zurückzukehren und angeblich seine Frau zu finden. Und Jordans Haus lag nur einen Katzensprung vom Tatort entfernt, sodass es ihm ein Leichtes gewesen wäre, sich nach dem Mord der Tatwaffe zu entledigen und innerhalb kürzester Zeit wieder zu Hause zu sein. Merkwürdigerweise hatten die beiden Männer zu keinem Zeitpunkt versucht, sich gegenseitig zu belasten. Und da sich keine weiteren Beweise fanden, war die Polizei schließlich gezwungen, die beiden in Ruhe zu lassen.

Time, Newsweek und People machten mit Schlagzeilen wie „Kann man sich mit Geld seine Unschuld erkaufen?“ auf.

Jimmy Gates hielt weiterhin Kontakt zu Madison. Er hörte mit großem Ernst zu, wenn sie wieder und wieder von dem erzählte, was sie gesehen und gespürt hatte. Er versuchte noch mehr aus ihr herauszubekommen, aber so sehr sie sich auch zu erinnern versuchte, blieb doch die behandschuhte Hand das Einzige, was sie sah. Ihr Vater ermahnte Gates, sie nicht noch länger zu quälen, aber sie sagte ihm, dass sie mit ihm sprechen wollte.

Zwei Monate nach dem Mord wurde ein Verdächtiger festgenommen.

Es handelte sich um einen geistig verwirrten Stadtstreicher namens Harry Nore. Madison kannte ihn schon fast ihr ganzes Leben lang vom Sehen. Er trieb sich meistens auf dem Coconut Grove herum oder saß bettelnd an der Kreuzung Bird und U.S. 1. Manchmal schrie er irgendetwas von der Wiederkunft des Herrn oder dass der Satan kommen und ein riesiges Flammenmeer sie alle verschlingen werde. Er war bei einem Einbruch im Nachbarhaus erwischt worden, als er sich gerade in der Küche eine Scheibe Brot abschnitt.

Mit einem Fleischermesser.

Hätte es sich nur um einen Mundraub gehandelt, wären die Nachbarn sogar bereit gewesen, ein Auge zuzudrücken, doch als sich herausstellte, dass er sich die Taschen mit dem Familienschmuck voll gestopft hatte, alarmierten sie die Polizei.

Bei der Entdeckung, dass Harry Nore um den Hals ein goldenes St. Christopherus-Medaillon trug, das Roger Montgomery gehörte, wurde die Polizei zum ersten Mal hellhörig und begann sich zu fragen, ob der Mann womöglich mehr war als nur ein Dieb. Auf dem Fleischermesser, das Nore zum Brotschneiden benutzt hatte, fand man Blutspuren.

Lainies Blut.

Unter den Fingerabdrücken, die man in Lainies Schlafzimmer sichergestellt hatte, befanden sich auch die von Nore. Und er war alles andere als ein unbeschriebenes Blatt. Er hatte bereits einmal im Gefängnis gesessen, um für den Mord zu büßen, den er mit einem ähnlichen Messer an seiner Ehefrau verübt hatte.

Allerdings wurde Harry Nore für den Mord an Lainie Adair Montgomery niemals verurteilt; bei der Gerichtsverhandlung erklärte man ihn für unzurechnungsfähig. Wenn man ihn mit den Anschuldigungen konfrontierte, bekam er Tobsuchtsanfälle und fing an zu rasen. Gott höchstpersönlich hätte ihm das Messer in seinen Hut geworfen, behauptete er. Gott hätte ihm gesagt, wer gut war und wer schlecht. Er gestand, Lainie getötet zu haben, und sagte aus, dass sich der Teufel nur eine Seele geholt hätte, die ihm ohnehin schon gehörte. Lainie wäre schön und verderbt gewesen, so schön, dass sie die Männer mit ihrer Schönheit in den Wahnsinn und zu perversen Handlungen und zu Gewalt getrieben hätte. Sie sei eine Satansbrut gewesen und wäre jetzt wieder dort, wo sie hingehörte.

An Ende hatte man Harry Nore in eine Anstalt für geisteskranke Straftäter in Nordflorida gesteckt. Sein irres, nahezu zahnloses Grinsen war auf sämtlichen großen Illustrierten im ganzen Land zu sehen gewesen. Mittlerweile gab es keinen Zweifel mehr daran, dass er der Mörder war, und die Bezirksstaatsanwaltschaft war erleichtert, dass man einen Schuldigen gefunden hatte, und sagte Madison und ihrer Familie, dass sie jetzt zumindest nicht mit der Unsicherheit eines unaufgeklärten Mordfalls leben müssten. Nore war mit der Mordwaffe aufgegriffen worden, und er hatte die Tat gestanden. Im Grunde genommen war der Fall sonnenklar, und Madison verstand nicht, warum sie sich nicht so zufrieden gestellt fühlte, wie sie es eigentlich sollte, nachdem der formalen Gerechtigkeit Genüge getan war. Sie fragte sich, ob es nur daran lag, dass auch die Tatsache, dass Harry Nore sicher hinter Schloss und Riegel saß, ihr ihre Mutter nicht zurückbringen konnte. Oder waren es Harry Nores Fingerabdrücke im Schlafzimmer ihrer Mutter, die sie stutzig machten, wo sie doch genau wusste, dass der Mörder Handschuhe getragen hatte?

Die Polizei war zufrieden, und selbst Harry Nore war glücklich. Jetzt musste er wenigstens nie mehr an der U.S. 1 die Vorübergehenden anbetteln. Ihm war dreimal am Tag eine ordentliche Mahlzeit garantiert.

Das Leben ging weiter. Madison hätte es nie für möglich gehalten, und doch war es so. Aber sie hörte nie auf, um ihre Mutter zu trauern. Und wenn der Schmerz auch blieb, schwächte er sich doch ab, sodass er sich ertragen ließ. Selbst das Interesse der Medien ging schließlich zurück, und nur ab und zu brachte noch ein Privatsender eine Sendung über Lainie und ihr wildes Leben sowie ihr tragisches Ende.

Madison und Kaila zogen nach dem Tod ihrer Mutter zu ihrem Vater. Kyle, Jassy und Trent gingen auf verschiedene Universitäten. Rafe machte an der Florida International University sein Examen und ging anschließend nach New York an die Wall Street. Madisons Leben drehte sich um die Schule, Schulbälle und Partys, sie probierte Make-up aus, rasierte sich die Beine, ließ sich Löcher in die Ohrläppchen stechen und färbte sich an Halloween ihr Haar vorübergehend grellblau.

Die Jahreszeiten gingen ineinander über, sie verliebte sich und entliebte sich wieder. Ihr Vater heiratete zweimal in drei Jahren. Beide Frauen waren so schnell wieder in der Versenkung verschwunden, dass sie sich kaum an ihre Namen erinnern konnte.

Sie begann zu vergessen, dass sie das Messer, das ihre Mutter getötet hatte, wirklich gesehen hatte.

Sie begann zu vergessen …

Sie war jung, und das Leben ging weiter. Sie würde Lainie immer lieben, sie würde sich immer an sie erinnern. Aber mit jedem Tag, der ins Land ging, begannen die kleinen Dinge des Lebens eine größere Rolle zu spielen. Ihre Schwestern und Brüder. Jassy, die aufpasste, dass sie keine Dummheiten machte. Kaila, die sie brauchte. Rafe und Trent, mit denen sie sich gut verstand. Kyle, der für eine Weile freundlich war, um dann wieder wegen irgendetwas, das sie tat oder sagte, an die Decke zu gehen, der stark war oder sanft, wenn sie seine Hilfe am meisten brauchte. Das Leben musste gelebt werden.

Schmerz und Angst verblassten nach und nach immer mehr.

Aber sie war das Ebenbild ihrer Mutter.

Und der Schrecken war entschlossen, sich an ihre Fersen zu heften.

1. KAPITEL

Zwölf Jahre später …

Madison spürte, dass sie sich in den Netzen eines Traums verheddert hatte und kämpfte instinktiv, selbst im Schlaf, dagegen an. Sie versuchte aufzuwachen. Aber umsonst – sie war bereits zu tief in ihrer Traumwelt verstrickt.

Sie hörte sich lachen, nur dass sie das nicht wirklich war. Sie war die andere Frau, die Frau im Traum. Schön, mit tiefrotem Haar, charmant. Sie wusste, dass sie irgendwo übernachten würden, sie und dieser charismatische Mann. Sie war so aufgeregt. Das Gefühl der gespannten Erwartung war so prickelnd. Sie würden Liebe machen. Sie wollte Liebe mit ihm machen. Sie wollte sich verführen lassen und hinweggeschwemmt werden von ihrer Lust, und am Montag würde sie ihren Freundinnen von ihm erzählen. Sie würde lachen und ihnen vorschwärmen, was für ein atemberaubender Liebhaber er war und wie unglaublich romantisch und was für ein traumhaftes Wochenende sie verlebt hätten, und sie würde so glücklich sein, wie es eine verliebte Frau mit einem attraktiven Liebhaber nur sein konnte, mit einem Mann, der sie so sehr liebte, dass …

Madison wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie schrie im Traum, aber vergeblich. Sie war die schöne Frau, und sie wurde von ihrer Erregung hinweggeschwemmt, von ihrem Verlangen und der Sehnsucht, berührt und begehrt zu werden … Oh Gott, es hatte etwas so Erbärmliches an sich, derart bedürftig zu sein.

Die Landschaft flog vorbei. Madison erkannte sie wieder und erkannte sie doch nicht. Sie wollte aufwachen, sie wollte das aufhalten, was gleich passieren würde, aber sie konnte es nicht.

Das Paar lachte und schäkerte miteinander. Das Gesicht des Mannes konnte sie nicht erkennen, aber sie sah das wunderschöne dunkelrote Haar der Frau, das im Fahrtwind wehte.

Dunkelheit senkte sich herab. Zeit verstrich …

Sie waren in einem Schlafzimmer. Einem dämmrigen Hotelzimmer. Sie lachte wieder, so glücklich, so voller freudiger Erwartung. Sie küssten sich, flüsterten sich gegenseitig heisere Liebesworte ins Ohr. Er machte die Knöpfe ihrer Bluse auf … einen nach dem anderen … berührte sie, streichelte sie …

Madison wollte beschämt den Blick abwenden, plötzlich fühlte sie sich wie ein Voyeur. Die rothaarige Frau war zu allem bereit. Sie war bereit, ihrem Geliebten jeden Wunsch zu erfüllen. Nackt wälzten sie sich eng umschlungen auf dem Bett. Sie erlaubte, dass er sie umdrehte, auf den Bauch. Seine Finger krallten sich in ihr Haar, zogen ihren Kopf zurück. Sie drehte den Kopf nur leicht, um ihren Liebhaber anschauen zu können, und in diesem Augenblick sah sie …

Das Messer … oh Gott, das Messer, das auf sie zukam …

Madison wachte auf und schluckte verzweifelt den Schrei hinunter, der ihr im Hals steckte. Carrie Ann schaute sich in ihrem Zimmer ein Video an; sie durfte ihre Tochter nicht erschrecken. Großer Gott, sie zitterte immer noch am ganzen Körper. So einen schrecklichen Traum hatte sie schon seit langem nicht mehr gehabt.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war fast fünf Uhr nachmittags; um acht hatte sie einen Auftritt. Sie hatte nicht vorgehabt einzuschlafen. Ganz gewiss aber hatte sie nicht vorgehabt zu träumen. Und, oh Gott, schon gar nicht einen so entsetzlichen, qualvoll lebendigen, erschreckenden Traum …

Sie stand auf und lief einen Augenblick in ihrem Zimmer auf und ab, dann ging sie zum Telefon und wählte Jimmy Gates’ Nummer. Glücklicherweise war er noch im Büro.

„Madison?“ fragte er, aber sie sprudelte auch schon ohne Übergang los.

„Jimmy, dieser Traum …“

Er hörte zu, ohne sie zu unterbrechen.

„Jimmy, ist irgendetwas passiert? Weißt du irgendetwas von dem, was ich dir eben erzählt habe?“

Sein Zögern ließ sie zusammenzucken. Ja, es war etwas passiert, das spürte sie ganz deutlich.

„Ich weiß nicht … ich meine, ich bin mir nicht sicher, ob alles so war, wie du eben beschrieben hast, aber … hör zu, ich habe da einen Fall. Ich wollte dich ohnehin am Montag anrufen. Ich brauche deine Hilfe. Du bist doch übers Wochenende unten bei deinem Dad, richtig?“

„Ja.“

„Ich hole dich am Montag früh bei dir zu Hause ab. Wir können dann von dort aus hinfahren, okay? Ich wünsche dir ein schönes Wochenende. Und gib Carrie Anne einen Kuss von mir, hörst du? Aber vielleicht komme ich am Samstagabend auch kurz runter. Und mach dir keine Sorgen – es gibt niemanden, für den du im Augenblick etwas tun könntest außer für dich selbst, hast du verstanden?“

Sie nickte, und weil er es nicht sehen konnte, sagte sie ja und legte auf, dann seufzte sie erleichtert auf, weil die erschreckende Lebendigkeit des Traums langsam verblasste. Sie hasste es, wenn sie solche Träume hatte.

Sie fuhr sich mit einer Bürste durchs Haar. Also schön, sie hatte Jimmy angerufen. Sie würde tun, was in ihrer Macht stand, um zu helfen, so wie sie es in der Vergangenheit schon öfter getan hatte. Glücklicherweise wurde sie nur selten von derartigen Träumen heimgesucht. Wenn sie helfen konnte, tat sie es. Und doch wusste sie, dass sie die Welt nicht von dem Bösen erlösen konnte. Sie konnte ja nicht einmal ihre eigene Familie von ihren Problemen erlösen.

Die Träume hatten mit dem Tod ihrer Mutter angefangen.

Sie legte sich wieder aufs Bett und starrte an die Decke, wobei sie sich wünschte, nicht so von ihren Erinnerungen überwältigt zu werden. Während der ersten fünf Jahre nach dem Tod ihrer Mutter war sie von den seltsamen Visionen verschont geblieben.

Dann hatte sie den ersten Traum gehabt.

In ihm war sie aus einem unbekannten Haus gekommen. Leise. Auf Zehenspitzen. Sie merkte, dass sie eine Pistole in der Hand hielt. Sie hörte Lärm und sah ein Auto. Sie war wütend, irgendwie war sie sich im Klaren darüber, dass es sich um ihr Auto handelte und dass irgendjemand versuchte, es zu stehlen.

Sie pirschte sich an und hob die Pistole …

Einen Augenblick später verspürte sie einen heftigen Schmerz im Arm, und sie schrie auf, dann erwachte sie, ihren Arm reibend und zitternd.

Sie war in ihrem Zimmer im Haus ihres Vaters, dem Zimmer, das sie sich mit ihrer Schwester Kaila teilte. Kaila lag auf der anderen Seite des Zimmers in ihrem Bett, sie war ebenfalls aufgewacht und rieb sich verschlafen die Augen. „Madison? Madison, was ist?“ Sie sprang aus dem Bett und rannte zu Madison hinüber, setzte sich auf den Rand.

Sie hatten sich häufig in der Wolle, nicht anders als die meisten Schwestern, besonders wenn sie vom Alter her so nah beieinander waren. Aber es gab auch viel Wärme zwischen ihnen. Sie waren vom Charakter her sehr verschieden, obwohl sie sich so ähnlich sahen, dass man sie für eineiige Zwillinge hätte halten können.

„Ach nichts, es war nur ein Traum“, wehrte Madison hastig ab.

„Was ist denn mit deinem Arm? Hast du dich gestoßen?“

„Was? Nein.“ Aber sie rieb sich noch immer ihren Arm, obwohl nichts mit ihm war. Sie schüttelte töricht den Kopf. „Nein, nein. Mir geht es gut. Ich hatte einen Alptraum, aber jetzt ist es wieder okay. Tut mir Leid, dass ich dich aufgeweckt habe.“

„Was hast du denn geträumt?“

„Ach, totalen Blödsinn. Ich war jemand anders, in einem anderen Haus. Irgendjemand hat versucht, mein Auto zu stehlen, und ich hatte eine Pistole und wollte eingreifen – dann schoss mir jemand in den Arm, und ich wachte auf. So ein Quatsch, echt.“

Kaila zuckte die Schultern. „Na, wenigstens mal was anderes. Und du bist dir sicher, dass du okay bist?“

Morgen würden sie sich wieder über Make-up in die Haare geraten oder wer wessen neue Jeans ungefragt angezogen hatte. Aber im Augenblick … Madison nickte, und Kaila drückte sie kurz und liebevoll, dann kroch sie wieder in ihr eigenes Bett.

Ein paar Tage später, nachdem der Traum Madison noch immer nicht losgelassen hatte, rief sie Jimmy Gates an. Er war nicht im Büro, und sie hinterließ törichterweise statt einer Nachricht nur ihren Vornamen.

Als sie an diesem Nachmittag Darryl Hart, den Jungen, dem alle Mädchenherzen an ihrer Schule zuflogen, nach Hause brachte, war sie überrascht, ein Auto in der Einfahrt stehen zu sehen, an dem ein Mann lehnte, den sie kannte. Detective Jimmy Gates. Er war jetzt ein bisschen älter, und seine Schläfen zeigten bereits das erste Grau. Er wirkte so gesetzt, wie es sich für einen Mann, der während der fünf Jahre, die seit Lainies Ermordung vergangen waren, die Karriereleiter emporgeklettert war, gehörte.

Sein Anblick verunsicherte sie. Es war wirklich idiotisch von ihr gewesen, ihn anzurufen. Sie hatte einfach nur einen Traum gehabt, das war alles.

Darryl verhielt sich wie der mustergültige Oberschüler, der er war, und legte ihr in einer Beschützergeste die Hand auf die Schulter. „Wer ist das denn? Was ist los?“

„Nichts ist los, Darryl. Er ist ein alter Freund der Familie. Ich glaube, wir müssen uns ein bisschen allein unterhalten. Ruf mich nachher an, okay?“

„Okay. Aber bist du dir wirklich sicher, dass ich dich mit ihm allein lassen kann? Heutzutage passieren so komische Sachen.“

„Es ist in Ordnung, Darryl. Wirklich. Er ist Polizist.“

Darryl fuhr unglücklich ab, wobei er sie noch im Rückspiegel beobachtete, während er aus der Einfahrt herausfuhr. Jimmy lächelte sie an.

„Hi, Jimmy. Spielen Sie immer noch ‚Miami Vice‘?“ scherzte sie, um ihre Unsicherheit zu überspielen.

Er zuckte die Schultern. „‚Miami Vice‘ gibt’s nur im Fernsehen“, sagte er.

„Aber Sie sind immer noch beim Morddezernat“, sagte sie.

„Ja, ich bin immer noch beim Morddezernat. Und ich möchte wissen, warum Sie mich angerufen haben.“

Sie zögerte, dann erzählte sie ihm von dem Traum, wobei sie sich für ihren Anruf entschuldigte und ganz sachlich zu klingen versuchte und nicht wie eine Idiotin.

Jimmy schaute ins Weite und schwieg einen Moment nachdenklich, dann wandte er den Kopf und blickte sie an. „Haben Sie von dem Peterson-Fall gehört?“

Sie nickte und versuchte den kalten Schauer zu ignorieren, der ihr über den Rücken kroch. Sie hatte davon gehört. Jeder in der Stadt hatte davon gehört. Earl Peterson hatte seine amtlich registrierte und sorgfältig unter Verschluss gehaltene Handfeuerwaffe aus dem Schrank genommen und war nach draußen gegangen, als er mitten in der Nacht den Motor seines Wagens anspringen hörte. Es hatte ein Handgemenge gegeben, und dann war er mit seiner eigenen Waffe erschossen worden. Seine Frau hatte ihn am nächsten Morgen um sechs tot in der Einfahrt liegend aufgefunden.

„Vielleicht können Sie mir ja helfen“, sagte Jimmy.

„Glauben Sie?“ Sie hätte ihn nicht anrufen sollen. Ihr war richtiggehend schlecht. Es war nicht so, dass sie ihm nicht helfen wollte, sie wollte nur dieses Wissen nicht.

„Sie haben etwas, Madison. Etwas Besonderes. Wollen Sie mir helfen?“

Sie zögerte. Ihrem Vater würde es nicht passen, aber sie war fast achtzehn. Sie hatte Mrs. Peterson im Fernsehen weinen sehen, und wenn sie etwas tun konnte, um das Leid der Frau zu lindern, würde sie es tun.

Madison ging zum Auto, und Jimmy öffnete ihr die Beifahrertür. Sie glitt auf den Sitz.

Dann fuhren sie zum Tatort.

In der von Bäumen gesäumten Einfahrt stand ein BMW. Beim Hinübergehen wurde Madison von einem kalten Grauen überschwemmt, sodass sie fast zurückgewichen wäre. Nur die Erinnerung an Mrs. Petersons tränenreiche Appelle veranlasste sie weiterzugehen.

Dann blieb sie stehen.

Sie schloss die Augen. Um sie herum war Nacht; Zorn lag in der Luft. Sie hörte jemanden schwer atmen. Mr. Peterson. Sie sah seine Hand, sah die Waffe, die er hielt, während er vorsichtig und voller Wut um den BMW herum auf den Schatten zuschlich, der sich an dem Türschloss zu schaffen machte. Sie begann heftig zu zittern, als sich aus dem dunklen Umriss einer Palme eine zweite Gestalt löste und ihren Arm auf Mr. Peterson niedersausen ließ. Mr. Peterson ließ mit einem Keuchen die Waffe fallen. Madison schrie auf, als sie einen Schmerz im Arm verspürte, denselben Schmerz, der sie in ihrem Traum durchzuckt hatte. Sie ging in die Hocke und drückte ihren Arm schützend an ihren Körper.

Der Mann hob die Pistole auf. Mr. Peterson, der am Boden lag, schaute zu ihm auf. „He, was …“ begann Peterson.

Der Mann, ein großer, hagerer Mensch mit einem blonden Bürstenhaarschnitt, blickte auf Peterson hinunter und betätigte mit kalter Ruhe zweimal den Abzug.

Madison konnte den Einschlag der Kugeln spüren. Sie schrie nicht auf, aber sie griff sich an die Brust.

Dann spürte sie die Kälte. Die schreckliche Kälte, die sich auf Peterson herabsenkte, als er seine letzten Atemzüge tat …

Und sie sah noch mehr. Sie sah, wie sich der Mörder und sein Komplize umdrehten und über die Straße auf einen Parkplatz zurannten.

Der Todesschütze blieb einen Augenblick stehen und machte dann Anstalten, noch einmal zurückzurennen, aber sein Begleiter hielt ihn auf, drängte ihn, vorwärts zu gehen. Madison sah sie weiterlaufen, spürte, wie sich die eisige Hand des Todes Petersons bemächtigte, dann wurde das Bild schwarz.

Jimmy war neben ihr und half ihr beim Aufstehen. „Ich hätte das nicht tun sollen. Himmel, schauen Sie sich an. Sie sind ja ganz schweißüberströmt und zittern wie Espenlaub …“

Sie schüttelte entschieden den Kopf. „Mir geht es gut. Mir geht es gut. Ehrlich.“ Sie zögerte. „Ich kann Ihnen eine Täterbeschreibung geben.“

Jimmy fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Also … ich weiß wirklich nicht, was ich davon halten soll. Wie soll ich irgendeinem Menschen glaubhaft machen, dass Sie … Dinge sehen?“

„Die Polizei macht sich öfter die Fähigkeiten von Menschen …“, begann sie, dann brach sie jedoch ab.

„… mit einer hellseherischen Gabe zunutze“, vollendete Jimmy ihren Satz.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich habe keine hellseherische Gabe. Das ist mir bis jetzt erst zweimal passiert. Aber ich könnte einem Polizeizeichner eine Personenbeschreibung geben.“

Madison gab der Polizei die Beschreibung, und ein Zeichner fertigte ein verdammt gutes Phantombild des Mannes an.

Man griff einen Verdächtigen auf, der große Ähnlichkeit mit dem Phantombild hatte, und nahm ihn zum Verhör mit aufs Revier. In dem Glauben, dass die Polizei mehr gegen ihn in Händen hätte, als es tatsächlich der Fall war, brach er schließlich zusammen und gestand den Mord an Earl Peterson. Danach versprach Madison Jimmy, ihn jedes Mal anzurufen, wenn sie einen dieser seltsamen Träume hatte.

Aber als sie das nächste Mal einen solchen Traum hatte, war es weitaus persönlicher. Und es veränderte ihr Leben.

Madison machte einen glänzenden High School-Abschluss. Sie hatte vor, in Washington, D.C., Kriminologie zu studieren – genau wie Kyle, der kürzlich sein Examen gemacht hatte und jetzt fürs FBI arbeitete.

Kyle kam zu ihrer Abschlussfeier. Sie hatten sich in den vergangenen Jahren nicht viel gesehen; er lebte in Washington, und nach Lainies Tod hatte sich die „Familie“ mehr oder weniger in alle Winde zerstreut. Aber zu ihrer Abschlussfeier reiste er an, ebenso wie alle ihre anderen Halb- und Stiefgeschwister.

Er brachte seine frisch angetraute Ehefrau mit. Sie hieß Fallon, und sie passte in ihrer makellosen Schönheit perfekt zu Kyle. Er war hoch gewachsen, dunkel, muskulös und gut aussehend; sie war zierlich, blond, mit bernsteinfarbenen Augen, schlank, mit einer Wespentaille. Madison war überrascht, dass sie sich gewünscht hatte, Kyles Frau möge sich als ein blondes Dummchen herausstellen, doch sie war alles andere als das. Sie hatte ebenfalls gerade Examen gemacht und arbeitete jetzt für das Smithsonian Museum. Sie war reizend und charmant, und Madison musste – wenn auch widerwillig – zugeben, dass sie sie sehr mochte. Sie sagte sich, dass sie schon immer übertrieben kritisch gewesen war, was Kyles Freundinnen anbelangte, weil er ihr … Nein. Einfach weil er Kyle war. Und obwohl sie sich einzureden versuchte, dass sie ganz bestimmt nicht in ihn verknallt war, war sie es dennoch. Sie war eifersüchtig.

In dieser Nacht schlief sie zum ersten Mal mit Darryl Hart. Darryl war bis über beide Ohren verliebt in sie und hatte vor, auf dasselbe College zu gehen wie sie. Sie wurde von all ihren Freundinnen beneidet.

Er machte seine Sache sehr gut. Und obwohl es ein kleines bisschen wehtat, war es alles andere als schrecklich. Nur dass es nicht so war wie in den Büchern, die sie gelesen hatte, aber Darryl versicherte ihr, dass es für Frauen immer besser würde.

Das hoffte sie und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie enttäuscht sie war. Darryl war unheimlich in Ordnung.

Sie ging die ersten drei Jahre auf dem College mit ihm.

Dann hatte sie … wieder einen Traum.

Sie hatte gewusst, dass Fallon ein Baby erwartete. Madison und Kyle wohnten relativ nah beieinander, sie in Georgetown, er am Stadtrand von Washington – aber sie ging ihm aus dem Weg. Sie und Darryl und Kyle und Fallon hatten sich ein paar Mal abends zum Essen getroffen, und alle hatten sich prächtig amüsiert – bis auf sie. Deshalb hatte sie dafür gesorgt, dass sich ein solches Treffen nicht wiederholte. Sie sagte sich, dass sie ein Biest war, eine schreckliche Person. Sie sollte sich für Kyle und Fallon freuen. Kyle war ihr Freund. Er hatte ihr durch die schlimmste Zeit ihres Lebens geholfen, deshalb war es ganz natürlich, dass sie sehr an ihm hing. Sie war nicht verliebt in ihn. Sie musste Darryl erst richtig zu schätzen lernen. Er war ausgeglichen. Er betete sie an und war unglaublich aufmerksam. Er sah gut aus und hatte einen Körper wie ein junger Gott. Sie wusste, was sie an ihm hatte.

Er passte perfekt zu ihr.

In der Nacht, in der sie den Traum von Kyle und Fallon hatte, war sie mit Darryl zusammen.

Es war schrecklich. Es war fast, als ob sie mit ihnen im selben Zimmer wäre. In ihrem Schlafzimmer.

Fallon lag im Bett und warf sich von einer Seite auf die andere. Sie war hochschwanger und doch immer noch schön, das blonde Haar fiel ihr in ihr feines, jetzt schmerzverzerrtes Gesicht.

Kyle, der neben ihr im Bett lag, hatte sich aufgesetzt und versuchte, ihr zu helfen. „Es muss das Baby sein. Wir müssen ins Krankenhaus.“

„Es ist zu früh, es ist fast zwei Monate zu früh!“ schrie Fallon verzweifelt.

„Aber du bist krank. Wir müssen sofort ins Krankenhaus.“ Er sprang aus dem Bett, nackt. Muskulös, sonnengebräunt. Madison versuchte im Traum wegzuschauen, aber sie schaffte es nicht, den Blick abzuwenden.

Er zog sich hastig an, zuerst die Socken und die Unterwäsche, dann schlüpfte er in seine Jeans und ein T-Shirt und stieg in seine Schuhe, während er bereits die Nummer der Ambulanz wählte. Fallon wollte nicht, dass er einen Krankenwagen rief, aber er sagte: „Baby, du hast hohes Fieber. Wir brauchen sofort Hilfe, sonst verbrennst du uns noch.“

Madison konnte Fallons Hitze spüren. Sie brannte, brannte, brannte … wie ein Feuer. Aber da war kein Schmerz, da war nur Hitze. Und Kyle war da und hielt ihre Hand. Fallon war glücklich, seine Hand in ihrer zu spüren, weil die Hitze so schrecklich war, und dann wurde sie von heißen und kalten Schauern geschüttelt …

„Madison, Madison!“

Sie zuckte zusammen und riss die Augen auf. Darryl rüttelte sie mit besorgter Miene an der Schulter.

„Madison, Liebes, du hast einen Alptraum. Wach auf. Madison, was ist los? Was stimmt nicht?“

Ihr Nachthemd war schweißdurchtränkt. Sie hatte sich die Decke weggestrampelt. Darryl hatte seinen Arm um sie gelegt, und sie klammerte sich instinktiv an ihn.

„Willst du es mir erzählen?“ fragte er.

„Nein, nein, es war nichts. Ich bin okay. Ich … äh … danke. Danke, Darryl. Lieb von dir, dass du mich geweckt hast.“ Sie küsste ihn. Aber als er sie noch weiter trösten wollte, drehte sie ihm den Rücken zu und rollte sich zusammen, wobei sie versuchte, das komische Gefühl, das in ihr aufstieg, zu verdrängen.

Drei Tage später erfuhr sie durch eine Nachricht, die einer von Kyles Freunden vom FBI auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, dass ihr Traum Wirklichkeit gewesen war. Fallon war zusammen mit ihrer ungeborenen Tochter an einer Virusgrippe gestorben. Die Beerdigung sollte am Freitag in Manassas, Virginia, stattfinden.

Madisons gesamte Familie nahm an der Trauerfeier teil. Ihr Vater hatte Rafe und Kyle immer sehr gern gehabt, und Jordan Adair und Roger Montgomery waren Freunde geblieben. Darryl begleitete Madison natürlich.

Kyle sah wie sein eigener Geist aus. Er war noch nicht ganz sechsundzwanzig, aber er hatte schon ein paar silberne Strähnen an den Schläfen bekommen. Sein Kummer war auch für andere unerträglich anzusehen. Madison fühlte sich wie betäubt.

In der Kirche blieb sie fast die ganze Zeit auf den Knien und hielt den Kopf gesenkt. Sie fragte sich, ob sie eine Bestie in Menschengestalt sei, ob es womöglich ihre Eifersucht gewesen war, die Fallon umgebracht hatte. Vom Verstand her wusste sie, dass das unmöglich war, aber sie fühlte sich trotzdem grauenhaft schuldig. Am liebsten wäre sie auf der Stelle weggerannt.

Sie hatte nur ein paar Augenblicke allein mit Kyle. Er kam zu ihr, während sie am offenen Sarg kniete.

Er kniete sich neben sie, und sie gab sich alle Mühe, nicht zu weinen, als er seiner toten Frau das Gebetbuch in die Hände legte. „Kurz bevor sie starb, sagte sie, dass du es weißt“, sagte er plötzlich. Er starrte sie in einer Weise an, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagte. „Sie behauptete, dass du bei uns wärst, und dass sie froh wäre, dass das so ist. Sie bat mich, gut auf dich aufzupassen.“

Aber er schaute sie an, als ob er alles andere lieber täte als das. Tatsächlich starrte er sie an, als ob sie der Leibhaftige wäre und er sich wünschte, dass sie seiner geliebten toten Frau so weit wie nur möglich vom Leib bliebe.

Madison starrte zurück. „Ich weiß wirklich nicht, was sie damit gemeint haben könnte“, log sie. „Es tut mir Leid, Kyle. Es tut mir so schrecklich Leid.“

„Du weißt es nicht?“ wiederholte er. Seine Stimme war tief, und sie hörte den bebenden Zorn, der darin mitschwang. „Was für eine Art Hexe bist du, Madison?“ glaubte sie ihn flüstern zu hören. Und sie sah, wie er seine Hände, die er über dem Sarg zum Gebet gefaltet hatte, so fest ineinander verklammerte, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Dann streckte er die Finger, als wäre er sich seiner schrecklichen Anspannung plötzlich bewusst geworden. Er starrte darauf, das schöne Gesicht verzerrt vor Trauer, in seinen blauen Augen glitzerten Tränen. Einen Augenblick später verklammerte er die Hände wieder, fast so, als lege er sie in Gedanken um ihren Hals und drücke zu …

„Nein!“ flüsterte Madison, dann erhob sie sich hastig und ging schnell weg. Sie stand die Trauerfeier nur mit größter Mühe durch, und das anschließende Essen in Kyles Haus, wo sich die Familie und Freunde versammelt hatten, war eine einzige Qual für sie. Ihr Abschied von Kyle und Roger hatte etwas Endgültiges.

Gleich danach wechselte Madison ihr Hauptfach. Sie ließ die Kriminologie sausen und schrieb sich für Kommunikationswissenschaften ein. Um die Schauspielerei hatte sie wegen ihrer Mutter stets einen großen Bogen gemacht, und Schreiben wollte sie nicht wegen ihres Vaters, aber sie hatte entdeckt, dass sie einen Hang zur Fotografie hatte, und obwohl sie wegen ihrer Mutter nicht als Model arbeiten wollte, hatte sie sich doch von ein paar Freundinnen aus ihrem Fotokurs breitschlagen lassen, ihnen für ihre Mappen Modell zu sitzen.

Während einer Stippvisite in Las Vegas heiratete sie Darryl. Neun Monate später kam Carrie Anne Hart zur Welt.

Darryl bekam einen Job bei einer Ingenieursfirma in Fort Lauderdale. Madison stand weiterhin gelegentlich Modell, während sie ihren Mutterpflichten nachging und an der Vervollkommnung ihrer eigenen fotografischen Fertigkeiten arbeitete.

Zweieinhalb Jahre nach ihrer Hochzeit fand Darryl beim Nachhausekommen Madison in Tränen aufgelöst vor. Er wollte wissen, was los sei. Nichts sei los, behauptete sie. Nur mit ihr stimme etwas nicht. Ihre Ehe käme ihr falsch vor. Er sei ein wunderbarer Mann und ein wundervoller Ehemann, aber sie liebe ihn nicht so, wie sie ihn eigentlich lieben sollte.

Nun, er sei gar nicht so wundervoll, erwiderte er. Dann gestand er ihr, mit einer der Angestellten in seiner Firma eine Affäre zu haben.

Madison war sich nicht sicher, warum sie so wütend war, wo sie doch so entsetzt darüber war, dass sie Darryl niemals genug geliebt hatte. Er schlug ihr vor, dass sie alles unter den Teppich kehren und noch einmal von vorn anfangen sollten. Er war schrecklich zerknirscht.

Seltsam genug, aber am Ende schafften sie es, als Freunde auseinander zu gehen. Als gute Freunde.

Aber Darryl kündigte bei seiner Firma und nahm eine Stelle in Washington an. Er brauchte einen Neuanfang, was sie verstand.

Sie richteten es so ein, dass Carrie Ann möglichst ein paar Tage pro Woche bei ihrem Vater wohnen konnte. Während dieser Zeit nahm Madison mehr und mehr Modelaufträge an. Bei einer dieser Gelegenheiten – es war bei einem Fotoshooting in Key Biscane, und sie alberte nach getaner Arbeit in ihrer Stammbar ein bisschen mit ihren Kollegen herum – entdeckte sie zu ihrer Überraschung, dass sie singen konnte. Noch mehr überraschte es sie zu entdecken, dass sie gut war.

Als ihr einer der Fotografen ein paar der Fotos zeigte, die er geschossen hatte, während sie zum Spaß auf der Bühne stand und sang, war sie alarmiert.

Sie sah genau aus wie Lainie kurz vor ihrem Tod. Langes, dunkelrotes Haar, große, strahlend blaue Augen. Sie war größer als Lainie, fast einsfünfundsiebzig, aber sie hatte Lainies klassisch ovales Gesicht geerbt, ihre Nase, den Mund … sie sah genau aus wie Lainie. Sie hatte ihre Mutter geliebt, auch wenn sie nie so wie sie hatte werden wollen, so ungezügelt, so eigensinnig, mit einem solchen Männerverschleiß, so rücksichtslos den Gefühlen anderer gegenüber …

Joey King, der Leader der Band, die jeden Tag in der Bar spielte, war begeistert von ihrem Gesang und wollte, dass sie bei ihnen einstieg. Er war jung und ganz aufgeregt.

„Wir stehen kurz vor dem Durchbruch. Ich habe ein paar meiner Songs verkauft, und wir haben bei einigen großen Schallplattenfirmen vorgesprochen und sind auf ein tolles Echo gestoßen …“

Madison trank ihr Glas leer und stand auf. „Joey, ich will nicht auf der Bühne stehen. Ich habe eine Tochter. Und ich habe schon mehr Karriere gemacht, als ich eigentlich wollte.“

„Weil du wie deine Mutter aussiehst“, sagte er.

Sie schaute ihn verdutzt an, und er zuckte die Schultern.

„Entschuldige, aber sie war großartig. Ich habe alle Filme mit ihr gesehen, und du siehst ihr wahnsinnig ähnlich. Hast du deshalb diese Scheu, auf der Bühne zu stehen?“

„Joey, ehrlich, ich will einfach nicht ständig unterwegs sein …“

„Okay, okay, das musst du auch nicht, versprochen.“

„Musikgruppen sind aber meistens unterwegs“, erinnerte sie ihn.

„Ich habe selbst eine Frau und zwei Kinder“, erzählte er. „Es gibt eine Menge Gruppen hier, die sich allein mit lokalen Auftritten und Studioaufnahmen ganz anständig über Wasser halten, und wir haben viele gute Studios hier. Meine Sehnsucht nach Geld und Ruhm hat sich angesichts der Realitäten des Lebens ein bisschen abgekühlt“, fügte er trocken hinzu. „Also, was ist, hast du nicht Lust, ein paar Demobänder mit uns aufzunehmen? Würdest du ab und zu bei uns singen, wenn wir ein paar Musikmanager im Publikum haben?“

Seine Hoffnungsflamme mochte vielleicht im Lauf der Zeit ein bisschen kleiner geworden sein, aber er war noch immer ein Träumer. Und sie mochte ihn. Er war freundlich und offen, ganz zu schweigen davon, dass es ihr eine Menge Spaß bringen würde, bei der Band mitzusingen.

Sie zuckte die Schultern. „Na klar“, sagte sie. „Klar …“

Madison schloss für einen Moment ihre Augen, dann schwang sie die Beine über die Bettkante. Zeit aufzuhören, an die Vergangenheit zu denken. Zeit, sich zu bewegen.

Ihr Leben hatte seine bestimmte Ordnung, und sie war glücklich.

Na ja, vielleicht nicht ganz glücklich – sie war zu rastlos, um glücklich zu sein. Sie war eine junge geschiedene Mom, die in derselben Stadt wie der größte Teil ihrer Familie lebte, deshalb hatte sie Menschen um sich herum, die sie liebten – und war doch unabhängig.

Die Träume hatte sie immer noch, und wenn sie von ihnen heimgesucht wurde, rief sie Jimmy an. Glücklicherweise geschah das nicht allzu häufig, sodass sie sich fast mit ihnen abgefunden hatte. Manchmal nahm Jimmy sie zu einem Tatort mit, und gelegentlich war sie in der Lage, durch einen Gedankenblitz etwas zur Lösung des Falles beizusteuern. Von Visionen wurde sie Gott sei Dank nur selten gequält.

Aber heute hatte es sie wieder eingeholt.

Sie bürstete sich das Haar und zog sich den Rock glatt, dann erhaschte sie einen Blick auf sich in dem Spiegel. „Hör auf zu jammern, Madison! Mag sein, dass du nicht hundertprozentig glücklich bist, aber dafür bist du wenigstens zufrieden.“

Doch ihr Spiegelbild schaute düster zurück. Sie fühlte sich unruhig. Angespannt.

Als ob der Kreis sich anschickte, sich zu schließen.

Als ob die Vergangenheit zurückkehren würde …

Sie gab sich einen entschlossenen Ruck. Sie musste heute Nacht arbeiten. Und am Montag würde sie Jimmy helfen. Sie hatte ihm früher auch schon geholfen. Jetzt war es an der Zeit, mit Carrie Anne und ihrem Dad zu Abend zu essen, und dann musste sie weg.

Doch auch als sie sich auf den Weg in das Zimmer ihrer Tochter machte, gelang es ihr nicht, die Beklommenheit, die von ihr Besitz ergriffen hatte, abzuschütteln. Sie hatte nicht nur etwas mit den Gefühlen aus ihrem Traum zu tun.

Es war eine Beklommenheit, die ihr mit eisiger Hand das Herz abdrückte …

Wie früher, genau wie früher.

2. KAPITEL

Kyle wusste, dass er bestens in die Umgebung passte. Auch wenn er jetzt ein „Anzug“ aus Washington war, war er doch immer der Junge aus Florida geblieben, und er wusste, wie man in einer Bar in Key West aussehen musste, um nicht aus dem Rahmen zu fallen.

Er trug abgeschnittene Jeans, an den Spitzen abgestoßene Top-Siders und ein ausgewaschenes kurzärmliges Baumwollhemd, das über der Brust halb offen stand. Seine Augen waren hinter einer Sonnenbrille verborgen, die Baseballkappe hatte er sich tief in die Stirn gezogen. Er hatte sich an einem Tisch ziemlich weit hinten häuslich niedergelassen, die Füße bequem auf die Seitensprossen des Stuhls vor sich gestellt und ein Bier in der Hand. Man hätte ihn sowohl für einen Touristen als auch für einen Einheimischen halten können. Er selbst sah sich als etwas dazwischen.

Die Bar gehörte Jordan Adair, und sie war beliebt. Die Leute, die nach Key West runterkamen, nahmen gern einen Drink im Sloppy Joe’s, Hemingways Stammkneipe, aber sie waren ebenso versessen darauf, sich unter die moderne „Literatenszene“ zu mischen, die sich in Jordans Bar tummelte und zu der sich jeder zugehörig fühlen konnte, wenn er es wollte. Jordan Adair schrieb Thriller; sein Freundeskreis setzte sich aus Schriftstellern zusammen, die wahre oder erfundene Kriminalgeschichten verfassten, Science-Ficton, Liebes- oder historische Romane, und solchen, die so berühmt waren, dass ihnen schon allein aufgrund ihres Namens die Bücher aus der Hand gerissen wurden, ganz gleich, was sie zu Papier brachten. Außer der bunt zusammengewürfelten Literatenszene hatte die Bar auch noch ein Musikangebot zu bieten, das so abwechslungsreich war wie die Gäste.

Jordan stand nicht nur mit der Staatsanwaltschaft, der Polizei und den Gerichtsmedizinern, die er für seine Arbeit brauchte, auf gutem Fuß, sondern – da eine beträchtliche Anzahl seiner Bücher bereits verfilmt worden war – auch mit einer Menge Größen aus der Filmindustrie. Touristen liebten es, in Jordans Bar reinzuschauen, einfach nur um zu sehen, wer alles da war, wobei sie sich darauf verlassen konnten, dass die Musik gut war – vorausgesetzt natürlich, der Geräuschpegel war einigermaßen niedrig, sodass man etwas davon mitbekam.

Im Augenblick war es früher Abend, und ein Tontechniker kämpfte mit den Drähten der Mikrofone.

Heute waren einige derjenigen, die gesehen werden wollten, unterwegs. Ein junges Starlet saß mit seinem Gefolge an der Bar und zog ebenso das Interesse des Publikums auf sich wie Niall Hathaway, dessen Buch einen phänomenalen Erfolg erzielt hatte, eine Geschichte über einen katholischen Priester, den die Gebete seiner Gemeinde aus dem Koma geholt hatten – und aus Träumen von einem Leben mit der Frau, die er einst geliebt hatte und wieder lieben würde. Das Buch stand jetzt schon seit einem Jahr auf der Bestsellerliste; die Filmrechte lagen mittlerweile bei weit über einer Million Dollar. Den so unerwartet zu Ruhm gekommenen Schriftsteller ließ der Rummel, der um ihn gemacht wurde, ziemlich kalt. Der alte Knabe strich seinen neuerworbenen Reichtum seelenruhig ein und ging angeln. Key West war ein guter Platz, um mit einem Boot, einer Angelrute und ein paar erfahrenen alten Fischern aufs Meer hinauszufahren.

Kyle hatte ebenfalls Lust, mit dem Boot rauszufahren. Er sehnte sich nach dem Wasser, er wollte angeln und tauchen. Sich die Sonne auf den Pelz brennen lassen und in der leichten Brise, die draußen auf dem Meer normalerweise wehte, ein schönes kaltes Bier genießen. Und genau das würde er auch tun. Sein eigenes Boot hatte er nicht mehr, aber Jordan hatte ihm die Ibis für die gesamte Dauer seines Aufenthalts angeboten, egal wie lange er auch zu bleiben gedachte. Mit Roger zu reden hatte er noch keine Gelegenheit gehabt, bis jetzt war er noch zu so gut wie gar nichts gekommen. Er war gerade erst aus Washington hier eingetroffen, und es tat gut, einfach nur faul in Jordans Bar herumzusitzen.

Key West war nicht wirklich seine Heimat, aber es war ihm vertraut genug, um sich hier heimisch zu fühlen. Ein bisschen Entspannung konnte nicht schaden, bevor er sich mit den Jungs aus Dade und Miami in seine Arbeit hineinkniete. Ein paar Vorarbeiten hatte er bereits geleistet, aber die Polizei in Miami hatte den Fall dem FBI erst kürzlich übergeben, sodass sie noch ganz am Anfang einer Morduntersuchung standen, die alle Anzeichen eines Serienverbrechens aufwies.

Seltsam, wie das Leben weiterging – und es ging tatsächlich weiter. Die Erinnerung an Fallon schmerzte noch immer, aber es war wie bei einer alten Knieverletzung; die Wunde war verheilt, allerdings würde die Stelle nie wieder genauso sein wie vorher. Und doch war genug Zeit verstrichen, dass er ab und zu wieder lächeln konnte, wenn er sich an Fallon und die schönen Dinge, die sie zusammen unternommen hatten, erinnerte, manchmal tat es immer noch weh, aber manchmal war es auch okay. Und doch war es nicht die Tragödie von Fallons Tod, die sein Leben am meisten beeinflusst hatte.

Lainies Tod hatte seinen Lebensweg vorgezeichnet. Genau gesagt war er durch das, was geschehen war, zu der Einsicht gelangt, dass nur Gerechtigkeit der Familie helfen könnte, das schreckliche Leid, das ihr widerfahren war, zumindest ein kleines bisschen erträglicher zu machen. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass sein Vater unter Mordverdacht gestanden hatte, ebenso wie Jordan Adair auch. Während er aufmerksam die Arbeit der Polizei und der Staatsanwaltschaft verfolgt hatte, war ihm klar geworden, wie schwer es war, einen Mörder zu überführen. Bei Gewaltverbrechen gab es zwei Kategorien: So genannte Beziehungstaten und die alarmierend zunehmenden Akte sinnloser Gewalt. Während er Jimmys Suche nach dem Mörder aufmerksam verfolgt hatte, hatte er begriffen, dass die Hinterbliebenen ebenso Opfer waren, weil sie sich ihr Leben wieder neu einrichten und mit der Ungerechtigkeit ihres Verlustes leben mussten. Nichts konnte ihnen den geliebten Menschen wiederbringen, aber eine Aufklärung des Verbrechens, das Wissen um das, was geschehen war, konnte ihnen zumindest helfen, den Schmerz zu bewältigen.

Verbrechen aus Leidenschaft, so hatte er von Jimmy erfahren, waren oft diejenigen, die sich am leichtesten aufklären ließen. Sobald es ein Motiv gab, konnte man einhaken. Die moderne technische und wissenschaftliche Entwicklung hatte den Strafverfolgungsbehörden viele neue Möglichkeiten eröffnet; die DNA-Analyse durfte im Gerichtssaal als Beweismittel verwendet werden. Mit ihr konnte man aus Körperbestandteilen oder -ausscheidungen wie Blut, Haaren, Speichel oder Sperma mit einer Wahrscheinlichkeit von über 99 Prozent die Identität der zugehörigen Person feststellen. Ein Vergewaltiger konnte auf diese Weise verurteilt werden.

Zufällige Gewaltakte waren hingegen äußerst schwer aufzuklären. Selbst wenn die Polizei ein Dutzend Fingerabdrücke sicherstellte, mussten diese Fingerabdrücke irgendwo registriert sein, damit sie zu dem Täter führten. Bei Zufallstaten musste die Polizei nach einem mutmaßlichen Täter Ausschau halten wie nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen.

Was der Grund dafür war, weshalb er sich dazu entschlossen hatte, sich der psychologischen Seite von Verbrechen zuzuwenden. Er war ein so genannter Profiler, ein psychologisch ausgebildeter Kriminalist, der Täterprofile erstellte. Was der Polizei ihre Arbeit entschieden erleichterte.

Einen Fall aufklären, eine Akte schließen. Es war so verdammt wichtig. Erst die Verurteilung eines Mörders erlaubte den Hinterbliebenen, wieder an Gerechtigkeit zu glauben – zumindest war der Täter dann gestoppt, und andere würden nicht mehr leiden müssen.

Seine Arbeit war wichtig. Er war froh, dass ihn der Anblick der Opfer noch immer mitnahm; sein Schmerz um andere ließ ihn spüren, dass er lebte. Obwohl es wahrscheinlich der Tod seiner Stiefmutter gewesen war, der ihn zu seiner Berufswahl veranlasst hatte, war es doch der Tod seiner Frau, der ihn verfolgte. Er war dankbar, dass sie nicht brutal ermordet worden war, aber sie hatte auch gelitten, und die Tatsache, dass ein so junger, wertvoller Mensch hatte sterben müssen, machte ihn bitter. In ihrem Tod lag keine Gerechtigkeit, er war sinnlos. Fallon war nicht nur jung, schön und lebenslustig gewesen. Sie war auch freundlich, liebevoll und warm. Sie konnte an keinem Bettler vorbeigehen, ohne ihm einen Dollar zuzustecken; sie konnte keinen streunenden Hund vorbeilaufen sehen, ohne ihm einen Napf mit Futter hinzustellen. Kinder hatten sie geliebt. Sie wäre der Tochter, der ihr erster Atemzug nie vergönnt war, eine gute Mutter gewesen. Diese ungeborene Tochter hatte ebenfalls eine Leere in ihm hinterlassen, einen Schmerz, der ihn an das Kind erinnerte, das er nie in den Armen gehalten hatte.

Kyle hatte gehofft, dass die Zeit die Wunden heilen würde, die der Verstand nicht heilen konnte. Man hatte ihn zu trösten versucht, indem man ihm sagte, dass Gott ihm die Kraft schenken würde, die er nicht selbst fände. Doch alles, was er wusste, war, dass das Leben irgendwie weiterging. Er war ein Überlebenskünstler, deshalb hatte er überlebt. Er atmete, er aß – und er trank. Viel am Anfang, mittlerweile weniger. Er schlief mit anderen Frauen. Manchmal wurde eine etwas engere Beziehung daraus, manchmal erhoffte er sich einfach nur guten Sex. Das Leben ging weiter, und er gab bei seiner Arbeit sein Bestes. Wirkliche Gerechtigkeit gab es nicht im Leben, das wusste er, aber er tat dennoch alles, was in seiner Macht stand, um der irdischen Gerechtigkeit, so unzulänglich sie auch sein mochte, zum Sieg zu verhelfen.

„Hallo, Leute!“ Eine raue männliche Stimme unterbrach seinen Gedankenfluss. Ein schlaksiger, gut aussehender junger Mann von achtundzwanzig oder dreißig Jahren war an das Mikrofon auf der Bühne, die sich auf der linken Seite der Bar befand, getreten. „Ein wunderschönes Willkommen an die Einheimischen, unsere alten Freunde, und an all diejenigen, die hier zu Besuch sind, um sich von unserem Traumparadies bezaubern zu lassen. Wir sind die Storm Fronts und möchten euch ein bisschen unterhalten, während ihr euch gemütlich zurücklehnt, esst, trinkt und ein paar Sonnenstrahlen fangt. Ich bin Joey King, am Bass ist David Hamel, Sheila Ormsby am Keyboard, Randy Fraser am Schlagzeug, und Madison Adair – es ist mir eine Freude, das sagen zu können – wird heute für uns singen. Ladys und Gentlemen … ich wünsche Ihnen viel Spaß.“

Kyle war plötzlich froh, dass er so weit hinten saß, weil er in keiner Weise auf ein Wiedersehen mit Madison vorbereitet war. Vor allem nicht mit der Madison, die er jetzt gleich zu sehen bekam.

Die Bandmitglieder betraten nacheinander die Bühne, als ihr Name genannt wurde, und nahmen ihre Plätze ein; Madison war die Letzte. Es kam ihm noch gar nicht so lange vor, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte, aber es war natürlich schon lange her. Ein ganzes Leben.

Sie war dieselbe und doch eine andere. Bei ihrer letzten Begegnung hatte sie noch immer etwas von einem hochaufgeschossenen, leicht linkischen Teenie an sich gehabt.

Aber jetzt …

Jetzt nicht mehr.

Sie hatte einen lässigen, selbstsicheren Gang. Ihr Lächeln war so heiter und sinnlich wie ein heißer Sommertag. Sie war groß und schlank, jedoch mit Kurven an den richtigen Stellen. Sie wirkte biegsam und anmutig und gleichzeitig verführerisch und sinnlich. Das lange Haar, es hatte noch die gleiche Farbe wie damals, tiefrot wie die untergehende Sonne, trug sie offen. Die großen Augen leuchteten kobaltblau. Sie war keineswegs aufreizend gekleidet, das hatte sie nicht nötig. Sie trug einen kurzen Jeansrock und einen hellblauen ärmellosen Pulli. Ihre langen sonnengebräunten Beine waren nackt, und die Füße steckten in halbhohen Sandaletten.

Sie wirkte elektrisierend. In dem Moment, in dem sie die Bühne betrat, zog sie alle Blicke auf sich. Es war mehr als ihre intensiv leuchtende Haarfarbe, mehr als die atemberaubende Schönheit, mit der die Natur sie beschenkt hatte. Es war ihr Gang, ihre Gelassenheit, ihr Selbstvertrauen, ihr Lächeln. Sie bewegte sich so geschmeidig wie eine Katze.

Ja, sie war umwerfend. Zweifellos überaus attraktiv.

Aber, Gott, oh Gott, es war mehr als das.

Sie sah aus wie ihre Mutter. Genau wie ihre Mutter.

Die Haare waren zwar länger, und der Rock war kürzer, aber sie hätte Lainie sein können.

Kyle spürte, wie sich ein grimmiges Lächeln in seinen Mundwinkeln einnistete. Lustig. Sie war immer schon eine kleine Katze gewesen. Niedlich und mehr. Und er hatte sich immer von ihr angezogen gefühlt. Obwohl er gleichzeitig komischerweise …

Er war stets darauf bedacht gewesen, Abstand zu halten. Es gab zu viele Dinge, die Madison sehen konnte. Und er wollte nicht gesehen werden.

Kyle fiel nichts Besseres ein, als noch einen Schluck von seinem Bier zu trinken. Während er Madison weiter beobachtete, kippte er sich den Rest schließlich auch noch hinter die Binde und nickte, als eine braun gebrannte blonde Kellnerin in superkurzen Shorts herbeikam, um ihm ein neues Bier hinzustellen.

Madison war seine Stiefschwester. Sie hatte ihn oft zum Grinsen gebracht mit ihren beißenden Kommentaren über Gott und die Welt, die für ihr Alter oft viel zu altklug waren. Doch jetzt begann er sich plötzlich zu fragen, ob es womöglich ihre Ähnlichkeit mit Lainie war, die ihn die ganzen Jahre über bewogen haben könnte, Abstand zu halten. War sie wie Lainie? Lainies Tod war schrecklich und tragisch gewesen, daran konnte es keinen Zweifel geben, und doch war Lainie ein Biest gewesen, ein Biest, das rücksichtslos mit Menschen spielte.

Madison begrüßte jetzt die Gäste. „Willkommen, Leute in A Tavern. Der Laden gehört meinem Vater, und ich freue mich immer, hier zu sein. Mit Key West hat es etwas ganz Besonderes auf sich. Vielleicht, weil hier jeder ganz er selbst sein kann, und wir sind stolz darauf, dass wir uns die Zeit nehmen, sehr bewusst den herrlichen Blumenduft einzuatmen – und die Seeluft und den Gestank nach toten Fischen natürlich.“ Sie plauderte ganz locker, während die übrigen Bandmitglieder ihre Instrumente stimmten. Jetzt warf sie dem jungen Mann, Joey King, der die Band vorgestellt hatte, ein Lächeln zu, und er lächelte zurück. „Aber egal“, fügte sie hinzu, während sie ihr Mikrofon auf die richtige Höhe einstellte, „wir fangen jetzt mit einer von Joeys Balladen an, die genau auf die Insel passt. Sie heißt Love’s on the Rocks, So I Just Swim in My Beer, und wer Lust hat mitzusingen, sollte das unbedingt tun.“

Wieder lächelte sie strahlend. Plötzlich setzte die Musik ein, und Madison wiegte sich im Takt.

Sie hatte eine wunderbare Stimme. Geschmeidig, voll und leicht heiser. Die Bar füllte sich, als die Musik nach draußen auf die Straße drang, die Menge lachte über den Text, klatschte an den passenden Stellen und sang mit, wenn sie dazu aufgefordert wurde. Am Ende des Songs war das Lokal so gerammelt voll, dass Kyle die Musiker nicht mehr hätte sehen können, wenn sie nicht auf einer erhöhten Bühne gestanden hätten. Die Kellnerinnen und Kellner erwiesen sich als Verrenkungskünstler, während sie sich mit ihren voll beladenen Tabletts durch die Menge schlängelten, um Biere, Margaritas und Mineralwasser zusammen mit Essen und den verschiedensten haarsträubendsten Mixgetränken in Souvenirgläsern zu servieren.

Anschließend spielte die Band ein anderes Stück, einen Hit aus den Top 40. Dann kam wieder eine Eigenkomposition an die Reihe, diesmal eine sanftere Ballade, die Getting On with You Gone hieß. Gleich darauf erneut ein Top 40-Hit, dem eine Eigenkomposition folgte. Nach ein paar weiteren Nummern kündigte Madison den letzten Song vor der Pause an. Wieder war es ein ruhiges Stück. Die Leute tanzten in dem beengten Raum zwischen den Tischen und der Bühne. Gegen Ende dieses letzten Songs schaute Madison schließlich in seine Richtung.

Auch wenn nicht ganz auszuschließen war, dass sie tatsächlich über gewisse hellseherische Fähigkeiten verfügte, sah er jetzt, dass sie ihn hier nicht erwartet hatte. Sie starrte ihn an wie ein Gespenst und hörte auf zu singen. Sie wirkte wie ein Reh, das sich im Lichtkegel eines Scheinwerfers gefangen sieht. Nun, wahrscheinlich war es ja wirklich eine große Überraschung für sie. Sie hatten sich verdammt lange nicht gesehen. Er war ihr aus dem Weg gegangen, und irgendwann im Verlauf seines Heilungsprozesses war ihm klar geworden, dass er ihr, nur weil sie gewusst hatte, was in seinem Leben vor sich ging, versucht hatte, zumindest eine Mitschuld an seinem Unglück zuzuschieben. Aber auch jetzt war er nur aus beruflichen Gründen hier und nicht, um mit ihr Frieden zu schließen. Trotzdem war er bereit einzuräumen, dass sein Verhalten damals nicht sehr nett gewesen war. Ja, er war bereit dazu.

Aber vielleicht läuft das Leben ja nicht so, dachte er mit einem innerlichen Schulterzucken. Der Blick, den Madison ihm jetzt zuwarf, bewirkte, dass er sich wie an einem Seil hängend fühlte – das sie gerade durchgeschnitten hatte. Ach, zum Teufel. Sie hatten beide ihr eigenes Leben. Und vielleicht gab es ja gar keinen Grund, den Zerknirschten zu spielen.

Er griff nach seinem Bier und prostete ihr zu. „Sing“, formte er mit den Lippen.

Die anderen Bandmitglieder schauten jetzt zu ihr herüber, während sie zu vertuschen versuchten, dass sie aufgehört hatte zu singen, indem sie dieselbe Stelle wieder und wieder variierten. Madison schien sich einen inneren Ruck zu geben und riss ihren Blick von ihm los.

Sie warf dem Publikum eins ihrer strahlenden Lächeln zu und sang sich beim Finale die Seele aus dem Leib.

Dann endete die Musik in tosendem Applaus, und Madison versprach, dass es gleich weitergehen werde.

Kyle hielt es nicht für abwegig, dass sie die Tatsache seiner Anwesenheit ganz einfach verdrängt hatte. Und beschlossen hatte, ihn zu ignorieren. Es war schwer vorstellbar, dass ihr niemand von seiner Absicht, hierher zu kommen, erzählt hatte.

Aber vielleicht hatten ja auch alle stillschweigend unterstellt, dass sie es bereits wusste. Himmel, zumindest Jimmy hätte es ihr sagen müssen. Ihr Vater hätte es ihr sagen müssen. Doch vielleicht hatte Jordan Adair angenommen, es sei ihr egal.

Und womöglich war es das ja auch, obwohl der Blick, den sie ihm eben zugeworfen hatte, eine andere Sprache sprach.

Sie ignorierte ihn nicht. Sie bahnte sich ihren Weg durch die Menge, wobei sie unterwegs von allen Seiten Komplimente für sich und die Band entgegennahm. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits die Füße von dem Stuhl vor sich genommen, aber die dunkle Sonnenbrille und seine Baseballkappe hatte er noch auf, weshalb sie von seinem Gesicht, das ohnehin im Schatten lag, nicht allzu viel erkennen konnte.

Ihre Miene war kalt und abweisend. „Was zum Teufel machst du hier?“ fragte sie schroff.

„Hallo, Madison. Ich freue mich auch, dich wiederzusehen.“ „Richtig. Was tust du hier?“

Er zuckte lächelnd die Schultern. Hob um Vergebung bittend die Hände. „Bier trinken. Musik hören.“

„Was tust du hier, in Key West? In der Bar meines Vaters?“

„Ich habe beruflich auf den Keys zu tun. Und hier bin ich, weil mich dein Vater eingeladen hat.“

Er hörte das leise pfeifende Geräusch, als sie unwillkürlich überrascht Atem holte.

Er schob ihr mit dem Fuß einen Stuhl hin. „Nimm Platz, Madison.“

Sie setzte sich. Nicht weil sie seine Gesellschaft suchte, wie er registrierte, sondern weil sie so erschüttert war.

„Willst du einen Drink?“ fragte er.

Ohne den Blick von ihm zu nehmen, schüttelte sie den Kopf. „Ich arbeite noch. Wann … seit wann wusstest du denn, dass du herkommst?“

Er zuckte die Schultern. „Seit letzter Woche. Man hat mich bei einem Mordfall hier in der Gegend um Unterstützung gebeten. Dein Vater hat mich übers Wochenende eingeladen.“

„Du wohnst im Haus meines Vaters?“

Er nickte, wobei er sich fragte, warum ihn ihre unverhüllte Feindseligkeit so traf. Er ging nicht weiter auf ihre Frage ein und sagte stattdessen: „Deine Band ist gut.“

Autor

Heather Graham Pozzessere
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