Diese Nacht ist unser Geheimnis

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Manchmal ist auch der stärkste Mann ganz schwach: In einer solchen Nacht sucht Ethan in den verlockenden Armen einer Fremden Trost. Und dann öffnet er ihr auch noch sein Herz und beichtet ihr das große Familiengeheimnis. Wie gut, dass er diese Frau nie wiedersieht. Ein Riesenirrtum! Denn am nächsten Tag lernt er die junge Fotografin Isobel Fyfe kennen, die auf seinem Weingut PR-Fotos machen soll - es ist die Geliebte der letzten Nacht! Plötzlich hat Ethan nichts mehr unter Kontrolle: weder, wem Isobel sein Geheimnis verrät - noch sein unbezähmbares Verlangen nach ihr …


  • Erscheinungstag 20.10.2015
  • Bandnummer 1894
  • ISBN / Artikelnummer 9783733721466
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Seine Mutter war am Leben.

Ethan Masters lief durch die Innenstadtstraßen von Adelaide, ohne etwas vom Trubel um ihn herum mitzubekommen. Wieder und wieder ging ihm dieser eine schwindelerregende Gedanke durch den Kopf.

Dabei war es doch schon schwer genug zu verkraften, dass sein Vater vor Kurzem unerwartet gestorben war. Er hatte nicht gedacht, dass er sich jemals einer größeren Belastung würde stellen müssen. Aber die Enthüllung, dass der Mann, den er mehr als alle anderen Menschen vergöttert und verehrt hatte, ihn und seine Schwester die letzten fünfundzwanzig Jahre über belogen hatte, war noch viel schlimmer.

Ethan verspürte gleichzeitig Trauer und eine heftige Enttäuschung. Der Schmerz ging so tief, als hätte ihm jemand ein Messer in die Brust gerammt. Ein Schmerz, der einfach nicht aufhören wollte.

Ethan wusste nicht, was er mit der Information anfangen sollte, die er heute erhalten hatte. Ein Teil von ihm wünschte sich, er hätte die Wahrheit nie erfahren. Wäre ihm doch in den privaten Akten seines Vaters diese Unregelmäßigkeit nicht aufgefallen! Das Widerstreben des Familienanwalts, alles zu erklären, hatte ihn nur in seiner Entschlossenheit bestärkt. Er hatte unbedingt herausfinden wollen, wohin die monatlichen Zahlungen flossen.

Jetzt wusste er also Bescheid. Seine Mutter hatte Geld dafür bekommen, ihn und seine Schwester Tamsyn im Stich zu lassen. Seine Mutter hatte sich dafür bezahlen lassen, ihnen fernzubleiben. Sie hatte ihre Kinder glauben lassen, sie wäre bei dem Autounfall gestorben, den seine Schwester und er knapp überlebt hatten.

Schlimmer noch fand Ethan, dass die Geschwister seines Vaters, Onkel Edward und Tante Cynthia, in die Lüge eingeweiht gewesen waren.

Es widersprach allen Werten, allen Erinnerungen, mit denen er aufgewachsen war, jeder Form von Familiensinn. Bitter genug, dass die Erinnerung an seine Eltern nun befleckt war. Aber zu wissen, dass so viele Menschen, denen er vertraute, ihn hintergangen hatten …

Es war mehr, als er ertragen konnte. Vielleicht hätte er nach seinem Termin in der Stadt direkt nach Hause zurückkehren sollen, um seine Tante und seinen Onkel zur Rede zu stellen und Tamsyn die Wahrheit zu sagen. Doch er wusste immer noch nicht, wie er die Neuigkeiten, die er heute erhalten hatte, einordnen sollte. Wie konnte er dann auch nur daran denken, seine Schwester damit zu konfrontieren?

Allein bei der Vorstellung, es Tamsyn zu sagen, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Tamsyn neigte von Natur aus dazu, andere zu bemuttern. Sie wollte, dass alle glücklich waren, und rackerte sich ab, um dieses Ziel zu erreichen. So war sie schon als Kind gewesen. Dieser Charakterzug war einer der Gründe dafür, warum ihr Zweig des Familienunternehmens so gefragt war und wärmstens weiterempfohlen wurde. Diese Nachricht könnte ihr das Herz brechen. Und das wollte Ethan auf jeden Fall verhindern.

Er hatte nicht die letzten fünfundzwanzig Jahre seines Lebens damit verbracht, auf sie aufzupassen, um nun zu versagen. Nein, das hier war allein sein Problem, und er musste gut über seinen nächsten Schritt nachdenken, bevor er allen gegenübertrat. Und die Entscheidung über diesen Schritt würde er weitaus schneller fällen können, wenn er den vielfältigen Anforderungen des Familienunternehmens und seiner manchmal anstrengenden Verwandtschaft eine Weile fernblieb.

Ein Aufblitzen exotischer Farbenpracht und eine schnelle Bewegung fielen ihm ins Auge. Es war eine junge Frau, die sich von all den trist gekleideten Büroangestellten abhob, die jetzt, gegen Ende ihrer Arbeitswoche, aus den umliegenden Gebäuden strömten.

Die Fremde war klein, schlank und blond. Ihr Kleid, ein Wirbel aus bunten Farben, schmiegte sich im Fahrtwind eines vorbeirauschenden Autos eng an ihren Körper. Sie trug einen großen, sperrigen Rucksack auf dem Rücken, der gar nicht zu ihr passte, doch das Gewicht schien sie nicht weiter zu belasten. Neugierig geworden, beobachtete Ethan, wie die Frau durch die Tür eines nahegelegenen Pubs schlüpfte und verschwand.

Kurz entschlossen folgte Ethan ihr. Kaum dass er das Lokal betreten hatte, blieb er ruckartig stehen und presste die Lippen grimmig zu einer schmalen Linie zusammen. Er stand einem lärmenden Gewirr von Pubgästen gegenüber, einer Mischung aus Touristen, Studenten und Büroangestellten. Für jemanden, der jeder Ablenkung aus dem Weg gehen wollte, war er hier eindeutig fehl am Platz.

Einen Augenblick lang überlegte er, wieder zu gehen. Ach, zum Teufel, vielleicht würde er sich besser konzentrieren können, wenn er erst etwas getrunken hatte! Er straffte die Schultern und ging zur Bar. Die ganze Zeit über ließ er den Blick über die Menge schweifen, aber er entdeckte keine Spur von dem farbenfrohen Schmetterling, der ihn hergelockt hatte.

Ein paar Minuten später lauschte Ethan der Musik, die die Gäste auf die Tanzfläche lockte. Er würde jede Wette eingehen, dass das Leben dieser Menschen nicht so kompliziert war wie seins. Tief in Gedanken ließ er den Rotwein in seinem Glas kreisen, wieder und wieder.

„Schmeckt er Ihnen nicht, Sir?“, fragte der Barkeeper hinter der polierten Holztheke.

„Er ist gut“, räumte Ethan ein.

Im Spiegel über der Bar suchte er weiter die Menge ab und ließ dabei die Gedanken schweifen. Er grübelte darüber nach, dass das Leben, das er seit dem Unfall geführt hatte, auf Lügen gründete.

In der Rückschau fiel ihm auf, dass sein Vater sich nach dem Autounfall tatsächlich verändert hatte. Er war ein wenig reservierter geworden, strenger. Er hatte noch stärker als zuvor dazu geneigt, von den Menschen in seiner Umgebung Höchstleistungen zu verlangen. Er war ihm weniger vertrauensvoll vorgekommen.

Doch nachdem der damals sechsjährige Ethan von seinen Unfallverletzungen genesen war, hatte er sich mit seinem Kinderverstand für alles Erklärungen zurechtgelegt. Sein Vater war nun einmal traurig und einsam, genau wie er selbst und Tamsyn. Weil ihre Mutter gestorben war, das hatte er jedenfalls gedacht. Deshalb hatte Ethan sich immer nach besten Kräften angestrengt, alles, was sein Vater von ihm verlangt hatte, zu leisten – und mehr.

Und wozu? Nur um herauszufinden, dass John Masters die letzten fünfundzwanzig Jahre über eine Lüge gelebt und noch dazu sein gesamtes Umfeld gezwungen hatte, dasselbe zu tun.

Obwohl er wusste, dass es funktioniert hatte, fiel es Ethan schwer, zu begreifen, wie sein Vater damit durchgekommen war. So etwas passierte doch nur in Seifenopern, nicht im wahren Leben! Zumindest nicht in dem Leben, das er bisher zu führen geglaubt hatte.

Er hob das Weinglas, nahm einen Schluck und wartete, dass der Geschmack nach Beeren und Gewürznelken auf seiner Zunge explodierte. Nicht schlecht, wie er fand, aber sein eigener neuester Shiraz, der gerade einen internationalen Preis gewonnen hatte, stellte diesen Wein noch in den Schatten. Dann schlug ihm der Alkohol auf den Magen und erinnerte ihn daran, dass er nichts mehr gegessen hatte, seit er heute Morgen in aller Frühe von The Masters aufgebrochen war, dem Zuhause seiner Familie und Sitz ihres renommierten Weinguts.

„So ganz in Gedanken?“

Die ausgesprochen feminine Stimme erregte seine Aufmerksamkeit. Als er sich umdrehte, sah er das Gesicht der zierlichen blonden Frau vor sich, die sich neben seinem Hocker an die Theke gestellt hatte. Der Schmetterling!

Aus der Nähe erkannte er, dass sie älter war als eine Studentin, aber sie passte auch nicht zu den Geschäftsleuten hier im Pub. Ihre Augen hatten ein leuchtendes klares Blau, während ihre leicht gebräunte Haut honigfarben schimmerte. Sie zog die Augenbrauen fast unmerklich hoch und wartete auf seine Antwort.

„So ungefähr“, erwiderte er.

„Geteiltes Leid ist halbes Leid, wie man so schön sagt“, entgegnete sie mit einem einladenden Lächeln. „Wollen Sie darüber reden?“

Ihre Lippen glänzten von einem getönten Lipgloss, das perfekt zu ihrer Haut passte. Ihr blondes Haar fiel ihr wie ein Wasserfall über die Schultern, und das fröhlich-geblümte Neckholderkleid ließ ihre Schultern frei.

Ein Gefühl von sexueller Erregung durchzuckte Ethan wie ein elektrischer Schlag. Gleich darauf gewann sein Realitätssinn wieder die Oberhand. Er war ihr zwar ins Pub gefolgt, aber er war nicht der Typ Mann, der Frauen in Bars aufriss. Eine Fremde abzuschleppen war nicht die Lösung seiner Probleme. Dazu war er nicht bereit – auch nicht für diesen Schmetterling.

„Nein, danke.“ Seine Antwort klang barscher, als er es beabsichtigt hatte. Er wollte gerade etwas hinzufügen, um das, was er gesagt hatte, irgendwie abzumildern, als sie ihn schon mit einem dünnen Lächeln bedachte. Die Wärme war abrupt aus ihrem Blick verschwunden, da seine Botschaft wohl allzu deutlich zu ihr durchgedrungen war.

Ethan wandte sich ab und schämte sich absurderweise, während sie ihre Bestellung aufgab und darauf wartete, dass der Barkeeper sie ihr servierte. Er hatte nicht unhöflich sein wollen. War er denn nicht überhaupt erst hergekommen, um sie zu suchen, nachdem er sie draußen gesehen hatte?

Obwohl sie nicht unmittelbar in seinem Blickfeld stand, war er sich ihrer Nähe zutiefst bewusst. Mit ihren langen grazilen Fingern – die Nägel waren erstaunlicherweise praktisch kurz gehalten – trommelte sie auf die hölzerne Theke. Ihr leichtes sommerliches Parfüm wehte im kühlen Luftzug der Klimaanlage verführerisch zu ihm herüber, und die Art, wie sich ihr Körper sacht im Takt der Musik wiegte, konnte er einfach nicht ignorieren.

Er hätte sich entschuldigen sollen, aber als er sich umdrehte, um es zu tun, sah er, dass sie ihren Drink schon heruntergestürzt hatte und sich nun wieder einen Weg durch die Menge bahnte.

Die Erleichterung darüber, dass sie sich entfernte, vermischte sich mit dem eigenartigen Gefühl, eine Gelegenheit verpasst zu haben. Ethan trank noch einen Schluck Wein und drehte sich auf dem Barhocker um. Er lehnte sich gegen die Theke und beobachtete das chaotische Menschengewimmel auf der Tanzfläche. Sein Blick wurde sofort wieder von der blonden Frau angezogen.

Sie bewegte sich anmutig zum pulsierenden Rhythmus der Musik, und er musste sich eingestehen, dass auch in seinem eigenen Körper etwas zu pulsieren begann. Es war zu lange her, dass er sich einfach einmal fallen gelassen hatte. Er hätte auf ihr freundliches Angebot eingehen und sich mit ihr unterhalten sollen, statt sie vor den Kopf zu stoßen. Kurz sah er sich noch einmal im Raum um, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf sie richtete. Vorhin hatte er es zu eilig gehabt, sich von ihr abzuwenden, aber jetzt konnte er sich nicht von ihr losreißen.

Aus einem Grüppchen von Geschäftsleuten, auf deren Tisch sich ein Haufen leerer Gläser türmte, kam ein Mann auf die Tanzfläche getorkelt und drängelte sich durch die Menge. Hinter der blonden Frau blieb er stehen, legte ihr die Hände auf die Hüften und tanzte suggestiv hinter ihr. Ethan spürte, wie ihn eine Welle besitzergreifenden Zorns durchströmte, bevor er das Gefühl dorthin zurückdrängte, wo es hingehörte.

Die Frau ging ihn nichts an, sagte er sich. Trotzdem konnte er sich immer noch nicht von ihrem Anblick losreißen – besonders nicht, als sie die Hände mit Bedacht auf die ihres neuen Tanzpartners legte und diese von ihrem Körper löste. Ethan erstarrte auf seinem Hocker. Dass der andere Mann sie berührte, war ja schön und gut, solange es ihr gefiel. Aber wenn sie unverkennbar etwas dagegen hatte …

Der Kerl geriet ein bisschen ins Straucheln, griff aber, kaum dass er sich gefangen hatte, nach der Hand der Frau und wirbelte sie zu sich herum. Er beugte sich vor, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern. Ein angeekelter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, und sie schüttelte den Kopf, während sie sich zugleich bemühte, sich seinem Griff zu entwinden.

Der Anblick brachte Ethans Blut zum Kochen. Bevor er wusste, was er tat, war er schon von seinem Hocker hochgeschossen und zwängte sich zwischen den Tanzenden hindurch, den Blick nur auf eine Person gerichtet.

„Tut mir leid, dass ich zu spät komme“, sagte er, beugte sich vor und drückte der verblüfften Frau einen Kuss auf die Wange. Dann wandte er sich um, stemmte die Hände in die Hüften und musterte ihren unerwünschten Verehrer. „Sie ist mit mir hier, Kumpel“, sagte er. Seine Haltung und sein Gesichtsausdruck verkündeten klar und deutlich, dass es für den anderen Mann Zeit wurde, zu verschwinden.

Zu Ethans Erleichterung schenkte der Betrunkene ihm ein entschuldigendes Lächeln und kehrte an seinen Tisch zurück.

Ethan wandte sich wieder der blonden Frau zu. „Alles in Ordnung?“, fragte er.

„Das hätten Sie nicht tun müssen. Ich kann selbst auf mich aufpassen, wissen Sie?“, antwortete sie von oben herab.

Aus irgendeinem Grund ließ ihn die Vorstellung, dass dieses zerbrechliche Wesen, das ihm kaum bis zur Schulter reichte, „selbst auf sich aufpassen“ konnte, laut auflachen. „Das war offensichtlich“, sagte er und versuchte, sich das Lachen zu verbeißen.

Er war erstaunt, als ein Lächeln auf ihr Gesicht trat und sie in sein Lachen mit einstimmte. „Ich sollte wohl einfach Danke sagen“, meinte sie noch immer lächelnd.

„Gern geschehen. Es kam mir nicht so vor, als hätten Sie viel Freude an seiner Gesellschaft.“

„Nein, da haben Sie recht.“ Sie streckte ihm die Hand hin. „Ich bin Isobel Fyfe.“

„Ethan Masters.“

Er nahm ihre Hand. Sofort wurde er sich bewusst, wie zierlich ihre zarte Hand in seiner viel größeren wirkte. Reflexartig schloss er die Finger enger um ihre, als sein Beschützerinstinkt übermächtig wurde und jeden anderen Gedanken verdrängte. Er ließ sie auch nicht los, als er sich leicht vorbeugte, um sie mit seinem Körper von den umstehenden Gästen abzuschirmen.

„Darf ich Sie auf einen Drink einladen oder vielleicht irgendwo anders hin zum Abendessen?“, fragte er, während er ständig von den anderen Gästen angerempelt wurde. „Hier ist es ziemlich überfüllt.“

Einen Augenblick lang dachte er, sie würde ablehnen, aber dann nickte sie. „Zum Abendessen. Ich hole nur kurz meinen Rucksack. Der Barkeeper passt für mich darauf auf.“

Ethan führte sie zurück zur Bar, ihre Hand immer noch in seiner. Als sie den großen, abgenutzten Rucksack hinter der Theke hervorholte, griff Ethan automatisch danach, um ihn ihr abzunehmen, während sie zur Eingangstür hinübergingen.

„Nicht nötig“, sagte Isobel. „Ich bin daran gewöhnt. Ich schaffe das schon.“

„Daran zweifle ich nicht. Aber es würde mein männliches Gewissen beruhigen, wenn Sie mich den Rucksack tragen lassen. Ich verspreche auch, ihn nicht zu verlieren.“

„Na gut, wenn Sie es so ausdrücken.“ Sie lächelte und reichte ihm den staubigen Rucksack, an dem noch die Kofferanhänger einer Fluggesellschaft befestigt waren. „Eigentlich passt er ja auch nicht zu meinen Schuhen.“

Ethan warf einen Blick auf die hochhackigen Sandaletten, die sie trug, und musste ihr im Stillen recht geben. „Können Sie darin gut gehen, oder sollen wir lieber ein Taxi nehmen?“

„Wohin wollen Sie denn?“

Er schlug ein griechisches Restaurant ein Stück weiter an der Rundle Street vor. „Es ist nicht weit.“

„Dann gehen wir zu Fuß“, sagte sie und schob ihre zarte Hand in die Beuge seines freien Arms. „Es ist ein schöner Abend.“

Ethan schwang sich den Rucksack über die Schulter, ohne viele Gedanken daran zu verschwenden, dass er sich seinen Ralph-Lauren-Anzug zerknittern würde.

„Das da sind nicht Ihre üblichen Jagdgründe, nicht wahr?“ Isobel wies mit dem Kopf zurück zu dem Pub, das sie gerade verlassen hatten.

„Ist das so offensichtlich?“, fragte er lächelnd.

Einen Moment lang musterte sie ihn stumm. Das Gefühl, dass sie ihn in mehr als einer Hinsicht unter die Lupe nahm, ließ ihm das Blut schneller durch die Adern strömen.

„Ja“, antwortete sie knapp.

Neugierig fragte er sie, warum.

„Aus mehreren Gründen“, sagte sie, als sie an einer roten Ampel stehen blieben. „Aber vor allem liegt es an Ihrem Auftreten. Sie haben dieses gewisse Etwas. Man könnte es auf Reichtum und Privilegien zurückführen, aber ich glaube, es steckt mehr dahinter. Sie sehen aus, als ob sie keine Angst vor harter Arbeit haben.“

Sie nahm seine Hände in ihre, drehte sie hin und her und sah sie prüfend an, bevor sie sie losließ und sich wieder bei ihm einhakte. „Ja, gepflegt, aber nicht zu gepflegt. Und doch strahlen Sie eine gewisse Anspruchshaltung aus – oder auch etwas Gebieterisches, wenn Sie so wollen. Sie sind bereit, hart zu arbeiten, aber Sie sind es auch gewohnt, Befehle zu erteilen, denen man sofort gehorcht.“

Ethan lachte kurz auf. „Und das alles schließen Sie nur aus meinem Äußeren?“

Sie zuckte die Achseln – eine graziöse Bewegung ihrer schmalen Schultern. „Sie haben gefragt“, antwortete sie schlicht. „Gehen wir jetzt hinüber?“

Ihre Frage erinnerte ihn daran, dass sie eigentlich auf dem Weg zum Abendessen waren. Er brauchte eine Weile, um seine Gedanken zu ordnen, während sie über die Kreuzung und dann den Bürgersteig entlangspazierten. Wie war das nur geschehen? Er nahm überdeutlich wahr, wie sie die Hand in seine Armbeuge schmiegte und wie feminin sie die Hüften schwang, während sie neben ihm herging.

Wie war es gekommen, dass er sich eben noch bei einem Drink entspannt hatte, und jetzt eine Frau, die er gerade erst kennengelernt hatte, zum Abendessen begleitete? Wann hatte er zuletzt so impulsiv gehandelt?

Die Antwort auf die letzte Frage fiel ihm leicht: noch nie.

Isobel spürte die Stärke, die Ethan ausstrahlte, und sie spürte auch die Kraft seines Körpers. Ein Gefühl stieg in ihr auf – ein Kribbeln der Vorfreude, das allein schon die Berührung seines Arms in ihr hervorrief. Der fein gewebte Wollstoff von Ethans Anzug – seinen Nachnamen hatte sie im Lärm der Bar nicht verstanden – war nur Fassade für einen Mann, der sie mehr und mehr interessierte.

Isobels Sinne prickelten vor Erregung, genau wie immer, wenn sie wusste, dass ihr ein besonders gutes Foto gelungen war. Dieses Gefühl regte sich stets dann, wenn sie unmittelbar vor einer Erfahrung stand, die alles übertraf, was sie bisher erlebt hatte. Und da sie sich entschlossen hatte, ein Leben zu führen, in dem sie jeden Augenblick nutzte und bis zur Neige auskostete, war ein Abendessen mit Ethan genau das Richtige für sie.

Sie war keine Frau, die sich dem Nächstbesten an den Hals warf. Aber sie ließ sich auch keine Gelegenheit entgehen, einen angenehmen Abend mit einem attraktiven Mann zu verbringen.

Ihr Instinkt sagte ihr, dass er aufrichtig war und sie nichts von ihm zu befürchten hatte. Ihr Instinkt hatte sie noch nie getrogen. Außerdem hatte sie keinen Grund anzunehmen, dass irgendetwas geschehen würde, das über ein unterhaltsames gemeinsames Essen hinausging. Dieser Mann war absolut nicht ihr Typ. Zu selbstsicher, zu dominant und zu verflixt gut aussehend für ihr seelisches Gleichgewicht. Doch der Abend versprach trotzdem, interessant zu werden.

Sie erreichten das Restaurant, und ihr fiel gleich auf, wie zuvorkommend die Bedienung ihn behandelte. Als sie dann an ihrem Tisch saßen und ihr Rucksack sicher zwischen ihnen auf dem Fußboden stand, konnte sie ein Lächeln nicht unterdrücken.

„Was ist so komisch?“, fragte er, griff nach seinem Glas und trank einen großen Schluck von dem perlenden Mineralwasser. Er begnügte sich nicht mit Leitungswasser.

Sie riss den Blick von der Bewegung der Muskeln an seinem sonnengebräunten Hals los, streckte die Hand nach ihrem eigenen Glas aus und hob es an die Lippen. „Ich staune nur. Sie halten alles für selbstverständlich, nicht wahr?“, bemerkte sie schließlich.

Der verwirrte Ausdruck, der über sein Gesicht huschte, und wie er die dichten, dunklen Augenbrauen zusammenzog, waren Antwort genug. „Ich verstehe nicht ganz.“

„Man behandelt Sie wie einen König“, sagte sie mit einem kleinen Auflachen. „Und es fällt Ihnen noch nicht einmal auf.“

„Ich bin Stammgast und gebe reichlich Trinkgeld“, antwortete er und wirkte ein bisschen beleidigt.

„Das war keine Kritik“, sagte sie leise. „Hier ist eben der Kunde König.“

Es dauerte eine Sekunde, bis ihm die Doppeldeutigkeit ihrer Bemerkung aufging. Dann überraschte er sie, indem er laut loslachte. „Sie kämpfen aber mit harten Bandagen, was?“

Isobel zuckte die Schultern. „Ich bin nun einmal ehrlich und setze gern alles auf eine Karte.“

„Also spielen Sie?“, hakte er nach.

„Nur, wenn ich weiß, dass ich auch gewinne“, räumte sie ein und sah lieber auf ihre Speisekarte, statt dem Blick seiner dunklen Augen zu begegnen.

Kurz dachte sie an ihren letzten Auftrag zurück. Ihre Arbeit als Fotografin bot ihr Gelegenheit, das Beste an einem Menschen einzufangen und ins rechte Licht zu rücken – und auch das Schlechteste. Sie war gut genug, um viel von beidem festzuhalten, und nicht jeder war über die Ergebnisse erfreut.

Ihr letzter Einsatz war gefährlich geworden, als sie von offizieller Stelle des Landes, in dem sie sich aufgehalten hatte, höflich, aber bestimmt gebeten worden war, das Staatsgebiet zu verlassen. Es stand außer Frage, dass die nächste Aufforderung nicht mehr so liebenswürdig gewesen wäre.

Bei diesem besonderen Projekt war sie ein Risiko eingegangen. Doch sie hatte sich aus dem Spiel zurückgezogen, bevor die Lage eskaliert war. Sie würde allerdings zurückkehren, sobald sie ihre nächste Arbeit abgeliefert hatte – einen der langweiligen, aber einfachen Aufträge, die ihr ein gewisses Maß an finanzieller Sicherheit verschafften.

Die Aufnahmen für den neuen Katalog würden im Vergleich zu ihrer sonstigen Tätigkeit ein Kinderspiel sein. Obwohl sie ihr weder Ruhm einbringen würden noch sie emotional forderten, würden sie ihr immerhin so viel Geld verschaffen, dass sie in das kriegszerrissene Land zurückkehren konnte, um ihre Arbeit zu beenden.

„Gewinnen Sie oft?“

Seine Stimme klang weich wie Samt, und Isobel spürte, wie etwas tief in ihr die Herausforderung annahm, die in seiner Frage lag. „So oft ich kann.“

„Es ist kaum ein Glücksspiel, wenn man weiß, dass nichts schiefgehen kann“, bemerkte er, bevor er seine Speisekarte aufschlug.

„Sie können mir nicht zum Vorwurf machen, dass ich lieber auf Nummer sicher gehe.“ Sie deutete mit dem Kopf auf die Karte in seinen Händen. „Was empfehlen Sie mir?“

„Hier ist alles gut, aber besonders das Lamm; es ist mein Lieblingsgericht.“

„Gut. Dann nehme ich es.“

Er schlug die Speisekarte zu und legte sie auf den Tisch. „Einfach so? Wollen Sie nicht noch eine halbe Stunde lang alle Möglichkeiten durchgehen und es sich ein halbes Dutzend Mal anders überlegen?“

„Warum? Machen Sie das normalerweise?“, neckte sie ihn und wusste sehr gut, dass die Antwort in einem nachdrücklichen Nein bestehen würde.

Er schüttelte leicht den Kopf. „Mir ist es lieber, keine Zeit zu verschwenden. Ich bestelle für uns beide.“

„Danke. Damit bin ich einverstanden.“

Sie beobachtete, wie er den Kellner heranrief und ihre Bestellung aufgab, zu der auch eine Flasche Wein gehörte. Wieder behandelte ihn die Bedienung so ehrerbietig wie vorhin.

„Sie müssen wirklich reichlich Trinkgeld geben“, zog sie ihn lachend auf. „Ich könnte schwören, dass der Bursche nahe daran war, vor Ihnen auf die Knie zu fallen.“

„Wohl kaum“, antwortete Ethan trocken, bevor ihm offenbar klar wurde, dass sie sich immer noch über ihn lustig machte. „Ach, ich verstehe, Sie glauben, dass es nicht schaden kann, ein bisschen zu sticheln? Na gut, dann drehe ich den Spieß um. Was machen Sie denn mit Ihrem Geld, da Sie ja ganz eindeutig nicht die Angewohnheit haben, Kellner zu bestechen, um guten Service zu erhalten?“

„Mit meinem Geld?“ Isobel schnitt eine Grimasse. „Das, was ich nicht für Reisen ausgebe, spende ich für wohltätige Zwecke.“

„Ist das Ihr Ernst?“ Er runzelte die Stirn. „Das ist sehr menschenfreundlich von Ihnen.“

„Ich kann kaum etwas ausrichten.“ Traurigkeit schlich sich in ihre Stimme, als sie daran dachte, wie hilflos sie sich gefühlt hatte, als sie versuchte, Menschen in Notsituationen zu unterstützen. „Ich habe gelernt, selbst mit sehr wenig auszukommen.“

„Was ist, wenn Sie älter werden? Wie wollen Sie dann Ihren Lebensunterhalt bestreiten?“

„Darum mache ich mir Gedanken, wenn es so weit ist.“ Sein Stirnrunzeln vertiefte sich und brachte sie dazu, eine Frage zu stellen: „Davon halten Sie nichts?“

„Das habe ich nicht gesagt. Jedem das Seine. In unserem Familienbetrieb arbeiten wir zusammen und verbringen viel Zeit miteinander. Wir haben alle dasselbe Ziel und richten den Blick in die Zukunft. Ich kann mir nicht vorstellen, einfach nur in den Tag hineinzuleben und nicht vorauszuplanen. Allerdings steht, weil es nun einmal ein Familienunternehmen ist, dabei auch die Zukunft vieler anderer Menschen auf dem Spiel, nicht nur meine eigene.“

„Ich bin die Einzige, auf die sich meine Entscheidungen auswirken“, sagte sie nur. „Und das hat eindeutig seine Vorteile.“

Ethan erwiderte ihr Lächeln, und sie ahnte, dass er sie in gewisser Hinsicht um ihre Freiheit beneidete. Das taten die meisten Leute, ohne sich bewusst zu machen, dass sie dafür zugleich einen hohen Preis zahlte. Ethan verfügte offenbar über ein Netzwerk von Menschen, die ihm halfen und ihn unterstützten. Doch sie war daran gewöhnt, auf sich selbst gestellt zu sein.

Sie nutzte das freundschaftliche Schweigen, um ihn noch ein wenig zu betrachten. Die gedämpfte Beleuchtung des Restaurants verwandelte seine markanten Züge in ein Muster aus Licht und Schatten. Seine aristokratische Nase war gerade, seine Oberlippe schmal, aber perfekt geschwungen, die Unterlippe voller, verlockend. Er trug das Haar ordentlich und kurz geschnitten, aber seine Naturlocken ließen sich nicht vollständig zähmen. Isobel fragte sich, wie er wohl aussah, wenn er seine Haare ein wenig wachsen ließe. Wenn er es sich gestattete, etwas weniger diszipliniert zu wirken. Es juckte sie in den Fingern, nach der Kamera in ihrem Rucksack zu greifen und Aufnahmen von ihm zu machen.

Autor

Yvonne Lindsay

Die in Neuseeland geborene Schriftstellerin hat sich schon immer für das geschriebene Wort begeistert. Schon als Dreizehnjährige war sie eine echte Leseratte und blätterte zum ersten Mal fasziniert die Seiten eines Liebesromans um, den ihr eine ältere Nachbarin ausgeliehen hatte. Romantische Geschichten inspirierten Yvonne so sehr, dass sie bereits mit...

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