Mordsacker

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Tragische Umstände haben Klara Himmel samt Familie ins mecklenburgische Mordsacker verschlagen. Doch hier liegt nicht nur der sprichwörtliche Hund begraben! Während die chaotische Großstädterin sich noch als brave Hausfrau versucht - und schon an einem simplen Käsekuchen scheitert - wird ihr Mann, der neue Dorfpolizist, zu seinem ersten Fall gerufen: Bauer Schlönkamp liegt tot in der Güllegrube. Leider erkrankt Klaras Göttergatte und sie wittert ihre große Chance auf etwas Nervenkitzel. Kurzerhand ermittelt Klara auf eigene Faust und bringt dabei nicht nur die dunkelsten Geheimnisse der verschworenen Dorfgemeinschaft zutage sondern schon bald sich selbst in Lebensgefahr …

"Der Roman ist Film, in den stärksten - und davon gibt es wahrlich viele - Passagen ihres Buchs schreibt Cathrin Moeller ihrem Leser etwas vor die nicht müde werdenden Augen, das ihm die Szenerie wie einen laufenden Streifen von Szenen durchs Hirn tanzen lässt."
Leipziger Volkszeitung über "Wolfgang muss weg!"

"Cathrin Moellers Roman einer absurden Selbstsuche ist so rasend komisch wie liebenswert schräg. Darauf eine Spreewaldgurke!"
Buchjournal über "Die Spreewaldgurkenverschwörung"


  • Erscheinungstag 10.07.2017
  • Bandnummer 1
  • ISBN / Artikelnummer 9783955766429
  • Seitenanzahl 336
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

19. Februar 2016

Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur Tagesschau. Sachsen: Grölender Mob blockiert Bus mit Flüchtlingen …

… Rosenheim: Trotz trockenem Wetter bei Temperaturen zwischen fünf und vierzehn Grad kam es heute auf etlichen Straßen in Deutschland zu tragischen Unfällen mit tödlichem Ausgang.

Auf der B 15 bei Rosenheim raste am Morgen ein schwarzer Volvo V8 mit Berliner Kennzeichen von der Autobahn kommend mit erhöhter Geschwindigkeit durch eine Radarfalle. Einen Kilometer weiter verlor der Fahrer auf gerader Strecke die Kontrolle über das Fahrzeug und kam von der Straße ab. Der Wagen geriet auf dem Seitenstreifen ins Schleudern, prallte gegen einen Baum und ging in Flammen auf.

Wie die Feuerwehr berichtet, verstarben die drei Insassen noch am Unfallort. Bei den Toten handelte es sich um die Schauspielerin Franziska Bach, bekannt aus der Serie ‚Vorstadtrevier‘, sowie ihren Ehemann und ihre Tochter …“

Kapitel 1

„Moin, Mama!“ Sophie zog die Nase kraus, schob mich beiseite und stürmte im Stechschritt Richtung Küche: „Hier riecht’s komisch!“

„Jedenfalls besser als draußen. Den Gestank nach Gülle hält ja kein Mensch aus!“, konterte ich, schloss die Haustür und schaute verstimmt über den Rand der Brille auf die Fußspur, die ihre erdverkrusteten Gummistiefel im Flur hinterließen. Während ich meiner erwachsenen Tochter nachlief, knurrte ich sie an: „Könntest du dir bitte angewöhnen, diese Schlammbatzen vor dem Haus auszuziehen! Unsere Putzfrau hat Rücken.“

„Welche Putzfrau?“ Sie guckte mich mit großen Augen an.

Demonstrativ tippte ich mir auf die Brust und zischte: „Ich! Denn ich hab gerade frisch gewischt. Mir reicht es, dass dein Vater tonnenweise Erde im Haus verteilt, wenn er von seinen archäologischen Ausgrabungen aus dem Garten zurückkehrt.“

Mein wohlgerundetes Kind zog den Kopf ein und streifte sich augenblicklich brav die Knobelbecher von den Füßen – nur um sie dann in jahrelang antrainierter Manier mitten im Raum liegen zu lassen. Ich seufzte.

Schnuppernd reckte Sophie die Nase in die Luft. „Hast du was auf dem Herd?“

„Nein, aber im Rohr.“ Erschrocken riss ich die Arme hoch und rief: „Der Kuchen, arrrrr!“

Rasch schlängelte sie sich an mir vorbei zum Backofen und lugte durch die beschlagene Scheibe. „Mhmmm, lecker! Teersahne mit Kohlestreuseln.“

Sophie zerrte die Klappe auf. Eine Qualmwolke schoss heraus. Sie wich zurück, schnappte sich ein Wischtuch und zog die runde Aluminiumform mit dem schwarzen Inhalt aus dem Ofen. Erschrocken sprang sie zur Seite, ließ die Backform fallen und schrie: „Heiß!“

Es schepperte, und mein vor fünf Minuten noch glänzend weißer Fliesenboden sah aus wie nach einem Bombenangriff auf eine Konditorei … oder ein Kohlekraftwerk. Angewidert kickte ich mit der Fußspitze ein schwarzes, qualmendes Bröckchen von mir. Somit wäre dann wohl der nächste Versuch, endlich eine gute Hausfrau zu werden, kläglich gescheitert.

„Ach, Sophie!“, schimpfte ich frustriert.

Sie drehte den Wasserhahn der Spüle auf und kühlte ihre Finger unter dem fließenden Nass. „Den Klumpen hättest du sowieso keinem anbieten können! Außer du hattest vor, jemanden zu vergiften.“

„Da gäbe es einige…“, brummte ich und verschränkte trotzig die Arme vor der Brust.

Sie trocknete ihre Hände ab, ging auf die Knie und half mir, den klebrigen Quarkhaufen vom Boden zu kratzen. „Na ja!“, sagte sie, ihre Finger ableckend. Der Geschmack begeisterte sie anscheinend wenig. Sie verdrehte die dunkelbraunen Augen, schaute in den Mülleimer und warf das aktuelle Ergebnis meiner Backkunst dorthin, wo die Vorgänger beerdigt lagen. Dabei fragte sie keck: „Der wievielte Versuch?“

„Phhhh, lass mich zählen!“ Ich nahm die Finger zu Hilfe. „Der vierte …“, seufzte ich.

Meine Tochter schmunzelte, und ich rechtfertigte mich. „Übung macht den Meister! Du hast mich abgelenkt. Ich hätte ihn garantiert zum richtigen Zeitpunkt aus dem Ofen geholt.“

„Ja, ja, wenn du gewusst hättest, was das Leben bringt, wärst du im Sandkasten sitzen geblieben.“ Sie kombinierte: „Du warst im Wohnzimmer.“

„Kurz“, log ich ungeniert.

Ihr Finger zeigte auf meinen Kopf: „Wozu dann die Lesebrille?“

„Wegen des Rezeptes.“ Ich legte die Sehhilfe auf das Fensterbrett.

Sophie huschte aus der Küche und kam im nächsten Moment zurück.

Typisch! Man konnte ihr nichts vormachen. Sie musste die Falschaussage natürlich mit einem Beweis widerlegen. Ein genetisch bedingter Defekt, den sie von Mutter und Vater gleichermaßen geerbt hatte. Vorwurfsvoll wedelte sie mit einem Buch, in dem ein Lesezeichen aus Zeitungspapier steckte. „Fitzek schreibt also neuerdings Kochbücher? Erwischt!“

Meine Tochter baute sich breitbeinig vor mir auf und guckte streng auf mich herunter.

Sah ich in ihr Gesicht, hatte ich das Gefühl, in einen Spiegel zu schauen, der mich um zwanzig Jahre verjüngte. Mundpartie und Augen waren eindeutig von mir. Die Haarfarbe sowie die Statur hatte sie allerdings von ihrem Vater geerbt. Leute, die uns nicht kannten, staunten oft auf den ersten Blick, dass diese große dunkelhaarige Frau meine Tochter war. Ich reichte ihr mit meinem rotblonden Naturlockenschopf knapp bis zur Schulter.

„Mama, beim Backen und Kochen ist es angebracht, dabeizubleiben. Kein Wunder, dass dir alles verbrennt, wenn du derweil im Wohnzimmer liest.“ Sie legte das Buch auf den verdreckten Tisch.

„Jaja“, wehrte ich ab und stöhnte. „Aus mir wird nie die perfekte Hausfrau.“

„Warum tust du es dir dann an?“, fragte sie ernsthaft und zeigte auf das Chaos in meiner Küche.

„Weil das hier eine Do-it-yourself-Gesellschaft ist und es keine Personen gibt, die einen Käsekuchen-Lieferservice mit der nötigen Diskretion anbieten. Außerdem bemühe ich mich um Integration in die Gemeinschaft“, konterte ich und räumte die benutzten Rührschüsseln und Löffel in die Spüle.

Meine Tochter lehnte sich mit dem Rücken an die Küchenzeile, schlug die Beine übereinander, verschränkte die Arme vor der Brust und kombinierte in ihrer Denkerpose: „Die Landfrauen veranstalten morgen zum Osterfeuer einen Kuchenbasar. Womit haben dich Anette und ihr Gefolge erpresst? Du backst doch niemals freiwillig.“

„Quatsch! Ich bin nicht erpressbar“, widersprach ich kleinlaut. Dabei wischte ich den teigverklebten Tisch ab. Erklärend fügte ich hinzu: „Anette hat mir vor zwei Wochen vorgeschwärmt, wie dein Vater auf ihre Schweinsrouladen abfährt. Ich habe in einem Anfall von Minderwertigkeitsgefühlen damit angegeben, dass er mir beim ersten Bissen meines selbst gebackenen Käsekuchens nach Omas Rezept einen Heiratsantrag gemacht hat.“

Anette war die viel zu attraktive neue Kollegin meines Mannes. Seit wir in Mordsacker gelandet waren, verging kaum ein Tag, ohne dass ich mich über die großbrüstige Dorfpolizistin aufregte.

Sophie verzog das Gesicht zum Fragezeichen. „Ein Käsekuchen? Selbst gebacken, von dir? Hab ich da was verpasst? Ich war zehn, als ihr geheiratet habt.“

„Ha, ha! Irgendetwas musste ich Anettes blöden Rouladen schließlich entgegensetzen“, sagte ich verächtlich und schleuderte den Lappen in die Spüle.

Amüsiert rief sie: „Du willst deinen Ruf retten. Vergiss es!“

Lachte mich meine Tochter etwa aus? In bester Rumpelstilzchenmanier presste ich die Lippen fest zusammen und stampfte auf.

Sie beschwerte sich: „Kuchen gab es bei uns nie, und von anderen essbaren Dingen wollen wir gar nicht reden.“

Ich stemmte die Hände in die Hüften und protestierte: „Erstens bin ich emanzipiert und kann mit einem Dosenöffner umgehen. Zweitens gibt es Wichtigeres im Leben als Rouladen und Käsekuchen. Wozu existieren Bäcker und Restaurants? Wovon sollen diese armen Menschen ihre Miete bezahlen, wenn jeder selbst backt und kocht?“

Wütend bereitete ich auf dem Tisch alles für einen erneuten Versuch vor. Es konnte doch nicht so schwer sein, so eine blöde Käsetorte zu produzieren, dachte ich trotzig und redete dabei weiter: „Bisher habe ich die Vervollkommnung meiner fachlichen Kompetenz in der Herstellung von Speisen bewusst zum Gemeinwohl der Gesellschaft vernachlässigt.“

„Und jetzt?“, fragte Sophie mit hochgezogenen Augenbrauen.

Ich wich ihrem Blick aus.

„Jetzt zwingen mich die Umstände zum Umdenken“, erwiderte ich dann kühl.

„Du hast Angst um Papa!“ Sie konnte sich ein freches Grinsen nicht verbeißen.

Ich schnappte mir ein rohes Ei, drehte es wie ein Wurfgeschoss in der Hand und klagte: „Anette bringt ihm jeden Tag selbst gekochtes Essen auf die Dienststelle mit. Und wenn beide Feierabend haben, findet sie einen Vorwand, um bei ihm vorbeizuschauen. Ständig steht sie mit irgendwelchen Pflanzensetzlingen oder Ratgebern für den Aufbau seines Gartenimperiums am Zaun.“

„Und Papa?“

„Hat bereits fünf Kilo zugenommen.“

„Aha.“ Sie amüsierte sich über meinen Groll.

Ich spürte, wie mein Blutdruck stieg, weil schon der Gedanke an diese Frau mich unheimlich aufregte. Um Dampf abzulassen, schlug ich das Ei mit voller Wucht am Schüsselrand auf. Es zerplatzte geräuschvoll. Während ich die Schalenteile mit dem Löffel aus der Schüssel fischte, beklagte ich mich weiter über meinen Mann: „Stundenlang fachsimpelt er mit ihr. Als ob es nicht genug wäre, dass sie den halben Tag auf der Arbeit miteinander verbringen. Ich komme mir daneben vor wie bunte Luft.“

Sophie fläzte sich mir gegenüber an den Tisch und stützte ihren Kopf mit beiden Händen ab. Dabei beäugte sie mich belustigt von unten: „Das ärgert dich also.“

„Was?“ Ich hielt inne. Ein Eierschalenrest ließ sich einfach nicht herauspulen. Ich legte den Löffel beiseite und fasste mit den Fingern in die glibberige Masse. Igitt! Ich hasse rohe Eier.

„Na, dass sie ein gemeinsames Thema haben und du im Moment außerhalb von Papas Universum stehst.“

„Ich bin der letzte Punkt auf seiner alltäglichen Prioritätenliste! Wenn du sehen würdest, wie sie ihn anhimmelt …“ Ich äffte Anette Schwanenfuß’ schwärmerischen Blick nach.

„Du bist eifersüchtig“, rief Sophie und lachte schallend.

Ich fühlte mich ertappt. „Bin ich nicht! Dein Vater steht nicht auf Vollbusige, sondern auf knackige Hintern. Ihrer ist so flach wie der Witz, dass Chirurgen eh alle Aufschneider sind“, blaffte ich mein Kind beleidigt an.

„Haha!“ Meine Tochter, die Ärztin, klopfte sich gelangweilt auf die Schenkel und spielte den Ball prompt zurück. „Da passt du mit fast fünfzig ja voll in Papas Beuteschema.“

„Siebenundvierzig! Da sind noch drei Jahre Luft bis zum Verfallsdatum.“ Ich drehte mich um und zeigte ihr meine Kehrseite. „Außerdem tue ich mein Bestes, um sein Interesse an mir wachzuhalten.“ Mir stiegen Tränen in die Augen. „Anettes Brüste sind niemals echt.“

„Doch, sind sie!“, sagte Sophie wissend.

Der Damm brach, und das Wasser lief mir die Wange herunter. „Woher willst du das wissen?“

„Vergessen? Ich bin Ärztin. Manchmal kommen Menschen zu mir in die Praxis, um sich untersuchen zu lassen. Dafür ziehen sie ihre Kleider aus …“

„Kennst du einen guten Schönheitschirurgen?“ Ich wischte mir mit dem Unterarm die Augen trocken.

Ihr Gesichtsausdruck wechselte zu besorgt. „Wie sieht es denn mit eurem Sexualleben aus?“

Ich erstarrte. „Ich unterhalte mich doch nicht mit meiner Tochter über unser Sexualleben.“

„Mama, mein Interesse ist rein medizinisch. Irgendeinen Grund muss es ja für deine ständigen Stimmungsschwankungen in letzter Zeit geben … Nein, warte, eigentlich beobachte ich sie schon seit einem halben Jahr bei dir …“

Ich wich ihrem Blick aus und zerschlug das nächste Ei so ungeschickt, dass der größte Teil des glibberigen Inhaltes neben der Schüssel landete.

Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und wartete auf meine Antwort.

Weil ich schwieg, fragte sie noch einmal: „Wann hattet ihr das letzte Mal Sex?“

„Oh, Sex? Was war das gleich?“ Ich kaute auf der Unterlippe herum.

Sophie verdrehte die Augen. „Dieses Ding, wo Mann und Frau …“

„Stimmt. Das haben wir praktiziert. Ja, ich erinnere mich an die Zeit. Da kreisten wir aber durch eine ferne Galaxie in einer anderen Umlaufbahn. Das ist Lichtjahre her“, sagte ich und winkte hilflos ab. „Meinst du, ich sollte in die Werkstatt zur Runderneuerung? Der Versuch, deinen Vater mit Spitzendessous zu verführen, hat damit geendet, dass er mir riet, ich solle mir doch bitte etwas anziehen, um mich nicht zu erkälten.“

Sophie fragte: „Habt ihr darüber geredet?“

„Nein! Ich bin kein Klinkenputzer, der seinen Körper wie einen Staubsauger feilbietet. Entweder erkennt er die Vorzüge dieses Auslaufmodells von allein, oder …“ Unter Tränen zeigte ich auf mich.

„Dann werde ich das übernehmen“, sagte sie.

„Das verbiete ich dir. Ich kläre das auf meine Weise.“ Um mich nicht noch mehr aufzuregen, lenkte ich das Gespräch auf ein anderes Thema. Schließlich konnte Sophie nichts dafür, dass ich seit Monaten so emotional labil war. „Aber sag mal, hast du eine neue Haarfarbe? Diese goldenen Lichtreflexe stehen dir gut.“

Sie schaute verlegen. Ihren Mund umspielte ein geheimnisvolles Lächeln. „Danke.“

Ich musterte sie von Kopf bis Fuß. Sie wirkte schlanker als sonst. Sophie hatte keine Probleme mit ihrer Körperfülle. Sie akzeptierte es, eine 42 zu tragen. Das strahlte sie jedenfalls aus. Die Rundungen saßen ja auch an den richtigen Stellen.

„Kann es sein, Frau Doktor, dass Ihr Arbeitgeber Sie nicht nur mit seiner Fachkenntnis beeindruckt? Gut sieht er ja aus, der Herr Landarzt. Oder gibt es einen anderen Adonis unter der Landbevölkerung, dem meine Schöne imponieren möchte?“

„Mal schauen“, murmelte sie doppeldeutig und schlug ihrerseits zur Ablenkung den Fitzek auf, der vor ihr zwischen den Backzutaten lag. Das Lesezeichen fiel heraus. Sophie hob es vom Fußboden auf und las laut:

Tief betroffen nehmen wir Abschied von

Franziska Bach,

unserer allseits geschätzten Mitarbeiterin,
die am 19. Februar 2016 im Alter von
nur 47 Jahren auf tragische Weise bei einem Autounfall ums Leben kam.

Du hast mit viel Engagement und Kreativität einen großen Beitrag dazu geleistet, dass unsere Schauspielschule zu einem Ort geworden ist, an dem junge Menschen ihren Traum von einem Beruf auf der Bühne verwirklichen können. Dafür werden wir Dir ewig dankbar sein und Dein Andenken stets bewahren.

Akademie der Darstellenden Künste

Berlin, 24. Februar 2016

„Mama!“ Stöhnend klappte sie das Buch wieder zu und knallte es auf den Tisch zurück, mitten in die Eierschalen. „Hör auf, dir das immer wieder durchzulesen!“, schimpfte sie.

Ihr besorgter Blick traf mich. Als ich versuchte, ihm auszuweichen, schossen mir noch mehr Tränen in die Augen. Verdammt! Diese Stimmungsschwankungen konnten nur die ersten Vorboten der Wechseljahre sein. Ich riss mich zusammen und wischte mir mit dem Handrücken übers Gesicht.

Sophie zog die Stirn in Falten. „Glaubst du etwa, Papa und mir sind die letzten fünf Wochen leichtgefallen?“

Oh Mann! Zum Glück wusste Sophie nicht, dass auch noch alles meine Schuld war. Denn allein wegen meines Fehlers hatten wir alles aufgeben und vom Ku’damm aufs Kuhdorf ziehen müssen. Ich schluckte dieses miese Gefühl, das mir die Kehle heraufkroch, herunter.

Es wurde immer anstrengender, das gespielte Lächeln nicht verrutschen zu lassen. „Ihr habt wenigstens eure Arbeit, aber ich sitze völlig sinnlos im Haus herum.“

„Finde dich damit ab, dass es kein Zurück gibt“, sagte sie.

Ihr Groll der ersten Wochen seit dem Umzug nach Mordsacker schien verraucht. Sie ist verliebt, dachte ich und sah ihr die Salsa tanzenden Hummeln im Bauch gewissermaßen an der Nasenspitze an. Dieses Glück gönnte ich ihr natürlich von Herzen.

Leider konnte ich mich mit meiner zukünftigen Rolle im Gegensatz zu Sophie nicht abfinden. Ich suhlte mich in einem Tümpel voll Selbstmitleid und jammerte auf höchstem Niveau.

Musste sich mein Mann ausgerechnet für diese Einöde entscheiden? Hier kann man sich ja nicht einmal mit dem Internet ablenken.

Als moderne Stadtpflanze fühlte ich mich ohne richtigen Handy- und Internetempfang wie ins Straflager nach Sibirien verbannt, total abgeschnitten von der Zivilisation und den Ureinwohnern dieses Landstriches hilflos ausgeliefert.

Mein Mann hatte mir bis heute keinen Vorwurf gemacht und auch gegenüber unserer Tochter dichtgehalten, was den Auslöser der strikten Veränderung unserer Lebensumstände anging. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass die Entscheidung, den Rest des Lebens in einem Kuhdorf mitten in der mecklenburgischen Pampa zu verbringen, seine kleine Rache an mir war, weil er wusste, wie ich über das Leben auf dem Lande dachte … und ja, weil ich uns diese ganze Scheiße hier wegen meiner Eifersucht eingebrockt hatte! Ich konnte mir die Haare raufen, wie ich wollte. Es änderte nichts an der Situation.

Ist es denn ein Wunder, wenn die Fantasie mit einem durchgeht, weil sich der eigene Mann monatelang im Sexstreik befindet, und dass man dann beginnt, ihm hinterherzuschnüffeln?

Sophie holte mich aus den Gedanken: „Wärst du lieber im Ruhrpott gelandet? Mit Jammern machst du es dir unnötig schwer. Ich habe auch Opfer gebracht und meinen Traumjob als Assistenzärztin für Herzchirurgie in der Charité gegen die Stelle in einer Landarztpraxis getauscht. Ich werde meine Freunde ebenfalls nie wieder sehen.“

Ich strich ihr über die Hand. „Obwohl ich ja den Eindruck habe, dass dir die Veränderung nicht ungelegen kam, nachdem dich Mark mit dieser kleinen Krankenschwester betrogen hatte“, versuchte ich ihr das Positive im Negativen bewusst zu machen. Bei anderen schaffte ich das im Moment komischerweise bereits wieder.

Sie zuckte abwehrend mit den Schultern. „Privat sicherlich, aber Allgemeinmedizinerin auf dem Land zu werden war nicht gerade das Ziel, für das ich sechs Jahre studiert habe.“

Ich hielt ihre Hand fest. „Du bist jung und kannst, wenn Gras über die Sache gewachsen ist, mit deiner Karriere immer noch durchstarten. Es gibt andere Herzzentren als die Charité in Berlin.“

„Im Moment ist unklar, ob ich das überhaupt will“, nuschelte sie verschmitzt.

„Schön für dich“, sagte ich möglichst ehrlich und versank tiefer in meinem Bottich voll klebrigem Selbstmitleid. Was mir Sophie natürlich gleich ansah.

„Mensch, Mama! Denkst du, Papa ist mit seinen Aufgaben als Halbtagspolizist, die ihm maximal die Jagd eines Karnickeldiebs bescheren, zufrieden? Der ist auch unterfordert, aber er orientiert sich neu.“

Ich verbarg meine Scham hinter einer Maske aus Zorn. „Dein Vater ist zu einem ganz anderen Menschen mutiert. Ich erkenne ihn kaum wieder, so wie er in diesem Haus herumwerkelt und da draußen die Erde umpflügt. Neuerdings schippert er sogar mit dem Kahn auf dem See herum, wirft Netze aus und bringt mir tote Fische als Geschenk mit, die ich ihm zu allem Überfluss ausnehmen und braten soll“, schnaubte ich verächtlich.

„Gib ihm bitte nicht die Schuld!“

Wenn du wüsstest, Kind. Ich drehte mich zur Spüle und schrubbte akribisch die verbrannten Kuchenreste aus der Form.

Sophies Worte bohrten sich wie ein Messer zwischen meine Schulterblätter. „Ihr habt doch garantiert darüber gesprochen, wie gefährlich der Undercover-Einsatz werden kann. Er hätte diesen Job nie ohne deine Zustimmung angenommen.“

Das denkst du zumindest …

Ich schluckte. Meine Stimme klang belegt, als ich log: „Klar haben wir über die Konsequenzen geredet, dass wir vielleicht im Zeugenschutz landen und mit neuer Identität irgendwo unser Leben weiterführen müssen.“

Vielleicht hatte ich wieder einmal nicht richtig zugehört. Hätte ich wirklich von seinem Undercover-Einsatz gewusst, wäre das alles nie passiert …

Aber das konnte ich Sophie nicht sagen. Jedenfalls jetzt noch nicht. Dafür hatte ich viel zu sehr Angst, dass sie mich hassen würde, denn ich allein war schuld daran, dass seine Tarnung aufgeflogen war.

„Aber ich habe doch nie damit gerechnet, dass es einmal passiert. Man nimmt schließlich auch Medikamente, obwohl der Beipackzettel auf die schlimmsten Nebenwirkungen hinweist, immer in der Hoffnung, dass es einen nicht trifft“, sagte ich und drehte mich zu ihr um.

„Seine Informantin ist tot. Das Wichtigste ist doch, dass er … dass wir leben, Mama! Warum kannst du die Situation nicht als Chance nehmen, andere Dinge kennen und schätzen zu lernen? Ihr habt beide lange und hart geschuftet. Ihr habt euch die Auszeit beziehungsweise schon fast den Ruhestand verdient.“

„Ruhestand! Ich bin siebenundvierzig, auf dem Höhepunkt meiner Karriere!“, fauchte ich empört.

„Ach? Ich denke, das war damals die Hauptrolle in deiner einzigen Fernsehserie?“

„Ja, auch, aber dank meiner Mitarbeit ist die Akademie in den letzten Jahren erst zu dem geworden, was sie jetzt ist, eine anerkannte Ausbildungsstätte für Nachwuchstalente.“

„Mag ja sein, bloß zu welchem Preis?“

Ich starrte sie mit offenem Mund an.

„Du hast deine gesamte Energie dafür verbraucht. Vielleicht tut der erzwungene Neuanfang euch …“ Sie verbesserte sich: „… uns als Familie gut. Wann hattet ihr vorher denn Zeit füreinander oder für mich?“

Ich stemmte die Hände in die Hüften. „Was willst du damit sagen, Sophie? Dass ich … dass wir dich vernachlässigt haben?“

„Nein, aber mal ehrlich, bei uns hat sich doch immer alles um dich, deine Schauspielkarriere und später um die Akademie gedreht. Du hast mir und Papa schon lange nicht mehr zugehört. Selbst wenn du zu Hause anwesend warst, kreisten deine Gedanken um die Schauspielschule.“

Ihr Vorwurf landete wie ein Faustschlag direkt in meiner Magengrube. Ich zuckte zusammen und starrte beschämt zu Boden.

Mein Mann, total sexy in grüne Arbeitslatzhose, Daunenjacke und geringelte Wollmütze gehüllt, klopfte forsch mit erdverkrusteten Händen, in denen er einen Kochtopf hielt, an die Terrassentür. Das unrasierte Gesicht glühte und glänzte verschwitzt. Wenn ich sein neues Hobby nicht mittlerweile gekannt hätte, wäre ich beim Anblick dieses Mannes erschrocken, weil ich den Typen in unserem Garten für einen verwahrlosten Straßendieb gehalten hätte.

Ich öffnete ihm und sagte zu Sophie: „Aber aus dir ist trotzdem etwas geworden, oder?“

„Das ist doch nicht das Thema“, beharrte sie.

„Was ist nicht das Thema?“, mischte sich Paul mit heiserer Stimme in unser Gespräch, latschte mit seinen Schlammbatzen rein und drückte mir den Topf in die Hand.

Ich winkte ab. „Ach, nix!“

„Mama langweilt sich, trauert wieder einmal ihrem Job hinterher und …“ Ich warnte sie mit einem Blick, den Mund zu halten.

„Petze!“, platzte es aus mir heraus, und ich lenkte die Aufmerksamkeit auf den Topf, aus dem es aromatisch duftete.

Sophie wedelte mit dem Nachruf, gab ihrem Vater einen Kuss und fühlte seine Stirn. Erleichtert, dass sie das andere Thema nicht weiterverfolgte, atmete ich auf.

Pauls vorwurfsvoller Blick traf mich tief. Ich wich ihm aus.

Röchelnd zeigte mein Mann auf seinen Hals: „In dem Topf ist Medizin gegen meine Erkältung. Anette hat mir Hühnersuppe vorbeigebracht.“

„Wie rührend.“ Ich stellte das Kochgeschirr schwungvoll auf den Herd und verschränkte die Arme vor der Brust.

Mein Gatte sah mich genauso besorgt an wie Sophie ihren Vater. „Papa, du hast Fieber und gehörst ins Bett.“ Sie drückte ihn auf den Küchenstuhl. „Mund auf!“ Mir befahl sie mit Griff ins Leere: „Taschenlampe!“

Ich entfloh Pauls durchdringendem Blick, gehorchte ihr wie die Schwester am Instrumententisch im OP und schluckte die Tränen herunter, als mich die Erinnerungen übermannten.

Er war meine Jugendliebe, Sophie sein Kind. Von ihrer Existenz wusste er allerdings lange nichts, denn wir waren eine ganze Zeit getrennte Wege gegangen. Ich wollte ihn nicht mit dem Kind dazu zwingen, zu mir zurückzukehren. Das sollte er aus freien Stücken tun. Vor siebzehn Jahren hatten sich unsere Wege wieder gekreuzt – und kurz darauf hatten wir geheiratet.

Wir hatten uns damals wiederentdeckt, wie das Lieblingsbuch, von dem man glaubt, es in- und auswendig zu kennen, bis man plötzlich auf etwas Neues, etwas, das einem bis dahin verborgen war, stößt. Schön war es gewesen und aufregend, richtig romantisch. Leider waren diese Zeiten schon lange vorbei …

„Und? Sind seine Mandeln noch zu retten, oder soll ich die Narkose vorbereiten?“, fragte ich mit schwacher Stimme und schwenkte scherzhaft das Nudelholz, während ich zusah, wie Sophie ihrem Vater mit der starken Taschenlampe in den Hals leuchtete.

Niemand lachte.

Sophie stöhnte: „Total vereitert. Ich fahre gleich rüber und hole dir ein Antibiotikum aus der Praxis. Und du, Mama, solltest darüber nachdenken, was ich dir gesagt habe, und endlich diese Todesanzeige wegwerfen. Versuch doch wenigstens, dich auf die neue Situation einzustellen! Und, verdammt noch einmal, redet miteinander!“

„Tun wir doch!“, widersprach ich.

Paul schwieg. Er wirkte erschöpft.

Unsere Tochter zog ihre Stiefel an, von denen weitere Erdklumpen abfielen. Egal, der Fußboden war eh versaut!

Großmütig schaute ich darüber hinweg, drehte mich zur Spüle um und wischte fahrig mit dem Lappen über die mehlige Arbeitsfläche daneben. Dabei kämpfte ich mit dem nächsten Rohrbruch in meinen Augen.

Scheißwechseljahre! Oder steuerte ich geradewegs in eine Depression?

So etwas kannte ich nicht von mir. Bisher fand ich für jedes Problem eine Lösung, selbst wenn mir das Wasser bis zum Hals stand. Stets habe ich einen kühlen Kopf bewahrt und Strategien aus dem Hut gezaubert, auch wenn sie sich manchmal als falsch erwiesen haben.

Eine Franziska Bach gibt niemals auf!

Ich will mich ja nicht selbst loben, aber eigentlich bin ich eine Meisterin darin, Positives im Negativen zu sehen. Warum misslingt mir das jetzt? Franziska Bach ist tot, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, ausgelöscht. Jetzt war ich Klara Himmel und musste wahrscheinlich erst lernen, ein bisschen mehr wie Franziska zu sein. Ich atmete tief durch. Paul hustete.

Sophie kam noch mal zurück und fasste sich an den Kopf. „Jetzt habe ich wegen euch vergessen, dass ich Entwarnung geben wollte. Das offene Fenster, der zerschlagene Blumentopf am Boden heute Morgen sind nicht das Ergebnis eines Einbruchs in die Praxis, wie ich es erst vermutet habe. Nils und ich haben alles kontrolliert. Betäubungs- und Schmerzmittel, Geräte und Geld in der Kasse sind vollzählig. Ich hatte gestern Mittag das Fenster nur angelehnt und vergessen, es zu verriegeln. Am Abend tobte ja der Sturm. Ein Windstoß und peng!“

„Dann brauchen Anette und ich zum Gründonnerstag also nicht ausrücken und Überstunden anhäufen“, antwortete Paul kaum hörbar.

„Du rückst heute und die nächsten Tage sowieso nirgendwohin. Ich schreibe dich krank. Und Mama sorgt dafür, dass du im Bett bleibst und dich auskurierst.“

Ihr Handy klingelte. Sie zog es aus der Jackentasche. „Ja? Himmel!“

Sophie horchte. „Ich bin in drei Minuten da.“ Dann beendete sie das Gespräch und zog eine Augenbraue hoch. „Sorry, ich muss zu einem Notfall. Mit deinem Antibiotikum kann es also etwas dauern.“

„Schlimm?“, fragte ich und bekam keine Antwort mehr, denn Sophie rauschte im Eiltempo davon.

Kapitel 2

Mein Gatte machte Anstalten, wieder in seinem Garten zu verschwinden. Ein Zeichen dafür, dass er keinesfalls mit mir reden wollte und sich lieber todkrank in die Natur schleppte. Ein Punkt, in dem wir uns im Moment einig waren.

Seit dem Vorfall herrschte Funkstille zwischen uns. Wir redeten zwar miteinander, aber eben nur belangloses Zeug. Darüber zu sprechen, brachten wir beide nicht über die Lippen. Als wären wir nach einer Explosion, bei der unser Haus dem Erdboden gleichgemacht wurde, noch in den schwelenden Trümmern gleich zur Tagesordnung übergegangen. Die unausgesprochenen Fragen und Antworten standen wie eine unsichtbare Mauer aus Stahlbeton zwischen uns.

Ich hielt Paul zurück. „Du hörst auf deine Tochter und legst dich ins Bett, oder muss ich erst den Spaten verbrennen?“, sprach ich mit ihm wie mit einem trotzigen Kind.

Er murrte, aber gehorchte und trottete nach oben ins Badezimmer.

Der Wasserhahn rauschte länger. Aha, er ließ sich ein Bad ein. Ungewöhnlich für meinen Mann, der sonst immer nur duschte. Also ging es ihm wirklich beschissen.

Ich folgte ihm. Er lag nackt mit geschlossenen Augen im heißen Badewasser. Bei jedem schweren Atemzug rasselte seine Lunge bedenklich. Während ich die verdreckten Arbeitsklamotten aufsammelte und in den Wäschekorb schmiss, krächzte er leise: „Meinst du nicht, unsere Tochter hat recht, und du solltest versuchen, mit deinem alten Leben abzuschließen? Warum fängst du nicht endlich an, dein Drehbuch zu schreiben, jetzt hättest du die Zeit dafür.“

Mit leerem Blick starrte ich ihn an. „Möchtest du Ingwertee?“

Doch mein Mann ließ nicht locker.

„Ja, genau. Franziska …“ Ich lachte freudlos auf. „Franziska Bach wusste, worüber sie schreiben wollte, was sie vom Leben wollte. Aber Klara Himmel hat überhaupt keine Träume mehr und nicht die geringste Inspiration. Klara Himmel schafft es noch nicht einmal, einen lächerlichen Käsekuchen zu backen.“

Ups, das klang weitaus frustrierter, als ich es beabsichtigt hatte. Schnell suchte ich nach einem Vorwand, das unangenehme Gespräch zu beenden. „Ich koch dir jetzt deinen Tee. Hoffentlich brennt der mir nicht auch noch an, haha!“

Paul hielt meinen Arm fest. „Es tut mir leid, ich …“

Das überraschte mich. „Ja, mir auch …“

Als er mich zu sich heranzog, protestierte ich jedoch: „Du bist ansteckend! Los, ab ins Bett mit dir!“

„Franzi …“ Er schlug die Augen nieder und verbesserte sich: „Klara!“

Unten im Flur klingelte das Telefon.

„Das Telefon!“

Paul hielt mich zurück: „Klara … wir …“

„Es könnte wichtig sein.“ Ich sprintete die Treppe herunter und ging ran.

„Hallo?“, schallte mir eine bekannte Stimme aus dem Hörer entgegen.

„Klara Himmel. Sophie, bist du das?“

„Ja, Mama, oder klingt noch jemand anderes wie ich? Gib mir mal Paps“, verlangte meine Tochter.

„Der liegt in der Badewanne.“

„Dann bring ihm bitte das Telefon, es eilt!“, befahl sie ungeduldig an meinem Ohr.

„Jaja, ich geh ja schon.“

Ich reichte Paul das Gerät. „Siehst du, dringend!“

Er runzelte die Stirn.

„Sophie will dich sprechen.“

Skeptisch blieb ich neben der Wanne stehen und hörte mit. Das hieß, ich konnte aus Pauls Mimik und den Grunzlauten, die er als Antworten von sich gab, nur raten, worum es ging. Irgendetwas Schlimmes war passiert.

Als er sie wegdrückte und im nächsten Moment aus der Wanne stieg, fragte ich neugierig: „Was ist denn los?“

„Sophies Notfall ist tot.“

Ich erschrak. „Aber sie trifft doch keine Schuld?“

Paul trocknete sich wortlos im Gehen ab. Ich lief ihm ins Schlafzimmer hinterher, wo er nach frischer Wäsche im Schrank suchte. Nur dank mir fand er seine Unterhose letztendlich. Widerwillig zog er seine Uniform an und antwortete erst jetzt kurz und knapp auf meine Frage. „Nein.“

„Was, nein?“ Dass man dem Mann auch jedes Wort aus der Nase ziehen musste. „Orrrr, du warst noch nie besonders gesprächig …“ Ich lief ihm wie ein Schatten hinterher. „… aber seit wir hier wohnen, hat die Sprachlosigkeit unserer Nachbarn voll auf dich abgefärbt.“

Paul drehte sich zu mir um. „Siggi Schlönkamp ist in seiner Güllegrube erstickt. Sophie konnte nichts mehr für ihn tun, als den Totenschein auszustellen. Zufrieden?“

„Schlönkamp ist der Schweinebauer, oder?“

Er nickte und schlüpfte in seine dreckigen Schuhe.

„Hat ihn jemand reingeschubst?“

„Sieht eher nach einem Unfall beim Säubern der leeren Güllegrube aus.“ Er nahm den Schlüssel der Polizeiwache vom Haken.

Ich tänzelte aufgeregt um ihn herum. „Verstehe, er hat die Gasbildung unterschätzt.“

Er öffnete bereits die Haustür. „Du kennst ja die Prozedur bei unnatürlichen Todesfällen.“

„Bist du als Halbtagsdorfpolizist überhaupt befugt, in so einem Fall zu ermitteln?“, fragte ich.

Pauls Blick versteinerte. Ups! Da war ich übers Ziel hinausgeschossen.

Nachdem er tief Luft geholt hatte, sagte er etwas zu beiläufig: „Natürlich nicht, Klara. Ich sperre lediglich den Tatort für Unbefugte ab, sichere erste Spuren und warte auf weitere Anordnungen von oben.“

„Entschuldige, ich vergaß, wie erniedrigend es für dich sein muss, plötzlich den Handlanger zu spielen“, murmelte ich betreten.

Das künstliche Lächeln im Gesicht meines Gatten gefror zu einer Maske. „Ich kann damit umgehen, keine Verantwortung zu haben. Ist doch auch mal ganz angenehm. Mir bleibt viel mehr Freizeit“, erwiderte er mechanisch, als hätte er sich diese Worte wieder und wieder durch den Kopf gehen lassen, um sich selbst davon zu überzeugen – was ihm offensichtlich nicht gelungen war.

„Warum musst du eigentlich diesen Fall übernehmen? Ruf Anette an! Du bist krank“, forderte ich ihn auf.

„Das hätte Sophie längst getan. Anette ist zwar hübsch anzusehen und eine hervorragende Köchin, aber als Polizistin in solchen Angelegenheiten völlig unbrauchbar. Das hat unsere Tochter bereits erkannt.“

Paul stürmte hustend aus dem Haus. Ich seufzte und starrte von Weitem auf das Chaos in meiner Küche.

Einen Käsekuchenversuch gab ich mir noch. Dafür brauchte ich allerdings neuen Quark. Ich schaute an mir herunter. So konnte ich mich auf keinen Fall der Menschheit präsentieren. Also zog ich den Schlabberlook aus.

Ich wählte ein schlichtes Jil-Sander-Outfit in Pastell, trug einen Hauch Maharani Intense von Patrizia Nicolai auf, schminkte das Gesicht im angesagten Nude Look und schlüpfte in himmelblaue Manolo Blahniks zur passenden Handtasche von Prada. In Modefragen besaß ich stets ein stilsicheres Händchen.

Den matschigen Spuren eines Treckers ausweichend, stöckelte ich hoch konzentriert dreihundert Meter die Dorfstraße zum Hofladen des Bauern Fries herunter.

„Moin!“, grüßte ein grobschlächtiger Mann in Gummistiefeln mit heruntergezogener Mütze, ohne dass er mich ansah, den Mund öffnete oder sich ein Gesichtsmuskel bei ihm bewegte. In diesem verdammten Dorf schienen alle Bauchredner zu sein. Er stapfte an mir vorbei, und ich hörte noch, wie er in den ungepflegten Bart – oder wohin auch immer – brummte: „Se süht man nippnäsig ut, de optakelte Zeeg us de Stadt.“

Hochnäsig und aufgetakelt? Ich?

Irritiert drehte ich mich im Weiterlaufen um und schnappte empört nach Luft. Dabei blieb ich mit dem Absatz im Kopfsteinpflaster hängen. Ich stolperte und konnte mich zum Glück im letzten Moment am Zaun neben mir festhalten. „Dieser freche … Autsch! Manno!“

Jetzt hatte ich mir meine Lieblingsschuhe ruiniert!

Ich sprang wie ein aufgescheuchtes Huhn auf dem nackten Fuß zur Seite, weil ein Hund kläffend seinen verfilzten Schädel durch die morschen Holzlatten steckte. „Aus!“, zischte ich ihn wütend an. Die wandelnde Flohkiste knurrte bedrohlich zurück.

„Okay, du hast gewonnen. Der Klügere gibt nach.“

Ich klaubte meinen anderen Schuh von der Straße und humpelte drei Schritte weiter, bis ich mich außerhalb der Reichweite des schlecht gelaunten Köters befand. Den Knöchel reibend, betrachtete ich den Lackschaden an meinen ehemals edlen Pumps. Kein Wunder, dass die Damenwelt von Mordsacker ihre Füße völlig stillos in ollen Holzpantinen und Gummistiefeln verpackte.

Aber ohne mich – nie würde ich mich derart gehen lassen. Ich schlüpfte in den ramponierten Schuh und marschierte hoch erhobenen Hauptes weiter.

Ein roter Traktor mit einem dampfenden Tankanhänger, aus dem eine sauer stinkende Flüssigkeit tropfte, raste im Affentempo aus der nächsten Einfahrt und kreuzte meinen Weg. Ich stoppte abrupt und entkam im letzten Moment dem Tod durch Zerquetschen. Mir stockte der Atem.

Zu manchen Zeiten ist diese Dorfstraße gefährlicher als der Ku’damm zum Feierabendverkehr.

Doch zu früh gefreut: Schlammklumpen flogen wie Kanonenkugeln durch die Luft. Ich hielt mir schützend den Arm vors Gesicht. Zu spät! Ich spürte, wie die stinkende Pampe mir von Nase und Wangen herunterlief. „Igitt!“

Hatte der Treckerfahrer gerade gelacht? „Ey!“, brüllte ich ihm ungalant hinterher. Er fuhr einfach weiter.

Ich schaute an mir herunter. Mein heller Trenchcoat sah aus wie frisch gesprenkelt und roch, als hätte ich ihn mit Gülle weichgespült. „Blähhh!“ Ich kratzte mir die schwarzen Flecken vom Ärmel, erkannte aber sofort, dass es sinnlos war, und gab frustriert auf.

Hoffentlich fraß sich das Zeug nicht ins Gewebe. Der Mantel musste sofort in die Reinigung. Die befand sich allerdings 30 Kilometer entfernt in der nächsten Stadt. Keine Ahnung, ob man den Stoff in die Waschmaschine stecken konnte.

Genauso mies gelaunt wie der aggressive Köter hinter dem Gartenzaun stolzierte ich weiter unter den kugelförmig geschnittenen Akazien entlang, die den Fußweg säumten. In Anbetracht der Minustemperaturen und des zu erwartenden Schnees zu Ostern hielten sie ihre Blätter noch eingeklappt.

Wenn mir jetzt irgendeiner in die Quere kommt, der kann was erleben!

Kapitel 3

Im Hofladen von Bauer Fries war es überraschend voll. Die Dorfbevölkerung hatte also wegen der bevorstehenden Feiertage Angst zu verhungern.

Mehrere Frauen mit modischen Wollsocken in ausgelatschten Schlappen standen halb verdeckt hinter den gut sortierten Regalen. Vom Kohlkopf bis zur Grillkohle fand man darin alles, was man für den Alltag des fröhlichen Landlebens so brauchte. Sie diskutierten lautstark.

Ich schnappte mir einen Korb, und urplötzlich wurde es totenstill im Laden. Rotwangige Gesichter guckten um die Ecke. Ich spürte, wie mich die Kittelschürzenfraktion von Kopf bis Fuß musterte. Die Damen rümpften ihre Nasen. Ich gaffte frech zurück. Sie steckten die orangeblonden und kastanienlilafarbigen Köpfe zusammen und tuschelten.

Spiegeln hilft, den Gegner zu verunsichern! Das hatte ich mal irgendwo gelesen. Dieser „Gegner“ in Form von fünf alternden Amazonen strotzte allerdings vor Selbstbewusstsein und ließ sich den Heimvorteil keinesfalls streitig machen.

Okay, Mädels, an meinem modischen Gespür muss ich unbedingt arbeiten! Hier draußen auf dem Lande lagen eher ausgebeulte Trainingshosen und fusselige Strickjacken zu verblassten T-Shirts im Trend. Kein Wunder, dass sich den Damen beim Anblick meines verdreckten Großstadtlooks die gegelten Ponys noch weiter aufstellten.

„Moin!“, grüßte ich in der Eingeborenensprache – Sprache ist schließlich das A und O bei der Integration – und schenkte der schaulustigen Menge mein schönstes Roter-Teppich-Lächeln.

„Die Frau Himmel! Ja, guten Tag! Was kann ich für Sie tun?“, fragte mich die dralle Ladenbesitzerin Bärbel Fries überfreundlich, während sie aus dem Pulk zu mir hervorschoss und mir den Arm tätschelte.

Irritiert räusperte ich mich und sagte kurz angebunden: „Quark, ein Pfund oder besser ein Kilo, und einen Viertelliter Sahne.“ Ich hasse vertrauliche Gesten von Menschen, mit denen ich kaum Kontakt habe.

Bärbel Fries zog die buschigen, viel zu dunklen Augenbrauen hoch. Ich atmete flach, um nicht von der Wolke billigen Parfüms betäubt zu werden, die sie wie eine Dunstglocke umhüllte. Ihr in grellem Pink geschminkter Mund verzog sich etwas spöttisch. „Quark ist heute aus. Den gibt’s erst wieder am Samstag.“

„Das ist dann aber ein kleines bisschen zu spät!“ Obwohl ich leicht panisch wurde, lächelte ich, um mir nichts anmerken zu lassen. Die Tratschtanten durften niemals erfahren, dass ich heute Morgen schon ein Käsekuchenmassaker angerichtet hatte. Als schlechte Hausfrau wurde man in Mordsacker bestimmt sofort mit Fackeln und Mistgabeln aus dem Dorf getrieben!

„Oh, da backen Sie wohl mehrere Quarktorten für den Kuchenbasar morgen?“

Sie hat also gespeichert, dass ich gestern drei Kilo Quark gekauft habe, und reimt sich zusammen, was ich damit anfangen könnte. Ob die Buch darüber führte, was die Nachbarn so verzehrten?

„Die Anette hat mir verraten, dass Sie ein Spezialrezept Ihrer Großmutter verwenden, das, mit dem Sie damals Ihren Mann geködert haben. Wir sind alle sooooo gespannt, wie der Kuchen schmeckt“, flötete sie mir zwinkernd zu.

Dünn lächelnd fragte ich: „Tatsächlich, hat sie das erzählt?“ Mehr fiel mir dazu nicht ein. Am liebsten hätte ich diese Dumpfbacke Anette Schwanenfuß auf der Stelle erwürgt. Dafür gab es dann bestimmt doppelt lebenslänglich für Polizistenmord. Wenigstens würde ich sie zur Rede stellen, auch wenn ich damit eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung riskierte. Dass sie meine Notlüge gleich im ganzen Dorf herumposaunt hatte, war eindeutig eine Verletzung der Privatsphäre. Wie stehe ich denn morgen da, wenn ich diesen verdammten Käsekuchen nicht vorweisen kann?

Da hatte ich mir wieder selbst ein Bein gestellt.

Aber, okay: Schiet happens! Klara Himmel braucht eine Strategie zur Lösung des Problems.

Mir fiel der Cheesecake in meinem Berliner Lieblingscafé ein. Gegen Aufpreis lieferten die bestimmt bis ins Nirgendwo, also in meine neue Heimat. Ich musste nachher gleich dort anrufen und per Expressversand bestellen.

„Tja, da kann man nix machen.“ Ich zog resigniert die Schultern hoch. Die dicke Bärbel schüttelte den blond gefärbten Schopf.

„Dann steuere ich morgen leider nur zwei Torten zum Basar bei“, log ich, ohne rot zu werden.

„Da machen Sie sich keinen Kopf, ich habe auch nur einen Pistazienstreuselkuchen und eine Wolkentorte gebacken.“

Ich schluckte.

„Darf es sonst noch etwas sein?“

„Nein, eigentlich …“ Meine Aufmerksamkeit war kurz abgelenkt, weil ich mitkriegte, dass die anderen Hübschen im Laden hinter dem Regal über Sophie und Schlönkamps Unfall redeten.

„Ich schau mich noch um. Bei den bezaubernden Sachen, die Sie hier haben … “, sagte ich. Schnurstracks steuerte ich auf den Haufen grellbunter Gummistiefel mit Herzchenaufdruck zu, die in unterschiedlichen Größen vor dem Regal standen, hinter dem sich die Lästerschwestern ereiferten. Ich probierte einen Stiefel und lauschte.

„… da konnte die Frau Doktor auch nichts mehr machen.“

„Ich glaub ja nicht an einen Unfall. Der Siggi ist doch nicht so blöd, das Gas in der Grube zu unterschätzen. Der hat Erfahrung …“

„… Ich wette, dass da einer nachgeholfen hat.“

„Meinst du?“

„Aber wer soll …?“

„Da gibt es einige, die ihn lieber tot als lebendig sehen würden.“

„Du denkst an Hannes …“

„Hör auf, solche Gerüchte in die Welt zu setzen. Der verklagt dich am Ende noch.“

„Unser neuer Dorfsheriff wird die Wahrheit schon herausfinden.“

Neben den Gummistiefeln interessierte ich mich brennend für eingelegte weiße Bohnen, nahm eine Dose aus dem Regal und tat so, als ob ich alle Inhaltsstoffe studierte. Wer mich beobachtete, dachte bestimmt, dass ich übermenschliche Fähigkeiten besaß, denn ohne Lupe konnte die winzige Ameisenschrift garantiert kein Mensch lesen.

Ich lugte heimlich durch eine Lücke. Eine Kleine mit Brille winkte ab und zischte verächtlich: „Der Sheriff? Du denkst wohl, dass neue Besen immer gut kehren. Wer es aber mit über fünfzig bloß zum Obermeister geschafft hat und einen Teilzeitposten auf dem Land annimmt, hat entweder keine Lust zu arbeiten oder keine Ahnung von seinem Job …“

Das gab es ja wohl nicht! Die Luft anhaltend, kroch ich fast ins Regal hinein, um nichts zu verpassen.

„Well seggt dat?“, fragte eine Große mit bunten Glitzerohrringen.

„Mein Sohn, der ist Hauptkommissar bei der Kriminalpolizei in Hamburg. Der muss es ja wissen.“

„Gut sieht er aus.“

„Wer? Gudruns Sohn?“

„Der Himmel.“

„Es gab schon besseres Wetter zu Ostern.“

„Mensch, ich rede von unserem neuen Sheriff.“

„Das hat ja wohl nichts zu sagen.“

„Anette ist richtig vernarrt in den.“

„Es heißt, er war krank, Herzinfarkt.“

Na wartet, ihr blöden Puten, meinen Mann zieht ihr nicht durch den Dreck, von wegen keine Ahnung von seinem Job! Mein armer Paul ist als Dorfpolizist mit seinen Fähigkeiten völlig unterfordert. Ihr habt keine Ahnung, mit wem ihr es zu tun habt!

Am liebsten würde ich …

Nein, wir mussten unauffällig bleiben. Denn der überaus erfolgreiche Hauptkommissar Martin Bach war tot. Zusammen mit Frau und Tochter bei einem Autounfall bis zur Unkenntlichkeit verbrannt.

Innerlich kochend, äußerlich bemüht lässig, schob ich die Bohnendose zwischen ihre Artgenossen in die Lücke.

Erhobenen Hauptes stolzierte ich um das Regal herum, drängelte mich an dem Weibernest zur Marmeladenauslage vorbei und sagte in meinem arrogantesten Ton: „Entschuldigung, darf ich mal bitte.“

„Ach, die Frau Himmel …“, säuselten die Damen erschrocken, als hätten sie mich beim Betreten des Ladens übersehen. Einige färbten sich dunkelrot. Alle waren mucksmäuschenstill. Anscheinend piesackte sie nun doch das schlechte Gewissen. Und natürlich die Frage, ob ich ihre Unterhaltung mitangehört hatte …

„Danke!“, hauchte ich überheblich und schmiss irgendeine Marmelade in den Korb. Sie starrten mich entgeistert an. Ich folgte ihren Blicken und schaute an mir herunter. An den Füßen trug ich immer noch einen Gummistiefel und einen Pumps.

„Die sind hübsch, oder?“ Ich drehte das Gummistiefelbein demonstrativ vor ihnen hin und her. „Und so bequem.“ Dabei drückten sie mir vorne die Zehen ab.

„Wissen Sie, ob das mit Schlönkamp nun ein Unfall oder Mord war?“, fragte mich der Glitzerohrring neugierig.

„Iiiich?“

Die Kleine mit Brille stemmte ihre Hände in die breiten Hüften. „Na! Ihre Tochter hat doch Ihren Mann zum Tatort gerufen.“

„Das ist bei unnatürlichen Todesfällen reine Routine“, antwortete ich überlegen. Elegant drehte ich ab, knickte um und haute mit dem Arm beinahe eine Kartoffelkiste herunter. Einige der Erdäpfel kullerten durch den Laden. Eilig sammelte ich sie auf.

„Da hat sich so manche Zugezogene auf ihren Trittchen hier bei uns die Knochen gebrochen.“

„Joh, upen Deerp ist dat eben anders!“

Schnell wollte ich meinen herumliegenden Pumps gegen den Gummistiefel am Fuß tauschen. Die Monstrosität saß leider bombenfest, wie angewachsen. Ohne einen Stuhl kam ich da nie wieder raus.

Die Damenfront verfolgte mich mit ihren Blicken.

„Sag ich doch!“, merkte eine Blasse an und redete weiter, weil die anderen sie fragend anglotzten: „Bei ‚Polizeiruf 110‘ und beim ‚Tatort‘ entpuppen sich die Unfälle meist als getarnte Morde.“

„Ach so!“, raunte der Chor. Die Aufklärung von Schlönkamps Tod beschäftigte sie. Der Mob verlangte, dass Paul ihnen den Täter präsentierte und zum Fraß vorwarf.

Ich begriff, dass dieser Fall die große Chance für meinen Mann war, sich im Dorf Respekt zu verschaffen. Und dass sie kein gutes Haar an ihm lassen würden, wenn er sich einen Fehler erlaubte …

„Die sind dann aber von Auftragskillern oder der Mafia verübt worden. Ich glaube nicht, dass die Cosa Nostra Interesse am Tod eines Schweinebauern hat“, plapperte Bärbel Fries – die offensichtlich zu viele Krimiserien im Fernsehen guckte – dazwischen und reichte mir den anderen Gummistiefel, aus dem sie einen zusammengeknüllten Klumpen Papier gepult hatte. Oh, deshalb drückte der Schuh an meinem linken Fuß. Ich hatte beim Anprobieren vergessen, es herauszunehmen.

Die Blasse konterte: „Vielleicht die Fleischmafia?“

„Steffi! Geht wieder mal die Fantasie mit dir durch?“, warf der Glitzerohrring ein.

Steffi verteidigte ihre Mordtheorie: „Siggis Geschäfte waren jedenfalls nicht immer so koscher, wie ihr denkt. Das mit dem Bio ist alles Schwindel. Die ziehen den Leuten nur das Geld aus der Tasche. Niemand kann mir weismachen, dass der seinen Tieren kein Antibiotikum gegeben hat, wenn die Viecher kränkelten. Hört man doch ständig von solchen Skandalen: Antibiotika im Bioschweinefleisch.“

Ich probierte den zweiten Stiefel an. Der passte perfekt. Trotzdem! Die Dinger sahen einfach potthässlich aus. Bärbel Fries fasste sich an die Stirn. „Dazu fällt mir glatt die Bestellung Ihres Mannes ein, Frau Himmel. Moment!“

Hatte sich Paul etwa auch lila Gummistiefel mit rosa Herzchen bestellt?

Sie verschwand in der Tür hinter dem Verkaufstresen. Ich wollte die hässlichen Herzchenstiefel an meinen Füßen eigentlich gerne schnellstmöglich loswerden, aber die Damen umringten mich, begutachteten die modische Entgleisung und quatschten durcheinander: „Schick, schick! Und vor allem so bequem, damit kannst du um den Erdball laufen. Schwitzfüße kriegt man auch nicht. Also, ich hab mir die bei Anke im Versand bestellt, da gab’s Rabatt. Stellt euch vor: Nimm zwei Paar, zahl eins! Ein richtiges Schnäppchen.“

Bärbel Fries kam mit einem Paket unterm Arm wieder rein, warf es auf den Tresen und hackte Zahlen in ihre Kasse, während sie vor sich hin murmelte: „Drei Pfund Schwienhaxen für Ihren Mann … macht 33,67 Euro plus eine Hagebuttenmarmelade zu 3,21 Euro.“

Sie schaute an mir herunter: „Brauchen Sie für Ihre Hochhackigen ’ne Tüte?“ Ohne die Antwort abzuwarten, tippte sie wieder auf ihre Tastatur ein. „Ein paar Gummistiefel zu 48,95 Euro, ergibt zusammen 85,83 Euro.“

Sprachlos starrte ich einen Moment auf das Fleisch und meine Füße. Derweil tratschten die Frauen im Hintergrund weiter, dass es mir in den Ohren rauschte. „Das konnte sich der Schlönkamp gar nicht leisten, dass sich die Schweine untereinander anstecken“, zischelte die eine gerade.

„Hast du mal in seinen Stall geguckt? Unter Biohaltung stelle ich mir was anderes vor.“

„Der hat doch einmal so einem Tierschützer, der Fotos geschossen hat, einen Knüppel an den Kopf geworfen?“

„Das ist mindestens zwei, drei Jahre her.“

„Siggi Schlönkamp ist … äh … Siggi war nicht gerade ein sanfter Kerl.“

„Eher der wilde Eber.“

Die Frauen kicherten.

Mir entglitten die Gesichtszüge. Bärbel Fries sah mich irritiert an. „Alles Bio und ganz frisch. Da müssen Sie beim Braten den Deckel drauf lassen, sonst jumpt ihnen dat Swien aus de Braadpann.“

Wie ferngesteuert legte ich zwei Fünfzigeuroscheine auf den Tisch, steckte das Wechselgeld ein und verstaute die Haxen mit spitzen Fingern in einem schwarzen Ramani-Stoffbeutel, den ich stets in der Handtasche mitführte. Dann packte ich meine Pumps dazu und watschelte in Gummistiefeln aus dem Laden.

Kapitel 4

Als ich zu Hause ankam, lag Paul bibbernd in eine Decke eingerollt auf dem Sofa. Mit Blick auf meine Füße stöhnte er: „Schicke Schuhe. Wo warst du denn?“

„Deine Haxen abholen.“ Ich knallte das tote Fleisch samt Beutel auf den Tisch. Es klirrte. Das Marmeladenglas! Eilig brachte ich den tropfenden Sack in die Küchenspüle, las die Scherben heraus und spülte die klebrige Masse aus den Pumps. Ich hasse Hagebuttenmarmelade, besonders in Manolo Blahniks. Einmal quer durchs Dorf gelaufen, und ich hatte mir die Lieblingsklamotten versaut.

Zurück im Wohnzimmer, baute ich mich breitbeinig vor meinem Mann auf. „Also, wenn du denkst, dass ich mich hinstelle und dieses tote Fleisch zu etwas Essbarem verarbeite, muss ich dich leider enttäuschen.“

Paul röchelte erschöpft. „Aber einen Tee kochst du mir?“

„Wieso isst du neuerdings ständig Schweinefleisch? Das ist erstens völlig ungesund, und zweitens, denk an die Tiere.“

„Das ist Bio, Schatz.“ Er hustete. „Das Fleisch direkt vom Bauern ist doch mit dem abgepackten Billigfleisch im Supermarkt aus der Massentierhaltung nicht zu vergleichen.“

„Woher willst du das so genau wissen?“

„Weil es direkt von Schlönkamps Hof kommt. Der ist, oder besser gesagt: war, ein ausgezeichneter Biobauer.“

„Hast du dir seinen Stall angesehen, wie er die Tiere hält?“

Autor

Cathrin Moeller

In der Grundschule ließ Cathrin Moeller noch andere für sich schreiben: Ihre Mutter verfasste die verhassten Deutsch-Aufsätze. Erst später, in ihrem Beruf als Theaterpädagogin, entdeckte sie den Spaß am Schreiben. Seitdem schleicht sie sich täglich morgens um fünf Uhr ins Wohnzimmer und kuschelt sich mit dem Hund Giovanni aufs Sofa,...

Mehr erfahren