Töte und lebe!

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Der 3. Fall für die Zuckers!

Die Leiche eines Mannes mit Down-Syndrom wird gefunden. Kurz darauf eine Zweite. Beide sind vor ihrem Tod schwer misshandelt worden. Für Daniel Zucker, Kölns einzigem Kriminalkommissar im Rollstuhl, ist klar: Hier hat es jemand auf Menschen mit Behinderung abgesehen! Dies macht den Fall für ihn zu einer persönlichen Angelegenheit. Einer Angelegenheit, der er sich allein stellen muss, da er gezwungen ist auf die Hilfe seiner Frau Marie und deren Cousin Ben zu verzichten, denn sie haben gerade mit eigenen Problemen zu kämpfen. Doch durch seine beherzte Ermittlungsarbeit schafft er es sich an die Spur des Killers zu heften - und in dessen Visier zu geraten


  • Erscheinungstag 01.03.2015
  • Bandnummer 3
  • ISBN / Artikelnummer 9783956494000
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Laura Wulff

Töte und lebe!

Thriller

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright dieses eBooks © 2015 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Originalausgabe

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Titelabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-400-0

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder

auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

„Auch unter feinen Häusern verlaufen Abwasserkanäle.“

Aus dem Film „Saw“

 

PROLOG

„Wollt ihr mich verarschen?“, schrie der Mann, der sich Churchill nannte, als die Strickleiter hochgezogen wurde. Eben noch hatte das leere Sprungbecken eine coole Kulisse für den bevorstehenden Fight abgegeben. Jetzt entpuppte es sich als Gefängnis. Beunruhigt fuhr er sich mit beiden Händen über die Glatze.

In dieser Schwimmbadbrache hatte schon lange niemand mehr ins Wasser gepisst und heimlich in der Umkleidekabine gevögelt. Es handelte sich um eine dieser kleinen Achtzigerjahre-Badeanstalten, die gegen die großen Vergnügungsbäder des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht konkurrieren konnten. Nun stand sie leer. Die Hintertür war aufgebrochen worden. Müll stapelte sich in den Ecken. Urin von Tieren und Menschen hatte blassgelbe Schlieren auf den Fliesen hinterlassen.

Gleich würde Blut dazukommen.

Hier, wo er mit dem Fremden stand, hatte sich früher drei Meter achtzig hohes Wasser befunden. Das Becken war klein, aber an allen Stellen gleich tief, damit ein Springer, der vom höchsten Sprungbrett sprang, dem Fünfer, nicht zu tief ins Wasser eintauchte und sich verletzte. Jetzt war es furztrocken und verletzen würde sich auf jeden Fall jemand, auch wenn niemand sprang, sondern er und Schwabbi längst unten waren.

Unauffällig schaute er zu den Steigleitern. Sie waren unerreichbar. Mit seinen ein Meter achtzig hatte er keine Chance, auch nur an die unterste Sprosse heranzukommen, selbst wenn er hüpfte. Aber er würde nicht hier unten verrotten, das schwor er sich! Allzeit hatte er sich durchgeboxt, meistens mit Köpfchen. Er kannte alle Tricks und Kniffe, um Menschen dazu zu bringen, das zu tun, was er wollte. Er war ein Meister der Manipulation, ein Blender und er war verdammt stolz darauf. Er brachte Weiber dazu, sich beim Sex von ihm anpinkeln zu lassen, obwohl sie sich davor ekelten, und Kerle, für seine Fehler den Kopf hinzuhalten.

Doch hier würde ihm kein Trick helfen. An diesem Ort gab es nur ihn, den fetten Typen in der anderen Ecke, der die Situation scannte und so stark zitterte, dass sein Doppelkinn wabbelte, und die Gewalt, die in der Luft lag.

Den knacke ich wie eine Nuss. Churchill spuckte in die Hände und verrieb den Speichel.

Sein Gegner trug ausgeleierte graue Trainingshosen, die er immer wieder über seinen ausladenden Bauch hochziehen musste, um nicht in Unterhosen dazustehen. Schweißflecken bildeten sich auf dem Feinrippunterhemd, das früher einmal weiß gewesen sein musste. Churchill erkannte einen Feigling, ohne ein einziges Wort mit ihm gewechselt haben zu müssen. Schwabbi war einer, der die meiste Zeit auf dem Sofa verbrachte und sich gehen ließ, der sich mit Burgern, Pommes und Chips vollstopfte und von der Stütze lebte. Solche Typen konnte Churchill gar nicht ab.

Sie lebten im Dreck.

Sie fabrizierten nur Dreck.

Sie waren Dreck.

Der Typ, der nun langsam einige Schritte auf ihn zukam, sah trotz Fettschürze kräftig aus. Sie schützte ihn vor Schlägen, so viel war klar. Vielleicht versteckte er sogar Muskeln darunter. Jedenfalls hatte er Pranken wie ein Riese. Außerdem war er jünger, viel jünger. Churchill schluckte schwer und nahm sich vor, auf seine Schnelligkeit zu setzen.

„Ich heiße Elias. Wir müssen das nicht tun.“ Dieser Idiot streckte ihm doch tatsächlich die Hand hin.

Das musste ein Trick sein! Doch Churchill fiel nicht darauf hinein. Energisch schlug er die fette Pranke weg. „Doch, das müssen wir.“ Wahrscheinlich benutzte dieser Wichser sogar seinen echten Namen, so uncool, wie der klang.

Es gab keinen Ausstieg, außer über die Strickleiter, die man hochgezogen hatte, nachdem sie heruntergeklettert waren. Nur einer von ihnen würde sie als Sieger wieder hinaufsteigen, und Churchill würde alles dafür tun, dass er derjenige war.

Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf Elias. Er ignorierte die Schweißtropfen, die von dessen langen Haaren auf ihn regneten, obwohl Ungepflegtheit ihn anwiderte, und versuchte, ihn zu Fall zu bringen. Elias taumelte zwar, blieb aber stehen. Wie ein Bowlingpin schwankte er und stand am Ende doch wieder aufrecht. Darum drosch Churchill auf ihn ein. Zu seinem Erstaunen konnte der Dicke viel einstecken. Er stöhnte, hielt sich den Bauch und schützte danach den Kopf, mehr geschah jedoch zuerst nicht. Wie konnte das sein, wie war das möglich?

Doch dann griff Elias ihn an, und Churchill erkannte, dass sein Gegner sich lediglich zurückgehalten hatte. Ein Schachzug, der nicht aufgegangen war.

Ein wildes Gerangel entstand. Elias schleuderte Churchill gegen die gekachelte Wand. Dann wieder zur anderen Seite, sodass Churchills Schläfe gegen die Fliesen schlug und er zu Boden ging. Hätte er sich doch nur für Bizeps entschieden. Aber an diesem Turnier nahmen nur Loser teil. Ein Tritt in seine Nieren ließ ihn aufkeuchen. Noch mehr jedoch schmerzte seinem Ego, dass er verlieren würde. Was für ein Weichei er doch war! Er hatte sich überschätzt. Schon immer war er ein kluger Kopf gewesen, aber körperlich schwach.

Plötzlich fiel ein Schlagring vom Himmel. Klirrend blieb er direkt vor seinem Gesicht liegen.

Churchills Selbstzweifel verpufften. Er grinste breit. Blitzschnell griff er danach und streifte die Handwaffe über. Sie hatte sogar Nieten auf den Stahlschlaufen, die wie kleine spitze Stacheln hervorstanden. Während Elias erneut auf ihn losging, sprang Churchill auf die Füße. Er duckte sich unter einem Schlag weg und boxte dem korpulenten Mann in den Magen. Jetzt schien er doppelt so viel Kraft zu haben, die Hiebe verfehlten ihre Wirkung nicht mehr. Er fand sogar, dass der Kampf nicht nur wieder ausgeglichen war, er kam sich sogar überlegen vor.

Erbarmungslos prügelte er auf Elias ein. Er verbuchte einen Treffer nach dem anderen auf seinem Konto. Das steigerte seine Laune. Adrenalin pushte ihn. Und er erkannte seinen Vorteil. Mochte Elias auch stärker sein und das Fettgewebe ein Dämpfer sein, so war Churchill doch gewaltbereiter. Er tickte völlig aus und schlug brutal auf seinen Gegner ein.

Als Elias’ Kieferknochen brach, meinte Churchill das zu hören. Ein sattes Knacken. Mit schmerzverzerrtem Gesicht floh Elias in eine der Ecken. Angstschweiß lief an den Wangen hinab und tropfte vom Kinn. Furchtsam schaute Elias ihn an. Das gab Churchill einen Kick. Sein Blut schien zu kochen. Er fühlte sich so stark wie lange nicht mehr, und lebendig. Elias zu verletzen und zu erniedrigen gefiel ihm.

Gewalt schmeckt süß, stellte er fest und setzte sie auf die Liste mit den Kicks, die ihm halfen, sein Leben in Ketten aufzuheitern.

Plötzlich fiel eine mit Metallstacheln versehene Keule vom Himmel. Unglücklicherweise rollte sie zu Elias.

Dessen Miene verlor jeden Funken Angst. Mit einem Mal sah er aus wie ein fetter, blutbesudelter und von Wahnsinn befallener Schlachter. Rote Flecken traten auf seinem wächsernen Hals hervor. Zornig schoben sich die Brauen zusammen. Er blinzelte Churchill an. Seine Augen funkelten.

Jetzt wusste Churchill, wie er ausgesehen hatte, als er den Schlagring zugespielt bekam. In extremen Situationen waren die Menschen zu Außergewöhnlichem imstande. Manchmal brachten furchtbare Umstände jedoch auch die fürchterlichsten Seiten in einem zum Vorschein.

Elias betastete seine Wange, fletschte die Zähne wie ein Tier, soweit das der Bruch zuließ, und bückte sich. Churchill wartete nicht, bis Elias sich aufgerichtet hatte. Brüllend sprang er auf, rannte zu ihm und rammte ihm die Schulter in den Magen. Sogleich wollte er auf den schwabbeligen Körper einschlagen, doch dazu kam es nicht.

Elias schwang die Keule. Bevor sie jedoch auf ihn krachen konnte, duckte sich Churchill und wich zur Seite aus. Feige suchte er Abstand. Es war ihm peinlich, aber seine Füße liefen wie von selbst weg. Das Schwimmbecken bot jedoch keinen Schutz, kein Versteck, und nichts, das er als Waffe benutzen konnte. Aus dieser Arena gab es keinen Fluchtweg, sondern nur eine einzige Möglichkeit, ihr zu entkommen: den Sieg.

Bald drängte Elias ihn in eine Ecke. Er schwang die Keule hin und her, stellte sich breitbeinig hin und spielte seine Masse aus. Churchill sah keine Möglichkeit, an ihm vorbeizukommen. Der Schlagring kam ihm mit einem Mal lächerlich vor. Er konnte ihn nur nutzen, wenn er dicht an Elias herankam, aber das ließ dieser nicht zu. Ihm wurde angst und bange. Seine Blase drückte. Unruhig verlagerte er sein Gewicht von einer Seite auf die andere.

Als die Keule hinabsauste, hob Churchill abwehrend die Hände. Dadurch traf sie genau sein Handgelenk. Es brach oder fühlte sich zumindest so an. Schmerz loderte heiß und grausam auf. Er ließ den Schlagring los und ärgerte sich sogleich darüber. Lachend trat Elias diesen weg. Er war gar nicht so träge und kraftlos, wie er aussah, denn er schwang die Keule so leicht durch die Luft, als wäre sie eine Karnevalsattrappe.

Dass es sich um eine echte Waffe handelte, spürte Churchill am eigenen Leib, als Elias sie auf seinen Oberschenkel schmetterte. Es tat so schrecklich weh, dass er kreischte und auf die Knie fiel. Ein weiterer Schlag in seinen Rücken brachte ihn ganz zu Fall. Der Länge nach schlug er auf dem Boden auf. Schmerztrunken wand er sich. Er rang nach Luft, streckte in einer theatralischen Geste die Hand nach Elias aus und warf ihm einen Blick zu, mit dem er um Gnade bat.

Er war unterlegen, er würde untergehen und statt mit Geld mit Verletzungen heimgehen, die vielleicht nie wieder richtig verheilten. Wenn er wollte, konnte Elias ihn jetzt zum Krüppel schlagen. In diesem Fall wäre er nur noch ein Punchingball und hätte verloren.

Dieser ließ jedoch überraschenderweise die Keule sinken. Entsetzt schaute er Churchill an, als würde er erst jetzt realisieren, was er getan hatte.

Plötzlich fiel ein Morgenstern vom Himmel. Die mit strahlenförmig angeordneten Eisenstacheln besetzte Kugel am Ende der Kette blieb unmittelbar vor Churchill liegen. Er zog langsam die Mundwinkel zu einem heimtückischen Grinsen hoch. Seine flehend ausgestreckte Hand ergriff besitzergreifend den mit Leder umwickelten Holzstab.

Der Morgenstern hatte eine größere Reichweite als die Keule. Die Karten mischten sich neu. Jede Waffe schien eine Steigerung zu der davor zu sein. Würde als Nächstes eine Schusswaffe in die Arena geworfen werden, eine Armbrust vielleicht oder sogar eine Pistole? Würde sie demjenigen, der unterlegen war, zugespielt werden, wie es den Anschein erweckte? Oder war es Zufall, wer welche Waffe bekam? Oder bestückte man sie abwechselnd damit? Dann wäre Elias als Nächstes dran. Darauf wollte Churchill es nicht ankommen lassen.

Trotz der Schmerzen rappelte er sich auf. Endorphine, ausgeschüttet vor Euphorie, eine bessere Waffe zu haben, halfen ihm dabei. Ebenso die Aussicht darauf, Elias heimzuzahlen, was er ihm angetan hatte.

Gnadenlos schlug er auf ihn ein. Er hatte noch nie einen Morgenstern geführt, daher hatte er nicht wirklich im Griff, wo die Stachelkugel den Dicken traf. Aber das war ihm auch egal, Hauptsache, sie hinterließ einen bleibenden Eindruck.

Churchill trieb Elias über den gekachelten Turnierplatz. Unbarmherzig schwang er die Kette und ließ die Kugel auf ihn niederkrachen. Bei jedem Treffen schoss ein Schwall Adrenalin, heiß und prickelnd, durch Churchill hindurch. Als er Elias’ Bein brach, regte sich etwas in seiner Jeans. Zuerst schämte er sich dafür, aber beim anderen Bein, das er zerschmetterte, war ihm das bereits egal. Das Machtgefühl, das er bisher nur kannte, wenn er Existenzen auf weniger aufregende Weise zerstörte, durchflutete ihn so intensiv wie nie zuvor. Jede seiner Zellen vibrierte vor Erregung. Die Hose war ihm zu eng. Wie von Sinnen hieb er auf den am Boden liegenden Elias ein. Dieser hob schützend die Hände. Er jammerte etwas vor sich hin, vielleicht bettelte er auch um sein Leben, Churchill verstand ihn nicht, denn sein Herz pochte laut wie Trommeln. Im Rausch fügte er auch Elias’ Armen bleibende Schäden zu, bis diese nutzlos hinabhingen. Ein Knochen stand an der Elle hervor. Es kümmerte Churchill nicht. Der Schwabbi trug selbst Schuld daran. Er hatte das Tier in ihm entfesselt und dieses Monster verlangte nach Blut. Seine Fettschicht sah er als Herausforderung an, ihm trotz des Panzers jeden Knochen im Körper zu brechen.

Als Elias sich nicht mehr regte, verlor Churchill das Interesse an ihm. Er hörte auf und ließ den Morgenstern sinken. Seine Muskeln brannten, das Handgelenk tat ihm weh, er rang nach Atem und merkte dadurch erst, wie erschöpft er war. Schon lange hatte er sich nicht mehr derart verausgabt. Aber er hatte es geschafft, er hatte gesiegt. Die Gewinnsumme gehörte ihm! Er hatte sie sich verdient. Damit würde er Bodyguards kaufen, damit er sich nicht mehr selbst die Hände schmutzig machen musste.

Niemand applaudierte. In der Schwimmbadbrache war es totenstill.

Angewidert betrachtete er die Blutspritzer auf seinen Armen und der Kleidung. Körperliche Auseinandersetzungen waren nichts für ihn. Aber er hatte eine Stinkwut gehabt und einen von ihnen hatte es treffen müssen. Entweder Schwabbi oder mich. Wahrscheinlich hätte Elias ihn bei der nächsten Gelegenheit zu der blutigen Masse geschlagen, die er nun selbst war. Churchill wischte sich den Schweiß vom Gesicht und sah, dass seine Hand rot war. Anklagend klebte Elias’ Blut überall an ihm, aber er lächelte.

Dort, wo er stand, wurde ein Korb hinabgelassen. Churchill legte Schlagring, Keule und Morgenstern hinein und beobachtete, wie er hinaufgezogen wurde. Die Strickleiter folgte, jedoch nicht an der Stelle, wo er stand, sondern in der entgegengesetzten Ecke. Misstrauisch ging er darauf zu. Er wollte nur noch von hier weg.

Plötzlich kletterte ein Mann herunter. Als er die mittelalterliche Streitaxt, die lässig in seiner Hand lag, als handelte es sich um einen Zahnstocher, auf dem gekachelten Boden niedersausen ließ, gab es einen Knall.

Angsterfüllt riss Churchill die Augen auf. Er wischte sich über die schweißnasse Glatze. Ein weiterer Gegner? Scheiße, Scheiße, Scheiße. Die Götter hatten ihn ausgetrickst. Sie hatten ihn in Sicherheit gewiegt, sodass er bereitwillig alle Waffen abgegeben hatte. So dumm würde er kein zweites Mal sein.

Gegen den Hünen mit dem Streitbeil hatte er aber ohnehin keine Chance. Immer, wenn er auftauchte, war das Spiel vorbei. Churchill hatte noch keinen Weg gefunden, ihn fertigzumachen. Der Bulle war zu stark. Zu schnell. Zu gewitzt. Überlegen!

Churchill wäre gerne wie er.

Angesäuert drückte er auf Stopp. Das Bild des PC-Games Brawler – Raufbolde – gefror. Er schaute auf seine Hose. Kein Fleck, wie üblich. Grob massierte er seinen Schritt, aber er kam einfach nicht. Was war nur los mit ihm?

Er zog wütend das Headset vom Kopf und knallte es auf den Tisch. Unruhig wanderte er im Raum hin und her, wie ein Löwe in Gefangenschaft. Innerlich war er angespannt. Er hieb mit der Faust gegen die Wand oder wollte es, bremste aber kurz vorher ab, denn er war kein Schläger.

Draußen rief jemand seinen Namen. Er reagierte nicht. Stocksteif stand er da und biss sich auf die Zunge, bis er Blut schmeckte.

„Hörst du mich?“

Sein Brustkorb hob und senkte sich hektisch. Er trat immer wieder auf das blütenweiße Spitzenkissen ein, auf das er vor dem Spiel uriniert hatte. Aus Wut. Aber der Gestank hatte dem Spiel auch eine besondere Würze verliehen, es authentischer gemacht. Doch nicht einmal das hatte geholfen. Es hatte nur negative Empfindungen geweckt. Keuchend zückte er sein Taschenmesser und zerfetzte das Kissen.

„Bitte, ich brauche deine Hilfe!“

Er biss die Zähne so fest zusammen, dass sein Kiefer schmerzte.

Rasch ging er zurück zum Schreibtisch. Er setzte sich wieder vor den Monitor und zog das Headset auf. Während er an der Zunge saugte, damit sich die Wunde nicht schloss, sondern der metallische Geschmack Brawler realistischer wirken ließ, drückte er auf Play.

Vielleicht kam er ja diesmal und wäre endlich diesen Druck los. Aber was, wenn nicht?

Er hatte Angst um die, die ihm nahestanden. Denn manchmal brachten furchtbare Umstände die fürchterlichsten Seiten in einem zum Vorschein.

1. KAPITEL

Der Frieden hatte etwas Trügerisches. Alles war zu perfekt im Moment.

Daniel trank den letzten Schluck Kaffee, schaute aus dem Fenster hinaus in den strahlend blauen Junihimmel und beobachtete dann Marie, die sich eine weitere Tasse grünen Tee eingoss. Es duftete nach aufgebackenen Brötchen und Croissants, die er sogar noch lieber mochte als frische. Der Ofen hatte die Zimmerluft erwärmt. In der Küche war es wunderbar warm wie im Hochsommer.

Draußen war es dagegen noch kühl. Aber auch heute würden die Temperaturen wieder mild werden und auf zwanzig bis zweiundzwanzig Grad ansteigen. Jemand, der seinen Rollstuhl anschob, kam nicht ins Schwitzen, er fror aber auch nicht, wenn er warten musste und still stand.

Als er noch laufen konnte und beim Polizeipräsidium Köln einen normalen Dienstplan hatte, verbrachte er selten ein Wochenende zu Hause. Glücklicherweise war er mit einer Frau verheiratet, die ebenfalls oft am Wochenende ihrem Job als Kostümbildnerin am Muscial Dome nachgehen musste. Doch an diesem hatten sie beide frei und genossen ein ausgiebiges Samstagmorgenfrühstück.

Das Prasseln der Dusche drang zu ihnen. Über die Schulter hinweg spähte Daniel zum Badezimmer, als könnte er durch die Wände schauen. „Nanu? Benjamin ist schon aufgestanden?“

„Er war sogar schon am Rheinufer joggen.“

Überrascht weiteten sich seine Augen. „Nicht wahr! Haben ihn Aliens über Nacht ausgetauscht?“

„Keine Sorge, das hält bestimmt nicht lange an. Ist sicherlich nur wieder eine Phase. Ich habe ihn dabei ertappt, wie er sich mit nacktem Oberkörper im Spiegel betrachtete und nach Muskeln suchte.“ Sie zwinkerte. „Er hat heimlich mit deinen Hanteln trainiert.“

„Schau an. Er will wohl für die Männerwelt gut aussehen.“

Trotz des Totschlags seiner Freundin Julia, dem Warnschussarrest und der Dummheit, sich in die Ermittlungen um die Hausgemeinschaft der aus der Haft entlassenen Pädophilen einzumischen, hatte Benjamin das Abitur bestanden. Mit Ach und Krach, gerade eben so, mit dem schlechtesten Durchschnitt, den man haben konnte, aber er hatte es in der Tasche, nur das zählte.

Wenn man naiv war, konnte man meinen, dass Daniels Leben zurzeit so rein und klar war wie die Morgenluft. Sogar der Leiter der Direktion Kriminalität Christian Voigt und die Personalabteilung ließen ihn in Frieden, seit er Anfang des Jahres den Fall um die Bruchstraße 13 gelöst hatte. Das Kriminalkommissariat 11 forderte ihn nicht übermäßig oft an, aber doch regelmäßig. Endlich hielt man sich an die vertragliche Vereinbarung, ihn als externen Berater zu Fällen hinzuzuziehen, und gab ihm denselben Status wie allen Hauptkommissaren.

Aber Daniel war nicht naiv. Dafür hatte er schon zu viel in seinem Job gesehen und aufgrund seines gewalttätigen Vaters in jungen Jahren selbst erlebt. Durch den Freizeitunfall, nach dem er ab der Hüfte abwärts querschnittsgelähmt blieb, hatte er am eigenen Leib erfahren, dass das Leben einem jeden Augenblick ans Bein pissen konnte.

Wenn es schön war, würde über kurz oder lang etwas Schlimmes passieren. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Verlegen räusperte er sich. Wie sollte er das Thema nur anschlagen? Er bezeichnete sich als Grobmotoriker, auch verbal. Etwas geschickt durch die Blume anzubringen war nicht gerade seine Stärke. „Hast du noch einmal in Ruhe über die medizinischen Möglichkeiten nachgedacht, die Dr. Bingen mir erklärt hat?“

Irritiert runzelte Marie die Stirn. „Der Urologe aus dem Krankenhaus?“

„Hm.“ Obwohl er untenherum nichts spürte, bekam er bei der Vorstellung, durch Elektrostimulation einen Samenerguss herbeigeführt zu bekommen, oder der Biopsie seiner Hoden Phantomschmerzen. Aber er würde den Eingriff, egal welchen und wie unangenehm, durchstehen – für Marie.

„Ich meinte es ernst, als ich sagte, das kann warten. Wir haben später noch Zeit für eigene Kinder. Jetzt haben wir andere … Dinge zu tun. Möchtest du noch eine Tasse Kaffee?“

Er winkte ab. „Danke, ich habe schon zu viel davon getrunken.“ Unbewusst rieb er sich über den Bauch. Sodbrennen kündigte sich an.

Daniel wusste, was sie hatte sagen wollen. Andere Probleme. Er hatte so sehr gehofft, dass sie das Datum vergessen hätte. Aber das tat sie nie. Immer, wenn sich das Ereignis jährte, spielte sie ihm die Fröhliche vor, um zu verbergen, dass es in ihr stetig dunkler wurde, je näher der Tag kam.

Er konnte sie jedoch verstehen. Den Jahrestag seines Unfalls im März, der ihm einen Wirbelkörperbruch im unteren Brustwirbel bescherte und ihn in den Rollstuhl brachte, hatte er größtenteils im Bett verbracht. Da Marie ihn nicht dazu bringen konnte, aufzustehen, legte sie sich zu ihm, was verhinderte, dass er sich dem Kummer vollkommen hingab. Nachmittags war er doch aufgestanden, weil er Kopfschmerzen davon bekam, die Erinnerungen – an den Sturz im Kletterpark an der stillgelegten Talbrücke, die Krankenhausaufenthalte und die Zeit der Depression, nachdem man ihm sagte, dass keine Besserung zu erwarten sei – immer wieder zu durchleben, und hatte bis zur Erschöpfung trainiert. Am liebsten hätte er sich danach wieder hingelegt, doch Tomasz rief an. Deshalb nahm er stattdessen ein Bad und betrank sich am Abend mit Tom in der Kneipe Zum stolzen Römer.

Aber ihm ging es besser, seit er alles einmal durchgemacht hatte, zum Beispiel ein Restaurant zu besuchen als Krüppel, ins Polizeipräsidium zu fahren als Krüppel und mit seiner Frau auszugehen als Krüppel. Beim zweiten Mal ist alles schon weniger schlimm. Er verglich das mit Trauer. Wenn man jemanden verlor, den man liebte, waren die ersten zwölf Monate schrecklich: das erste Weihnachtsfest ohne den Partner, der erste Geburtstag ohne ihn und der erste Urlaub alleine. Das erste Mal geht an die Nieren, aber danach wird es stetig etwas besser.

Unglücklicherweise war das bei Marie nicht der Fall. Sie litt jedes Jahr aufs Neue. Ihre Eltern waren nicht unschuldig daran. Weil das Datum kurz bevorstand, nahm er sich vor, ihr die kommenden zwei Tage so schön wie nur möglich zu machen.

„Was ist denn los mit dir?“ Über den Tisch hinweg griff sie seine Hand. „Du bist so angespannt.“

Er schreckte aus seinen Gedanken auf. „Es ist nichts.“ Nur eine dunkle Vorahnung, dass bald Wolken aufziehen würden.

Sie zog seinen Ehering bis zum Fingerknöchel hoch und strich zärtlich über ihren Namen, den er sich an der Wurzel hatte tätowieren lassen. „Ob ich mir deinen unter meinem Ring stechen lassen soll?“

„Auf keinen Fall!“, sagte er etwas zu impulsiv. Zerknirscht schaute er sie an und spürte, dass seine Wangen brannten. „Du hast keine Ahnung, wie weh das getan hat.“

Sie hob seine Hand an, küsste das Tattoo und schob den Ring zurück an seinen Platz. „Armer Schatz.“

„Höre ich da Spott heraus?“

„Du musst es ja wissen, König Sarkasmus.“

Benjamin kam barfuß in die Küche. Die blonden Haare, die er sich nach dem Warnschussarrest kurz geschoren hatte, waren wieder nachgewachsen und noch feucht. Er trug ein neues weißes T-Shirt, das so eng war, dass sich seine Nippel darunter abzeichneten. Auch die Jeans saß ordentlich und nicht so locker, dass sie ständig drohte, über den Hintern zu rutschen.

Seit wann trägt er Kleidung, die passt, fragte sich Daniel. Seit Maries Cousin in die Oberstufe gekommen war, hatte Benjamin seinen Spargelkörper unter weiten Hosen und Oberteilen verborgen. Daniel stellte überrascht fest, dass Ben männlicher geworden war. Kein neuer Arnold Schwarzenegger, es lag vielmehr an seiner Haltung. Daniel konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Als Ben ihm ein Smartphone reichte, wölbte sich ein kleiner Bizeps auf dem Oberarm, den Daniel das erste Mal sah. „Hast du’s nicht klingeln gehört? Dein Chef ist dran.“

Marie seufzte und warf das Küchentuch, mit dem sie den feuchten Abdruck unter ihrer Tasse abgewischt hatte, auf die Arbeitsfläche.

Entschuldigend zuckte Daniel mit den Achseln und nahm das Handy. „Ich hab’s wohl zu leise gestellt.“

„Das liegt am Klingelton. Diese Rockballade ist ungeeignet. Mach dir mal einen fetten Beat drauf“, schlug Ben vor und biss in ein Brötchen. Krümel regneten auf den gesamten Tisch.

„Nimm dir einen Teller!“ Marie, die als Kind von ihrer Mutter körperlich und psychisch für solch ein Verhalten bestraft worden wäre, schlug die Hände über dem Kopf zusammen.

„Zieh dir einen Stuhl ran, setz dich auf meine Seite und iss vernünftig.“ Kopfschüttelnd rollte Daniel den Chopper ins Wohnzimmer.

Er hob das Handy ans Ohr, meldete sich und fragte sich, wie oft er das in diesem Jahr schon getan und immer die gleiche Schreckensnachricht gehört hatte. „Ihr habt eine Leiche gefunden?“

Der Erste Kriminalhauptkommissar Karsten Fuchs schnaubte. „Dir auch einen guten Morgen. Ich wollte dir noch mal zureden, dass du doch zum Sommerfest kommst. Es gibt Grill- und Getränkestationen, Livemusik und das alles outdoor, aber überdacht.“

„Auf keinen Fall! Wie oft soll ich das noch wiederholen?“ Musik, Tanz und Menschenmassen waren nichts für ihn. Vor seinem Unfall schon nicht, aber erst recht nicht, seit seine Beine zu nichts taugten und er zu allen aufschauen musste.

„Auch die Kollegen von Justiz, der Stadtverwaltung, der Feuerwehr sind eingeladen, sogar die vom Zoll und der Bundespolizei. Das gemeinsame Feiern soll das Miteinander verbessern.“

Daniel bekam schon Schweißausbrüche, wenn er nur daran dachte, von den meisten verstohlen begafft zu werden, wie die Attraktion aus einem Kuriositätenkabinett. „Die Gruppen bleiben doch eh unter sich.“

„Das Fest geht nahtlos in die Afterworkparty über. Zu der kommen auch Personen von außerhalb und du mauserst dich langsam zur Lokalprominenz. Darum hätte Voigt dich gerne dabei.“

„Noch schlimmer.“ Der Kriminaldirektor konnte ihn kreuzweise! Dass die Presse über Daniel – den „Rollstuhlkommissar“, wie die Medien ihn nannten – und seine Ermittlungserfolge berichtet hatte, hatte ihm geholfen, seinen alten Job wiederzubekommen. In dieser Sache jedoch brachte sein steigender Bekanntheitsgrad ihn in die Bredouille. „Aber darum rufst du doch nicht extra an, habe ich recht?“

„Nein, eine neue Mordkommission hat sich zusammengefunden, bei der ich dich unbedingt dabeihaben will.“

„Warum ich?“ Und wieso ausgerechnet an einem Wochenende, an dem Marie auch freihatte?

„Das wirst du sehen, wenn du da bist. Wir brauchen dich hier. Sofort!“

2. KAPITEL

Dorf trifft auf Massenproduktion, dachte Daniel, wie immer, wenn er seinen Wagen durch Godorf im Kölner Süden lenkte. Dabei kam er an einer bunten Mischung von Bauwerken vorbei. Mal von nah, mal von fern sah er das Wahrzeichen, die Holländerwindmühle mit rundlaufender Galerie, Laubenganghäuser in Fachwerkoptik, Wohnhäuser aus der Nachkriegszeit, den industriell genutzten Rheinhafen, Gewerbehallen und modernste Raffinerien. Sie standen dicht beieinander, wie eine Gruppe Menschen, die zufällig auf einem Konzert zusammentrafen und in Aussehen, Herkunft, Zielen und Moralvorstellungen nicht unterschiedlicher sein können. Eine kleine Gemeinde in einer Landschaft aus rauchenden Schloten, der Autobahn im Westen und einem Netz aus Bahngleisen, unterbrochen von Grünflächen. Idylle in diesem Stadtbezirk Rodenkirchens bedeutete aus Daniels Sicht, am Rheinufer zu sitzen und auf die Petrochemieanlage zu schauen.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als er durch den Norden Godorfs fuhr. Absichtlich stellte er sein Auto am Rand des Gewerbegebietes in einiger Entfernung der Wagen von Kriminal- und Schutzpolizei, Spurensicherung und Leichenfuhrwesen ab, auch wenn das bedeutete, dass er seinen Bock noch ein ganzes Stück schieben musste. Aber er gab sich ungern die Blöße, vor aller Augen den Rollstuhl aus dem Fahrzeug zu heben, ihn auseinanderzuklappen, die Rollstuhltaschen anzubringen und seinen Körper auf den Sitz zu hieven. Es war mühsam und ihm peinlich. Eines Tages würde ihm das hoffentlich nichts mehr ausmachen, aber dieser Tag war nicht heute.

Er zog die speziellen Rollstuhlhandschuhe an – Halbfingerlinge aus weichem Leder mit verstärkter Daumenumgebung und Polsterung an den Innenflächen –, legte die Hände an die Greifringe und gab Gummi. Energisch fuhr er die Straße hinunter, vorbei an einem mit einer Mauer umgebenen Grundstück.

Die Fabrikbrache darauf musste schon in den Neunzigerjahren geschlossen worden sein. Ein Sichtschutzelement war aus dem Eisentor herausgebrochen. Durch das Loch erspähte Daniel nur unebenes Land, bewachsen mit Gras und Sträuchern. Schutt lag hier und da. Die meisten Fensterscheiben des Gebäudes wiesen Löcher auf. Daniel vermutete, dass Kids zum Spaß mit Steinen auf das Glas geworfen hatten. Das Dach war an einer Seite eingestürzt.

Die Räder seines Choppers holperten über Grasbüschel, die zwischen den Steinen wuchsen. Es knirschte, als sie eine Plastikflasche zermalmten, die zu einem Haufen Müll gehörte, dem Daniel nicht ausweichen konnte, da sich der Unrat über die ganze Breite des Bürgersteigs verteilt hatte. Nach einem Slalom um einige Hundehaufen kam er endlich bei seinen Kollegen an.

Sie standen am Ende der Mauer. Dahinter erstreckte sich eine Grünschneise – ein breiter Streifen, auf dem größtenteils Bäume und Sträucher wuchsen. Durch das Blätterdach war es im Wäldchen dunkler. Trotzdem konnte Daniel die Kollegen vom Erkennungsdienst ausmachen. In der weißen Schutzkleidung wirkten sie wie Geister. Dort, wo sie arbeiteten, musste die Leiche gefunden worden sein. Trotz der Wärme stellten sich seine Nackenhaare auf.

„Erstaunlich.“ Tomasz Nowak klappte sein Notizbuch zu und steckte es in die Jackentasche. Er wandte sich von einem Paar ab, das bestimmt schon über siebzig Jahre alt war, aber Händchen hielt, wie Teenager, vielleicht Spaziergänger, die er gerade zu diesem Ort befragt hatte. „Du schwitzt nicht einmal.“

Doch, das tat Daniel, aber das schwarze Baumwoll-T-Shirt kaschierte den Umstand. Zudem ließ sich Daniel nicht anmerken, dass er außer Puste war. Lässig lehnte er sich im Sitz zurück und sparte sich eine Antwort, denn das hätte seine Kurzatmigkeit entlarvt. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, unauffällig ruhiger zu atmen, und ignorierte das heftige Pochen seines Herzens.

Im Sonnenlicht sahen EKHK Karsten Fuchs’ Haare eher karotten- als rostfarben aus. „Du hast inzwischen Arme wie Dwayne Johnson.“

Daniel trainierte regelmäßig, damit er nicht ständig unter Muskelkater litt und um den Schmerzen im Nacken und Rücken entgegenzuwirken, aber auch das behielt er für sich. Niemand interessierte sich ernsthaft für die Probleme eines Rollifahrers. „Übertreibst du nicht maßlos?“

„Farbe hast du auch bekommen, Zucker. Offenbar sitzt du den ganzen lieben langen Tag auf eurer Dachterrasse in der Südstadt herum. Tut mir leid, wenn ich dich von dort weggeholt habe.“

So braun wie Tom war Daniel trotzdem nicht. Sein Freund schien ein paar Stunden mehr als üblich unter dem Grill verbracht zu haben. Versuchte der Solarium-Junkie die Blässe, die er nach der Trennung von seiner Frau Natalia gehabt hatte, zu kompensieren? „Wäre ja auch zu schön gewesen, mal ein Wochenende mit Marie zusammen zu verbringen.“

„Warum solltest du eine Sonderbehandlung bekommen, nur weil der Herr im Rolls-Royce sitzt?“

Damit hatte Fuchs ihn. Wenn Daniel eins verabscheute, dann war es, anders behandelt zu werden als seine Kollegen vom Kriminalkommissariat 11. Aber Rolls-Royce?

Er ertappte sich dabei, wie er nach Leander Ausschau hielt. Der Hospitant war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hatte er sich hinter die Mauer auf der anderen Seite der Fabrikbrache zurückgezogen und kämpfte gegen Übelkeit an. Leichen waren nicht sein Ding. Schlechte Voraussetzungen, um in der Abteilung für Morddelikte zu arbeiten. Aber bisher hielt er tapfer durch, und Daniel ahnte, dass er einer der Gründe war, warum der Sechsundzwanzigjährige noch nicht das Weite gesucht hatte.

Durch die Sommersprossen auf Wangen, Stirn und sogar den Augenlidern wirkte es, als würde EKHK Fuchs’ Gesicht aus weißen und gelblich braunen Pixeln bestehen. „Hast du dir das mit dem Sommerfest überlegt?“

„Ach, du kommst auch?“ Tomasz’ Augen weiteten sich.

Daniel zischte: „Nein, verdammt noch mal!“

„Dachte ich’s mir doch.“

„Was soll das denn heißen?“

„So was kostet dich mehr Mumm, als die gefährlichsten Verbrecher zu jagen.“

Sein Kollege und Freund hatte ihn durchschaut und legte den Finger in die Wunde. Daniel spürte einen Stich in der Magengrube und verlagerte sein Gewicht. Plötzlich fühlte er sich unwohl. Er kam sich wie ein Außenseiter vor, wie eine Spaßbremse. Als externer Sonderermittler gehörte er ohnehin nicht vollwertig zur Mordkommission. Festivitäten fernzubleiben ließ die Kluft zu den Kollegen nicht gerade schrumpfen.

„Du dagegen siehst aus, als würdest du dein Partyoutfit schon tragen.“ Daniel zeigte auf den Kragen von Toms dünner schwarzer Lederjacke. „Seit wann klappst du ihn hoch?“

„Warum nicht?“

„Und wo sind die karierten Hemden geblieben?“

„Ich versuch mal einen neuen Look.“ Wie ein linkisches Männermodel strich sich Tom übers Haar.

„Mit der Tonne Gel siehst du aus wie Travolta in Grease.“

„Bist du so griesgrämig, weil Marie dich ins Musical geschleppt hat?“

„Ich meinte den Spielfilm. Der war schon kaum zu ertragen. Filme, in denen gesungen wird, gehen gar nicht.“ Daniel winkte ab. Plötzlich wurde er sich bewusst, dass er sich vom Wochenende und dem schönen Wetter hatte einlullen lassen. Genug Small Talk! „Warum stehen wir hier noch rum? Wo liegt die Leiche?“

Fuchs deutete auf zwei Männer des Bestattungsunternehmens, das für die Polizei den Leichentransport in das Rechtsmedizinische Institut übernahm. Sie hievten eine Bahre aus dem Wagen. „Die wird gerade abtransportiert, deshalb warten wir, um nicht im Weg zu sein und Spuren zu zertrampeln.“

„Ich muss sie unbedingt vorher sehen! Genau in der Position, in der sie gefunden wurde.“ Das war ihm enorm wichtig. Bilder, die der Polizeifotograf schoss, sagten nichts über die Atmosphäre am Tatort aus. Daniel musste sie selbst spüren. Sie verriet ihm, weshalb der Täter diesen Ort ausgesucht hatte. Außerdem stellte er sich vor, was das Mordopfer als Letztes gesehen, gerochen und gehört hatte. Die letzten Minuten im Leben des Opfers zu rekonstruieren war grausam, aber genau das spornte ihn noch mehr an, den Mörder so schnell wie möglich zu schnappen.

„He, warten Sie. Rühren Sie den Leichnam nicht an.“ Fuchs’ Stimme donnerte über das Waldgebiet. Bevor er zu den beiden Sargträgern eilte, sagte er zu Tom: „Führ ihn zum Bunker.“

Der Erkennungsdienst hatte einen Weg markiert, damit die Spuren nicht zerstört wurden. Tomasz zeigte ihn Daniel und ging voraus. Natürlich gab es keine befestigte Straße, daher ruckelte Daniels Chopper über unebenes Gelände. Gras, Steine und herumliegende Äste bremsten ihn. Die Räder gruben sich in den Boden ein und er musste viel Kraft aufwenden, um herauszukommen.

Tomasz blieb stehen. „Soll ich dich anschieben?“

„Soll ich dir über die Zehen fahren?“

„Dafür sind die Griffe am Rollstuhl doch da.“

„Wenn du das machst“, presste Daniel zwischen den Zähnen hervor, leise, damit die Kollegen ihn nicht hörten, „bekommst du eine exklusive Demonstration von den Selbstverteidigungsmaßnahmen, die mein Trainer mir beigebracht hat.“

„Den Spaß heben wir uns für ein andermal auf. Wir sind schließlich zum Arbeiten hier.“ Lächelnd ging Tom weiter. Doch je näher er dem Fundort kam, desto ernster wurde er.

Als Erstes fiel Daniel ein merkwürdiger Hügel auf, der nicht so recht in die Waldfläche passte. Er fuhr in einem großen Kreis um die Erhöhung herum. Von der anderen Seite aus erkannte er den militärischen Bunker, ein Relikt aus dem Zweiten Weltkrieg. Er war weitgehend unterirdisch gebaut worden. Erdboden und braune Blätter, die vom Herbst immer noch nicht verrottet waren, bedeckten das Dach, daher fiel das Gebäude nur auf, wenn man vor dem Eingang stand.

Stufen aus Stein führten hinab. Sie wölbten sich in der Mitte, offenbar hatten schon viele Menschen diese Treppe benutzt. Eine Tür existierte nicht mehr. Hinter der Öffnung herrschte Dunkelheit. Daniel musste an das Tor zur Hölle denken. Jemand hatte es nicht verschlossen und nun waren Kreaturen aus dem Jenseits entkommen, die wahllos töteten. Das war selbstverständlich Unsinn. Er hätte sich den Horrorfilm in der vergangenen Nacht nicht anschauen sollen.

Tetrapaks, Plastiktüten, Verpackungen von Süßigkeiten, Bierdosen, Zigarettenstummel und Kondome sammelten sich in den Ecken dort unten. Nichts sah so aus, als wäre es erst vor Kurzem weggeworfen worden. Dennoch hoffte Daniel, dass das kriminaltechnische Labor bei der Auswertung der Spuren etwas finden würde.

Die Leiche lag auf dem Bauch und mit den Füßen zum Eingang. Die Finsternis im Inneren des Bunkers machte es Daniel aber unmöglich, mehr zu erkennen. Daher holte er die Taschenlampe aus der Rollstuhltasche.

Sein Atem beschleunigte sich leicht, als er in den Gang leuchtete. Eine natürliche Reaktion des Körpers. Manche Menschen würden sich vermutlich darüber wundern, dass der Anblick einer Leiche für einen Kripobeamten immer noch aufwühlend war. Aber sollte er jemals so abgebrüht werden, dass es ihm rein gar nichts mehr ausmachte, würde er den Job an den Nagel hängen. Denn dann stimmte etwas nicht mehr. Und es wäre dringend Zeit für eine Veränderung.

Der Lichtkegel traf den Leichnam.

3. KAPITEL

Er war nackt. Die Gliedmaßen waren verdreht. Es sah aus, als wäre er weggeworfen worden, wie der Müll, der um ihn herum lag. Daniel nahm noch keinen Verwesungsgeruch wahr, der Mann konnte noch nicht lange tot sein. „Seine Kleidung?“

„Wurde nicht gefunden.“

„Der Täter hat sich nicht viel Mühe gemacht, die Leiche zu verbergen.“ Und das Verbrechen zu vertuschen.

„Offenbar dachte er, die Eisenstangen und der Stacheldraht, den er über sie gelegt hat, würden reichen.“ Tom schaute sich um. „Es war wohl nichts anderes da, um das Opfer zu verstecken.“

Daniel neigte sich vor, um tiefer ins Innere blicken zu können. „Geht es nicht weiter in den Bunker rein?“

„Nein, das Ende des Gangs ist zugemauert.“

Unruhig schob Daniel den Rolli vor und zurück, eine Unart, die er sich angewöhnt hatte, wenn er nachdachte. „Also blieb dem Täter nur übrig, die Leiche zu vergraben oder wegzuschaffen.“

„Aber er hatte weder eine Schaufel bei sich, noch war er mit dem Auto hier.“

„Oder es war ihm scheißegal.“ Diese These beunruhigte Daniel.

„Das glaube ich kaum. Er wollte die Tat vertuschen, sonst hätte er sein Opfer hier draußen getötet. Er könnte den Mann gezwungen haben, in den Bunker hinabzusteigen, sich auszuziehen, und dann hat er ihn umgebracht.“

„Das denke ich nicht. Schau dir an, wie der Leichnam liegt.“ Daniel lenkte den Rolli mal nach rechts, mal nach links, um den Tatort aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. „Er wurde achtlos dort hineingeworfen. Der Mörder hat rasch etwas darübergelegt, was er finden konnte, und ist dann auf und davon.“

„Vielleicht wurde er gestört und konnte das Opfer deshalb nicht anders entsorgen.“

„Schon möglich. Aber auf mich macht es eher den Eindruck, als hätte er so lange mit ihm gespielt, bis er tot war, und dann das Interesse an ihm verloren.“ Wie eine Katze bei einer Maus. Solange sie noch zappelte, weckte sie ihre Neugier. Darum stellten sich Mäuse tot. Manchmal kamen sie durch diesen Trick mit dem Leben davon. Daniel vergrößerte den Lichtkegel der Taschenlampe. „Schau dir die zahlreichen Kratzer, offenen Wunden, Bisse und … Scheiße! Sind das etwa …?“

„Brandwunden, ja.“ Tom ging in die Hocke. „Wir gehen davon aus, dass er gefoltert wurde.“

„Suchen wir einen Psychopathen, dem einer abgeht, wenn er anderen Schmerzen zufügt?“

„Da bin ich mir nicht sicher. Uns ist eben schon etwas aufgefallen. Aber ich möchte mir das erst noch genauer anschauen.“ Noch während er sich erhob, gab er dem Erkennungsdienst ein Zeichen. Sorgfältig räumten sie die mit Rußpulver bestäubten Stangen weg, um sie ins Labor zu bringen, wo sie noch genauer untersucht werden würden. Nachdem auch der Stacheldraht fort war, durften die Mitarbeiter des Bestattungsunternehmens die Leiche endlich mitnehmen. Behutsam drehten sie sie auf den Rücken. In dem Moment rief Tomasz: „Stopp! Tatsächlich. Siehst du’s?“

Daniel lenkte die Lampe auf den Oberkörper des Opfers. Er war völlig eingedrückt. Eine einzige große Wunde! Jede einzelne Rippe schien gebrochen zu sein. Die inneren Organe konnten nicht mehr intakt sein. Die gesamte Haut zwischen Bauchnabel und Hals schimmerte unnatürlich blau unter dem getrockneten Blut hervor. „Jemand hat wie ein Irrer brutal auf ihn eingeschlagen.“

„Immer und immer wieder.“

„Bis er tot war.“ Eine andere Todesursache war nicht zu erkennen.

„Passt das zu einem Sadisten?“

Irritiert schüttelte Daniel den Kopf. „Vielleicht waren es zwei Täter. Oder eine Gruppe. Wie sieht es mit Fußabdrücken aus?“

„Die Spurensicherung ist dran. Am vielversprechendsten sind zurzeit die Bisswunden.“

Durch sie hatte der Mörder eine Art Fingerabdruck hinterlassen, der einmalig war. Daniel zeigte auf den Leichnam. „Siehst du die Totenflecken am Bauch, am Rand des zerstörten Oberkörpers? Das Opfer wurde entweder im Bunker getötet oder in der Nähe und sofort danach dort entsorgt.“

„Wir befinden uns also am Tatort.“

Eine Weile schauten sie schweigend zu, wie das Opfer behutsam auf die Bahre gelegt und die Treppe hochgebracht wurde. Wie emsige Ameisen inspizierten die Kollegen vom Erkennungsdienst sogleich den Boden darunter.

Daniel schaltete die Taschenlampe aus und steckte sie weg. Bei Tageslicht wirkten die Verletzungen noch grausamer. Die dunkelroten Hämatome, die den Körper entstellten, wurden schon hier und da bläulich. Sogar der Schritt war verfärbt. Daniel bekam beim Anblick des blauen Gliedes Phantomschmerzen, dabei hatte er seinen Penis seit dem Unfall vor fünfzehn Monaten nicht mehr gespürt. Aber durch den Grad der Verfärbung der Blutergüsse konnte er bereits ein grobes Zeitfenster festlegen: „Vor vierundzwanzig Stunden lebte er noch.“

„Und ist seitdem durch die Hölle gegangen.“

Die Bahre schwebte an Daniel vorüber. Er wich zurück, nicht nur, um den Männern Platz zu machen, sondern auch wegen des Leichengeruchs, der glücklicherweise noch mild war.

Das erste Mal konnte er das Gesicht des Opfers erkennen. Es handelte sich um einen recht jungen Mann. Das Alter ließ sich schwer schätzen. Daniel tippte auf sechzehn bis Mitte zwanzig. Mitteleuropäer, leicht aufgeschwemmt und klein. Seine Augen wiesen eine mandelförmige Form auf und hatten Tränensäcke. Eine Ahnung regte sich in Daniel. Um zu prüfen, ob er richtiglag, schaute er sich die Füße genauer an. Zwischen dem ersten und dem zweiten Zeh prangte eine auffällig große Lücke. Eine Sandalenfurche! „Er hat das Downsyndrom.“

„Trisomie 21.“ Tomasz nickte.

Daniels Augen weiteten sich. Er warf seinem Freund einen bösen Blick zu und spürte, wie sich sein Magen langsam zusammenballte. „Ihr wusstet es schon, habe ich recht?“

„Wir sind schon etwas länger am Tatort als du, Kumpel.“

„Darum habt ihr mich in die Mordkommission berufen.“

„EKHK Fuchs hatte die Idee, und ich habe dich immer gerne in meinem Team, denn du bist einer der besten …“

„Spar dir das Gesülze. In Wahrheit seht ihr in mir eine Art Behindertenbeauftragten des Präsidiums. Aber nur weil ich im Rollstuhl sitze, bedeutet das nicht, dass ich automatisch zu solchen Fällen hinzugezogen werden muss.“ Aufgebracht schob er die Räder an.

Doch Tom stellte sich ihm in den Weg. „Reg dich ab.“

„Bin ganz cool.“ War Daniel in Wahrheit nicht. Er wollte normale Fälle und als normaler Ermittler angesehen werden.

„Das wirst du doch auch gar nicht. Außerdem, was soll das denn heißen: ‚zu solchen Fällen‘?“ Tom wurde so laut, dass die Kollegen von der Spurensicherung aufschauten und die Stirn runzelten. „Es gibt hier einen Mord. Du arbeitest beim Kriminalkommissariat für Tötungsdelikte. Also mach gefälligst deinen Job!“

„Okay“, presste Daniel hervor.

„Das Opfer wird behandelt wie jedes andere auch. Du wirst behandelt wie jeder andere Kommissar auch.“

„Hab verstanden! Aber behaupte nicht, die Trisomie wäre nicht der Grund, warum ich hier bin.“

Seufzend fuhr sich Tom durch die Haare. Vor Aufregung glühte sein Gesicht, als käme er frisch aus dem Solarium. Er zog die Lederjacke aus und hängte sie sich über die Schulter. „Du hast recht. Fuchs dachte, du gehst sensibler an das Thema heran, du kannst dich eher in das Opfer hineindenken als wir und darum Hinweise entdecken, für die wir blind sind. Was ist falsch daran?“

„Nichts.“ Daniel atmete einmal tief durch. „Aber eine Querschnittslähmung und eine Krankheit wie Mongolismus sind zwei völlig andere Sachen.“

„Das wissen wir.“

„Es tut mir leid.“ Daniel schämte sich sogar, so aus der Haut gefahren zu sein. Es ging hier nicht um ihn, sondern um den armen Kerl auf der Totenbahre. „Ich möchte einfach nur normal behandelt werden.“

„Aber das bist du nicht.“

„Autsch.“ Das tat weh.

4. KAPITEL

„Und das bedeutet in diesem Fall, dass du einen Vorteil daraus ziehen könntest.“

Daniel wusste nicht, wie ihm das helfen sollte. „Ihr seid doch sicher schon selbst darauf gekommen, dass das Mordmotiv etwas mit der Erkrankung des Mannes zu tun haben könnte. Hass auf alle, die anders sind, zum Beispiel.“

„Vielleicht war er aber auch nur ein wehrloses Opfer, das leicht in eine Falle zu locken war.“

„Oder zufällig zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort.“

„Du meinst, er war auf dem Weg irgendwohin, kam hier vorbei und ging zwischen die Bäume, um zu pinkeln?“

„Das könnte sein. Und lief geradewegs einem Täter in die Arme, der auf der Jagd war. Denn was auch immer die Verbrennungen verursacht hat, muss weitaus größer als ein Feuerzeug gewesen sein. Keine Waffe, die man spontan aus dem Hut zaubert.“

„Der Mörder muss vorbereitet gewesen sein.“

„Womöglich ist die Katze bei Sonnenuntergang durch die Gewerbe- und Industriegebiete gestreift und hat nach einer Maus Ausschau gehalten.“ Daniel sah die Szene vor dem geistigen Auge. Ein Schatten huscht hinter einen Baum. Ein rascher Blick voller Vorfreude auf eine Tasche mit Folterwerkzeug. Das Opfer nähert sich der Grünschneise. Die Atmung wird schneller. Die Erregung nimmt zu. Zuschnappen, Überwältigen und Tiefer-in-das-Wäldchen-Hineinschleifen. Erst kommt das Spiel. Aus Fantasie wird Realität. Zum Schluss wird die Beute erlegt. „Wir müssen überprüfen, ob das Opfer in der Nähe arbeitet.“

„Eine Behindertenwerkstatt wird es in dieser Ecke Godorfs wohl kaum geben.“

„Einige Menschen mit Downsyndrom haben durchaus Jobs! Ich habe keinen blassen Schimmer, was ich dazu beitragen könnte, auf das ihr Normalos nicht selbst kommt.“ Diese Spitze hatte sich Daniel nicht verkneifen können.

„Nicht jetzt, eventuell später. Vertrau Fuchs. Er hat oft den richtigen Riecher.“

„Momentan gibt es hier nichts weiter für uns zu tun. Lass uns gehen, damit wir dem Erkennungsdienst nicht im Weg stehen.“

Tomasz machte eine ausladende Geste, um ihm den Vortritt zu lassen. Aber Daniel deutete ihm an, vorzugehen. Er wollte nicht, dass sein Freund mitbekam, wie mühsam sich der Rollstuhl über den Waldboden bewegen ließ. Es kostete Kraft, vom Bunker zur Mauer des Grundstücks mit der Industrieruine zu fahren. Dort bogen sie nach links ab, um zur Straße zurückzukehren.

Der Bock fuhr über ein Loch, wahrscheinlich der Bau eines Tiers, und der Chopper ruckelte. Dann kam er wieder zügiger voran.

Eine erneute Erschütterung und Daniel knirschte mit den Zähnen, hielt jedoch nicht an, sondern gab Gummi, damit er Tom einholte. Der Boden schien von Höhlen durchzogen zu sein.

Als er ein drittes Mal durchgeschüttelt wurde, fluchte er leise. Er hielt an. Murrend schaute er sich um. Doch er sah keine Tierbaue. Nur drei kreisrunde Löcher. Im Wald? Zwischen ihnen lag anderthalb Meter Abstand. Darum fiel es nicht direkt ins Auge, dass sie eine gerade Linie bildeten. Die Kanten waren von den Mitarbeitern der Polizei, der des Erkennungsdienstes und des Leichenwagenfuhrwerks abgetreten.

Stirnrunzelnd vollführte Daniel geschickt eine Hundertachtzig-Grad-Drehung. Er befand sich in der Nähe der Stelle, an der die Mauer eine große Lücke aufwies, als hätte ein hungriger Riese ein Stück herausgebissen. Sie zerfiel langsam, rottete vor sich hin wie das Gebäude, das sie früher einmal geschützt hatte. Direkt vor Daniel konnte jemand mit gesunden Beinen über die verbliebenen drei Steinreihen steigen und das Privatgrundstück betreten. Hätten nicht die Haselnusssträucher auf beiden Seiten den Zutritt versperrt.

Tomasz blieb stehen. „Alles in Ordnung?“

Etwas störte Daniel. Aber er konnte nicht sagen, was das war.

Darum wandte er sich wieder um und legte die Hände an die Greifringe. „Der Eigentümer muss den Bauzaun wieder aufstellen.“ Denn der musste die Ursache der Löcher sein. „Oder die Mauer neu errichten. Dazu ist er rechtlich verpflichtet.“

„Um den Haufen Steine“, während Tom weiterschritt, zeigte er auf die Fabrik, „schert sich schon lange niemand mehr.“

Zurück auf dem Bürgersteig, wunderte Daniel sich darüber, dass das ältere Paar noch immer da stand, wo sie es zurückgelassen hatten. Wahrscheinlich waren die beiden zufällig vorbeispaziert oder, schlimmer, waren herbeigeeilt, als sie die Polizeiwagen sahen. So oder so hielt er sie für Schaulustige. Darum lenkte er den Bock absichtlich auf sie zu, sodass sie ihm Platz machen mussten, in der Hoffnung, dass sie den Wink verstanden. Gehen Sie nach Hause!

Erst jetzt, wo er wieder freien Himmel über sich hatte, spürte er den Druck auf der Brust. Er fiel ab, nachdem er den Grünstreifen verlassen hatte. Dabei war es dort drinnen weder dunkel wie im Tannenwald, noch waberte Nebel umher, untermalt vom Ruf eines Käuzchens. Dennoch herrschte eine finstere Stimmung. Dieser Ort hatte seine Unschuld verloren. Der Mord würde ihm auf ewig anhaften.

Daniel streckte sich. Die Kondenswolken der Industrieschlote zogen zu ihnen herüber. Der Wind in der Höhe hatte offensichtlich gedreht. Hier unten herrschte noch trügerische Stille. Doch ein Wetterumschwung stand kurz bevor. „Wer hat das Mordopfer eigentlich entdeckt?“

„Ein Pärchen. Czeslaw Dworschak und Marianne Voss. Hatten sich zum Knutschen und“, Tom kratzte sich an der Nase, „na ja, du weißt schon, in den Eingang zurückgezogen.“

„Wo sind sie?“

„Stehen doch direkt hinter dir.“

Überrascht schaute Daniel das betagte Paar an. Seine Augen weiteten sich. Er hatte mit Teenagern gerechnet.

Verlegen strich die weißhaarige Dame immer wieder über ihr zerknittertes beigefarbenes Leinenkleid, während er rot anlief und die mit Altersflecken übersäten Hände vor den Schritt hielt, als fühlte er sich plötzlich nackt.

„Zum Knutschen und, na ja, du weißt schon“, hallte es ungläubig in Daniel wider.

5. KAPITEL

Im ersten Moment war er sprachlos, bis Tomasz lachte und die peinliche Stille vorüber war. Verunsichert kraulte er den Kinnbart. „Du hast sie ja schon vernommen, wie ich gesehen habe, als ich ankam. Kein Grund, sie ein zweites Mal an die Einzelheiten des grauenvollen Funds zu erinnern.“

„Nur zu. Wie wir am Thema Sommerfest sehen, bist du viel sensibler als ich. Darum fallen dir sicherlich Fragen ein, die ich noch nicht gestellt habe“, frotzelte Tom und stellte sich hinter das Paar.

Bei seinem breiten Lächeln musste Daniel an einen fies grinsenden Halloweenkürbis denken. Sensibelchen, pah! Tomasz machte das extra, natürlich. Und er genoss Daniels Verlegenheit. Tom war eindeutig zu gut drauf für einen Leichenfund an einem sonnigen Wochenende. Man könnte glatt meinen, er ist verliebt, dachte Daniel. Ob er sich mit Natalia versöhnt hatte? Wie Daniel wusste, hatten sie sich neulich zu einem Gespräch getroffen. Angeblich um die Gütertrennung für die Scheidung zu besprechen. Aber bei seinen Frühlingsgefühlen mochte der Abend unerwartet geendet haben.

Daniel schaute, nachdem er sich vorgestellt hatte, die beiden Zeugen an und überlegte fieberhaft, wie er die Fragen diplomatisch verpacken konnte. Darin lag nicht gerade seine Stärke. Wäre Leander doch nur hier. Er war derjenige mit dem Fingerspitzengefühl. Wo trieb er sich nur herum?

„Was treiben Sie hier?“, schoss es unbedacht aus ihm heraus, noch gedanklich halb bei seinem Kollegen Menzel. „Das war unglücklich ausgedrückt. Ich meinte, was machen Sie hier? Nein, das erklärten Sie ja schon. Was ich wissen will ist“, er tippte auf seine Armbanduhr, „es ist noch so früh.“

„Schlafen Sie etwa nur abends mit Ihrer Frau, Kommissar Zucker?“ Czeslaw Dworschak schlang den Arm um seine Geliebte und drückte sie an sich.

Hitze schoss in Daniels Wangen. Für den Moment war er fassungslos. Da versuchte er, das schlüpfrige Thema dezent zu behandeln, und der alte Mann nahm kein Blatt vor den Mund.

Hinter dem Paar amüsierte sich Tomasz prächtig.

Daniel blinzelte ihn an und fuhr mit der Befragung fort. „Warum haben Sie sich gerade in den Bunker zurückgezogen? Ich kann mir schönere Orte für ein Stelldichein vorstellen.“

„Stelldichein, den Begriff habe ich seit meiner Jugend nicht mehr gehört!“ Begeistert klatschte Voss in die Hände. „Heute nennt man das Date, Kommissar Zucker.“

Daniels Blick blieb an ihrem Ring hängen. Eine Kugel war daran angebracht, an der wiederum ein kleiner Ring befestigt war. Die Überraschungen nahmen kein Ende. „Danke für die Aufklärung. Wieso treffen Sie sich nicht zu Hause? Sind Sie verheiratet?“

„Meine Frau verstarb vor drei Jahren.“ Dworschaks Mundwinkel hingen genauso herab wie seine Schlupflider.

„Ich bin schon seit zwanzig Jahren geschieden.“ Marianne Voss zeigte in Richtung einiger Wohnhäuser. „Wir trafen uns im Abendrot.“

„Und was ist das?“ Ein Swingerclub? unkte Daniel heimlich.

„Ein Seniorenheim. Dort ist man aber nie wirklich allein. Ständig läuft man Gefahr, dass jemand im Zimmer steht. Die Leitung verbietet, die Türen abzuschließen, weil sie befürchtet, wir könnten uns etwas antun oder umkippen. Dabei sind wir doch keine Tattergreise.“ Marianne Voss zog einen Flunsch, und Daniel bekam eine Ahnung, wie sie als junge Frau ausgesehen hatte.

Czeslaw Dworschaks Hand glitt von ihrer Taille tiefer und blieb auf ihrem Po liegen. „Sondern sprudeln vor Lebenslust.“

Daniel konnte nicht umhin, die beiden für ihre Einstellung zu bewundern. „Und wegen dieser … Lust haben Sie sich einen ehemaligen Schutzbunker ausgesucht.“

„Wir wussten nicht, wohin“, sagte Voss.

„Außerdem inspirierte er uns.“ Czeslaw Dworschak zwinkerte. „Ich war der Offizier und sie eine Verdächtige, die ich einer Leibesvisitation unterziehen musste.“

Entrüstet riss Daniel die Arme hoch. „Danke, aber das müssen wir nicht vertiefen. Ausgerechnet Sie! Ihre Generation müsste doch …“

„Es war nur ein Rollenspiel, Kommissar Zucker.“ Dworschak küsste galant Marianne Voss’ Handrücken.

„Bei dem Sie die Leiche fanden.“ Und plötzlich nahm das harmlose Spiel reale Ausmaße an. Ein Denkzettel des Schicksals, kam Daniel in den Sinn.

Die alte Dame nickte. „Wir zogen uns schnell wieder an und riefen mit dem Handy die Polizei.“

„Haben Sie den Leichnam berührt“, eindringlich sah Daniel sie an, „zum Beispiel um herauszufinden, ob die Person noch lebt?“

„An den kamen wir doch gar nicht ran. Der war doch begraben unter Stacheldraht und Stangen.“ Voss stöhnte, wohl vor Entsetzen.

Liebevoll umarmte Czeslaw Dworschak sie erneut. „Der war so was von mausetot, das sah man sofort.“

„Ist Ihnen etwas Merkwürdiges aufgefallen?“, fragte Daniel. Er bekam langsam den Eindruck, seine Zeit zu vergeuden.

Voss presste die Lippen zusammen und schaute hilfesuchend ihren Freund an.

Dieser schüttelte den Kopf. Sein freundliches Lächeln schien festgefroren. „Das einzig Merkwürdige waren wir.“

„Haben Sie vielleicht jemanden von dort weglaufen sehen, als Sie ankamen?“ Ungeduldig trommelte Daniel auf die Armlehne des Rollis.

„Nein, nein“, sagte Dworschak etwas zu hastig.

Seine Freundin knöpfte die Strickjacke, die sie über ihrem Kleid trug, zu, dabei waren die Temperaturen inzwischen angenehm warm. Sie schmiegte sich an ihn, als suchte sie Halt.

Etwas ist faul! Daniel fuhr dicht an das Paar heran. Scheu wichen sie zurück. „Es war jemand bei Ihnen, habe ich recht?“

Dworschak riss die Hände hoch. „Gott bewahre, nein! Dann wären wir doch niemals intim geworden.“

„Aber Sie haben am Tatort jemanden gesehen.“

„Wir waren mit uns beschäftigt“, Voss sah ihn nicht an, während sie sprach, „und dann damit, erschrocken wegzulaufen und uns gleichzeitig die Schlüpfer anzuziehen, ohne hinzufallen.“

Daniel spürte, dass die beiden kurz davor waren, einzuknicken. Ihr Selbstbewusstsein schien bereits zu schrumpfen. Darum bohrte er weiter: „Eine Person hat Sie erwischt. Lügen Sie deshalb? Weil es zu einer kompromittierenden Situation kam?“

Während Czeslaw Dworschak etwas Unverständliches stammelte, schlang Marianne die Arme um sich wie ein Schutzschild und spähte in die Richtung, in der der Bunker lag. Noch immer standen ihre kurzen, grauen Haare am Hinterkopf ab, eine Spur des leidenschaftlichen Treffens. Doch jegliche Lust war aus ihrem Gesicht gewichen. Stattdessen war eine Mischung aus Furcht und etwas anderem darauf zu sehen.

Zuerst wusste Daniel es nicht zu deuten, schließlich erkannte er es. Es war Scham. „Er hat Sie beim Sex ertappt, ist es das?“

Die beiden schwiegen sich aus. Hatten sie eben offen über ihr erotisches Treffen gesprochen, so wurde ihnen nun das Gespräch sichtlich unangenehm. Ein untrügliches Zeichen für Daniel, dass er auf der richtigen Spur war. „Erpresst er Sie?“

Zögerlich nickte Voss.

„Lassen Sie mich raten, er hat ein Handyfoto von Ihnen gemacht.“ Woher sollte er sonst so schnell einen handfesten Grund zum Drohen bekommen haben?

Sie betastete die einzelnen Perlen ihrer Kette, als würde sie den Rosenkranz beten. „Ja. Als wir rausgerannt sind, weg von dem Toten, waren wir noch nicht wieder angezogen.“

„Wir sind ihm direkt in die Arme gelaufen.“ Der alte Mann wischte sich Speichel aus den Mundwinkeln. „Der Typ trieb sich auf dem Gelände herum. Vielleicht hat er uns sogar die ganze Zeit beobachtet.“

„Er machte mir Angst.“ Ihre Stimme klang belegt.

Tomasz’ Lächeln verschwand. Er riss den Block aus seiner Jackentasche. „Verdammt, warum haben Sie mir das nicht gesagt, als ich Ihre Aussage aufgenommen habe?“

„Er hat damit gedroht, das Foto zig Mal auszudrucken und im ganzen Stadtbezirk Rodenkirchen zu verteilen, wenn wir die Polizei rufen.“

„Wir waren in der Zwickmühle. Und wussten nicht, was wir tun sollten.“ Kraftlos zuckte Dworschak mit den Achseln. „Wir wollten nicht zum Gespött unserer Heimatstadt werden. Abendrot würde uns rauswerfen.“

„Wahrscheinlich tun sie das jetzt auch. Dann stehen wir auf der Straße. Unsere Familien wollen uns nicht und andere Seniorenheime nehmen uns nach dem peinlichen Vorfall bestimmt nicht auf.“ Sie stieß den Atem aus und es lag Verzweiflung in der Art, wie sie das tat. „Aber schließlich riefen wir doch die 110 an.“

Der alte Herr ließ die Arme hängen. „Der arme Mann konnte doch nicht da liegen bleiben. Er muss ordentlich begraben werden.“

„Vielleicht war er ein Spanner.“ Tom hörte auf, sich Notizen zu machen, und zeigte mit dem Stift auf den Waldstreifen vor ihnen: „Dieser Ort war früher ein Schwulentreff zum du weißt schon.“

Da war es wieder. Du weißt schon. Daniels Mundwinkel zuckten. „Zum schnellen, unverbindlichen Sex. Wegen Frau Voss und Herrn Dworschak musst du kein Blatt vor den Mund nehmen.“

Tom verdrehte die Augen. „Bis Neonazis eines Tages hier einfielen wie ein Säuberungstrupp der SS. Sie schlugen die Männer, die gerade hier ihren Spaß hatten, krankenhausreif. Die Schwuchteln, wie sie sie abfällig titulierten, sollten dieses geschichtsträchtige Fleckchen Godorfs nicht länger beschmutzen. Seitdem traut sich kaum noch jemand hierhin.“

Das musste der Grund gewesen sein, warum Voss und Dworschak diesen Ort ausgewählt hatten. Er war abgelegen, unversperrt und einsam, da die Anwohner ihn aufgrund der Geschehnisse mieden. Der perfekte Ort für eine schnelle Nummer, aber auch, um einen Mord zu begehen.

Daniel lehnte sich vor und stützte sich auf den Knien ab. „Warum rücken Sie erst jetzt mit der Sprache heraus?“

„Nachdem feststand, dass er uns nicht davon abhalten kann, hat uns der Fremde versprochen, das Foto zu löschen“, Czeslaw Dworschak zog den Kopf zwischen die Schultern, „wenn wir ihn nicht erwähnen.“

„Zuerst wollte er uns das Handy abnehmen, damit wir nicht telefonieren können. Aber da hatte mein Schatz schon den Notruf dran und sagte unsere Namen und unseren Aufenthaltsort.“ Auch jetzt noch wirkte sie erleichtert.

„Sieht so aus, als hätte jemand etwas zu verbergen“, wandte Daniel sich an Tom, der sich Notizen machte und den Kugelschreiber so fest auf das Papier drückte, dass er abrutschte und es riss, als er an den Rand kam. Zum Glück hatte sich das Paar nicht einschüchtern lassen. Unter Umständen hatten Czeslaw Dworschak und Marianne Voss am Morgen einem Mörder gegenübergestanden. Wenn das stimmte, wären sie beinahe seine nächsten Opfer geworden, diesmal nicht aus Jagdtrieb, sondern um seine erste Bluttat zu vertuschen. „Wir brauchen ein Phantombild. Ich könnte Marie anrufen. Sie würde bestimmt sofort kommen.“

„Wir nehmen die Zeugen mit aufs Revier!“ Plötzlich tauchte EKHK Fuchs neben ihnen auf. Kumpelhaft schlug er Daniel auf die Schulter. „Sparmaßnahmen, sorry. Die Phantombild-Software muss sich ja bezahlt machen.“

Das machte den kleinen Triumph, den Daniel eben gefeiert hatte, sofort wieder zunichte. Seine Laune trübte sich wie das Blau des Himmels. Wenn wenigstens Leander da wäre. Dann könnte er sich ein wenig mit ihm kabbeln und gleich würde es ihm besser gehen. „Wo ist Prinzessin Leia eigentlich? Ich wette, er ist zu Hause und lässt sich die Sonne auf den schmächtigen Oberkörper scheinen, während wir Überstunden schieben.“

„Er arbeitet bei einer anderen Mordkommission mit.“

„Was?“ Zu seiner eigenen Überraschung verspürte Daniel einen Stich im Zwerchfell. „Das geht nicht.“

„Und warum nicht?“

„Ich brauche ihn.“

„Feste Ermittlerteams gibt es nur in Fernsehserien. Sei froh, dass ich dich und Tomasz so oft zusammen einteile.“

„Leander spielt immer den guten Cop und ich den bösen. Tom und ich dagegen können beide nur den schlecht gelaunten Bullen mimen.“

„Warum mimen?“ Fuchs lachte hämisch. „So seid ihr eben.“

„Karsten.“ Bettelte er etwa? Daniels Wangen brannten.

„Auf keinen Fall!“

„Dann fahre ich heim. Mir ist gerade kotzübel geworden.“ Ohne das Gezeter hinter ihm zu beachten, lenkte Daniel den Rolli zu seinem Wagen. Es würde offenbar doch noch etwas mit dem gemeinsamen Wochenende mit Marie werden.

6. KAPITEL

Benjamin hatte ein ungutes Gefühl.

Er mochte es nicht, neu irgendwo hinzukommen. Man wurde angestarrt, ausgefragt und war erst einmal ein Außenseiter. Seit dem Warnschussarrest ging er Fragen zu seiner Person aus dem Weg. Wenn es sich dann doch mal nicht vermeiden ließ, formulierte er die Antworten vage. Das führte jedoch dazu, dass er niemanden mehr an sich heranließ. Er sehnte sich nach neuen Freunden und hielt gleichzeitig alle auf Distanz. Das war mühsam, und damit tat er sich selbst keinen Gefallen, das wusste er.

„Schau nicht so grimmig.“ Aufmunternd knuffte Marie ihn in die Seite und drehte das Autoradio leiser. „Betrachte das Praktikum als Neuanfang.“

Schweigend nickte Ben. Ja, so sollte er es wohl sehen. Der Prozess um Julias Tod lag ein halbes Jahr zurück, vielleicht hatten die neuen Kollegen den Fall in den Medien gar nicht verfolgt. Zudem hatte die Polizei ihn bei der Pressekonferenz um die Wohngemeinschaft der Pädophilen rausgehalten. Sein Name war nirgends gefallen.

Während Marie schaltete und an der Ampel anfuhr, sagte sie: „Mensch, du hast das Abitur bestanden!“

„Ja, wer hätte das gedacht, was?“ Er hatte den schlechtesten Notendurchschnitt seines Jahrgangs, aber er hatte den Wisch in der Tasche und das zählte. Nur, was sollte er jetzt mit sich anfangen? Er wusste es nicht, hatte keinen Plan.

„Freu dich doch ein bisschen mehr.“ Kurz lächelte ihn Marie an, dann richtete sie den Blick wieder auf die Fahrbahn. Die Straßen in der Südstadt waren verstopft, wie jeden Morgen. Mühsames Stop and Go. „Die Schulzeit ist endlich vorbei.“

Im Gymnasium hatte jeder darüber Bescheid gewusst, was seine ehemaligen Freunde und er angestellt hatten. Das letzte halbe Jahr war für Ben sehr einsam gewesen.

Langsam besserte sich seine Laune. Vielleicht hatte seine Cousine recht. Er konnte einen Neuanfang machen, er konnte sein, wer er wollte. Optisch hatte er sich schon verändert, nun musste nur noch sein Selbstbewusstsein wachsen. Vielleicht würde das Praktikum ihm dabei helfen.

Er schaute aus dem Fenster auf die Menschen, die auf den Bürgersteigen zu ihren Arbeitsstätten hetzten, den Coffee to go in der Hand und die Augen noch nicht ganz offen. Erst auf den zweiten Blick bemerkte er sein Spiegelbild in der Scheibe. Zu seiner Überraschung lächelte es dezent.

„Diese Staatsanwältin hat dir die Stelle verschafft, richtig?“, fragte Marie beiläufig.

Ben nickte. Das wusste Marie doch. Warum fragte sie? „Die mit dem komischen Namen.“

„Lioba Zur.“ Ihre Zunge strich unentwegt über die Schneidezähne.

„Den hast du behalten? Wow!“ Er zupfte am T-Shirt herum. In eng anliegenden Klamotten fühlte er sich immer ein wenig nackt. Aber auch erwachsener. Seinen neunzehnten Geburtstag Ende Mai hatte er mit seinen Eltern verbringen müssen. Übelst langweilig.

Gedankenversunken saugte Marie die Unterlippe ein. Sie biss so fest zu, dass die Zahnabdrücke zu sehen waren, nachdem sie losgelassen hatte. „Schuldet sie Daniel noch einen Gefallen?“

„Hat er nicht gesagt.“

„Warum sollte sie das sonst für ihn tun?“

Woher sollte er das wissen? Er hatte sie nicht einmal kennengelernt. Daniel hatte das gedeichselt, damit Ben nicht herumhing, sondern bestenfalls eine Ahnung bekam, welchen Beruf er erlernen wollte. „Freundschaft?“

„Dann würde ich sie doch kennen.“ Ihre Finger schlossen sich fester um das Lenkrad.

„Ich meinte eher so was wie einen Gefallen unter Kollegen.“ Warum war Marie angespannt? Es war doch sein erster Arbeitstag. „Vielleicht wollte sie einfach nur nett sein.“

„Womit er das wohl verdient hat?“

Was wollte sie damit andeuten? Benjamin runzelte die Stirn. War sie etwa eifersüchtig?

Marie setzte ihn vor dem Internationalen Kulturzentrum ab, wünschte ihm viel Spaß und fuhr weiter.

Spaß? Benjamin bekam jetzt schon Bauchschmerzen. Nicht nur wegen der neuen Herausforderung, sondern vor allen Dingen, weil Efeu an einem Spalier am Gebäude emporrankte. Unweigerlich musste er an die Bruchstraße 13 denken, an die düstere Stimmung im Haus des Pädophilen, die ständige Gefahr, das Blut, die Schmerzensschreie und den Angriff auf sein Leben. Er hatte mit einem Psychologen über die schlimmen Erlebnisse gesprochen und festgestellt, dass er sie besser verarbeitet hatte als erwartet. Der Therapeut vermutete den Grund darin, dass Ben aus eigener Kraft hatte fliehen können. Das Gefühl der Hilflosigkeit belastete ihn nicht. Im Nachhinein erkannte er, dass er daran sogar gewachsen war.

Zum Glück gab es außer den Ranken keine Gemeinsamkeiten.

Libertas e. V. stand in einem dezenten Schriftzug auf dem Klingelschild am Eingang. Man hatte das schlichte weiße Gebäude durch Kästen mit bunten Blumen aufgehübscht. Windräder in Regenbogenfarben standen zwischen den Pflanzen. Bilder von blauen Schwalben klebten auf jedem Fenster, wohl damit keine Vögel in die Scheiben flogen. Hätte Ben es nicht besser gewusst, hätte er vermutet, dass sich eine Kita hinter der Fassade befand.

Sein Herz schlug schneller, als er eintrat. Er wischte die Handflächen an der Jeans ab, denn vor Aufregung schwitzte er. Es war niemand zu sehen, darum ging er langsam weiter den Gang entlang.

Die Einrichtung erwies sich als nüchtern. Staubfäden verbanden die Blätter einer künstlichen Pflanze. Die Sohlen von Bens Turnschuhen quietschten auf dem blau-grauen Linoleumboden. Dunkle Ränder, dort, wo früher Bilderrahmen gehangen hatten, bekundeten, dass die Wände dringend einen neuen weißen Anstrich benötigten. Ob das seine Aufgabe werden würde, damit die Institution das Geld für einen Profi sparte?

Plötzlich donnerte eine Stimme durch den Korridor. „Ramona Naujoks.“

Ben zuckte zusammen. Erschrocken flog er herum. „Was?“

„Das ist mein Name.“ Freundlich lächelnd kam eine Frau mittleren Alters auf ihn zu. Die Bäckertüte knisterte, als sie sie in die linke Hand gab und Benjamin die rechte hinstreckte. Sie musste hinter ihm reingekommen sein, ohne dass er es gehört hatte. „Ich bin die Leiterin des Kulturzentrums.“

Jetzt wusste Ben auch, wer für die bunte Deko verantwortlich war. Die Frau, die auf ihn zukam, war gekleidet wie ein Papagei. Ihre Haarfarbe war eine undefinierbare Mischung aus Rot und Blond. Ihr großer Busen wölbte den grünen Strickpullover aus. Sie hatte rundliche Hüften, aber Storchenbeine kamen unter dem knielangen dunkelblauen Rock hervor. Ihre Füße steckten in flachen ockerfarbenen Schuhen. Ihr Outfit wirkte nicht schrill, aber so, als hätte sie morgens wahllos in den Kleiderschrank gegriffen und nicht hingeguckt, was sie da anzog. Schließlich fielen Ben die Ohrringe auf. Durch die Plastikbananen re-vidierte er seine Meinung. Ramona Naujoks achtete sehr wohl darauf, was sie anzog, sie mochte es offenbar einfach bunt.

Sie hielt die Tüte hoch. „Teilchen zum Einstand?“

„Nein, danke. Ich habe schon gefrühstückt“, log er, denn er hatte in der Früh keinen Bissen runtergekriegt. Auch jetzt noch war sein Hals wie zugeschnürt.

„Voller Tatendrang, das ist gut. Wir machen als Erstes einen Rundgang.“ Sie schob die rot umrandete Brille hoch, warf das Bäckereigut in ihr Büro und schritt wie ein Feldwebel voran. „Auf, auf, junger Mann. Sie haben sich sicher über uns informiert. Was wissen Sie bereits?“

„Sie sind ein gemeinnütziger Verein“, Ben schaffte es kaum, an ihr dranzubleiben, „und helfen Migranten und Aussiedlern.“

„Nicht nur, sondern wir sehen uns als Begegnungsstätte und versuchen, eine Brücke zu schlagen zwischen Ost und West. Wir bieten einen interkulturellen Austausch an. Wir veranstalten Lesungen, Konzerte, Gesprächsrunden, Workshops, Vorträge und vieles mehr, die für alle offen sind. Es gibt medizinische und juristische Beratung für neue Mitbürger, die aus Osteuropa in unsere Mitte übergesiedelt sind. Unsere Sozialarbeiter helfen bei Fragen zu Ämtern, Arbeitslosengeld, Korrespondenz und so weiter und so fort.“

Erleichtert atmete Benjamin aus, denn er hatte sich natürlich nicht auf das Praktikum vorbereitet, sondern wusste nur das, was Daniel ihm erzählt hatte. Nur hatte er keinen blassen Schimmer, welche Aufgaben er übernehmen könnte. Um nicht zum Anstreichen verdonnert zu werden, schlug er vor: „Vielleicht kann ich beim Computerkurs helfen.“

„Wir werden sehen.“ Frau Naujoks zeigte nacheinander auf einige geschlossene Türen, während sie erklärte: „Dort drin finden gesellige Abende statt, hier tagsüber Seminare speziell für Frauen und Senioren und abends Veranstaltungen, zum Beispiel zum Thema Homosexualität.“

Der letzte Raum stand offen. Ein junger Mann lehnte lässig an der Wand neben dem Eingang. Er gab gerade etwas Tabak auf ein Zigarettenpapier. Ben vermutete, dass er in seinem Alter war, womöglich etwas älter. Als ihre Blicke sich trafen, schaute Ben rasch weg. Sein Puls beschleunigte sich. Das Lächeln des Typs war umwerfend.

„Der Schwulentreff findet heut Abend statt“, sagte er.

Benjamins Stimme klang kratzig: „Ich arbeite nur hier.“

Der Kerl zuckte mit den Achseln. Mit der Zunge befeuchtete er auffällig langsam das Papier, während er Ben angrinste. „Ich hatt den Eindruck, dich interessiert das.“

Ben errötete. Er wollte etwas Cooles erwidern, das ihn von jeglichem Verdacht freisprach und den Kerl beeindruckte, aber ihm fiel nichts ein. Sein Kopf war leer. Statt schlagfertig zu sein, beobachtete er stumm, wie sein Gegenüber die Zigarette rollte. Für einen Mann hatte er schlanke Finger.

„Hier drinnen ist Rauchen verboten, Milan.“ Ramona Naujoks versuchte, ihm die Zigarette wegzunehmen, doch der Typ hielt sie so hoch, dass sie nicht herankam, und grinste. „Wie oft muss ich das noch sagen?“

„Ich roll mir doch nur eine und geh dann raus.“ Er schlurfte den Gang entlang in Richtung Ausgang und sagte über die Schulter hinweg zu Ben: „Um fünf Uhr fängt’s an. Ich werd da sein.“

Ramona Naujoks führte die Begehung fort, doch Ben hörte nicht mehr zu. Seit der Begegnung konnte er nur noch an Milan denken. Er war ein slawischer Typ mit dunklen welligen Haaren, die ihm über die Ohren wuchsen. Seine Brauen waren so buschig, dass Benjamin sich vorstellte, sie in Form zu zupfen. Ben spürte immer noch den Blick aus den großen braunen Augen auf sich. Herausfordernd. Wissend. Und dieser süße Akzent!

„Wird es dir schon zu viel?“ Abrupt hielt Ramona Naujoks an.

Ben wäre beinahe in sie hineingelaufen. „Wie bitte?“

„Du hast geseufzt.“ Auf dem Absatz drehte sich die Leiterin um.

„Das reicht erst einmal. Wir wollen dich ja nicht überfordern.“

Meinte sie das ehrlich oder ironisch? Ben wusste es nicht. Die Führung war jedenfalls vorbei. Er musste als Erstes in der kleinen Cafeteria aushelfen. Wenig begeistert wischte er Tische sauber, schenkte Kaffee aus und machte Small Talk mit Fremden. Das lag ihm nicht sonderlich. Seine Eltern hofften, dass das Praktikum seine Introvertiertheit abschliff, aber Ben selbst glaubte das nicht.

Der erste Arbeitstag zog sich wie Kaugummi. Als der Feierabend nachmittags kam, hatte er Milan keineswegs vergessen. Hatte er sich das nur eingebildet oder hatte der Typ wirklich mit ihm geflirtet?

Er war so anders als Roman Schäfer. Der verurteilte Sexualstraftäter war der Erste, dem sich Benjamin anvertraut hatte. Es hatte zwischen ihnen geprickelt. Unter anderen Umständen hätte Ben sogar mit ihm erste körperliche Erfahrungen gemacht. Doch dazu war es nicht mehr gekommen.

Milan dagegen hatte Bens Alter und hatte noch nicht im Knast gesessen, wie er aus dem Mitarbeiter in der Kantine herausgekitzelt hatte. Ob er schon sexuelle Kontakte gehabt hatte?

Ben schaute auf die Uhr. Es war kurz nach fünf. Betont unauffällig schlenderte er zu dem Raum, in dem sich Interessierte trafen, um über das Thema Homosexualität zu sprechen. Die Tür war geschlossen. Anscheinend hatte die Diskussionsrunde bereits angefangen.

Mist! Er kannte niemanden, mit dem er darüber reden konnte, zumindest keinen, der genauso gepolt war wie er. Klar, Marie und Daniel hatten immer ein offenes Ohr für ihn, aber sie konnten ihm keine Ratschläge geben und nicht ihre eigenen Erfahrungen mit ihm teilen.

Ein Teil von ihm verspürte jedoch auch Erleichterung. Womöglich hätte er nicht nur zuhören dürfen, sondern von sich erzählen müssen. Vor Milan. Er wäre im Boden versunken und hätte sich nicht getraut, am nächsten Tag wiederzukommen.

Er drehte sich um. Und lief geradewegs Milan in die Arme. Der junge Mann kam verstohlen aus einem Raum, in der sich die Verwaltung befand. Darin war es dunkel.

Rasch steckte er ein Handy in die Hosentasche und wickelte das Kabel um den Akku. „Der erste Tag im Praktikum und schon Überstunden?“

„Woher weißt du, dass ich Praktikant bin?“

„Hab mich über dich erkundigt.“

„Warum?“

„Warum nicht?“

Wäre sein T-Shirt nicht fleckig und der Saum der Jeans nicht ausgefranst und schmutzig, hätte man ihn glatt für das Mitglied einer Boyband halten können, dachte Ben. „Was hast du da drin gemacht?“

„Nichts.“

„Hast du das gestohlen?“

„Biste verrückt? Okay, ich sag’s dir. Aber verrat mich nicht.“ Milan trat so dicht an Ben heran, dass dieser seinen Geruch wahrnahm. Ben hätte niemals gedacht, dass latenter Schweißgeruch so sexy sein konnte. „Ich lad heimlich mein Handy da drin auf. Früher hab ich das in den Räumen gemacht. Als die Naujoks das sah, hat sie’s mir verboten. So sozial sind die auch wieder nicht.“

Milan schien sehr arm zu sein. Das rührte Ben. „Hat man euch zu Hause den Strom abgedreht?“

„Wir haben gar kein’.“

„Was? Wo wohnst du denn?“

„Auf der Müllhalde.“

„Du verarschst mich.“

„So nenn’ es die Freaks aus der Nachbarschaft.“ Milan lachte. „Manche sagen auch Scheißhaufen dazu.“

„Ich kapier das nicht.“

„Komm mit! Ich zeig’s dir.“

Ben zögerte. Das letzte Mal, als er einem Fremden – Roman Schäfer – gefolgt war, hatte ihn das beinahe das Leben gekostet.

7. KAPITEL

Acht Stunden zuvor

„Wir waren an einem höchst interessanten Fall dran“, nölte Leander. Er fuhr langsamer. Seine Lippen bewegten sich, weil er lautlos die Hausnummern mitzählte.

Auf dem Beifahrersitz verdrehte Daniel die Augen.

„Wir standen so kurz davor, ihn zu lösen.“ Leander führte Daumen und Zeigefinger so dicht zusammen, dass nur noch ein Blatt Papier dazwischenpasste.

„Ein schönes Märchen. In deiner Fantasie hast du bestimmt den entscheidenden Hinweis gegeben.“

„Nach dem Coup wären wir bestimmt vom Bürgermeister persönlich beglückwünscht worden.“

„Einen Handschlag kannst du auch von mir erhalten“, drohte Daniel spielerisch und deutete einen Klaps in den Nacken an. „Fleißkärtchen für die Personalakte gibt es bei der Kripo nicht.“

„Ich hätte mir Respekt verdienen können.“

„Was willst du eigentlich von mir? Immerhin lasse ich dich fahren. Das ist keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Privileg.“

Unmittelbar vor der Zieladresse fand Leander einen Parkplatz. Er stellte den Motor aus und drehte sich zu Daniel. „Du willst nicht wie ein Krüppel behandelt werden, also musst du auch nicht jede Möglichkeit nutzen, zu beweisen, wie tough du immer noch bist, und das bedeutet, mich auch mal ans Steuer zu lassen.“

Leander war eindeutig zurück. Das Kabbeln tat Daniel gut. Zufrieden lächelte er, denn er hatte sich durchgesetzt. Kommissar Menzel, Hospitant im KK 11, war der MK, die wegen des Mordes an dem Mann mit Downsyndrom ermittelte, zugeteilt worden.

„Dafür schuldest du mir was, du sturer Hund“, hatte EKHK Fuchs gezischt und ihm dann kumpelhaft auf die Schulter geklopft.

Sogar dieser bittere Geschmack, der Daniel seit dem Frühstück auf der Zunge gelegen hatte, war verschwunden. Daniel hatte sich nur dazu durchgerungen, Maries Müsli mit diesen sauren Beeren zu probieren, weil er um Frieden bemüht war. Streit hatten sie nicht gehabt.

Aber ihr Lächeln war verkrampft gewesen, sie sah ihm nicht in die Augen und bot ihm ständig etwas an, das er verabscheute, wie Cranberrys und einem grünen Smoothie aus Banane, Mango, Apfelsaft und Spinat. Sein Magen rumorte immer noch davon. Und etwas rumorte in Marie.

Daniel hatte keinen blassen Schimmer, was in ihr vorging. Ihre Ehe verlief doch so harmonisch in letzter Zeit. Verstehe einer die Frauen!

Gerade in diesem Moment brachte sie Benjamin zu seinem Praktikumsplatz. Das erinnerte Daniel daran, sich noch einmal bei Lioba Zur zu bedanken.

„Hach“, riss Leander ihn aus den Grübeleien und stieg aus. „Und die Kollegen waren nett.“

„Wenn du nicht aufhörst, schicke ich dich zurück“, sagte Daniel laut, damit er ihn bis draußen hörte.

Leander öffnete die Beifahrertür, stützte sich mit einer Hand auf dem Autodach ab und beugte sich herunter: „Wer soll denn sonst mit dir zusammenarbeiten? Die meisten Kollegen ertragen deine spitze Zunge nicht.“

„Und du meinst, du bist mir gewachsen?“

„Ich kann deine Schroffheit jedenfalls übersetzen. Dein Verhalten jetzt zum Beispiel heißt: Gott, bin ich froh, dass du wieder bei mir bist.“

„Lass Gott aus dem Spiel“, murmelte Daniel, mit dem Rest hatte Leander recht.

Er konnte nicht verhindern, dass der Hospitant den Rollstuhl hinter dem Sitz herausholte und aufklappte. Murrend schwang sich Daniel hinein. „Spiel nicht den Pfleger.“

„Das ist nichts anderes, als wenn man seinem Kollegen mal die Tür aufhält. Mach kein Drama daraus.“ Plötzlich wurde Leander ernst. Bange schaute er zu dem Haus hinüber, das sie gleich zum Einstürzen bringen würden, zumindest im übertragenen Sinne. „Kannst du das bitte übernehmen?“

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