Ich gehöre Ihnen, Mylord

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Mit ihrer unkonventionellen Art sorgt Lady Alexa für Aufsehen in der Londoner Gesellschaft. Auch James Graham, Marquess of Stormaston, kann sich kaum ihrem Reiz entziehen, als er sie aus einer gefährlichen Situation rettet. Das Feuer ihrer grünen Augen entfacht in ihm ein so stürmisches Begehren, dass er nur noch ein Ziel kennt: Die temperamentvolle junge Dame soll seine Mätresse werden. Doch zu seiner Überraschung erteilt sie ihm eine kühle Abfuhr und macht ihm einen geradezu skandalösen Vorschlag: ein Wettrennen mit ihren Kutschen. Sollte Alexa gewinnen, muss er sie heiraten, und wenn er Sieger bleibt, will sie ihm gehören - als seine Geliebte


  • Erscheinungstag 26.08.2008
  • Bandnummer 9
  • ISBN / Artikelnummer 9783863499778
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL
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„Ausgeschlossen, das tue ich nicht!“

Die empörte Stimme ihrer Cousine Caro riss Lexie aus ihren Überlegungen. Sie scheint verärgert zu sein, dachte sich Lexie und unterdrückte ein Lächeln. Es bedurfte nur eines geringen Anlasses, um die ältliche Witwe aus der Fassung zu bringen. Lexie hatte bei der Wahl ihrer Gesellschafterin hauptsächlich darauf geachtet, dass es sich um eine unbescholtene Dame aus dem entfernteren Verwandtenkreis handelte. Letztendlich hatte sie sich für Mrs. Baldwin entschieden.

Cousine Caro bemühte sich redlich, das Leben für Lexie möglichst angenehm zu gestalten, und stellte nur geringe Ansprüche. Aber sie besaß ganz genaue Vorstellungen darüber, welche Umgangsformen in der feinen Gesellschaft üblich und welche verpönt waren. Lexies Wunsch, sich allein in eine lärmende, verschwitzte Menschenmenge zu begeben, entsprach offensichtlich nicht den Konventionen.

„Ich begreife einfach nicht, warum du dich der Gefahr aussetzt, von diesem Pöbel belästigt zu werden!“, fuhr Mrs. Baldwin fort, als Lexie nicht antwortete.

„Sie sind alle so fröhlich, so aufgeregt und genießen zum ersten Mal wieder ihr Leben“, antwortete Lexie ärgerlich. „Die Leute haben nicht oft einen freien Tag. Ich möchte an ihrer Freude teilhaben. Sie werden mich schon in Ruhe lassen.“

„Das hoffe ich inständig“, seufzte Mrs. Baldwin. „Ich würde niemals den Mut aufbringen …“

„Aber du bist nicht wie ich“, entgegnete Lexie energisch. „Wenn du hier einträchtig mit mir leben willst, liebe Cousine, dann musst du es lernen, meine ungezwungene Art zu ertragen. Ich werde es nie schaffen, mich auf Dauer den strengen Regeln des ton zu unterwerfen. Während meines Trauerjahres habe ich mich zwar strikt an die gesellschaftlichen Zwänge gehalten, sie jedoch als große Last empfunden. Jahrelang war ich im entlegensten Teil von Cornwall eingesperrt. Anschließend führte ich als Ambers trauernde Witwe ein zurückgezogenes Leben. Aber jetzt möchte ich mein Dasein endlich ein wenig genießen. Mein Gemahl selbst hat mir diesen Rat gegeben und mir die dafür erforderlichen Mittel hinterlassen.“

Cousine Caro schüttelte die ergrauten Haare unter der fein gehäkelten Spitzenhaube und seufzte noch einmal. „Das hätte ich nie von meinem Cousin gedacht.“

„Er hat mich eben verstanden“, meinte Lexie verträumt und dachte zurück an den nachsichtigen Peer, der vom Alter her eigentlich ihr Großvater hätte sein können und vor einigen Jahren seinen einzigen Sohn verloren hatte. Lexie hatte sich überreden lassen, seine Frau zu werden, immerhin trug er den Titel eines Earl und konnte ihr finanzielle Sicherheit bieten. Obgleich es ihr nicht gelungen war, ihm einen Erben zu schenken, hatte er ihr dies nie vorgeworfen, sondern vielmehr sein Alter dafür verantwortlich gemacht.

Als Beweis seiner Liebe hatte er ihr sein unveräußerbares Gut Merryfield in Hertfordshire und das Londoner Stadthaus in der Bruton Street hinterlassen, von wo aus sie zu ihren abenteuerlichen Ausflügen startete. Darüber hinaus stand ihr mehr als genug Bargeld zur Verfügung, mit dem sie ihr Leben genauso gestalten konnte, wie es ihr gefiel.

Sein Neffe, der neue Earl, war außer sich vor Zorn gewesen, als er erfuhr, dass sie von seinem Onkel so reich bedacht worden war.

„Dann nimm doch wenigstens deine Zofe Chalker mit“, bat Caro. „Sie kennt London besser als du.“

„Chalker hat das Haus schon verlassen. Ich habe ihr für den Rest des Tages freigegeben“, erwiderte Lexie mit einem Lächeln.

„Dann werde eben ich …“

„Nein, auf keinen Fall, liebe Cousine.“ Lexie streifte die schwerfällige Figur ihrer Gesellschaftsdame mit einem nachsichtigen Blick. „Du könntest in der Hitze ohnmächtig werden und würdest mir überhaupt keine Hilfe sein. Warte lieber zu Hause auf mich. Ich werde nicht lange unterwegs sein.“

Sie verabschiedete sich von Mrs. Baldwin, die besorgt auf der Chaiselongue lehnte, und verließ ihr Haus durch den Dienstboteneingang. Die meisten Angestellten hatten bereits Ausgang erhalten, damit sie sich den feiernden Menschenmengen in den Straßen anschließen konnten. Zurück blieben nur Mrs. Walker, die Köchin, und Mr. Dymock, der Butler, um nach dem Rechten zu sehen.

Es gelang Lexie, ohne große Behinderungen bis nach St. James zu kommen, denn sie kannte die umliegenden Straßen mittlerweile gut genug, da sie sich bereits seit einigen Wochen in London aufhielt. Der König von Preußen traf gerade mit seinen Söhnen ein, als sich Lexie vor dem Palast unter die Leute mischte. Die lauten Hochrufe, die erschallten, konnte man sicher in der ganzen Stadt hören.

Aber wo blieb der Zar? Geduldig warteten die gut gelaunten Menschenmassen. Man vertrieb sich mit Rufen, Lachen und Singen die Zeit.

Es war noch nicht durchgedrungen, dass sich die Kutschen mit den ausländischen Würdenträgern angesichts der ausgelassenen und nicht durch Polizeikräfte kontrollierten Bevölkerung vor der London Bridge getrennt hatten. Das Gespann des Zaren hatte London im Süden umfahren und die Themse über Batterseas Holzbrücke überquert.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht, der Zar wäre durch das Tor beim Hyde Park in die Hauptstadt eingefahren und hätte sich direkt zum Pulteney Hotel am Piccadilly begeben, wo bereits seine Schwester, die Großherzogin von Oldenburg, abgestiegen war. Nachdem er dort eingetroffen war, weigerte er sich, in den St. James Palast umzuziehen, wo man ein Appartement für ihn reserviert hielt.

Eine große Anzahl von Schaulustigen zog durch die St. James Street in Richtung Pulteney. Lexie wurde mitgeschoben. Eine stämmige, verschwitzte Frau packte sie am Ellenbogen, als Lexie stolperte und hinzufallen drohte.

„Du musst schon auf den Beinen bleiben, Kleine. Sonst wirst du hier niedergetrampelt“, rief sie ihr zu und entblößte lachend die gelben Zähne.

Lexie nickte und lachte nur. Sie vermied es zu antworten, da sie fürchtete, sich durch ihren Akzent zu verraten. Zum ersten Mal verspürte sie so etwas wie Angst. In dieser Menge konnte man wirklich zu Tode kommen, ohne dass es jemand merkte. Doch die Furcht bestärkte sie nur in ihrem Vorsatz, dieses Abenteuer bis zum Ende durchzustehen.

Schließlich kam sie, halb taub von dem Gegröle, vor dem Hotel an. Die Menge verlangte in lauten Sprechchören, den Zaren zu sehen. Endlich zeigte er sich an einem Fenster im ersten Stock und winkte. Er trug einen moosgrünen Waffenrock, der so eng und mit Tressen überladen war, dass er Schwierigkeiten hatte, die Arme unter den goldbesetzten Achselstücken zu bewegen. Der Hals steckte in einem hohen weißen Stehkragen. Sein rundes Gesicht war sichtlich gerötet.

Dieser Mann war der Herrscher von Russland und Führer jener Soldaten, deren tapfere Verteidigung von Moskau Napoleon zu einem schmählichen Rückzug gezwungen hatte. Die Hochrufe der Menschen erschallten im ganzen Viertel und darüber hinaus.

Doch plötzlich hörte man auch andere Geräusche, als eine reich geschmückte Kutsche versuchte, sich einen Weg zum Hotel zu bahnen. Uniformierte Reiter, die in den königlichen Farben Rot und Gold gekleidet waren, eskortierten sie. Der Prinz, der in seinem Palast darauf gewartet hatte, den Zaren zu begrüßen, war nun gezwungen, sich in die Stadt zu begeben, um seinem wichtigsten Gast die Aufwartung zu machen.

Aber die Menge durchkreuzte seine Absicht. Rings um Lexie erschollen Pfiffe und Verwünschungen. Der höhnische Ruf: „Wo ist denn deine Frau, Prinny?“, erschallte.

„Jedem das, was er verdient“, grölte die füllige Frau, die Lexie seltsamerweise nicht mehr von der Seite gewichen war. Und obwohl sie der Regent nicht hören konnte, schrie sie wüste Beschimpfungen in seine Richtung, während die königliche Kutsche umkehrte.

Lexie tat der Prinzregent leid, denn sie wusste, dass er einsam und unglücklich war. Seine Vermählung mit Caroline of Brunswick war lediglich aus politischen und finanziellen Gründen erfolgt. Er hatte Prinzessin Caroline von Anfang an gehasst. Es kursierten sogar Gerüchte, dass der König seine Gemahlin schlecht behandelte. Lexie, die diese plumpe, ungebildete Frau kannte, konnte es ihm nicht verübeln. Doch andererseits wäre er verpflichtet gewesen, sie zu achten, denn er hatte sie geheiratet, und sie hatte ihm eine Tochter geschenkt.

„Der kann doch nicht einmal für sein Land kämpfen“, schimpfte die Frau neben ihr. „Er ist zu nichts nutze und tut den lieben langen Tag nichts anderes, als sich neue Uniformen auszudenken!“

Lexie wollte schon protestieren, doch dann besann sie sich eines Besseren. Prinny hatte darum gebeten, mit der Armee in den Krieg ziehen zu dürfen, doch die Verfassung erlaubte nicht, dass der Thronerbe sein Leben riskierte. Deshalb war er auf die Idee gekommen, Uniformen zu entwerfen, die er auch selbst vorführte, wenn er sein eigenes Regiment, die Husaren, besuchte.

Über ihren eigenen Schwierigkeiten vergaß Lexie jedoch bald die Probleme des Prinzregenten. Das Gedränge und der Gestank der vielen ungewaschenen Körper in der Hitze und die unangenehmen Ausdünstungen der Frau an ihrer Seite verursachten ihr wachsende Übelkeit. Sie war einfach nicht daran gewöhnt, sich in der Menge zu bewegen. Lexie erkannte, dass sie dem Trubel entfliehen musste, und sie begann, sich einen Weg zu den Rändern freizukämpfen. Das war leichter gesagt als getan, doch schließlich erreichte sie eine Stelle, an der nicht mehr so viele Menschen standen. Sie hielt einen Moment inne und holte tief Luft.

Dies sollte sich als schwerer Fehler erweisen. Zwei ungehobelt aussehende Männer bemerkten, dass sie um Atem rang, und erkundigten sich scheinbar freundlich nach ihrem Wohlergehen.

Sie nickte und antwortete ohne nachzudenken: „Danke, es geht mir schon etwas besser.“

„Sieh dir das an, ein feines Dämchen!“ Sie warfen sich einen bedeutungsvollen Blick zu und musterten Lexie dann eingehend von oben bis unten. Einer von ihnen streckte die Hand aus und befühlte den Stoff ihres Kleides, das trotz seines Alters von gehobener Qualität war. Der andere beäugte den weißen Schal, der um ihre Schultern lag. „Was suchen Sie hier, Lady?“

„Dasselbe wie ihr“, erwiderte Lexie und blieb ganz ruhig. Die Männer wollten ihr sicher nichts zuleide tun. „Ich möchte die Befehlshaber der Alliierten begrüßen.“

„Ach ja?“ Die Augen des Wortführers bekamen plötzlich einen seltsamen Glanz. „Eine schöne Brosche haben Sie da. Die ist sicher einiges wert.“

Lexie legte schnell schützend die Hand auf die goldene Nadel, die das Tuch zusammenhielt. Damit hatte sie einen weiteren Fehler begangen. Amber hatte ihr das Schmuckstück zu ihrem einundzwanzigsten Geburtstag geschenkt. Sie schätzte die Brosche aus diesem Grund sehr. Aber sie hätte diesen teuren und fein gearbeiteten Schmuck niemals auf der Straße tragen sollen.

„Tragen Sie vielleicht sonst noch was Wertvolles bei sich?“

Er streckte die große schmutzige Hand aus, packte den dünnen Musselinstoff und zerrte daran. Lexie schrie auf und versuchte, sich zu wehren, doch der zweite, etwas kleinere Mann packte sie an den Armen und hielt sie von hinten fest. Sein Komplize fuhr ungerührt mit seiner Untersuchung fort.

„Lassen Sie mich sofort los!“, rief Lexie. Sie bekam allmählich Angst.

„Halt den Mund“, befahl der große Kerl, während er nach ihrem Schal griff, „oder dein letztes Stündchen hat geschlagen. Es würde mich auch reizen, dich ein bisschen zu zähmen, bevor ich dir die Kehle durchschneide.“

„Nein!“, schrie sie in höchster Not. „Nehmen Sie die Brosche, und lassen Sie mich in Ruhe!“

Ihre letzten Worte waren kaum mehr zu verstehen, da der Mann hinter ihr plötzlich die Hand auf ihren Mund presste und sie verzweifelt nach Luft schnappte. Ein oder zwei Leute blickten in ihre Richtung, doch ihr Interesse war gering. Solche Vorfälle ereigneten sich jeden Tag auf der Straße, und es war am besten, wenn man sich nicht einmischte.

Lexie wehrte sich verzweifelt. Die gute Stimmung, in der sie zu ihrem Abenteuer aufgebrochen war, war unvermittelt in höchste Panik umgeschlagen. Die beiden Männer waren offenbar entschlossen, ihr die Brosche abzunehmen und ihr Gewalt anzutun. Und niemand kam ihr zu Hilfe. Dass so etwas inmitten einer Menschenmenge möglich war, hätte Lexie niemals für möglich gehalten.

Sie trat dem Mann hinter ihr mit voller Wucht auf den Fuß, aber das weiche Leder zeigte keine Wirkung. Er schien es kaum zu merken. Der andere Schurke riss ihr den Schal von den Schultern und fasste in das Kleid, in der Hoffnung, noch etwas Wertvolles zu finden, wenigstens eine Münze. Er tastete zwischen ihren Brüsten herum, und als er kein Schmuckstück entdecken konnte, begann er, ihre Haut zu kneten. Lexie erzitterte vor Ekel und Abscheu.

„Wir müssen uns beeilen“, drängte der Mann hinter ihr. Der große Kerl nickte. „Lass uns ein ruhiges Eckchen suchen.“

Lexie unternahm einen letzten Versuch, sich loszureißen, und es gelang ihr, einen unterdrückten Schrei auszustoßen.

Die Wirkung war verblüffend. Später erst wurde es Lexie bewusst, dass die Hilfsaktion zu diesem Zeitpunkt schon begonnen haben musste. Der eine Gauner erhielt einen Schlag auf das Kinn, dass man seinen Kiefer krachen hörte. Er stolperte über einen dünnen Spazierstock und ging zu Boden. Ein langer, in feines blaues Tuch gekleideter Arm sauste an ihrem Ohr vorbei, und sie sah, wie der andere Ganove eine geballte Faust ins Gesicht bekam. Er ließ sie los und sank ebenfalls in den Schmutz.

„Gott sei Dank“, flüsterte Lexie. Sie zitterte am ganzen Leib und wäre fast in Ohnmacht gefallen. „Vielen Dank für die Hilfe. Ich habe geschrien, doch niemand hat mich gehört.“

„Kommen Sie“, rief ihr Retter barsch und bückte sich, um den Schal aufzuheben. Die Brosche steckte noch im Stoff. Er warf schnell einen Blick auf die Menge, während er sich wieder aufrichtete. „Der Pöbel könnte sich gegen uns wenden. Außerdem werden diese beiden Männer jeden Moment wieder aufwachen, und es ist besser, wenn wir dann nicht mehr hier sind. Kommen Sie, Miss. Nehmen Sie meinen Arm.“

Lexie erholte sich rasch wieder. Zum ersten Mal betrachtete sie ihren Befreier näher – und senkte erschrocken den Kopf.

Lord Stormaston! Das durfte doch nicht wahr sein! Solch ein engagiertes Eingreifen hätte sie diesem Gentleman, der immer teilnahmslos und gelangweilt wirkte, nie zugetraut.

Aber sie war sich sicher, dass es sich nur um ihn handeln konnte. Lexie hatte den Lord vor sieben Jahren kennengelernt und erinnerte sich noch sehr genau an diesen Mann und seinen Ruf. Voller Verachtung hatte sie seine Zügellosigkeit in Bezug auf Wein, Frauen und Glücksspiel beobachtet. Sie hatte noch keine Gelegenheit gehabt, ihn nach ihrer Rückkehr in die Londoner Gesellschaft zu sprechen. Doch die Gerüchte, die über ihn und seine Aktivitäten kursierten, waren ihr wohlbekannt.

In den Jahren schien er sein Verhalten leicht geändert zu haben: Er trank und spielte weniger, aber er hielt sich eine Schauspielerin in einem Liebesnest in der Nähe von Drury Lane und hatte eine Reihe anderer williger Frauen für alle Gelegenheiten zur Hand. Man erzählte sich auch, dass er die Sportanstalt von Jackson frequentierte, um eine vornehme Art der Selbstverteidigung zu trainieren. Nach der soeben gegebenen Vorstellung gab es keinen Grund mehr, an der Richtigkeit dieser Information zu zweifeln.

Es handelte sich wirklich um Lord Stormaston. Doch der Mann, der vor ihr stand, hatte mit dem Aristokraten, der die Gesellschaften und Bälle des ton aufsuchte, nicht viel gemeinsam.

Er selbst schien sie nicht erkannt zu haben. Lexie hoffte inständig, dass es wirklich der Fall war. Ihr letztes Treffen lag Jahre zurück, und sie hatte sich seither stark verändert. Damals war sie ein unbedarftes junges Mädchen gewesen, das von seinen Eltern aus Irland in die englische Gesellschaft eingeführt wurde, um einen Ehemann zu ergattern. Heute wurde sie als wohlhabende Witwe und erwachsene Frau mit Erfahrung angesehen. Lord Stormaston würde sie jedoch nach wie vor wie ein dummes Kind behandeln, wenn er erfuhr, dass sich die einstige Lady Alexia Hamilton selbst in eine so missliche Lage gebracht hatte.

Sie hatte seinen angebotenen Arm ignoriert und hielt den Kopf gesenkt, während sie ohne viel Umstände vom Piccadilly in eine weniger belebte Seitenstraße gezogen wurde.

„Hier sind wir sicherer“, bemerkte er und verlangsamte das Tempo. Er gab ihren Arm frei und massierte sich die Handknöchel. „Wie fühlen Sie sich, Miss …?“

„Viel besser, danke“, erwiderte Lexie leise und überhörte geflissentlich die unausgesprochene Frage nach ihrem Namen. Sie fixierte den silbernen Knopf, der seinen Cut über der Brust zusammenhielt. „Ich bin Ihnen überaus dankbar für Ihre Hilfe, Sir. Aber jetzt geht es mir wieder besser. Könnten Sie mir bitte meinen Schal zurückgeben?“

„Aber selbstverständlich. Hier ist er.“ Er betrachtete das Tuch in seiner Hand, als ob er es zum ersten Mal sehen würde. Lexie bemerkte, dass er die Goldbrosche verstohlen taxierte, und sie beschloss, das Schmuckstück niemals wieder zu einem gesellschaftlichen Anlass zu tragen, bei dem sie Lord Stormaston begegnen könnte.

Neugierig musterte sie seine markanten Züge, an die sie sich noch genau erinnerte. Sie entdeckte die bläuliche Narbe wieder. Sie durchschnitt seine Wange, zerstörte jedoch kaum die Symmetrie seines sehr männlichen Gesichts.

Spielerisch schlang er den Schal um seinen Spazierstock und wirbelte ihn durch die Luft. Er zog die schwarzen Augenbrauen leicht nach oben. Das Funkeln in seinen tiefblauen Augen verhieß nichts Gutes. „Ich bin der Ansicht, dass ich für Ihre Befreiung und die Sicherung Ihres Eigentums eine Belohnung verdient habe, meine Liebe.“

Seine Worte brachten sie völlig aus der Fassung. Und doch hätte sie bei einem Mann seines Schlages auf solch unritterliches Verhalten gefasst sein müssen! Vor allem weil er sie in dieser Kleidung – trotz der Goldbrosche – vermutlich nur für eine Dienstbotin hielt.

Ein seltsames Lächeln lag auf seinen Lippen, als sie heftig den Kopf schüttelte. Er griff mit der freien Hand an ihr Kinn und hob es leicht an, sodass er ihr Gesicht eingehend betrachten konnte. Aber er schien sie noch immer nicht wiederzuerkennen. Wenigstens bemerkte sie nichts davon, denn sein Lächeln wandelte sich zum spöttischen Grinsen, während er sein Gesicht dem ihren näherte.

„Ein Kuss wäre wohl angemessen“, flüsterte er. Noch bevor sie protestieren konnte, presste er die Lippen auf ihren Mund.

Er hielt sie nur am Kinn fest, und doch war Lexie wie gelähmt durch die sanfte, anfangs noch ganz spielerische Liebkosung. Dann, als sie den Druck unwillkürlich erwiderte, eroberte er ihren Mund mit der Zunge und löste einen Sturm der Leidenschaft in ihr aus.

Genauso schnell, wie es begonnen hatte, war es wieder vorbei. Er schien ziemlich atemlos, als er ihr endlich den Schal und die Brosche reichte.

„Das war wirklich eine passende Belohnung, meine Beste“, meinte er leise. „Erlauben Sie, dass ich Sie nach Hause begleite? Es wäre bestimmt sicherer für Sie.“

„Nein!“, rief sie entrüstet, nachdem sie sich von der Verblüffung über ihre eigene Schwäche bei diesem Kuss erholt hatte. „Vielen Dank. Aber ich habe mich wieder ganz erholt. Die Menge ist weitergezogen, und ich habe es nicht mehr weit.“

Er verbeugte sich, ganz korrekt und doch mit einem Anflug von Spott. „Wenn ich Ihnen nicht weiter zu Diensten sein kann, müssen wir uns trennen. Ich finde das sehr schade, meine Liebe. Denn ich hatte eigentlich den Eindruck, dass wir ganz gut zusammenpassen würden.“

„Aber nein. Was denken Sie denn von mir! Ich muss gehen. Auf Wiedersehen.“

In ihrer Verwirrung wäre Lexie fast über die eigenen Füße gestolpert. Sie wollte dem Lord schnellstmöglich entfliehen. Sie kannte den Weg zu ihrem Haus, wollte aber vorsichtshalber nicht direkt in die Bruton Street einbiegen. Vielleicht folgte er ihr ja. Doch obwohl sie mehrmals über die Schulter zurückblickte, während sie davoneilte, konnte sie den verrufenen Marquess nirgendwo entdecken.

Voller Bewunderung betrachtete James Graham, Marquess of Stormaston, Lexies grazile Figur, während sie eilig, aber voller Anmut den Rückzug antrat. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen. Glaubte sie wirklich, er wüsste nicht, wer sie war? In demselben Moment, in dem sie ihn erkannt hatte, war auch ihm klar gewesen, wen er vor sich hatte. Kein Mann hätte diese Frau mit den wunderschönen grünen Augen, dem zarten, schmalen Gesicht und der makellosen Haut nach der ersten Begegnung je wieder vergessen können. Schon in all den Jahren, die sie an der Seite des armen alten Ambers verbracht hatte, hatte er sie begehrt. Damals war sie für ihn unerreichbar gewesen, aber heute …

Inzwischen war aus der jungen Lady Alexia Hamilton die verwitwete Countess of Amber geworden – und zwar eine recht außergewöhnliche Dowager Countess. Sie war eine kluge junge Frau, die sich durch nichts ins Bockshorn jagen ließ. Ihr aufmüpfiges, unerschrockenes Wesen war ihm schon häufiger aufgefallen. Er hatte sie quer durch den Hyde Park galoppieren sehen, unbeeindruckt von den empörten Blicken der anderen Damen der Gesellschaft, die sich immer nur gemächlich reitend auf den festgelegten Wegen fortbewegten. Und er hatte sie bemerkt, als sie ihre Kutsche selbst durch die Stadt lenkte, ganz ohne Begleitung, abgesehen von einem jungen Diener, der hinten auf dem Wagen stand.

Amüsiert hatte er verfolgt, dass sie die Aufmerksamkeiten von einem halben Dutzend verliebter junger Gecken und einer noch größeren Anzahl von Gentlemen genoss, die weit ernstere Absichten hegten. Er hatte sich dem Schwarm, der sie stets umlagerte, nicht angeschlossen, sondern es vorgezogen, sie zu beobachten und abzuwarten. Ihre kaltblütige, aber zugleich charmante Art, wie sie alle auf Distanz hielt, faszinierte ihn, und er versuchte, eine Schwachstelle in dem Schutzwall zu finden, mit dem sie sich umgab.

Das war ihm heute gelungen. Lexie wollte von allen Zwängen frei sein. Dafür ging sie auch ein Risiko ein und nahm Herausforderungen an. Genau aus demselben Grund hatte auch er seine Großmutter und seine Schwester verlassen, die von einem Fenster aus dem Treiben auf der St. James Street zusahen. Er hatte beschlossen, sich den Menschen anzuschließen, um mitzuerleben, was im Volk vor sich ging.

Lady Amber hatte sich mitten in die Menge begeben. Er selbst war dieses Wagnis nicht eingegangen, da er ein besonders elegantes Jackett, lange Pantalons und einen glänzenden Zylinder trug. Doch dann war er beim Anblick einer jungen Frau in Nöten und dem Wunsch, ihr beizustehen, tiefer in den allgemeinen Trubel gezogen worden. Jackson hatte ihm bereits bestätigt, dass er eine respektable Rechte besaß; heute hatte er es beweisen können.

Gedankenverloren rieb er sich die schmerzenden Knöchel. Er sah, dass Lady Amber einen Blick über die Schulter warf, bevor sie um die Ecke bog. Wenn er nicht gewusst hätte, wo sie wohnte, wäre er ihr gefolgt, um es zu erfahren. Das befürchtete sie ohne Zweifel. Aber er hatte noch etwas anderes über die begehrenswerte Countess herausgefunden.

Dieser Kuss, den er ihr mehr als Bestrafung für ihre spontane Weigerung, ihn wiederzuerkennen, abgefordert hatte, war eine Offenbarung gewesen. Ob sie ihm immer noch die Verachtung entgegenbrachte, die ihn in all den Jahren so amüsiert hatte? Seit heute wusste er, dass sich hinter Lady Ambers kühlem Charme Abgründe der Leidenschaft verbargen. Es war ihm gelungen, sie zu reizen. Sie hatte seinen Kuss ganz instinktiv und unschuldig erwidert, und die Liebkosung hatte sie offensichtlich genauso erregt wie ihn. Ob Amber sie in die Freuden der Liebe eingeführt hatte?

Der Marquess lächelte versonnen vor sich hin. Um sicherzugehen, dass sie nicht noch einmal belästigt wurde, wollte er ihr unauffällig bis zu ihrem Haus folgen. Er stand nun an der Kreuzung, wo die Bruton Street in den Berkeley Square mündete, und beobachtete, wie sie die Stufen zu ihrem Hauseingang leichtfüßig emporeilte. In diesem Moment schwor er sich, dass die Dowager Duchess of Amber seine neue Geliebte werden sollte. Zuerst jedoch musste er sich von Miss Hermione Green trennen, der hübschen kleinen Schauspielerin, die zurzeit in der geheimen Wohnung lebte, die er in einer weniger vornehmen Gegend von London besaß.

Als Lexie daheim angekommen war, warf sie einen letzten Blick über die Schulter, bevor sie die Eingangstreppe hochging. Lord Stormaston schien ihr nicht gefolgt zu sein. Erleichtert atmete sie auf. Sie hätte ihm niemals mehr gegenübertreten können, wenn er ihre Identität erkannt hätte.

Sie eilte auf kürzestem Weg in ihr Zimmer und schlich auf Zehenspitzen an der Tür zu dem kleinen Salon vorbei, in dem sie Mrs. Baldwin vermutete. Cousine Caro wäre bestimmt ihre augenblickliche Verfassung aufgefallen, und sie hätte den zerrissenen Schal bemerkt. Lexie fühlte sich im Moment außerstande, ihre Fragen zu beantworten. Sie zitterte immer noch vor Angst, wenn sie an den schrecklichen Zwischenfall dachte. Stormastons Kuss hatte mit ihrem Zustand sicher nichts zu tun. Schließlich war sie kein kleines Mädchen mehr, das noch niemals in den Armen eines Mannes gelegen wäre.

Andererseits konnte sie sich nicht erinnern, jemals einen Kuss erhalten zu haben, der sie zu solch ungewollt leidenschaftlicher Erwiderung veranlasst hätte. Sie errötete bei der Vorstellung, was Stormaston wohl dabei gedacht haben mochte. Keine wohlerzogene junge Frau würde auch nur davon träumen …

Aber die meisten Dinge, die Lexie unternahm, würden einer Dame der feinen Gesellschaft nie in den Sinn kommen. Zum Beispiel hätte keine von ihnen einem ungeschriebenen Gesetz getrotzt, indem sie die St. James Street betrat, in der viele Gentlemen Zimmer angemietet hatten. Keine Lady würde durch diese Straße fahren oder sie gar zu Fuß als Dienstbotin verkleidet durchqueren.

Aber was bedeutete schon ein Kuss? Nicht mehr als eine vertrauliche Berührung der Lippen, sagte sie sich. Wenn es in der Vergangenheit ein kühner Verehrer gewagt hatte, sie zu küssen, hatte sie nichts als leichten Widerwillen empfunden. Ambers Liebkosungen waren mehr väterlicher Natur gewesen, eher zärtlich und liebevoll als leidenschaftlich.

Stormastons Kuss dagegen hatte in ihr neue, unbekannte Gefühle wachgerufen, die sie völlig überwältigt hatten. Lexie musste insgeheim zugeben, dass sie diese Erfahrung genossen hatte. Glücklicherweise wird sich dieser Vorfall nicht wiederholen, redete sie sich erleichtert ein, da der Marquess sie nicht erkannt hatte.

Andererseits, warum sollte er sich auch die Mühe machen, ihre Identität herauszufinden? Für Männer wie ihn waren doch alle Frauen gleich. Ein Kuss bedeutete ihm sicher nicht mehr als eine flüchtige Zerstreuung. Sie brauchte sich nicht einzubilden, dass diese kleine Episode auf ihn dieselbe Wirkung gehabt hatte wie auf sie.

Lexie erhob sich von der blauen Brokatdecke ihres Himmelbetts, auf das sie sich gleich nach Betreten ihres Zimmers hatte fallen lassen. Sie durchquerte den Raum und nahm vor dem Frisiertisch Platz. Prüfend betrachtete sie ihr Spiegelbild. Doch obwohl sie innerlich völlig aufgewühlt war, spiegelte ihre Miene nichts von den jüngsten Erlebnissen wider. Sogar ihre Lippen, auf denen sie noch Stormastons Mund zu spüren glaubte, verrieten nichts von dem leidenschaftlichen Druck. Sie waren voll und rosig wie immer. Lexie richtete sich entschlossen auf. Ich kann hier nicht ewig zitternd herumsitzen und in den Spiegel starren, ermahnte sie sich. Ich muss mich zusammennehmen und für das Abendessen ankleiden.

Sie war gerade dabei, das alte Kleid abzulegen, als ihre Zofe Chalker zurückkehrte.

„Oh, Mylady“, rief sie atemlos, warf ihre Haube weg und eilte herbei, um ihrer Herrin zu helfen. „Es tut mir leid, dass ich so lange weggeblieben bin, aber es waren so viele Menschen auf den Straßen, dass man sich kaum mehr durchdrängen konnte. So, nun ist der letzte Haken geöffnet. Wollen Sie ein Bad nehmen? Soll ich um heißes Wasser klingeln?“

„Ja, ich brauche eine Erfrischung.“ Ein leichter Schauder lief Lexie über den Rücken, als ihr die widerwärtigen Schurken wieder einfielen, aus deren Händen sie von Lord Stormaston befreit worden war. Chalker konnte nicht ahnen, wie sehr sie sich danach sehnte, sich von Kopf bis Fuß einzuseifen, um damit auch die Erinnerung an diesen ekelhaften Zwischenfall abzuwaschen.

„Hast du den König und den Zaren gesehen?“

„Ja, Mylady.“

Während Chalker sie weiter entkleidete, erhielt Lexie einen detaillierten Bericht über alles, was ihre Zofe während ihres Bummels gesehen hatte. Deren Erlebnisse schienen jedoch nicht halb so aufregend gewesen zu sein wie ihre eigenen. Nachdem Lexie gebadet hatte und angekleidet war, ging sie nach unten in den Salon, um auf das Abendessen zu warten. Mittlerweile fiel es ihr wieder leicht, ihrer Cousine gegenüberzutreten und ihr eine unterhaltsame, wenn auch etwas korrigierte Schilderung ihres Ausflugs zu liefern.

„Und es hat dich niemand erkannt?“, fragte Mrs. Baldwin ängstlich.

„Nein, liebe Cousine. Du brauchst dir keine Sorgen um meinen guten Ruf zu machen!“, versicherte Lexie fröhlich. „Aber ich möchte dieses Erlebnis um nichts in der Welt missen!“ Seltsamerweise war sie nun, nachdem sie sich von dem Schrecken erholt hatte, wirklich dieser Ansicht.

Und falls sie heute Nacht von kräftigen Armen und zärtlichen, fordernden Lippen träumen würde, war das auf alle Fälle besser, als unter einem Albtraum zu leiden.

2. KAPITEL
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Am folgenden Abend veranstaltete der König zu Ehren der siegreichen verbündeten Heerführer einen Empfang im Carlton House. Da Lexie nicht zu den höchsten Adelskreisen zählte, hatte sie keine Einladung erhalten. Stattdessen besuchte sie einen Ball. Es handelte sich jedoch um kein besonders glänzendes Ereignis, da alle führenden Persönlichkeiten des ton logischerweise abwesend waren.

Immerhin, so tröstete sich Lexie, bewahrt es mich vor der Peinlichkeit, Lord Stormaston so bald nach unserem Zusammentreffen zu begegnen. Sie würde jedoch sicher am nächsten Abend seinen Anblick erdulden müssen, da seine Schwester ihren Debütantinnen-Ball im Downshire House gab.

Der Bruder Seiner Lordschaft, Lord Hugo Graham, war auf dem Ball zugegen, jedoch nicht seine Schwester Fanny. Fanny, so vermutete Lexie, durfte sich nicht allein in der Gesellschaft zeigen. Und die Duchess weilte sicher wie der Marquess auf dem Empfang im Carlton House. Fanny hätte ja mit mir kommen können, dachte Lexie mit einem ironischen Lächeln. Als Dowager wäre ich eine recht respektable Anstandsdame.

Lord Hugo genoss bei Lexie ein wesentlich geringeres Ansehen als der Marquess. Denn Lord Stormaston war trotz seiner bekannten Schwächen eine Persönlichkeit.

Unreife junge Mädchen, die geschmeichelt und aufgeregt auf jede Aufmerksamkeit reagierten, die der Marquess ihnen erwies, versuchten, soweit wie möglich die Ermahnungen ihrer Mütter und Anstandsdamen zu ignorieren. Diese jedoch waren gezwungen, ihre Schützlinge vor seiner zweifelhaften Gesellschaft zu bewahren, da es den Ruf eines Mädchens unrettbar ruinieren konnte, wenn dieses zu oft an seiner Seite gesehen wurde.

Den Anstandsdamen war Lord Hugos Interesse für ihre Schützlinge genauso wenig willkommen, indes mussten sie die jungen Damen nicht ausdrücklich vor ihm warnen. Er wirkte nämlich eher abstoßend als attraktiv. Zum einen besaß er weder einen Titel noch ein Vermögen. Und außerdem, was weit schlimmer war, fehlte ihm das vornehme Auftreten seines Bruders, dessen Charme und natürliche Autorität, die der berüchtigte Marquess mit solcher Lässigkeit ausstrahlte. Er verfügte überdies auch nicht über dessen modischen Geschmack.

Hugo gesellte sich zu einer Gruppe lauter, auffällig gekleideter Dandys, deren grell gestreifte Westen das Auge beleidigten und deren außergewöhnlich hohe Kragen verhinderten, dass sie die Köpfe drehen konnten. Er trug sein Haar „à la Brutus“ frisiert und hielt sich ein Monokel vor sein schielendes Auge. Ein zynisches Lächeln lag auf seiner eher einfältigen Miene.

Wie sein Gesicht, so zeigte auch sein Körper die Auswirkungen ungezügelter Völlerei und ungehemmten Alkoholgenusses. Es war bekannt, dass er versuchte, den beklagenswerten Ruf seines Bruders noch zu übertreffen, indem er mit beispielloser Verworfenheit hurte und dem Spieltrieb frönte. Einige Leute hielten ihn deswegen für liederlich und verkommen.

Aber niemand würde Lord Stormaston je als liederlich oder verkommen bezeichnen. Verrufen, schimpflich, skandalös, aber nicht verkommen. Trotz seiner Fehler war er allseits beliebt. Außerdem strafte seine athletische Figur jeden Verdacht von Verweichlichung Lügen.

Während an der Beliebtheit von Stormaston kein Zweifel bestand, konnte sein Bruder nicht einmal mehr bei seinen alten Freunden mit Unterstützung rechnen. Man erzählte sich, dass sie die Gesellschaft von Lord Hugo mehr duldeten als begrüßten.

Glücklicherweise ist mir seine nähere Bekanntschaft erspart geblieben, dachte Lexie. Als sie unlängst seine Großmutter und seine Schwester besucht hatte, war er nicht anwesend gewesen. Und auch als sie vor sieben Jahren in London debütiert hatte, war er im Gegensatz zu seinem Bruder nicht in der Hauptstadt gewesen.

Der Earl St. Clare, ein alter Verehrer, der darauf wartete, Lexie in den Konzertraum zu begleiten, folgte ihrem Blick und schüttelte dann missbilligend den Kopf. „Diese jungen Verrückten“, knurrte er. „Sie nehmen sich allzu wichtig. Zum Henker mit ihnen. Ich verstehe nicht, warum sie uns hier mit ihrer Gegenwart belästigen müssen. Ich würde sie nie bei mir empfangen.“

„Es handelt sich um Sprösslinge angesehener Adelsfamilien“, erinnerte Lexie den Witwer vorsichtig.

„Man sollte sie alle verbannen“, erwiderte Seine Lordschaft verärgert. „Weit weg in irgendeine Spielhölle, in der der junge Graham versuchen kann, sein Vermögen zurückzugewinnen.“

„Hat er denn schon alles verspielt?“, fragte Lexie verwundert.

„Seine Taschen sind leer, hat man mir erzählt. Irgendjemand wird für seine Schulden einstehen müssen, oder er ist ruiniert.“

„So schlecht steht es also um ihn?“, meinte Lexie leise, während sie weitergingen, um ihre Plätze im Musikzimmer einzunehmen. „Bestimmt hat er ein Taschengeld, und der Duke wird …?“

„Der Duke darf davon um nichts in der Welt erfahren“, erklärte St. Clare. „Ich schätze, dass diese Neuigkeit den alten Knaben zu sehr verletzen würde. Außerdem will Lord Hugo damit offensichtlich nur seinen Bruder schikanieren. Lord Stormaston wird für die Schulden seines Bruders aufkommen müssen, wenn er die Familie vor Schande bewahren will.“

„Ich hatte den Eindruck, dass auch Lord Stormaston selbst schon genug angestellt hat, um den Namen der Grahams zu besudeln.“

„Nein. Er ist noch nie in Schwierigkeiten geraten, die er nicht selbst gemeistert hätte. Sein Vermögen ist so gewaltig …“

„Diese Tatsache beruhigt natürlich die Leute“, unterbrach Lexie ihn trocken. „Aber es gab schon Gentlemen, die größere Vermögen verschwendet haben.“

„Da haben Sie recht, Lady Amber. Aber bei Lord Stormaston besteht nicht die Gefahr, dass er sich wie irgendein Schwachkopf aufführt.“ In der Stimme Seiner Lordschaft schwang Zuneigung mit. Er nahm neben Lexie Platz. „Man muss einem jungen Mann, der gerade die Fesseln seiner Lehrer und Vormunde abgestreift hat, schon ein bisschen Wildheit zubilligen, bis er gelernt hat, für sein Schicksal und sein Vermögen selbst verantwortlich zu sein. Storm hat niemals wirklich schlechten Charakter gezeigt.“

Lexie hatte vor sieben Jahren einen anderen Eindruck von ihm gewonnen. Man musste jedoch dabei berücksichtigen, dass der Sohn Seiner Lordschaft, Felix, Viscount Dexter, einer der engsten Freunde von Lord Stormaston war und genau wie er ein Draufgänger im großen Stil. Lexie beschloss deshalb, über dieses Thema nicht zu streiten. Sie bemerkte nur: „Warum sollte sich Lord Stormaston verpflichtet fühlen, die Schulden von Lord Hugo zu begleichen? Es ist doch sicher die Aufgabe des Duke, für den Namen der Familie geradezustehen.“

„Storm wurde zum Vormund seines Bruders ernannt, bis dieser die Volljährigkeit erreicht hat.“

„Nicht der Duke?“, fragte Lexie überrascht.

„Nein. Stormaston wurde nach dem Willen seines Vaters zum Vormund für seine beiden Geschwister bestimmt. Der Marquess ahnte allerdings nicht, dass er so früh das Zeitliche segnen würde.“

„Aber sein ältester Sohn hätte selbst einen Vormund gebraucht!“

„Er hatte stattdessen Verwalter, den Duke und die Duchess sowie eine Reihe von Anwälten. Sie kümmerten sich um den Besitz. Doch nachdem Stormaston die Volljährigkeit erreicht hatte, wurde Lord Hugo zu seinem Problem. Ebenso Lady Fanny. Er muss einen passenden Ehemann für sie finden.“

„Ich beneide ihn nicht darum“, erwiderte Lexie leise.

In diesem Moment begann das Orchester zu spielen, und Lexie dachte nicht weiter an Lord Hugo. Die Tatsache, dass sie am nächsten Tag Lord Stormaston begegnen würde, beschäftigte sie indes noch länger. Sie ärgerte sich ein wenig, dass ihr diese Überlegungen teilweise die Freude am Abend raubten.

Lexie legte großen Wert auf ihre Erscheinung, als sie sich für den Downshire Ball ankleidete. Das schien ihr wichtig, um jede Ähnlichkeit mit der Dienstmagd zu vermeiden, die Lord Stormaston vor ein paar Tagen vor dem Mob gerettet hatte.

Sie wählte ein Kleid aus smaragdgrüner Seide, die die Farbe ihrer Augen widerspiegelte. Das tiefe Dekolleté gab den Blick auf ihren wohlgerundeten Brustansatz frei. Das enge Mieder betonte vorteilhaft ihre schmale Taille. Lange passende Abendhandschuhe bedeckten ihre Arme bis zu den kurzen Puffärmeln. Ein Diamantkollier schmückte den grazilen Hals.

Ein Reif aus pinkfarbenen Seidenblumen mit silbernen Blättern steckte auf dem weich geschwungenen Haarknoten. Einzelne feine Löckchen umschmeichelten ihr Gesicht.

Die Zofe legte letzte Hand an die kunstvolle Frisurund trat dann einen Schritt zurück, um ihr Werk zu bewundern.

„Danke, Chalker.“ Lexie lächelte zufrieden.„Vielleicht noch einen Hauch Puder, um meine Sommersprossen zu verdecken. Diese neue Gesichtscreme ist wirklich nichts wert!“

„Sie hätten neulich nicht ohne Schirm in der Sonne spazieren gehen sollen“, tadelte Chalker und tupfte mit einer Quaste über Lexies Nase und Wangen.

„Ich habe doch eine Haube getragen“, verteidigte sich Lexie. „Danke, das reicht. Am besten nimmst du Lockeneisen und Puder mit. Ich fürchte, ich werde beides benötigen, bevor der Abend zu Ende geht.“

Sie erhob sich und ging hinunter in den kleinen Salon, wo Cousine Caro auf ihrer bevorzugten Chaiselongue ruhte. Sie hielt ihr Strickzeug in den Händen.

„Wie sehe ich aus?“

Caros Doppelkinn wackelte, als sie zustimmend nickte. „Du wirkst in dieser Toilette wie eine Fürstin“, erklärte sie zufrieden.

„Findest du diese Art von Garderobe passender für mich?“, fragte Lexie spöttisch und spielte damit auf die Kritik ihrer Cousine über ihre jüngste Verkleidung an.

„Mit so viel Sorgfalt solltest du dich immer kleiden, meine liebe Alexia. Du wirst heute Abend die Schönste auf dem Ball sein …“

„Nein“, wehrte Lexie schnell ab. Einen Moment lang bedauerte sie, so viel Mühe auf ihr Äußeres verwandt zu haben. „Diese Rolle bleibt Lady Fanny vorbehalten. Sie ist so ein nettes Mädchen.“

Autor

Sarah Westleigh
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