Baccara Exklusiv Band 122

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DAS VERLANGEN, DICH ZU KÜSSEN von HINGLE, METSY
Nach einem Raubüberfall leidet Matts Frau Claire unter einer Amnesie. Matt ist besorgt: Claire kann sich an nichts mehr erinnern - auch nicht daran, dass es heftig in ihrer Ehe kriselt! Kann der Unternehmer Claires Vertrauen zurückgewinnen und ihre Liebe retten?

ICH HABE AUF DICH GEWARTET, DARLING von SULLIVAN, MAXINE
Fünf Jahre nachdem Gabi ihre Jugendliebe Damien verlassen hat, steht er plötzlich bei ihr im Büro. Gabi ist verwirrt, denn noch immer lässt Damien ihr Herz höher schlagen. Plötzlich ist alles wieder präsent - auch ihr trauriges Geheimnis, das sie seit damals hütet …

DEINE LIPPEN, DEINE KÜSSE ... UNWIDERSTEHLICH von JAMESON, BRONWYN
Als Kim ihren Exmann wiedersieht, knistert es heftig. Zögernd geht Kim auf Rics Flirtversuche ein - obwohl er sie damals nur wegen ihres Vermögens geheiratet hat. Aber solange ihr Herz nicht auf dem Spiel steht, ist eine Affäre für Kim okay!


  • Erscheinungstag 14.11.2014
  • Bandnummer 0122
  • ISBN / Artikelnummer 9783733721756
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Metsy Hingle, Maxine Sullivan, Bronwyn Jameson

BACCARA EXKLUSIV BAND 122

METSY HINGLE

Das Verlangen, dich zu küssen

Claire ist entsetzt! Wer ist der Fremde, der neben ihrem Krankenbett sitzt und behauptet, ihr Ehemann zu sein? Wegen eines Überfalls leidet Claire an Gedächtnisverlust und kann sich nicht an Matt erinnern. Trotzdem weckt der attraktive Unternehmer leidenschaftliche Gefühle in ihr! Sagt er die Wahrheit? Claire beschließt, der Sache auf den Grund zu gehen …

MAXINE SULLIVAN

Ich habe auf dich gewartet, Darling

„Heirate mich!“ Damien kann es kaum fassen. Hat er Gabi gerade einen Antrag gemacht? Und das, obwohl sie ihn fünf Jahre zuvor einfach sitzen ließ? Ihr Verrat von damals schmerzt noch immer – trotzdem fühlt er sich zu ihr hingezogen! Und so schlägt er Gabi einen Deal vor: Wenn sie in die Ehe einwilligt, rettet er die Firma ihres Vaters. Wird Gabi Ja sagen?

BRONWYN JAMESON

Deine Lippen, deine Küsse … unwiderstehlich

Der hat vielleicht Nerven! Was soll Kim von den Avancen ihres Exmannes halten? Schließlich hat sie Ric vor Jahren verlassen, weil er aus purer Berechnung mit ihr vor den Traualtar getreten ist. Hat er es erneut auf das Diamantenimperium ihrer Familie abgesehen? Kim ist ratlos, denn trotz allem übt Ric noch immer eine unglaubliche Faszination auf sie aus!

PROLOG

„Nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, Officer, hat niemand nach dem Kind gefragt.“

Das kleine Mädchen, um das es ging, saß mucksmäuschenstill im Büro des von Nonnen geführten Waisenhauses Saint Anne, aber es spähte vorsichtig in Richtung des Flurs, wo sich Schwester Mary Patrick mit gesenkter Stimme mit jemandem unterhielt.

„Ich verstehe es nicht, Schwester.“

Das Kind kannte den Polizisten, denn er war es gewesen, der es im Beichtstuhl der Kirche gefunden hat, in der es sich versteckt hatte. Die Kleine verspürte plötzlich ein Kribbeln im Bauch. Vielleicht erzählte er der Nonne gerade, dass sie nicht mehr hier bleiben müsse. Dass ihre Mom gekommen sei, wie sie es ihr versprochen hatte.

„Es ist nun schon eine Woche seit dem Hurrikan vergangen“, fuhr der Polizist fort. „Wir haben Fotos von der Kleinen in allen Zeitungen und örtlichen Fernsehsendern im Großraum New Orleans veröffentlicht, aber bislang hat sich niemand gemeldet. Keiner hat sich nach ihr erkundigt, und es gibt nicht mal eine Vermisstenanzeige, die auf sie zutrifft. Ich verstehe das einfach nicht.“

„Das versteht man nie“, bemerkte die Nonne.

„Sie ist doch höchstens drei Jahre alt. Sie muss doch zu irgendjemandem gehören. Warum kommt dann niemand?“

Sie gehörte ja zu jemanden. Zu ihrer Mom. Und ihre Mom würde sie abholen. Sie war immer wieder zu ihr zurückgekehrt.

Schwester Mary Patrick blickte kurz zu ihr herüber, und sie hielt die Luft an. Sie bemühte sich, so still zu sein, wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte, und sich nicht zu rühren.

Die Nonne wandte sich wieder dem Polizisten zu. „Ich befürchte, dass wir diese Antwort niemals erhalten werden. Sie redet immer noch nicht. Sie sagt uns nicht, wie sie heißt oder wer ihre Mutter ist, falls sie das überhaupt weiß.“

„Meinen Sie, dass sie vielleicht geistig behindert ist?“

„Der Arzt ist nicht dieser Meinung. Sie versteht ganz offensichtlich, was wir zu ihr sagen, denn sie macht alles, was wir von ihr verlangen. Aber aus irgendeinem Grund weigert sie sich, zu sprechen. Der Arzt glaubt, dass sie ein Trauma erlitten hat. Den Blutergüssen nach zu urteilen, ist sie misshandelt worden.“

Der Gesichtsausdruck des Polizisten verdüsterte sich, und plötzlich erinnerte er die Kleine an Carl. Sofort kehrte die alte Angst zurück, und sie verspürte den Drang, wegzulaufen und sich zu verstecken. Stattdessen drückte sie ihren Teddy noch fester an sich. Sie musste ein braves Mädchen sein und hier bleiben und warten. Das hatte sie versprochen.

„Versprich mir, ein braves Mädchen zu sein und sei ganz leise. Ich muss sich noch um eine Sache kümmern, damit Carl uns nicht finden kann. Dann hol ich dich ab.“

Es donnerte draußen, und sie zog am Rock ihrer Mutter. „Mommy, lass mich nicht allein! Ich hab Angst. Der Himmel ist böse auf mich.“

„Der Himmel ist doch nicht auf mein kleines Mädchen böse. Das ist doch nur ein Unwetter, Süße. Es ist bald vorbei. Okay?“

„Na gut.“ Sie wischte sich die Tränen von der Wange. Ihre Wange schmerzte noch von Carls Schlägen am Morgen.

„Du bist hier sicher, bis ich wieder zurückkomme. Aber denk daran, dass du kein Wort sagst, wenn dich irgendjemand findet. Sei einfach ein braves Mädchen und mach, was ich dir gesagt habe. Du musst keine Angst haben. Ich werde bald zurück sein.“

„Was wird jetzt mit ihr geschehen?“, fragte der Polizist.

„Wir haben ein Abkommen mit dem Staat, sodass sie erst einmal in Saint Anne bleiben kann.“

„Sie meinen, bis sie jemand adoptiert?“

Die Nonne sah ihn traurig an. „Natürlich hoffen wir, dass alle unsere Kinder eine neue Familie finden. Aber die meisten Paare wünschen sich einen Säugling. Ich fürchte, dass sie vielen schon zu alt sein wird. Und dass sie sich weigert zu reden und misshandelt worden ist, macht die Sache nicht leichter. Aber mit etwas Glück und Gottes Hilfe werden wir vielleicht eine nette Pflege­familie für sie finden.“

Die Schwester irrte sich. Sie brauchte doch keine Pflegefamilie. Ihre Mom würde sie abholen, so wie sie es versprochen hatte.

„Sie ist noch so klein“, bemerkte der Polizist. „Es ist einfach nicht fair.“

„Nein, das ist es nicht. Aber es ist auch nicht fair, dass ein so kleines Mädchen schon so alt wirkende Augen hat. Leider ist das bei den meisten Kindern so, die zu uns kommen.“ Die Nonne berührte ihn am Arm. „Möchten Sie ihr gern Guten Tag sagen?“

„Natürlich.“

Die Nonne führte ihn in den Raum, in dem das Kind saß. „Claire, erinnerst du dich an Officer Jamison? Er ist der nette Polizist, der dich zu uns gebracht hat. Er möchte sehen, wie es dir geht.“

„Claire?“, fragte der Polizist, und ging vor dem Kind in die Hocke.

„Die anderen Schwestern und ich finden, dass jedes Kind einen richtigen Namen haben sollte“, erklärte die Nonne. „Und da sie während des Hurrikans Claire gefunden wurde, dachten wir, dass der Name gut zu ihr passen würde. Also werden wir sie so lange Claire nennen, bis sie uns ihren richtigen Namen verrät.“

1. KAPITEL

25 Jahre später

„Wo ist meine Frau?“

Die Stimme des Mannes klang so scharf, dass die Frau schlagartig die Augen aufriss. Sie fuhr im Bett hoch, und im nächsten Moment glaubte sie, der Kopf würde ihr zerspringen. Sie stöhnte auf und wollte sich mit zittriger Hand den Kopf halten. Erschrocken stellte sie fest, dass er bandagiert war.

„Verdammt noch mal, ich will sofort zu meiner Frau!“

Sie konnte diese befehlende, ungeduldige Stimme selbst durch ihre unerträglichen Kopfschmerzen hindurch wahrnehmen und schaute unwillkürlich in ihre Richtung. Die Tür war nur angelehnt; eine Tür, die die Frau glaubte, noch nie gesehen zu haben. Genauso wenig wie den braun-weiß gefliesten Boden.

Wo, um alles in der Welt, war sie bloß?

Als sie ihre Hand in den Schoß legte, spürte sie das Plastikband an ihrem Handgelenk. Claire Gallagher stand darauf. Eigentlich sollte sie den Namen kennen, aber das tat sie nicht, und sie spürte, dass sich ihr Magen zusammenzog. Aufgeregt trat sie die Bettdecke zurück, doch sofort durchzuckte ein scharfer Schmerz ihren linken Fußknöchel. Instinktiv wollte sie nach ihrem Knöchel greifen, merkte aber, dass etwas ihren Arm zurückhielt.

Ganz vorsichtig drehte sie sich um und stellte erschrocken fest, dass sie an einem Tropf hing. Der Schlauch endete an einer Nadel, die in ihrer Hand steckte und mit Pflaster gesichert war. Das dumpfe Gefühl in ihrem Magen nahm zu, ihr wurde übel. Schnell presste sie ihre freie Hand auf den Mund. Während sie sich bemühte, ruhig und regelmäßig zu atmen, konzentrierte sie sich auf einen festen Punkt. Bestimmt gab es eine ganz einfache Erklärung für all das. Es musste eine geben. Sie musste nur in Ruhe nachdenken.

Erst einmal nahm sie die Einrichtung des Raumes in Augenschein, das schmale Bett, in dem sie lag, mit seinen sterilen weißen Laken und der kakifarbenen Decke. Obwohl sie das Gefühl hatte, ihre Kehle wäre wie zugeschnürt, schaute sie sich weiter um. In einer Ecke standen zwei Plastikstühle, an der einen Wand war ein metallener Tisch, auf dem ein Wasserkrug aus Plastik und eine Tasse standen. Die Vorhänge des Fensters waren von einem hellen Beige.

Selbst wenn sie nicht am Tropf gehangen hätte, war es eindeutig, dass sie sich in einem Krankenhaus befand. Doch diese Erkenntnis beruhigte sie keineswegs. Sie ließ sich auf das Bett zurückfallen und versuchte, sich zu erinnern, was bei den starken Schmerzen im Knöchel und im Kopf nicht leicht war. Sie fühlte sich wie zerschlagen.

Was war nur geschehen? Hatte sie einen Unfall gehabt? Wann? Wo?

Sie schloss die Augen und tastete über den Verband an ihrem Kopf. Wie und warum war sie in ein Krankenhaus eingeliefert worden?

Aber mit ihren Kopfschmerzen und dem Gezeter vor ihrer Tür war es ihr unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Außerdem waren ihre Erinnerungen verschwommen. Sie erinnerte sich nur undeutlich an einen Mann in einem weißen Mantel, der seine Hand vor ihren Augen bewegte, während er mit einer Taschenlampe in ihr Gesicht leuchtete und sie fragte, wie viele Finger er hochhielt.

„Entweder führen Sie mich jetzt zu meiner Frau, oder ich werde sie suchen gehen.“

Sie drückte mit den Fingern auf den Punkt zwischen ihren Augenbrauen und fragte sich, wieso diese Stimme sie so beschäftigte. Kannte sie den Mann vielleicht? Irgendetwas an dieser Stimme rief etwas in ihr wach. Doch sosehr sie sich auch anstrengte, es wollte ihr nicht einfallen. Das Einzige, das bei ihrem angestrengten Nachdenken herauskam, war, dass ihre Kopfschmerzen noch schlimmer wurden.

„Sie können wieder an Ihre Arbeit gehen, Schwester Galloway. Ich kümmere mich darum.“

Als Claire den Kopf hob, stöhnte sie vor Schmerz auf. Sie hatte die Stimme des zweiten Mannes erkannt. Es war die Stimme des Arztes, der ihr seine Finger vorgehalten hatte.

„Reiß dich zusammen, Matt. Es nützt doch nichts, wenn du dich aufregst.“

„Ach ja? Ich schwöre dir, wenn ich meine Frau nicht innerhalb der nächsten zehn Minuten zu sehen kriege, mache ich einen richtigen Aufstand.“

Für Claire hörte sich das an, als könnte er diese Drohung auch wahr machen.

„Weißt du was, Kumpel, ich hätte dir nicht einmal mitteilen müssen, dass sie hier ist. Als sie eingeliefert wurde, war sie fast bewusstlos und hatte keinen Ausweis bei sich. Es war reines Glück, dass ich gerade Dienst hatte und sie erkannt habe. Wenn ich an eure momentane Situation denke, kann es gut sein, dass ich gegen eine Datenschutzvorschrift des Hauses verstoßen habe, als ich dich anrief. Benimm dich also nicht so, dass ich es bereue, dich angerufen zu haben, Matt.“

„Ach, verdammt, Jeff. Es tut mir leid. Aber als du gesagt hast, dass sie verletzt wurde und der Typ eine Kanone hatte, bin ich einfach etwas durchgedreht.“

„Etwas?“

„Na gut, völlig durchgedreht. Ich hatte nur solche Angst …“ Ihm versagte die Stimme. „Himmel und Hölle, das ist jetzt auch egal. So wie die Sache in der letzten Zeit zwischen uns gelaufen ist, kann es gut sein, dass sie mich überhaupt nicht sehen will. Aber ich muss sie sehen, Jeff! Ich muss mich selbst davon überzeugen, dass sie in Ordnung ist.“

„Nimm es nicht so schwer, Mann. Ich werde dich nicht daran hindern. Aber seit sie hier eingeliefert wurde, ist sie immer wieder ohnmächtig geworden. Ich möchte nur kurz nachschauen, ob sie im Moment bei Bewusstsein ist, bevor ich dich zu ihr lasse.“

„Moment, Jeff! Sag mir bitte erst, auf was ich mich vorbereiten muss. Sag mir bitte die Wahrheit. Wie schlecht steht es um sie? Wird sie durchkommen?“

Der arme Kerl, dachte Claire, als sie die Angst in seiner Stimme hörte. Dann drehte sie ihren Kopf weg von der Tür. Wie kam sie dazu, einen Mann zu belauschen, der krank war vor Sorge um seine Frau? Außerdem hatte sie ja selbst genug Probleme. Zum Beispiel, wieso sie hier war und warum sie sich an nichts erinnern konnte.

„Verdammt, ich könnte mich selbst ohrfeigen! Tut mir leid, Matt. Ich habe gar nicht begriffen, dass du annehmen musstest, sie sei wirklich lebensgefährlich verletzt. So schlimm ist es nicht.“

„Aber du hast doch gesagt, dass der Räuber eine Pistole benutzt hat.“

„Hat er auch. Die Zeugin sagte aus, dass er ihr damit auf den Kopf geschlagen hat.“

Sie fand die Geschichte da draußen einfach zu spannend, um nicht doch weiter zuzuhören.

„Der Schlag auf den Kopf ist die schwerste ihrer Verletzungen. Wir mussten die Wunde mit zwölf Stichen nähen, und sie wird bestimmt grässliche Kopfschmerzen haben. Außerdem hat sie ein verstauchtes Fußgelenk und ein paar hässliche Hautabschürfungen, weil der Kerl sie vom Bürgersteig weggeschleift hat. Aber das ist nicht weiter schlimm, und ihre Kopfwunde wird wahrscheinlich heilen, ohne eine Narbe zurückzulassen.“

„Aber du hast etwas von Komplikationen gesagt.“

„Ich habe gesagt, dass es vielleicht zu Komplikationen kommen kann. Immerhin hat sie einen bösen Schlag auf den Kopf bekommen, Matt. Und bei Kopfverletzungen weiß man nie.“

Der Rest des Gesprächs ging in einer Lautsprecherdurchsage unter.

Auch gut, dachte Claire und seufzte. Sie hatte sich gehörig konzentrieren müssen, um der Unterhaltung zu folgen. Das hatte sie viel Kraft gekostet, und jetzt war sie unbeschreiblich müde. Die Augenlider fielen ihr zu, als ob sie aus Blei wären, und so ergab sie sich dem Schlaf.

Doch kaum war sie eingeschlafen, da drohten düstere Gewitterwolken sie zu verschlingen. Es war, als ob sie unbarmherzig zu einem dunklen Abgrund hingezogen werden würde. Sie lief. Sie nahm einen Wirrwarr aus Gesichtern und Stimmen wahr und verspürte den Impuls zu fliehen. Jemand verfolgte sie. Angst stieg in ihr auf, und sie rannte weiter. Versteck dich, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf. Sie schmeckte das Salz ihrer Tränen, hörte ein fernes Wimmern und rannte und rannte.

„Bleib nicht stehen! Lauf! Versteck dich!“

Die Stimme trieb sie immer weiter, und Claire rannte durch die Dunkelheit. Sie stürzte und rappelte sich wieder auf. Sie lief noch schneller, und achtete weder auf ihre brennenden Lungen noch auf ihre Seitenstiche. Bevor sie dann in befreiende Bewusstlosigkeit fiel, glaubte sie noch, eine raue Stimme zu hören. Und dieses Mal rief sie ihren Namen.

„Claire? Claire, kannst du mich hören?“

Sie fühlte einen schrecklich stechenden Schmerz im Kopf, während sie sich wie durch einen Nebel der Stimme bewusst zu werden versuchte, und stöhnte gequält.

„Pst. Alles ist gut.“ Sie spürte den warmen Hauch seines Atems auf der Haut. Kräftige, warme Finger streichelten ihre Wange, und instinktiv schob Claire ihren Kopf ein wenig näher zu der angenehm warmen Hand. „Das ist mein Mädchen. Versuch, aufzuwachen, Liebling. Bitte lass mich in deine schönen braunen Augen sehen.“

Sie kämpfte gegen die stechenden Kopfschmerzen an, wollte mehr von diesen wohltuenden Berührungen, wollte endlich das Gesicht sehen, das zu der Stimme gehörte, die sie aus ihrem bösen Traum geholt hatte. Als es ihr schließlich gelang, die Augen zu öffnen, fielen ihr sofort zwei Dinge auf. Das Gesicht des Mannes war genauso einnehmend wie seine Stimme – er hatte etwas von Cary Grant, mit seiner stattlichen Erscheinung, dem pechschwarzen Haar, den ausgeprägten Wangenknochen, dem kantigem Kinn und den grauen Augen. Und sie hatte keine Ahnung, wer er war.

Er sah sie auf eine so durchdringende Art und Weise an, die ihr unangemessen intim erschien. „Willkommen zurück.“ Seine Stimme war voller Gefühl und sandte ihr einen wohligen Schauer über die Haut.

„Danke“, murmelte sie und versuchte, seinem Gesicht einen Namen zuzuordnen.

„Geht es dir wieder besser? Ich kann auch den Arzt rufen.“

„Nein.“ Sie brauchte einige Zeit, um sich wieder zurechtzufinden. Sie war in einem Krankenhaus und hieß … Claire. So stand es jedenfalls auf dem Plastikband an ihrem Handgelenk. Claire Gallagher. Und dieser stattliche Mann, der sie jetzt so ängstlich ansah, war … Sie durchforstete ihr Gedächtnis, fand aber keine Erinnerungen. Beunruhigt wollte sie sich aufsetzen, was ihre Kopfschmerzen sofort verschlimmerte, und auch ihr Knöchel tat nun wieder weh.

„Immer mit der Ruhe. Hast du Kopfschmerzen?“

Sie nickte, eine Bewegung, die sie erneut aufstöhnen ließ.

„Ich rufe den Arzt, damit er dir etwas gegen die Schmerzen gibt.“

„Nein. Warte bitte. Das war nur ein kleiner Stich. Es geht mir gut.“ Außerdem wollte sie nichts einnehmen, was ihre Benommenheit nur noch steigern würde.

„Bist du dir sicher?“

„Ja. Es geht mir gut. Ehrlich.“

„Es freut mich zu hören, dass es wenigstens einem von uns gut geht.“ Er grinste sie unsicher an. „Ich bin vor Sorge fast umgekommen, als Jeff mich anrief und mir erzählte, dass du verletzt worden seist.“ Er fuhr ihr mit der Hand durchs Haar.

Irritiert runzelte sie die Stirn.

Er grinste verlegen. „Das war wohl ein Reflex. Aber wie gesagt, habe ich mir große Sorgen gemacht. Es würde mich nicht überraschen, wenn meine Haare durch den Schreck weiß geworden wären.“

Soweit sie das feststellen konnte, war es nicht weiß geworden. Es war nach wie vor pechschwarz und lockte sich an den Spitzen leicht. Irgendwie kam er ihr bekannt vor. Aber wieso konnte sie sich dann nicht an ihn erinnern?

„Ich hatte solche Angst, dich zu verlieren.“ Seine Stimme klang rau; jeder Humor schien ihm vergangen zu sein. Er schloss für eine Sekunde die Augen. „Als Jeff mich anrief und sagte, dass du eingeliefert worden seist … Ich hatte solche Angst …“

„Das musst du nicht.“ Der gequälte Ton seiner Stimme berührte sie so, dass sie über seine geballte Faust strich. „Mir geht es gut.“

Matt zuckte zusammen, und in seinen stahlgrauen Augen blitzte etwas Wildes auf. Doch bevor sie ihre Hand zurückziehen konnte, umfasste er ihre Finger. „Ich weiß. Es war nur …“ Er atmete hörbar aus. Sein Gesichtsausdruck war angespannt, er schien einen inneren Kampf auszufechten. „Es tut mir leid. Ich weiß ja, wie sehr du es hasst, wenn ich dich bedränge. Aber nach dem Anruf letzte Nacht, als ich annehmen musste, du seist …“ Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Ich schätze, dass du dies meinem Sündenregister als eine weitere Einmischung hinzufügen kannst. Aber, so wahr mir Gott helfe, das musste ich tun.“

Im nächsten Moment und völlig unvermittelt spürte sie seinen Mund auf ihren Lippen. Er küsste sie so sanft und zärtlich, dass sie ihn nicht zurückstieß, sondern die Hände auf seine Brust legte. Sie konnte seine kräftigen Muskeln fühlen und merkte, dass ein Feuer in ihm schwelte, das er nur schwer kontrollieren konnte. Doch sein Kuss war sanft. Es berührte etwas in ihr, und sie erwiderte ihn.

Daraufhin zog er sich zurück und starrte sie an. Offenbar habe ich einen Fehler begangen, dachte Claire, doch da beugte er sich schon wieder über sie und suchte erneut ihren Mund. Diesmal war sein Kuss hungrig und fordernd, und er brachte ihr Blut zum Kochen und ihren Puls zum Rasen. Verlangen durchströmte sie, sie hatte das Gefühl, dahinzuschmelzen, und impulsiv drückte sie sich fester an ihn.

Er stöhnte auf, und dieses Geräusch brachte sie wieder zu sich. Über ihr eigenes Tun entsetzt, öffnete sie die Augen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie kannte diesen Mann doch überhaupt nicht, wusste nicht einmal seinen Namen. Erschrocken stieß sie ihn von sich. „Wer, wer sind Sie?“, fragte sie aufgebracht, und ihre Stimme zitterte. Ein Zittern, das nicht von Angst herrührte.

Er schaute sie fest an, aber in seinen Augen flackerte noch Begierde. Plötzlich erinnerte er sie an einen Wolf, der seiner Beute auf der Spur war. Wer immer dieser Mann war, er hatte etwas Gefährliches. Sie empfand ihn nicht als körperliche Bedrohung, spürte aber, dass er ihr auf eine tiefer gehende Weise sehr wohl gefährlich werden konnte.

Die Stille machte sie nervös. „Ich habe Sie gefragt, wer Sie sind.“

Er nannte ihr knapp seinen Namen.

„Matt“, wiederholte sie, um seinen Namen selbst auszusprechen und sich so vielleicht an ihn zu erinnern. Aber der Name löste nichts bei ihr aus, und sie musste hart schlucken. Sie schloss die Augen und massierte mit den Fingerspitzen ihre Schläfen. Dabei ließ sie seinen Namen, sein Gesicht und sogar den Kuss in Gedanken Revue passieren.

Nichts. Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, diesen Mann überhaupt zu kennen. Es war, als wäre ihr Leben ein Buch mit lauter leeren Seiten. Angst stieg in ihr hoch. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie, dass Matt sie aufmerksam beobachtete und ihr Verhalten abzuschätzen schien. Irgendwie verunsicherte er sie damit nur noch mehr.

„Kennen wir uns?“, brach es aus ihr hervor, obwohl ihr die Frage peinlich war. Natürlich musste sie ihn kennen, wieso würde er sie sonst im Krankenhaus besuchen? Und wieso hätte er ihr sonst so zärtlich geküsst?

„Ja. Man könnte durchaus sagen, dass wir uns kennen“, antwortete er stirnrunzelnd, und ein harter Zug war um seinen Mund. „Immerhin bin ich dein Ehemann.“

„Mein Ehemann?“

Matt biss die Zähne zusammen, weil Claire schneeweiß geworden war. Es war, als ob man ihm in den Bauch geboxt hätte. Als sie ihn vor wenigen Minuten geküsst hatte, hatte er noch gedacht, hatte er gehofft, dass sie ihn doch noch lieben würde und ihm vergeben hätte.

Jetzt war er enttäuscht und verzweifelt. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen, um Claire nicht noch einmal unbedacht zu berühren. Was war er doch für ein Narr gewesen. Denn nur ein Narr hatte annehmen können, dass der Überfall irgendetwas an dem unglücklichen Stand ihrer Beziehung geändert hatte und ihn die sechs unglücklichen Monate, seit sie ihn verlassen hatte, vergessen machen würde.

Doch während er sie betrachtete, wie sie so schreckensbleich dalag, musste er sich wegen seiner Unaufmerksamkeit tadeln. Jeff hatte ihn doch gewarnt, dass Kopfverletzungen unabsehbare Folgen haben konnten. Offenbar hatte der Schlag auf dem Kopf bei ihr doch mehr bewirkt als eine momentane Orientierungslosigkeit.

Wieso hatte er nicht auf Jeff gehört und war die Sache langsam angegangen? Aber er hatte sich in Selbstvorwürfe, sie nicht beschützt zu haben, geflüchtet. Und als sie die Augen geöffnet hatte, war er einfach zu glücklich gewesen, um noch vernünftig denken zu können.

Als sie ihn dann auch noch berührt hatte, war es um ihn geschehen gewesen. Zu lange hatte er sie auf ihre Nähe verzichten müssen und ihre sanfte Stimme nicht mehr gehört. Ihre Berührung war für ihn so etwas wie der Rettungsring für einen Ertrinkenden gewesen, und er hatte sie einfach küssen müssen. Es war ihm so wichtig gewesen, wie zu atmen. An ihre Bedürfnisse hatte er in dem Moment überhaupt nicht gedacht. Wie selbstsüchtig von ihm.

„Wir sind verheiratet?“

Ihre Frage riss ihn aus seinen trüben Gedanken. „Ja“, antwortete er bedächtig. Man musste kein Arzt sein, um festzustellen, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich zu erinnern. Allerdings wusste er nicht, wie groß ihre Erinnerungslücke war. Aber wenn sie sich nicht mehr daran erinnerte, dass sie verheiratet waren, dann wusste sie vielleicht auch nicht mehr, dass sie sich von ihm getrennt hatte. Sollte er es ihr erzählen? Denn obwohl sie jetzt verwirrt wirkte, so hatte sie seinen Kuss doch mit Verlangen erwidert. Deshalb beschloss er, auch wenn das wieder egoistisch war, ihr vorerst nichts von ihrer Trennung zu sagen. Lieber nahm er ihre Verwirrtheit in Kauf, als sich der kühlen Distanziertheit auszusetzen, mit der sie ihn in den letzten sechs Monaten behandelt hatte.

„Tut mir leid“, sagte sie mit dünner Stimme und rieb die Stelle zwischen ihren Augenbrauen. „Aber das ist alles etwas verwirrend. Ich habe einige Probleme, mich an gewisse Sachen zu erinnern.“

„Das geht schon in Ordnung.“ Er fühlte sich unwohl, weil sie sich bei ihm entschuldigte, wobei es doch an ihm gewesen wäre, das zu tun. Aber Claire war immer schnell bereit gewesen, die Verantwortung zu übernehmen, wenn die Dinge sich einmal falsch entwickelten. Dabei war es niemals ihre Schuld gewesen. Die Schuld hatte jene gewissenlose Frau, die ein verstörtes kleines Mädchen vor fünfundzwanzig Jahren während eines Hurrikans im Stich gelassen hatte. Schuld hatte diese herzlose Pflegefamilie, die sie wieder verstoßen hatte. Schuld hatte die staatliche Fürsorge, die dem kleinen Mädchen nicht richtig hatte helfen können. Und Schuld hatte er, der niemals begriffen hatte, wie wenig Selbstvertrauen Claire in Wahrheit besaß. Er hatte einfach nicht vorausgesehen, dass die Nachforschungen, die er hatte anstellen lassen, ihr keine Antworten geben, sondern lediglich alte Wunden aufreißen würden. In ihren Augen bewies dies nur, dass er mit ihr als Frau unzufrieden war, und somit war er nur ein weiterer Mensch in ihrem Leben, der sie zurückwies, obwohl sie ihm ihr Herz geschenkt hatte.

„Ich bin mir sicher, dass mir gleich alles wieder einfallen wird. Ich meine, eine Frau wird doch nicht einfach ihren Mann vergessen.“ Claire versuchte, unbekümmert zu klingen, aber ihr besorgter Gesichtsausdruck strafte ihre Worte Lügen.

Matt schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Ich glaube, dass es ein verzeihliches Vergehen ist, seinen Mann zu vergessen, wenn die Frau eine Gehirnerschütterung hat und eine riesige Platzwunde am Kopf, die genäht werden musste.“

Automatisch fasste sie an den Verband. „Die Wunde musste genäht werden?“

„Mit zwölf Stichen, laut Jeff.“

„Jeff?“

„Jeff Peterson, besser gesagt, Dr. Jeff Peterson. Er war der behandelnde Arzt, als du gestern Nacht in die Notaufnahme eingeliefert wurdest. Außerdem ist er ein alter Freund.“

Mit einem Finger gegen ihre Nasenspitze tippend, versuchte Claire, diese Information unterzubringen. „Ich glaube, ich erinnere mich an ihn. Aber alles ist noch so verschwommen. Was ist denn eigentlich geschehen? Woher kommt meine Kopfverletzung?“

Matt zögerte, denn er war sich nicht sicher, ob Claire schon so weit war, die Wahrheit zu verkraften. „Vielleicht sollte ich lieber Jeff hinzubitten, damit er dir das erklärt.“

„Nein.“ Sie hielt Matts Hand fest, als er hinausgehen wollte. „Ich möchte, dass du es mir erzählst.“

Matt blieb wie angewurzelt stehen. Die Berührung ihrer Hand rief Erinnerungen in ihm wach. Sehr lebendige Erinnerungen daran, wie sie ihn voller Verlangen mit ihren zarten Fingern gestreichelt hatte.

„Matt?“

Er riss sich mit aller Gewalt von diesen schmerzlich erotischen Gedanken los. „Du wurdest überfallen“, begann er zu erklären, und sofort erfasste ihn weder eine mörderische Wut auf den Kerl, der ihr das angetan hatte. Er schwor sich, ihn aufzuspüren, egal, wie lange das dauern würde. Und dann würde er ihn bezahlen lassen.

„Überfallen“, wiederholte sie.

Erneut wurde Claire blass. Matt ärgerte sich über sich selbst, weil er so direkt gewesen war. „Beruhige dich, du bist jetzt in Sicherheit.“

„Es erschreckt mich nur, dass ich mich überhaupt nicht daran erinnern kann“, erklärte sie und atmete ein paar Mal tief durch. „Was ist geschehen?“ Als Matt nicht antwortete, fügte sie flehend hinzu: „Bitte, Matt, sag es mir. Ich muss es wissen.“

„Man hat dich mit einer Pistole niedergeschlagen“, erwiderte er schließlich. „Es gibt eine Zeugin, die alles beobachtet hat. Sie hat ausgesagt, dass der Kerl dich mit dem Pistolengriff niedergeschlagen und dich dann vom Bürgersteig weggeschleift hat. Dabei hast du dir die Hautabschürfungen geholt.“

Obwohl es kaum möglich schien, wurde Claire noch blasser. „Hat er mich, ich meine, wurde ich …?“

„Nein“, versicherte er ihr hastig. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, hob er ihr Kinn und blickte ihr in die Augen. Es schmerzte ihn, die Angst und Scham darin zu sehen. Allein dafür könnte er diesen Kerl umbringen. „Er hat dich nicht angefasst. Jedenfalls nicht auf eine unwürdige Weise. Der Dreckskerl hat deine Geldbörse gestohlen. Sonst hat er dich nicht angerührt. Wirklich nicht.“

Ihre Lippen zitterten leicht. „Ich … Danke.“

Erneut regte sich Matts Schuldbewusstsein. Verdammt noch mal, sie war seine Frau. Er liebte sie, und er hatte sie zu beschützen. Doch nicht nur, dass er das nicht getan hatte, er hatte sie auch noch in ihrem Selbstwertgefühl verletzt. Wenn er die Zeit doch bloß zurückdrehen könnte. Wenn er doch alles wieder in Ordnung bringen könnte.

„Ich kann mich nicht daran erinnern“, murmelte sie.

„Nur zu verständlich. Immerhin hast du eine ziemlich schwere Kopfverletzung. Es kommt sogar vor, dass man schon nach einem leichten Schlag vergisst, wie es dazu kam.“

„Du verstehst mich nicht“, entgegnete sie. „Ich kann mich an nichts erinnern. Nicht an dich, nicht an den Überfall. An überhaupt nichts!“

„Beruhige dich. Wahrscheinlich leidest du unter zeitweiliger Amnesie.“ Matt war froh, das einschränkende Wort „zeitweilig“ eingeflochten zu haben. Denn außer dem Wenigen, was Jeff ihm erzählt hatte, wusste er so gut wie nichts über Gedächtnisverlust. „Mach dir keine Sorgen, das gibt sich wieder. Du wirst dein Gedächtnis schon zurückerlangen.“

„Wann?“

„Das weiß ich nicht. Aber es wird schon werden.“ Matt legte die Arme um sie, wollte ihr die panische Angst nehmen, die er in ihrer Stimme hörte und in ihren Augen las. Beruhigend strich er mit einer Hand über ihren Rücken und spürte, dass sie sich allmählich entspannte. Als sie den Kopf an seine Brust lehnte, spannte er sich etwas an. Er schloss die Augen, um es zu genießen, Claire wieder in seinen Armen zu halten. In den letzten Monaten hatte er sich häufig gefragt, ob er ihr jemals wieder so nah sein würde. Nun kam es ihm so vor, als ob es nach einem langen, dunklen Winter in seinem Leben endlich wieder Frühling wurde.

Claire lehnte sich etwas zurück und schaute ihn an. Matt wartete auf die Fragen, die sich wahrscheinlich in ihrem Kopf zu formen begannen. Fragen, auf die sie Antworten erwartete. Fragen, die er nur widerwillig beantworten würde.

Während er ihr Gesicht betrachtete, traf es ihn erneut, wie sehr er sie liebte, wie sehr er ihre Zärtlichkeit und Wärme in seinem Leben brauchte. Der weiße Verband um ihrem Kopf bildete einen starken Kontrast zu ihrem roten Haar. Doch selbst in der scheußlichen Beleuchtung des Krankenhauses und ohne Make-up war sie so schön wie damals, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

Er musste an den Tag vor zwei Jahren denken, als sie in die Küche des Restaurants geplatzt war, das seiner Familie gehörte. Sie hatte vorgegeben, vom Gesundheitsamt zu kommen und den Besitzer zu sprechen verlangt. In Wahrheit war es so gewesen, dass sie gewusst hatte, dass das Restaurant einen neuen Konditor gebraucht hatte. Aber sie war nicht an dem Job interessiert gewesen, nein, Claire wollte das Restaurant mit ihren eigenen Desserts beliefern. Und das, obwohl er schon eine ganze Reihe von Firmen, die einen ähnlichen Service anboten, abgewiesen hatte.

Aber davon hatte sie sich nicht aufhalten lassen. Nein, seine Claire hatte sich unbedingt durchsetzen wollen. Er solle bloß mal den Käsekuchen mit weißer Schokolade probieren, hatte sie ihn herausgefordert, und wenn das nicht der beste Käsekuchen sei, den er je gegessen habe, würde sie einen Monat umsonst für ihn als Konditorin arbeiten. Er hatte etwas von dem Kuchen probiert und ihr Recht geben müssen. Es war der beste Käsekuchen seines Lebens gewesen. Er hatte gleich ein halbes Dutzend davon bestellt und sie zum Essen eingeladen. Noch während sie bei den Vorspeisen gewesen waren, hatte er beschlossen, sie zu heiraten.

Claire war allerdings nicht so leicht zu überzeugen gewesen.

Immer wieder waren ihr neue Hindernisse eingefallen. Es ginge ihr viel zu schnell. Sie seien noch zu jung. Ihre soziale Herkunft und ihre finanziellen Verhältnisse lägen Welten auseinander.

Aber er war standhaft geblieben und hatte seinen Entschluss, Claire zu heiraten, mit der gleichen Entschlossenheit verfolgt, mit der er sein Geschäft betrieb. Scheitern war nicht vorgesehen, und er war nicht gescheitert. Keine drei Monate, nachdem sie sich kennengelernt hatten, war Claire seine Frau geworden.

Bei der Erinnerung konnte Matt sich erneut nicht zurückhalten und strich mit dem Finger über ihre Wange. Er konnte spüren, dass Claire zitterte. Ihre Haut war so zart wie ein Blütenblatt, ihre Lippen waren voll und dunkel. Unwillkürlich dachte er an ihre Brustspitzen. Sein Blick glitt zu ihren Brüsten, die von dem hässlichen Krankenhaushemd verborgen wurden, und Begierde stieg in ihm auf. Er erinnerte sich nur zu gut, wie ihre Brüste in seinen Händen gelegen hatten, an ihren Duft, wenn er sie geküsst hatte, und dass Claire schneller geatmet hatte, wenn er mit der Zunge über die Spitzen gefahren war.

„Was wird, wenn ich mein Gedächtnis nicht wieder finde?“

Er sah in ihr Gesicht. „Es wird zurückkehren.“

„Aber was, wenn nicht?“

„Vertrau mir. Du wirst dich wieder erinnern können.“ Dabei konnte er nur hoffen, dass sie ihn nicht erneut verließ, wenn ihre Erinnerung zurückkam.

„Aber was soll ich bis dahin denn nur tun, wenn ich mich an nichts und niemanden erinnern kann?“

Mit dieser Frage bot sich ihm eine Chance. Es war, als hätte er plötzlich alle Asse auf der Hand. Er hatte auf eine solche Möglichkeit gehofft, eine Möglichkeit, alles zwischen ihnen wieder zu bereinigen.

„Wenn du es zulässt“, antwortete er, „werde ich mich um dich kümmern.“

„Das kann ich doch nicht verlangen.“

„Aber natürlich. Ich bin dein Mann, und ich liebe dich.“

„Aber das kommt mir irgendwie unfair vor. Ich meine, ich erinnere mich ja noch nicht einmal an dich oder an unserer Ehe.“ Sie errötete. „Du bist ein Fremder für mich, Matt.“

Matt lächelte, während sein Plan langsam Gestalt anzunehmen begann. „Dann muss ich mir wohl gehörige Mühe geben, damit du dich wieder in mich verliebst.“

2. KAPITEL

„Es tut mir leid, Sie noch einmal damit zu belästigen, Mrs Gallagher, aber ich muss Ihnen noch ein paar Fragen stellen.“

„Verstehe.“ Es war zwei Tage später, und Claire saß in ihrem Krankenhausbett und sprach mit Detective Delvecchio, der den Fall bearbeitete. „Aber ich bezweifle, dass ich Ihnen eine große Hilfe sein werde. Ich kann mich nämlich immer noch nicht erinnern.“

„Das hat mir Ihr Mann schon erzählt.“ Delvecchio wirkte sehr ernst, als er einen Notizblock aus der Innentasche seines Mantels zog. „Glücklicherweise hatten Sie genau unter einer Straßenlaterne geparkt, sodass die Zeugin, die den Überfall beobachtete, eine gute Beschreibung des Täters geben konnte. Unser Polizeizeichner hat nach ihren Angaben ein recht genaues Bild von ihm anfertigen können. Schauen Sie es sich doch bitte einmal an. Vielleicht erinnern Sie sich dann an irgendetwas.“

Claire zögerte. Auf der einen Seite empfand sie es als quälend, sich an nichts erinnern zu können, auf der anderen Seite beunruhigte sie der Gedanke, das Gesicht des Mannes zu sehen, der sie überfallen hatte.

„Red, fühlst du dich dazu in der Lage?“ Matt legte ihr beruhigend seine Hand auf die Schulter.

Er gebrauchte ihren alten Kosenamen, den er Claire wegen ihrer Haarfarbe gegeben hatte. Matts Anwesenheit tat ihr gut. Er ist dein Mann, sagte sich Claire. Sie hatte mit dieser Tatsache zwar noch immer Schwierigkeiten, aber seit er zu ihr ins Krankenhaus gekommen war, war Matt kaum von ihrer Seite gewichen. Wann immer die Verzweiflung Claire zu überwältigen drohte, sprach er besänftigend auf sie ein und versicherte ihr, dass sie ihr Gedächtnis wieder finden würde. Auch jetzt war er bei ihr, um sie zu unterstützen.

Er muss ja völlig erschöpft sein, dachte sie, als sie ihn kurz anschaute. Aber obwohl er unrasiert war und Schatten unter den Augen hatte, sah er unglaublich attraktiv aus. Wie konnte sie nur vergessen haben, mit ihm verheiratet zu sein?

„Claire?“, fragte Matt besorgt nach, weil sie ganz in Gedanken versunken wirkte.

„Ich bin in Ordnung“, versicherte sie und wandte sich wieder Delvecchio zu. Sie atmete einmal tief durch und nahm die Zeichnung zur Hand.

Auf den ersten Blick wirkte der Mann völlig durchschnittlich, wie irgendein Passant, der auf der Straße an einem vorüberging, oder wie jemand, den man zufällig beim Einkaufen traf. Sie schätzte ihn auf Anfang bis Mitte fünfzig. Er hatte eine Baseballkappe tief in die Stirn gezogen, und strubbeliges Haar lugte darunter hervor. Das Gesicht war sehr schmal. Er hatte eine lange, leicht gebogene Nase, und ein grausamer Zug lag um seine Lippen.

Doch erst als sie seine Augen ansah, fröstelte Claire. Irgendetwas war mit diesen Augen, sie wirkten leblos und kalt, und es war, als würden sie sie anstarren. Diese Augen erinnerten sie an etwas, was sie aber nicht fassen konnte.

„Kommt er Ihnen bekannt vor, Mrs Gallagher?“

Claire riss sich von der Zeichnung los und sah Delvecchio an. „Nein“, antwortete sie schnell und gab ihm das Blatt Papier zurück. Sie rieb mit den Händen über ihre Arme, denn eisige Furcht hatte sie ergriffen, als sie in diese Augen geblickt hatte. „Tut mir leid, aber ich erkenne ihn nicht.“

„Sind Sie sicher? Einen Moment lang dachte ich, dass …“

„Sie sagt, dass sie sich nicht erinnern kann“, mischte sich Matt ein und legte beschützend seinen Arm um ihre Schulter.

„Ich bin mir sicher, Detective.“ Claire lehnte sich an Matt und war ihm für seine Anwesenheit dankbar. „Ich kenne ihn nicht. Wenn ich einen anderen Eindruck auf Sie gemacht habe, kommt das daher, dass es mich erschreckt hat, in das Gesicht des Mannes zu schauen, der mich überfallen hat. Aber ich erinnere mich wirklich nicht an ihn.“

„Vielleicht fällt es Ihnen ja später wieder ein“, gab Delvecchio seiner Hoffnung Ausdruck und steckte sein Notizbuch wieder ein. „In der Zwischenzeit werden wir die Zeichnung mal den Anwohnern zeigen. Vielleicht gelingt es uns ja, seine Spur aufzunehmen.“

„Ich will den Mann, der meiner Frau das angetan hat, hinter Gittern sehen, Detective Delvecchio.“

„Das wollen wir auch, Mr Gallagher. Aber durch den Gedächtnisverlust Ihrer Frau haben wir leider nicht allzu viele Anhaltspunkte.“

„Sie haben eine Augenzeugin und einen brauchbaren Steckbrief“, sagte Matt nachdrücklich.

„Und wir werden diesen Spuren nachgehen. Aber selbst wenn wir einen Verdächtigen festnehmen, müsste Ihre Frau ihn immer noch als den Angreifer identifizieren.“

„Was ich nicht kann, solange ich meine Erinnerung nicht wiederfinde“, erklärte Claire.

„Das befürchte ich auch, Madam.“

Die Neurologin, die sie untersucht hatte, hatte ihr gesagt, dass ihr Gedächtnis schon ganz bald oder erst in einem Monat oder einem Jahr zurückkehren konnte. Oder niemals. Allein der Gedanke, sich nie wieder an all die Einzelheiten erinnern zu können, die ihr Leben ausmachten, war schrecklich für sie. Es war fast, als wäre ihre Persönlichkeit ausgelöscht.

„Du musst dir etwas Zeit geben. Es wird nur ein paar Tage dauern.“ Matt erkannte, woran sie gerade gedacht hatte.

„Ja. Du hast bestimmt recht.“ Aber selbst ein paar Tage kamen ihr wie eine Ewigkeit vor.

„Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, Mrs Gallagher.“

„Aber nicht doch, Detective. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte.“

„Wie Ihr Mann schon sagte, handelt es sich ja nur um ein paar Tage. Aber wenn Sie sich an irgendetwas erinnern sollten, was in dieser Nacht geschehen ist, und sei es auch nur eine Kleinigkeit, dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich mit mir in Verbindung setzen würden.“

„Das mache ich bestimmt“, versicherte sie und nahm seine Visitenkarte entgegen.

Delvecchio nickte kurz in Matts Richtung. „Mr Gallagher.“

„Detective.“ Matt gab ihm die Hand. „Ich möchte, dass Sie mich über alle Fortschritte auf dem Laufenden halten.“

„Natürlich.“ Delvecchio wandte sich zum Gehen, hielt dann aber inne. Er kratzte sich am Kinn.

„Gibt es noch etwas, Detective?“, fragte Matt.

„Ich habe gehört, dass Ihre Frau morgen entlassen wird.“

„Das stimmt“, antwortete Matt. „Die Neurologin wollte sie gern noch eine weitere Nacht zur Beobachtung da behalten, aber morgen wird sie entlassen. Warum fragen Sie?“

„Vielleicht bin ich ja nur übertrieben misstrauisch, aber vielleicht wäre es besser, wenn Ihre Frau zu Hause nicht allein bleibt, bis wir den Kerl geschnappt haben.“

„Das wird sie nicht. Ich werde bei ihr bleiben. Und wenn ich einmal nicht da sein kann, wird meine Haushälterin oder jemand aus meiner Familie bei ihr sein.“

„Ist das denn wirklich notwendig?“, fragte Claire.

„Nur eine Vorsichtsmaßnahme, Madam. Aber ich halte es für besser, wenn jemand bei Ihnen ist, bis wir den Täter hinter Gittern haben.“

Bei Claire gingen alle Alarmglocken los. „Warum?“, fragte sie:

„Wie gesagt, eine reine Vorsichtsmaßnahme“, antwortete ­Delvecchio.

Claire sah den bulligen Polizisten scharf an. „Ich habe noch nie gehört, dass man nach einem ganz normalen Straßenraub dermaßen aufpassen soll. Gibt es da etwas, das Sie mir nicht gesagt haben, Detective?“

„Red, du hast ihn doch gehört. Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme.“

Ohne auf Matt zu achten, hakte Claire weiter nach. „Detective?“

„Es ist nur so ein Gefühl, aber als alter Cop habe ich gelernt, auf meinen Bauch zu hören. Sie sollten einfach nicht allein zu Hause sein.“

„Das wird sie nicht“, sagte Matt noch einmal und wollte ihn zur Tür begleiten.

„Warten Sie, Detective. Glauben Sie, dass er mich noch einmal überfallen will?“

Delvecchio zögerte. „Eigentlich nicht, Madam. So wie es aussieht, waren Sie einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort. Das zufällige Opfer eines Straßenräubers.“

„Denken Sie wirklich, dass es das war? Ein einfacher Straßen­raub?“

„Was er denkt, spielt doch keine Rolle“, warf Matt ein. „Es geht nur darum, dass dir niemand mehr wehtut.“

Aber obwohl Matt dem Polizisten einen verärgerten Blick zuwarf, ließ Claire nicht locker. „Detective Delvecchio, nach Ihrer professionellen Meinung, ich meine, nach dem Gefühl in Ihrem Bauch, denken Sie da, dass der Überfall vielleicht doch kein Zufall war?“

„Im Moment habe ich keinen plausiblen Grund, etwas anderes anzunehmen, und bei diesem Gefühl im Bauch kann es sich genauso gut um eine Magenverstimmung handeln. Wenn es so ist, dann ist der Kerl längst über alle Berge und wird Sie nie wieder belästigen.“

„Und wenn es nicht so ist?“ Claire blieb hartnäckig.

„Aber falls ich mich doch irren sollte und mein Gefühl doch keine Magenverstimmung ist und der Überfall kein Zufall war, dann bin ich lieber für etwas mehr Sicherheit und würde mich darum kümmern, dass Sie beschützt werden.“

Das Blut wich ihr aus den Wangen, und Claire krallte die Finger in das Bettlaken. „Aber Sie sagten doch, dass er meine Geldbörse gestohlen hat. Was könnte er denn noch von mir wollen?“

„Delvecchio, lassen Sie uns das doch draußen besprechen“, schlug Matt vor.

„Nein“, sagte Claire fest. „Ich würde gern die Antwort auf meine Frage hören. Detective Delvecchio, ich habe zwar mein Gedächtnis verloren, aber ich kann durchaus noch denken. Und da ich diejenige bin, die überfallen wurde, habe ich wohl ein Recht darauf zu erfahren, wieso ich weiterhin in Gefahr sein könnte.“

Delvecchio stieß einen lauten Seufzer aus. „Um die Wahrheit zu sagen, Madam, finde ich die Art und Weise, in der Sie überfallen wurden, recht merkwürdig. Er hat Ihnen lediglich die Geldbörse gestohlen, aber laut den Unterlagen des Krankenhauses trugen Sie bei Ihrer Einlieferung wertvollen Schmuck. Wenn es ihm nur ums Geld ging, frage ich mich, wieso er den Schmuck nicht mitgenommen hat.“

„Vielleicht hat er es mit der Angst bekommen. Sie sagten doch etwas von einer Augenzeugin. Vielleicht hat sie ihn überrascht, sodass er keine Zeit mehr hatte.“

Delvecchio schüttelte den Kopf. „Das ist der nächste Punkt, den ich nicht verstehe. Der Mann hat Sie genau unter einer Laterne überfallen, wo man ihn gut erkennen konnte. Trotzdem trug er keine Maske. Es wäre viel einfacher für ihn gewesen, Sie zu überfallen, bevor Sie unter der Laterne standen. Sie wären im Dunklen hilflos gewesen und das Risiko, dass ihn jemand beobachtete, wäre wesentlich kleiner gewesen.“

„Vielleicht war es ja ein besonders dummer Räuber“, meldete Matt sich zu Wort.

„Vielleicht war es ja überhaupt kein Räuber“, mutmaßte Claire. „Daran denken Sie doch die ganze Zeit, oder? Dass es ihm gar nicht um mein Geld ging.“

„Ja, Madam. Immerhin ist der Name Gallagher in New Orleans nicht ganz unbekannt durch die Restaurants der Familie Ihres Mannes. Sie sind Personen des öffentlichen Lebens. Es vergeht doch kaum eine Woche, in der Sie nicht die Klatschspalten füllen oder im Fernsehen bei gesellschaftlichen Großereignissen zu sehen sind. Aus meiner Sicht geben Sie alle hervorragende Ziele für einen Entführer ab.“

„Ein Entführer.“ Claire war fassungslos.

„Es ist lediglich eine Möglichkeit“, erklärte Delvecchio. „Aber wir sollten sie nicht von vornherein ausschließen. Vielleicht hat der Kerl nur deshalb Ihre Geldbörse genommen und nicht Ihren Schmuck oder Wagen, weil er in Wirklichkeit hinter Ihnen her war. Vielleicht wollte er Sie tatsächlich entführen, und die Zeugin kam ihm dazwischen. Dann sollten der Schlag auf den Kopf und der Diebstahl nur zur Tarnung dienen.“

„Oh, mein Gott!“, murmelte Claire entsetzt.

„Ich habe jetzt genug von Ihren Theorien, Delvecchio. Sie regen meine Frau nur unnötig auf, und ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie nun gehen und nach dem Täter suchen würden“, sagte Matt, und sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, wie ungehalten er war.

Delvecchio nickte knapp und ging.

„Hey, alles ist in Ordnung.“ Matt setzte sich auf ihr Bett und fasste sie um die Schultern. „Sieh mich an, Red.“

Claire hob das Kinn und blickte in seine großen grauen Augen, die so viel Mitgefühl und Sorge widerspiegelten.

„Hör mir zu. Selbst wenn Delvecchio mit seiner verrückten Theorie recht hätte, wird dir nichts geschehen. Ich werde es nicht zulassen, dass irgendwer dir jemals wieder etwas antut. In Ordnung?“

Claire nickte, aber sie fühlte sich schrecklich. Konnte es wirklich möglich sein, dass jemand sie entführen wollte? Würden diese Leute es am Ende noch einmal versuchen? Eine lähmende Angst breitete sich in ihr aus, als ihr bewusst wurde, dass sie den Entführern nicht einmal eine Telefonnummer würde geben können, unter der sie Lösegeld fordern konnten, weil sie sich an nichts erinnerte.

„Claire.“ Matt schüttelte sie sanft. „Liebling, ich weiß ja, dass dies alles sehr hart für dich ist. Du erinnerst dich nicht mehr an mich und an unsere Liebe. Aber ich liebe dich. Mehr, als du es dir wahrscheinlich vorstellen kannst. Ich möchte dich nur bitten, mir zu vertrauen. Gib mir eine Chance. Gib uns eine Chance. Würdest du das machen?“

„Ich werde es versuchen.“

Mit dem Finger strich er ihr eine Locke hinters Ohr und streichelte ihre Wange. „Mehr kann ich nicht verlangen.“

Aber es war bei Weitem nicht alles, was er wollte. Das spürte Claire. Denn als Matt mit der Fingerspitze nun sacht die Linie ihrer Lippen nachzeichnete, stand Begehren in seinen Augen. Wärme durchströmte sie, und Sehnsucht stieg in ihr auf. Wenn sie sich auch nicht mehr an Matt und ihr gemeinsames Leben erinnerte, ihr Körper erinnerte sich sehr wohl.

„Vertrau mir“, flüsterte Matt und küsste sie zart auf die Lippen. Dann blickte er ihr tief in die Augen. „Ich weiß, wie schwierig das für dich ist, aber versprich mir, dass du dir keine Gedanken mehr über Delvecchios Theorie machen wirst.“ Zu seiner Freude nickte Claire. „Braves Mädchen. Versuch, dich zu entspannen. Wenn ich dich morgen nach Hause hole, wird alles schon viel freundlicher aussehen.“

Claire nickte erneut. Denn wie sollte sie dem Mann, mit dem sie verheiratet war, begreiflich machen, dass es nicht in erster Linie die Möglichkeit einer Entführung war, die sie beunruhigte, sondern die Aussicht, mit einem Ehemann nach Hause zurückzukehren, der für sie ein Fremder war.

Es war Matt bewusst, dass er sich auf einem schmalen Grat bewegte, weil er Claire nichts davon gesagt hatte, dass sie sich vor sechs Monaten von ihm getrennt hatte. Während er sie nun im Mercedes nach Hause chauffierte, hatte er das Gefühl, dass dieser Grat noch schmaler wurde. Doch immerhin war es ihm gelungen, den größten Teil von Claires Sachen aus ihrem Apartment zurück in ihr gemeinsames Haus zu schaffen. Nun schien es, als ob sie niemals fort gewesen wäre.

Matt hatte deshalb ein schlechtes Gewissen.

Aber ich habe das nicht nur aus Eigennutz getan, sagte er sich, um sein Gewissen zu beschwichtigen. Wenn er Claire die Wahrheit erzählt hätte, dann wäre sie niemals bereit gewesen, mit ihm zu kommen. Ob nun mit oder ohne Gedächtnis blieb Claire eine Frau, der ihre Unabhängigkeit über alles ging. Eher würde sie sich die Zunge abbeißen, als zuzugeben, dass sie Hilfe benötigte.

Bei dem Gedanken daran, wie sich dieser Wesenszug in ihrer Ehe ausgewirkt hatte, seufzte Matt. Er selbst war in einer Familie aufgewachsen, die sich liebte und zusammenhielt, einer Familie, die ihn immer unterstützt hatte, sei es nun finanziell, körperlich oder emotional. Aber dafür war eine Familie ja auch da, um die guten sowie die schlechten Zeiten miteinander zu teilen. Er hatte lange gebraucht, bis er begriff, dass Claires Weigerung, mit ihm über ihre Probleme zu sprechen, nicht auf Misstrauen ihm gegenüber beruhte, sondern auf ihrer tiefen Angst, verlassen zu werden.

Aber jetzt brauchte sie ihn. Jemand musste sich um sie kümmern. Und wer war für diese Aufgabe besser geeignet als ihr Mann? Und er war immer noch ihr Ehemann, obwohl sie ihn verlassen hatte. Also war er auch für sie verantwortlich. Mehr noch, er wollte sich um sie kümmern. Er wollte für Claire da sein, wollte ihr beweisen, dass er anders als die Menschen in ihrem Leben war, die sie einfach im Stich gelassen hatten. Er wollte ihr beweisen, dass sie sich auf ihn verlassen konnte, dass ihre Ehe kein Fehler gewesen war, einfach deshalb, weil sie zusammengehörten.

Aber was würde sein, wenn ihr Gedächtnis zurückkehrte? Wenn die Dinge nicht so liefen, wie von ihm geplant, und sie ihn wieder verließ?

Die Möglichkeit war nicht von der Hand zu weisen, denn sie würde furchtbar wütend auf ihn sein, wenn sie die Wahrheit herausfände. Doch das Risiko musste er in Kauf nehmen. Denn wenn es ihm nicht gelang, ihre Liebe und ihr Vertrauen zurückzugewinnen, hatte er ohnehin keine Chance, auf ihre Vergebung zu hoffen.

„Hier lebe ich?“, rief Claire, als er den Wagen parkte.

Claire starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Haus, als sähe sie es zum ersten Mal in ihrem Leben. Er musste sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass das in gewisser Weise ja auch zutraf. Denn wenn sie sich schon nicht an ihn erinnern konnte, wie dann an das Haus?

„Wir leben hier.“ Bei dieser Halbwahrheit durchfuhr ihn ein schmerzlicher Stich.

„Es ist wunderschön.“

„Das hast du auch gesagt, als ich es dir zum ersten Mal gezeigt habe.“ Und das entsprach der Wahrheit.

Der alte Landsitz, im Stil der Südstaaten errichtet, war umgeben von Eichen. Die Fassade war mit Stuck verziert und die Veranda strahlend weiß gestrichen. Vor dem Eingang erstreckte sich ein gepflegter grüner Rasen, und die anschließenden Gärten waren voller Maiglöckchen und weißer Rosen. Claire hatte darauf bestanden, sie selbst einzupflanzen. Als er das Haus vor fünf Jahren zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er sich sofort darin verliebt und keine Mühe gescheut, es ausbauen lassen. Aber erst Claire hatte aus dem Haus ein richtiges Heim gemacht.

Matt hatte sich entschieden, nicht in der Garage zu parken, damit Claire den Haupteingang benutzen konnte. Er stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. „Glaub mir, als ich es gekauft habe, sah es noch ganz anders aus.“

„Der Garten ist ein Traum.“

„Ja, du hast einen grünen Daumen.“

„Ich habe diesen Garten angelegt?“

„Aber natürlich. Genauso wie den hinter dem Haus.“

„Ich kann es kaum erwarten, mir alles anzusehen.“

„Lass uns erst einmal ins Haus gehen. Für eine Führung ist später auch noch Zeit.“

„Klingt gut.“ Zum ersten Mal, seit er sie im Krankenhaus aufgefunden hatte, schien sie wirklich begeistert zu sein.

Vorsichtig drehte sie sich auf dem Sitz, um auszusteigen, und er fasste sie rasch um.

„Was soll das?“, fragte sie unsicher, und obwohl sie die Arme um seinen Nacken legte, als er sie hochhob, wirkte sie völlig angespannt.

„Ich will nur nicht, dass du deinen Knöchel belastest“, erklärte er, während er sie zum Haus trug.

„Das ist doch lächerlich. Ich kann sehr wohl gehen.“

„Bitte, mir zuliebe“, erwiderte er, stieg die Stufen der Veranda hoch und fügte leicht spöttisch hinzu: „Es gibt mir das Gefühl, nützlich zu sein.“

„Aber das ist doch idiotisch. Ich brauche doch nicht …“

Er verschloss ihr die Lippen mit einem Kuss. Es war einfach ein Reflex, die schnellste Möglichkeit, sie am Weitersprechen zu hindern. Er wollte nicht hören, dass sie sagte, sie würde ihn nicht brauchen. Claire hatte ihn nie gebraucht, jedenfalls nicht so, wie er sie gebraucht hatte.

Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass dieser Kuss so berauschend sein würde. Dass ihre weichen Lippen ihn einzuladen schienen, sich weiter vorzuwagen. Voller Verlangen konnte er nur noch daran denken, genau das zu tun. Und als sie ihre Lippen tatsächlich für ihn öffnete und er deutlich ihr Verlangen spürte, konnte er nicht widerstehen.

Womit er allerdings noch viel weniger gerecht hatte, war, dass die Tür, an der sie lehnten, plötzlich geöffnet wurde, sodass sie fast ins Haus gefallen wären.

„Du lieber Himmel, Mr Matthew!“, rief Emma Dubois erschreckt aus und hielt ihn mit einer Hand fest. „Wie um alles in der Welt kommen Sie auf die Idee, Miss Claire so zu quälen? Sie kommt doch gerade erst aus diesem schäbigen Kranken­haus.“

„Ich habe sie doch nicht gequält, Emma. Ich habe sie geküsst“, erwiderte Matt der Haushälterin und ersparte es sich, darauf einzugehen, dass das angeblich schäbige Krankenhaus eine der besten Kliniken im Süden der USA war.

Die Beleidigte spielend schloss Emma die Tür hinter ihnen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und zog eine Augenbraue hoch. „Was wird wohl Ihre Mutter dazu sagen, dass Sie der Nachbarschaft ein solches Schauspiel geboten haben?“

Matt stieß einen gequälten Seufzer aus und fragte sich, ob er Emma schon wieder erklären sollte, dass sie mittlerweile für ihn und nicht mehr für seine Mutter arbeitete. Aber da Emma, halb irischer, halb französischer Herkunft, praktisch zur Familie gehörte, verkniff er sich den Hinweis. „Meine Mutter ist nun wirklich keine Heilige, da muss ich mich nur daran erinnern, wie sie das Personal in der Notaufnahme beschimpft hat, als die sie nicht zu Claire lassen wollten. Also denke ich mir, dass sie mir empfehlen würde, ich solle mich gut amüsieren.“

„Als ob Mrs G. jemals so einen Unsinn sagen würde“, gab Emma zurück. Sie schaute ihn mit einem tadelnden Blick an, als wäre er noch ein kleiner Junge, den sie gerade mit einem gestohlenen Keks erwischt hatte.

Matt fragte sich, wie sie es schaffte, ihn mit diesem Blick immer noch zurechtzuweisen, zumal sie wesentlich kleiner war als er mit seinen eins fünfundachtzig. Es hatte wohl damit zu tun, dass Emma ihm die Windeln gewechselt und seinen Po gepudert hatte. „Wie wäre es damit, Emma? Ich küsse Claire noch einmal, und Sie rufen meine Mutter an und fragen sie?“

„Matt, bitte.“

„Nimm dich zusammen“, befahl Emma. „Du machst das arme Mädchen ja ganz verlegen.“

Da hat Emma recht, dachte Matt, als er sah, dass Claires Wangen gerötet waren. Er gab ihr schnell einen Kuss auf die Nasenspitze. „Tut mir leid.“

„Du kannst mich jetzt runterlassen“, sagte sie.

„Das wird er schön bleiben lassen. Nach dem, was Mrs G. und Mr Matthew mir erzählt haben, ist Ihr Knöchel verstaucht und Sie sollten ihn nicht belasten, Lämmchen.“

„Aber ich …“

„Außerdem ist Mr Matthew stark wie ein Ochse“, unterbrach Emma sie und schaute Claire voller Mitgefühl an. „Er soll Sie erst einmal ins Wohnzimmer tragen. Ich habe schon Kaffee und ein bisschen von dem Gebäck vorbereitet, das Sie so mögen.“

„Du hast es gehört, Red. Du solltest dich nicht mit Emma anlegen.“

„Aber ich möchte euch beiden nicht zur Last fallen“, erklärte Claire.

„Als ob Sie eine Last wären. Wenn Sie wüssten, was ich mir für Sorgen gemacht habe, nachdem ich gehört habe, dass Sie überfallen worden sind.“ Emma schniefte kurz in ein Taschentuch, doch im nächsten Moment stand sie schon wieder kerzengerade und gefasst da. „Ich hole jetzt lieber den Kaffee.“

„Wer ist sie denn eigentlich?“, fragte Claire Matt mit gedämpfter Stimme, nachdem Emma das Zimmer verlassen hatte.

„Ob du es glaubst oder nicht, sie ist die Haushälterin.“

„Die Haushälterin?“

„Ja.“ Er lachte leise auf. „Schwer zu glauben, wenn man bedenkt, dass sie diejenige ist, die hier die Befehle gibt.“

„Das habe ich gehört, Matthew Gallagher.“

„Ich könnte schwören, dass sie Augen im Hinterkopf hat“, murmelte Matt und seufzte.

„Das war auch nötig, als du noch ein Junge warst“, konterte Emma, während er Claire in einen großen Sessel mit vielen Kissen setzte und ihren Fuß auf das Sofa legte. „Achten Sie gar nicht auf ihn“, wies Emma Claire an, und scheute Matt weg, um das Tablett mit dem Kaffee auf Claires Schoß zu platzieren.

Als Matt nach einem Stück Käsekuchen greifen wollte, schlug Emma ihm auf die Finger. „Das ist für Miss Claire.“

„Und was ist mit mir?“

„Es gibt noch genug in der Küche.“

„Verstehst du jetzt, was ich meine?“, fragte Matt belustigt, und Claire lächelte ihn an.

Claire lächelte ihm in der folgenden halben Stunde noch einige Male zu, als Emma Geschichten aus seiner Jugend erzählte. Während sie sich wie eine Glucke um ihr Küken kümmerte, musste Matt einen Anruf nach dem anderen von seiner Familie beantworten, die sich alle nach Claires Gesundheit erkundigten.

Schließlich war es so weit, dass er von Emma Anweisungen erhielt, wie er das Abendessen, das sie vorbereitet hatte, warm zu machen habe. Als Emma schließlich nach Hause ging und er ins Wohnzimmer zurückkehrte, sah er wieder diesen angsterfüllten Blick in Claires Augen. Aber sosehr er sich auch bemühte, es wollte ihm nicht gelingen, den Grund dafür herauszufinden.

Er setzte sich neben sie auf eine Armlehne des Sessels. „Wie fühlt sich dein Kopf an?“

„Empfindlich“, antwortete sie und fuhr mit der Hand an ihrem Verband entlang. „Ich hatte gehofft, dass mich diese Umgebung an etwas erinnern würde.“

„Und es hat nicht geklappt?“

„Nein. Ich kann es nicht fassen, dass ich mich nicht einmal mehr an Emma erinnern kann.“

Matt grinste. „Ja, das ist schwer vorstellbar.“

„Sie liebt dich und deine Familie wirklich.“

„Und dich“, ergänzte Matt. Er gab dem drängenden Wunsch nach, Claires Hand zu nehmen. „Sie liebt auch dich, Red. Meine ganze Familie liebt dich und ich am allermeisten.“

„Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.“ Sie blickte scheu zu Boden.

Seufzend ließ Matt ihre Hand los. „Ich setze dich schon wieder unter Druck, nicht wahr? Tut mir leid.“

„Das muss es nicht“, sagte sie und berührte ihn leicht am Arm, als er aufstehen wollte. „Ich bin diejenige, der es leidtun sollte. Du warst ein Schatz, Matt. Du, deine Familie, alle. Ich wünschte nur, ich könnte mich an dich erinnern.“

Es tat ihm weh, sie so bedrückt zu sehen. „Sei nicht so hart zu dir. Du hast doch gehört, was der Arzt gesagt hat. Du sollst dir einfach Zeit geben.“

Sie lächelte ihn sanft und voller Wärme an. „Du bist ein netter Mann, Matt.“

Er atmete tief durch. „Nett? Bitte bezeichne mich nie als nett. Denn wenn du es tust, wirst du feststellen müssen, dass ich überhaupt nicht nett bin.“

„Aber du bist so rücksichtsvoll und geduldig …“

„Aufhören!“

Claire musste lachen. „Ich wollte dich nicht beleidigen. Das sind doch alles positive Eigenschaften.“

„Glaub mir, Red“, antwortete er. „Keinem Mann gefällt es, wenn eine Frau ihn als Heiligen beschreibt.“

„Irgendwie glaube ich nicht, dass man dich für einen Heiligen halten könnte.“

„Da bin ich aber froh.“

„Erzähl mir doch mal, mit welchen Eigenschaften sich ein Mann gern von einer Frau beschrieben sehen würde.“

„Ach, nur mit den landläufigen.“ Ein verschmitztes Lächeln lag um Matts Mund. „Sexy, männlich, ausdauernd.“

„Ich ahne, was du meinst“, bemerkte sie trocken, konnte aber nicht verhindern, dass sie dennoch rot wurde.

„Tut mir leid. Aber ich wollte dich nur ein wenig aufziehen. Ich kann einfach nicht widerstehen, wenn du so niedlich errötest.“

Er merkte, dass sie um Fassung rang.

Die heitere Stimmung war verflogen, und Claire sagte ernst: „Es ist alles so fremd für mich. Ich weiß nichts über mich, nichts über dich, nichts über uns.“

„Der Arzt hat gesagt, dass du warten musst, bis dein Gedächtnis von selbst wiederkehrt.“

„Ich weiß, aber es ist so enttäuschend, sich noch nicht einmal an Kleinigkeiten erinnern zu können. An Sachen wie … wie unsere Ehe. Wie lange sind wir schon verheiratet?“

„Im letzten Monat waren wir es zwei Jahre.“ Und ihr zweiter Hochzeitstag war einer der traurigsten Tage seines Lebens gewesen, denn sie hatten ihn weder gemeinsam begangen, noch hatten sie unter dem gleichen Dach gelebt.

„Zwei Jahre“, wiederholte sie, als ob sie es so besser begreifen könnte.

Das Telefon klingelte, und Matt war dankbar, das Thema Ehe nicht weiter vertiefen zu müssen. Er fühlte sich noch immer schuldig, weil er ihr nicht die Wahrheit über den Stand ihrer Beziehung gesagt hatte. Aber noch sah er keine andere Möglichkeit, um Claire zurückzugewinnen.

Und er werde sie zurückgewinnen, das schwor er sich, als er ins Wohnzimmer zurückkam. „Das war Maggie, meine Schwester. Sie wollte wissen, ob du etwas brauchst.“

„Du hast eine große Familie.“

Er konnte die Verzweiflung in ihren Augen erkennen. „Wir haben eine große Familie“, verbesserte er sie.

„Aber so wie es aussieht, sind es alle deine Verwandten, Matt. Es waren deine Schwestern und deine Eltern, die mich im Krankenhaus besucht haben, und sie sind es, die hier anrufen. Was ist mit meiner Familie? Warum ist von meinen Leuten niemand gekommen?“

Matt war unschlüssig, was er ihr erzählen sollte. „Du bist ein Einzelkind“, antwortete er schließlich, denn diese Information erschien ihm ungefährlich. Soweit Claire es seinerzeit gewusst hatte, hatte sie ja auch keine Geschwister. Und die verdammte Untersuchung, zu der er damals den Privatdetektiv engagiert hatte, um ihre Eltern ausfindig zu machen, hatte auch keine Verwandten zutage gefördert.

„Was ist mit meinen Eltern? Warum sind sie nicht in die Klinik gekommen oder haben wenigstens angerufen?“

„Claire, ich denke nicht …“

„Habe ich mich mit ihnen überworfen? Kamen sie deshalb nicht ins Krankenhaus?“

„Nein. Du hast dich nicht mit ihnen überworfen.“

„Aber warum haben sie dann nicht wenigstens angerufen?“, wiederholte sie.

Er wollte es Claire nicht sagen, wollte es ihr nicht erklären. Immerhin war es sein dummer Versuch gewesen, Licht in das Dunkel ihrer Kindheit zu bringen, der sie letztlich aus dem Haus getrieben hatte.

„Bitte, Matt. Ich muss es wissen. Wo ist meine Familie? Ist ihnen etwas zugestoßen?“

Er nahm ihre Hände in seine und hielt sie fest. „Du hast keine Familie. Jedenfalls keine, von der wir wissen.“

„Ich verstehe nicht ganz. Meine Eltern …“

„Du hast deine Eltern nie gekannt, Claire. Du bist eine Waise.“

3. KAPITEL

„Eine Waise?“, wiederholte Claire ungläubig. „Du meinst damit, dass ich keine Familie habe? Überhaupt keine?“

„Du hast mich und meine Familie.“

Obwohl diese Neuigkeit sie wie ein Schock traf, fielen Claire auf der Stelle eine Menge weitere Fragen ein. „Aber was ist mit meinen Eltern? Was ist mit ihnen geschehen?“

Einen Moment lang schwieg Matt und wägte seine Worte dann sorgfältig ab. „Du warst noch ein Kleinkind, als du in ein Waisenhaus kamst.“

Claire schluckte hart. „Sie haben mich zur Adoption freigegeben?“

Matt verzog schmerzlich das Gesicht, was Claire erst recht beunruhigte. „Nicht wirklich“, antwortete er.

„Was genau soll das heißen ‚nicht wirklich‘?“

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, wenn ich dir von deiner Vergangenheit erzähle. Vielleicht sollte ich erst mit Dr. Edmond sprechen und mir anhören, was sie dazu zu sagen hat.“

„Gut. Ruf sie an. Aber ich erinnere mich recht genau an ihre Anweisungen“, erklärte Claire. „Sie sagte, dass man mich nicht mit Informationen über mich selbst, mein früheres Leben oder den Überfall bedrängen sollte. Dass man abwarten sollte, bis ich von mir aus anfangen würde, Fragen zu stellen. Nun, Matt, ich frage jetzt von mir aus. Ich will wissen, was mit meinen Eltern geschehen ist. Ich will wissen, warum ich im Waisenhaus aufgewachsen bin.“

Matt fuhr sich hilflos mit der Hand durchs Haar und wanderte ruhelos vor Claires Sessel hin und her. Als sie schon dachte, dass er ihr nicht antworten wollte, blieb er stehen und blickte ihr in die Augen. „Ich kann dir wirklich nicht viel sagen. Du hast nicht gern über deine Kindheit gesprochen. Als wir uns kennenlernten, erzähltest du mir nur, dass du keine eigene Familie hättest, sondern im Waisenhaus und bei einer Pflegefamilie aufgewachsen seist. Du wusstest auch nicht, wer deine Eltern waren, nur, dass dich ein Polizist während eines Hurrikans in einer katholischen Kirche gefunden hat, als du drei Jahre alt warst. Die Nonnen haben dich dann nach dem Hurrikan Claire getauft.“

„Ich habe noch nicht einmal meinen Namen gewusst?“ Claire war sich nicht sicher, was sie von diesem dunklen Bild halten sollte, das Matt von ihrer Vergangenheit malte.

„Anscheinend nicht.“

Sie runzelte die Stirn. „Aber mit drei Jahren hätte ich doch zumindest wissen müssen, wie ich heiße.“

Matt zuckte mit den Achseln. „Offensichtlich wusstest du es nicht.“

„Aber meine Eltern? Habe ich denn niemals versucht, herauszufinden, wer sie waren? Ich meine, heute ist es doch ganz normal, dass adoptierte Kinder nach ihren leiblichen Eltern forschen. Habe ich das denn nicht getan?“

„Nein. Wie gesagt, du hast nicht gern über deine Vergangenheit geredet. Du meintest, dass du deine Zeit und Energie lieber für die Gegenwart und die Zukunft verwenden würdest.“

Wieso bloß? fragte sich Claire. Doch als sie Matts verzweifelten Gesichtsausdruck sah, bezweifelte sie plötzlich, dass er ihr die Antwort geben würde, selbst wenn er sie kannte.

„Möchtest du, dass ich dir jetzt das Haus zeige?“

Auch wenn er damit nun das Thema wechselte, so schlug er ihr doch etwas vor, das ganz in ihrem Sinne war. Denn eine Führung durch das Haus, in dem sie gelebt hatte, würde ihrem Gedächtnis vielleicht auf die Sprünge helfen. „Natürlich. Aber nur, wenn ich selbst gehen darf.“

„Gemacht.“

Sein Lächeln war so umwerfend, dass es ihre düsteren Gedanken für einige Zeit vertrieb. Ihr Puls schlug schneller, und das lag nicht daran, dass sie sich erst mit den Krücken zurechtfinden musste. Es lag vielmehr daran, dass Matt sie hilfreich um die Schultern fasste.

Als sie schließlich selbst stehen konnte, ließ er sie los.

„Alles klar?“, fragte er.

„Alles klar. Geh ruhig vor.“

„Ich denke, wir fangen in der Küche an.“

Allein die Führung durch das Erdgeschoss dauerte eine halbe Stunde, und als sie schließlich wieder im Wohnzimmer ankamen, fühlte sich Claire, als ob sie ein Hindernisrennen hinter sich hätte. Nach den letzten Tagen der völligen Ruhe hatte die Wanderung auf den Krücken sie doch ziemlich erschöpft. Außerdem war sie sehr enttäuscht, denn sie hatte sich an überhaupt nichts erinnern können, obwohl dies doch ihr Heim gewesen war.

„Was hältst du davon, wenn wir die oberen Stockwerke auf später verschieben?“, fragte Matt aufmerksam.

„Das ist eine gute Idee“, erwiderte Claire dankbar.

„In der Zwischenzeit kann ich den Schmortopf aufsetzen, den Emma für uns vorbereitet hat. Ich habe mir überlegt, dass du nach dem Krankenhausaufenthalt vielleicht gern auf der hinteren Veranda essen würdest. Wie klingt das?“

„Klingt großartig.“ Freudig ließ sich Claire von Matt auf die Veranda führen, von der aus man die Gärten und den Swimmingpool überblicken konnte.

Matt hatte einen bequemen Gartenstuhl für sie vorbereitet, bettete ihren verstauchten Knöchel auf ein Kissen und küsste sie auf die Nasenspitze. „Entspann dich, ich bin sofort wieder mit dem Tee da.“

Ein dickes Kissen im Rücken ließ Claire den Blick über die Gärten schweifen. Dutzende von Rosenbüschen standen in voller Blüte und leuchteten rosa und weiß. Sonnenblumen säumten majestätisch den Weg, dazwischen lugten Margeriten hervor. Die hohen alten Eichen und Magnolienbäume standen wie Wachposten in der Landschaft, und ein schmaler Steinweg führte zum Swimmingpool.

Es war wunderschön. Alles an diesem Haus war bezaubernd und edel und ließ auf die privilegierte gesellschaftliche Position der Bewohner schließen. Es hatte Claire nicht wirklich überrascht, aber es verwirrte sie.

Schon im Krankenhaus war ihr aufgefallen, dass Matt eine einflussreiche Person war. Diesen Eindruck hatte sie aber weniger aus den Bemerkungen von Detective Delvecchio über Matts Familie gewonnen. Nein, es war eine gewisse Aura der Macht, die ihn umgab, und es war die Art und Weise, wie das Klinikpersonal mit ihm umging. Aber er schien noch viel reicher zu sein, als sie erwartet hatte, und das bereitete ihr Unbehagen. Wieso hatte ein Mann von Matts Herkunft, Reichtum und Bedeutung ausgerechnet eine Frau geheiratet, die nichts von alldem besaß?

„Bitte schön.“ Matt stellte ein Tablett mit einer Karaffe Eistee und zwei Gläsern auf den Tisch. „Das Abendessen ist in ein paar Minuten fertig. Emma hat dir eines deiner Lieblingsgerichte zubereitet. Schmortopf mit Shrimps.“

„Danke.“ Sie nahm das Glas Eistee, das er ihr reichte, aber ihre Gedanken kreisten noch immer um die Frage ihrer Herkunft. Woher kam sie? Was für einen Charakter hatte sie?

„Noch etwas mehr Zitrone?“

Claire blinzelte. „Entschuldige. Was hast du gesagt?“

„Du wirktest so nachdenklich, da dachte ich, ich hätte nicht genug Zitronenscheiben in dein Glas gegeben.“

Claire schaute auf ihr Glas, in dem drei Zitronenscheiben schwammen. „Nein, es ist gut so“, antwortete sie und nahm einen Schluck.

„Warum machst du dann so ein langes Gesicht?“

„Ich habe über uns nachgedacht“, gestand sie. „Matt, wie haben wir uns kennengelernt?“

„Durch ein geschmuggeltes Stück Käsekuchen.“

Claire blickte ihn ungläubig an. „Geschmuggelter Käse­kuchen?“

„Ich schwöre, das ist die Wahrheit.“ Matt musste lachen. „­Gallaghers Restaurant ‚On The Avenue‘ brauchte einen neuen Konditor, und du wolltest deine Bäckerei vergrößern.“

„Ich besitze eine Bäckerei?“

„Aber ja. Speziell für Nachtisch und ähnliche Leckereien. Du belieferst einige der Spitzenrestaurants mit den besten Kuchen und Desserts der Stadt. Und ich liebe Süßes über alles. In dem Moment, in dem ich herausfand, dass du nicht nur klug und schön bist, sondern auch noch backen kannst, wusste ich, dass ich dich heiraten muss.“ Er grinste sie fröhlich an.

„Wirklich?“

„Wirklich!“

„Lass uns davon später sprechen“, bat sie, denn im Moment interessierte sie eine andere Sache viel mehr, von der sie sich Aufschluss darüber erhoffte, was für eine Frau sie gewesen war. „Erzähl mir davon, wie wir uns kennengelernt haben. Du sagtest, dass du einen neuen Konditor brauchtest.“

„Stimmt. Du hattest schon eine Woche lang versucht, einen Termin mit mir zu bekommen. Du wolltest mir nämlich vorschlagen, die Torten von dir zu beziehen, anstatt einen neuen Konditor einzustellen. Aber meine Sekretärin wollte dir einfach keinen Termin geben.“

„Aber schließlich habe ich doch einen bekommen?“

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