Collection Baccara Band 345 - Titel 2: So sexy und geheimnisvoll

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Wie weit gehst du mit einem Mann, über den du nichts weißt? Für Jeannette eine brisante Frage. Denn der geheimnisvolle Fremde, dessen Haus sie im einsamen Thunder Canyon betreut, ist eine einzige Versuchung! Aber vor wem versteckt er sich in dieser Abgeschiedenheit?


  • Erscheinungstag 16.09.2014
  • Bandnummer 0345
  • ISBN / Artikelnummer 9783733722920
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Jeannette Williams stellte den Staubsauger in die Abstellkammer und schloss die Tür. Nervös zog sie das Band um ihren Pferdeschwanz enger. Sie war sehr erschöpft und müde. Noch müder, als wenn sie den ganzen Tag lang hinter ihrem viereinhalbjährigen Sohn hergelaufen wäre. Wenn sie nicht bis vier Uhr mit ihrer Arbeit in diesem auf einem Berg gelegenen Holzhaus fertig wurde, konnte sie das ihren Job kosten.

In der Küche kam es ihr vor, als hätte sie plötzlich nur noch Daumen statt Finger. Denn als sie den teuren gemahlenen Kaffee in eine Dose schütten wollte, rutschte ihr die glatte Packung aus den Händen und landete auf dem Boden. Überall auf dem Küchentresen und dem Boden hatte sich das Kaffeepulver verteilt. Mist!

Doch Jeannette war daran gewöhnt, die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Und sie hatte auch Übung darin, etwas aufzusammeln – Scherben zum Beispiel. Seit ihr Verlobter noch vor der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes gestorben war, gehörte das zu ihrem Alltag. Aber heute fiel es ihr schwer, die Fassung zu bewahren. Sie hatte noch eine komplette Abendschicht als Kellnerin in einem Restaurant vor sich. Eine Arbeit, die sie nicht besonders mochte. Sie war kurz davor aufzugeben. Aber das konnte sie sich nicht leisten. Seit ihr Sohn Jonah auf der Welt war, hatte sie den Begriff ‚aufgeben‘ aus ihrem Wortschatz gestrichen.

Sie holte Kehrblech und Handfeger aus der Abstellkammer, kniete sich hin und säuberte die Fliesen.

Plötzlich hörte sie von draußen ein Geräusch. Sie hob den Kopf in dem Moment, als sich die Hintertür zur Küche öffnete. Ein großer Mann mit einem schwarzen Stetson auf dem Kopf stand im Türrahmen und schaute sie überrascht an. Offenbar war er genauso erstaunt über diese unerwartete Begegnung wie sie. Kinn und Wangen seines markanten Gesichts zierte ein Drei-Tage-Bart. Die Ärmel seines Baumwollhemdes waren hochgerollt und entblößten muskulöse Unterarme. Seine braunen Stiefel waren staubig. Für einen endlos scheinenden Moment blickte sie in seine grünen Augen. Er sah zutiefst traurig aus. Doch eine Sekunde später war sie überzeugt davon, sich getäuscht zu haben. Denn sein Blick drückte nichts anderes aus als Ärger und Ungeduld.

„Es tut mir leid, dass ich noch hier bin“, beeilte sie sich zu sagen. „Es dauert nur noch ein paar Minuten. Ich war ein bisschen spät dran und wollte gerade gehen, da habe ich versehentlich den Kaffee verschüttet …“

„Verschwinden Sie“, knurrte er unhöflich.

„Ich brauche nur noch zwei Minuten, wirklich“, versuchte sie ihn zu beschwichtigen.

„Gehen Sie“, befahl er knapp. „Ich mache das selbst.“

Aus ihren schriftlichen Anweisungen wusste sie, dass diesem Kunden seine Privatsphäre heilig war. Er war ein alleinstehender Mann, der keinerlei Störungen wünschte. Jeannette spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und blinzelte sie schnell weg. Jetzt zu weinen wäre der Gipfel der Demütigung gewesen. Sie brach ja auch nicht in Tränen aus, wenn bestimmte männliche Gäste sie mit widerlich anzüglichen Kommentaren bedachten. Aber dieser Mann rührte etwas in ihr an. Es war die traurige Aura, die durch seine schroffe und abweisende Fassade hindurchschimmerte. Oder ihr Gefühlsausbruch lag schlichtweg daran, dass sie zu Tode erschöpft war und allmählich verrückt wurde. Mit einer ärgerlichen Handbewegung wischte sie sich eine einzelne verräterische Träne von der Wange.

Dem Mann, der hier wie ein Einsiedler lebte, entging ihre Gemütslage offenbar nicht, denn er stieß ungehalten den Atem aus, schloss die Tür und trat neben sie. Er war fast einen Meter neunzig groß, breitschultrig und sehr durchtrainiert.

Jeannette lief ein Schauer über den Rücken. Sie hatte keine Ahnung, warum. Aufmerksam studierte er ihr Gesicht.

Dann ließ er sich ebenfalls auf die Knie nieder. „Ich helfe Ihnen, diese Bescherung zu beseitigen.“

Das hatte sie nun nicht erwartet. Aber sie hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass sich die guten ebenso wie die schlechten Dinge im Leben meistens ereigneten, wenn man gar nicht damit rechnete. Für eine kurze Weile arbeiteten sie schweigend, aber einträchtig zusammen. Während Jeannette das Kaffeepulver mit dem Handfeger aufkehrte, benutzte er seine großen Hände, um die braunen Krümel auf das Kehrblech zu befördern.

Die Vorstellung, ihre Stelle zu verlieren, beunruhigte sie nach wie vor. Sie räusperte sich. „Ich brauche diesen Job. Ich habe einen Sohn. Natürlich werde ich Ihnen den Kaffee ersetzen.“ Nervös betrachtete sie ihn von der Seite. Er kam ihr seltsam bekannt vor. Aber das konnte eigentlich nicht sein. An eine Begegnung mit diesem Mann würde sie sich bestimmt erinnern.

Versehentlich streifte er ihre Hand. Verflixt, schon wieder so ein Schauer!

Sie blickte in seine unglaublich grünen Augen und hatte das Gefühl, darin zu ertrinken. „Entschuldigung“, murmelte sie und kam sich dabei völlig idiotisch vor. Wann hatte sie sich das letzte Mal so benommen? So ungeschickt und fahrig? Und wann hatte sie sich zuletzt derart von einem Mann angezogen gefühlt?

Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie dadurch ihre Gedanken vertreiben. Unwillkürlich dachte sie an Ed und den Unfall und daran, was ihr Verlobter alles für sie getan hatte. Vermutlich war es für ihn genauso anstrengend gewesen, mit zwei Jobs zu jonglieren, wie für sie.

„Ich habe das Trinkgeld, das Sie für mich hingelegt haben, nicht genommen“, erklärte sie mit brüchiger Stimme und schluckte. „Ich habe es wirklich nicht verdient. Wenn Sie das nächste Mal Extraaufgaben für mich haben, schreiben Sie einfach eine Liste.“ Sie wusste, wie verzweifelt sie sich anhörte. Aber das war sie ja schließlich auch. Sie wünschte sich, er würde etwas sagen. Ohne darüber nachzudenken, legte sie ihm leicht die Hand auf den Arm. „Ich brauche diesen Job wirklich dringend.“

Seine gebräunte Haut war warm und glatt. Ihre Fingerspitzen kribbelten. Rasch zog sie die Hand zurück. Was war nur mit ihr los?

„Das ist schon in Ordnung“, sagte er, als sie schon befürchtete, er würde nie wieder mit ihr sprechen. „Unfälle passieren eben. Ich hätte in der Einfahrt nachschauen sollen, ob Ihr Wagen noch da steht, als ich vom Wandern zurückkam. Aber sonst waren Sie bei meiner Rückkehr immer schon weg.“

Es war ihm ein großes Anliegen, jede Begegnung mit ihr zu vermeiden. Das war Bestandteil dieses Jobs.

„Es wird nicht wieder vorkommen“, versprach sie.

Er nahm ihr Besen und Kehrblech aus der Hand, stand auf und schüttete das Kaffeemehl in den Mülleimer.

Nachdem er seine Hände gesäubert hatte, drehte er sich zu ihr um. „Wir vergessen das alles einfach. Es bleibt unser Geheimnis. Unter einer Bedingung.“

Jeannette erhob sich gleichfalls, reckte das Kinn vor und blickte ihm in die Augen. Eine Bedingung? Sie wurde noch nervöser. Was mochte er von ihr erwarten? Er war zweifellos ein sehr attraktiver Mann, aber sie würde sich keinesfalls mit ihm einlassen.

Er grinste breit, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Erzählen Sie niemandem, dass Sie mich hier gesehen haben.“

Erleichtert atmete sie auf. Aber irgendwo tief in ihrem Inneren verspürte sie auch einen Anflug von Enttäuschung. Einen Anflug, wohlgemerkt! In dem Moment, als er von einer Bedingung sprach, hatte sie sich vor ihrem geistigen Auge bereits in seinen muskulösen Armen gesehen.

„Kein Sterbenswort wird über meine Lippen kommen“, erklärte sie ernst.

Er reichte ihr die Hand, um ihr Abkommen zu besiegeln. Sie ergriff sie und war sich seiner Berührung, wie schon zuvor, nur allzu bewusst. Sein Händedruck war fest, aber behutsam. Für einen kurzen Moment konnte sie kaum atmen. Ihr Herz begann zu rasen. Abrupt ließ sie seine Hand los und trat einen Schritt zurück.

„Soll ich die Küche nicht besser noch einmal feucht wischen?“, fragte sie und deutete verlegen auf den Fußboden.

„Das ist nicht nötig“, erwiderte er brüsk.

Obwohl sie noch vor wenigen Minuten so etwas wie eine Verbindung zwischen ihnen gespürt hatte, wollte er nun offensichtlich, dass sie ging. Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran. Sie würde seinen Wunsch unverzüglich erfüllen. Hauptsache, sie behielt ihren Job. Hastig nahm sie ihre Handtasche und den Autoschlüssel vom Küchentresen.

„Wie heißen Sie eigentlich?“, fragte er, bevor sie den Raum verlassen konnte.

„Jeannette. Jeannette Williams.“

„Sie haben etwas vergessen, Jeannette“, sagte er und reichte ihr den Geldschein, den er morgens unter die Thermoskanne geschoben hatte.

„Ich habe kein Trinkgeld verdient.“

„Unsinn. Natürlich haben Sie das. Ein bisschen verschütteter Kaffee ändert nichts an der Tatsache, dass Sie hervorragende Arbeit leisten. Hier ist es so sauber wie nie zuvor. Und dass Sie meine Einkäufe erledigen, erleichtert mir das Leben ungemein.“

Sie dachte an Jonah und die Wohnung, in die sie vor einigen Monaten gezogen waren. Und sie dachte an den Stapel unbezahlter Rechnungen auf dem Küchentisch. Schließlich nahm sie den Geldschein aus der Hand dieses rätselhaften Mannes.

Mit einem gemurmelten Dank verließ sie das Haus. Sie überlegte, ob der silberfarbene Geländewagen in der Garage wohl jemals benutzt wurde. Außerdem fragte sie sich, wie es dieser Mann so allein auf dem Berg aushalten konnte.

Aber der Gedanke an ihren Sohn und den Job in einem Schnellrestaurant holte sie schnell in ihre Wirklichkeit zurück. Für Jonah würde sie alles tun, gleichgültig, wie schwer oder unbequem es auch sein mochte.

Als sie jedoch über die unbefestigte Schotterpiste fuhr und inständig hoffte, sie würde es auch diesmal ohne einen platten Reifen schaffen, kam ihr das flüchtige Lächeln des einsamen Mannes in dem abgelegenen Holzhaus in den Sinn. Augenblicklich beschleunigte sich ihr Herzschlag.

Nachdem Jeannette Williams gegangen war, fühlte Zane Gunther sich, als wäre er soeben von einem Wirbelwind gestreift worden. Diese Frau war unversehens in seine Privatsphäre eingedrungen, hatte ihn möglicherweise erkannt und gefährdete damit seine Tarnung. Und zu allem Überfluss konnte er nicht leugnen, dass er sich sehr von ihr angezogen fühlte.

Er hängte seinen Stetson an den dafür vorgesehenen Wandhaken in seiner gut ausgestatteten Küche und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Seit dem Ereignis im April war er ein anderer Mensch geworden. Er war nicht mehr in der Lage, Songs zu schreiben. Und von Singen konnte schon gar keine Rede mehr sein.

Zane ging ins Wohnzimmer und schaute mit leerem Blick zu der Treppe, die in die obere Etage führte. Dort stand seine Gitarre an einen Tisch gelehnt. Er hatte keine Ahnung, warum er sie überhaupt mit hierhergebracht hatte.

Wie sollte er komponieren und kreativ sein, wo doch auf seinem letzten Konzert ein dreizehn Jahre altes Mädchen verunglückt war? Die Presse hatte ihn daraufhin als einen arroganten Star dargestellt, dem das Schicksal seiner Fans völlig gleichgültig zu sein schien. Sogar seine Mutter bekam die Auswirkungen dieser Hetzkampagne zu spüren. Ihre sonst innige Beziehung litt darunter. Alles um ihn herum schien derzeit zusammenzubrechen.

Als er ein Geräusch an der Eingangstür hörte, fuhr er herum. Hatte die Reinigungskraft vielleicht etwas vergessen? Sie war sehr hübsch mit ihrem seidigen blonden Haar und den kornblumenblauen Augen. Und ihre Figur … atemberaubend. Bestimmt hatte sie ihn erkannt. Hoffentlich dachte sie an ihr Versprechen und behielt ihre Begegnung für sich.

Er ging zur Tür und öffnete sie. Als er seinen Besucher erblickte, wusste er für einen Moment nicht, ob er enttäuscht oder erleichtert sein sollte. Bis zum heutigen Tag war Dillon Traub sein einziger Gast in diesem Haus gewesen.

„Wer ist da gerade weggefahren?“, erkundigte sich Dillon neugierig und stellte diverse Behälter mit chinesischem Essen auf den Küchentisch.

„Hast du sie nicht gesehen?“

„Du hattest eine Frau zu Besuch?“, fragte Dillon mit erhobenen Augenbrauen.

„Meine Putzfrau. Als ich vom Wandern zurückkam, war sie noch hier.“

„Oh“, murmelte Dillon betreten.

„Nun ja, wir haben so eine Art Abkommen getroffen. Sie wird niemandem etwas von mir erzählen.“

„Und was hast du ihr im Gegenzug angeboten?“

Dillon war letztes Jahr nach Thunder Canyon gezogen. Er war ein glücklich verheirateter Mann mit einer fast drei Jahre alten Tochter. Zane und er hatten gemeinsam in Midland, Texas, die Schule besucht. Sie kannten sich viel zu gut, um Geheimnisse voreinander zu haben.

„Sie hatte Kaffeepulver verschüttet und war noch dabei, die Bescherung wegzuwischen, als ich in die Küche kam. Sie befürchtete, deswegen ihren Job zu verlieren. Also habe ich ihr versprochen, dass ich der Vermittlungsagentur nichts davon und auch nichts von ihrer Verspätung erzähle, wenn sie meine Anwesenheit hier für sich behält. Wie ich sie einschätze, hält sie sich daran.“

„Wie großzügig … Wie lange hast du denn mit ihr geredet?“

„Ungefähr zehn Minuten. Aber wir haben nicht viele Worte gewechselt. Wir waren mit Putzen beschäftigt.“

Dillon machte sich daran, die Behälter mit dem Essen zu öffnen, und warf seinem Freund einen misstrauischen Blick zu. „Was ist mit dir los? Hat sie dir gefallen? Wie alt ist sie denn?“

„Ich schätze sie auf Ende zwanzig. Und ja, sie hat mir gefallen.“

„Und?“, fragte Dillon und schürzte die Lippen.

„Was und?“

„Na ja, vielleicht kehrst du ja endlich wieder ins Leben zurück. Und vielleicht siehst du ein, dass du nicht für immer einsam und allein auf diesem Berg hausen kannst. Du bist schon vier Monate hier, Zane. Außer Erika und mir hast du keine Menschenseele gesehen. Du hast nicht einmal ein Telefon und musst mit deiner Mutter und deinem Anwalt über mich Kontakt halten. Übrigens, deine Mutter hat sich darüber beschwert, dass du dich viel zu selten bei ihr meldest.“

Zane verdrehte die Augen. „Du weißt ganz genau, dass ich ein Handy besitze. Ich habe hier oben nur keinen Empfang. Dazu muss ich erst ins Tal fahren. Ich rufe meine Mutter einmal die Woche an. Bist du es leid, Nachrichten für mich anzunehmen?“

Dillon öffnete eine Schublade und nahm einen Servierlöffel heraus, den er in das Essen steckte: gebratenes Hähnchenbrustfilet mit gemischtem Gemüse. „Das ist nicht das Problem. Erika und ich verstehen sehr gut, wie dringend du Zeit für dich und Ruhe brauchst. Und dass du dich in diese Abgeschiedenheit zurückgezogen hast, weil die Paparazzi dich jagen. Aber du musst irgendwann einmal in die wirkliche Welt zurückkehren und dich alldem stellen.“

Zane zuckte mit den Schultern. „Jetzt noch nicht.“ Und vielleicht nie, fügte er im Stillen hinzu.

Während er in der Schublade nach Gabeln suchte, blickte Dillon seinen Freund ernst an. „Welche Augenfarbe hatte sie?“

Am nächsten Morgen verließ Jeannette mit ihrem Sohn an der Hand die Vermittlungsagentur für Reinigungskräfte. Abwesend beobachtete sie den Verkehr auf der viel befahrenen Oak Avenue. Sie war soeben entlassen worden. Man hatte ihr eine lahme Ausrede aufgetischt, aber sie kannte die Wahrheit.

Jonah zog an ihrer Hand. Sein dichtes braunes Haar war wie üblich etwas zerzaust, und er strahlte sie aus seinen tiefblauen Augen unternehmungslustig an. „Können wir jetzt endlich zum Kindergarten?“

Heute war Jonahs erster Tag im Kindergarten. Jeannette hatte ihren Zeitplan darauf abgestimmt, Jonah dorthin bringen zu können, wieder abzuholen und anschließend bei Edna und Mel Lambert abzuliefern. Edna und Mel waren Eds Eltern und bestanden darauf, ihren Enkelsohn zu hüten, wenn Jeannette arbeiten musste und der Kindergarten geschlossen war. Ihre Schicht in dem Schnellrestaurant dauerte von elf bis vier. Für die Kellnerinnen gab es ein Rotationssystem, und Jeannette hatte an diesem Abend frei. Die Putzjobs mit ihrer Arbeit als Kellnerin zu vereinbaren, hatte bisher gut funktioniert. Aber nun gab es keine Putzjobs mehr. Verzweifelt überlegte sie, wie sie in Zukunft das Geld für Jonahs Kindergarten aufbringen sollte.

Sie schluckte den Anflug von Mutlosigkeit herunter, drückte Jonahs kleine Hand und blickte ihm in die Augen. „Ja, wir fahren jetzt zum Kindergarten. Freust du dich schon auf die anderen Kinder?“

Er nickte heftig und sah sie dabei lachend an.

Jeannette konnte es immer noch kaum fassen, dass der seltsame Mann vom Berg sich tatsächlich bei der Agentur über sie beschwert hatte. Immerhin hatten sie ja ein Abkommen getroffen. Sie spürte immer noch, wie seine Hand sich fest um ihre Finger geschlossen hatte. Auch seinen Duft hatte sie noch in der Nase. Und sie konnte sich gut an die Traurigkeit in seinen Augen erinnern.

Sie hätte es besser wissen müssen. Es war falsch gewesen, einem völlig Fremden zu vertrauen. Nun musste sie sich einen neuen Job suchen, den sie mit dem Schichtsystem des Restaurants kombinieren konnte. Das war nicht einfach.

Während sie mit Jonah an der Hand langsam zur Oak Avenue ging, erblickte sie plötzlich einen silberfarbenen Geländewagen, der auf den Parkplatz der Agentur fuhr. Dieser Wagen sah genauso aus wie der, den sie in der Garage neben dem Haus auf dem Berg gesehen hatte.

Sie traute ihren Augen kaum, als ihr rätselhafter Fremder dem Fahrzeug entstieg und mit langen Schritten zum Eingang der Agentur eilte.

Er hatte den Stetson tief in die Stirn gezogen und trug eine dunkle Sonnenbrille. Was machte er hier? Hatte er nicht bereits genug Schaden angerichtet?

Er schaute in ihre Richtung, blieb abrupt stehen und kam näher. Auf seinen sinnlichen Lippen lag ein leichtes Lächeln. „Oh, hallo. Ich hätte nicht erwartet, ausgerechnet Sie hier zu treffen.“

„Das kann ich mir denken“, gab sie indigniert zurück. Sie konnte seine Augen nicht erkennen, nur ihr eigenes Spiegelbild in den getönten Gläsern der Sonnenbrille.

„Es ist ganz schön kühl heute“, sagte er liebenswürdig.

Wollte er sich über sie lustig machen? Er konnte doch unmöglich Lust auf einen harmlosen Smalltalk haben. Er musste doch wissen, was ihr gerade widerfahren war.

„Ist das Ihr Sohn?“, fragte er und suchte ihre Hand nach einem Ehering ab.

Natürlich konnte er keinen finden. Sie hatte nie die Chance gehabt, einen zu tragen.

„Ich heiße Jonah“, piepste der Knirps. Jeannette unterdrückte ein Seufzen. Jonah war viel zu arglos und freundlich. Sie hatte mehr als einmal mit ihm darüber gesprochen, dass er Fremden nicht ohne Weiteres sein Vertrauen schenken durfte. Wie es aussah, war sie damit nicht besonders erfolgreich gewesen.

„Das ist aber ein schöner Name. Wo willst du denn hin? Dein Rucksack sieht ganz neu aus.“

Stolz drehte Jonah sich um, damit der Mann seinen erst kürzlich erworbenen Kinderrucksack gebührend bewundern konnte. „In den Kindergarten“, vertraute er seinem Gesprächspartner an. „Mommy sagt, da kann ich malen und basteln und auf dem Spielplatz toben. Da muss ich vielleicht auch mal stillsitzen, das mach ich aber nicht so gerne.“

Der Mann musste angesichts von Jonahs verhaltenem Enthusiasmus lachen. Jeannette dagegen unterdrückte das dringende Bedürfnis, ihren Sohn in die Arme zu nehmen und schleunigst ins Auto zu setzen. Abgesehen von ihr selbst, Edna und Mel hatte er nicht besonders viel Kontakt zu anderen Menschen. Er war viel zu offen und zugänglich. Es versetzte ihr einen Stich, dass er ausgerechnet diesem Mann seine kindlichen Sorgen anvertraute.

„Wie alt bist du denn?“

„Vier. Ich werd aber bald schon fünf“, plapperte Jonah weiter. „Im Februar habe ich Geburtstag. Mommy sagt, ich war ihr Va… Valem… Valentinsgeschenk.“

Dem Mann war deutlich anzumerken, dass er sich bei Jonahs Bemühen, das schwierige Wort richtig auszusprechen, erneut ein Lachen verkneifen musste. Jeannette wünschte sich nichts sehnlicher, als dieser für sie sehr peinlichen Situation möglichst schnell ein Ende zu bereiten. Denn sie fühlte sich trotz allem zu diesem seltsamen Mann hingezogen. Dabei hatte er für ihre Entlassung gesorgt und benahm sich nun, als wäre alles in bester Ordnung.

„Wir müssen gehen“, sagte sie kühl.

Er machte keine Anstalten, sie vorbeizulassen. „Es tut mir leid, dass ich gestern so unhöflich war. Ich habe wohl überreagiert. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen.“

Er entschuldigte sich für sein unfreundliches Benehmen? Und was war mit der Tatsache, dass sie seinetwegen ihren Job verloren hatte? Das wurde ihr jetzt definitiv zu bunt.

Jonah offenbar auch, er stand nicht mehr im Mittelpunkt und zupfte ungeduldig am Ärmel des Mannes. „Mommy und ich sind heute ganz früh aufgestanden. Wir mussten hierhinkommen. Mommy ist gefeuert worden. Wir müssen aber nicht die Feuerwehr rufen.“

Der Mann erstarrte für einen Moment, nahm die Sonnenbrille ab und steckte sie in die Brusttasche seines Hemdes. „Das erklärt natürlich, warum Sie so reserviert sind. Sie glauben, ich habe unsere Abmachung nicht eingehalten und mich bei der Agentur über Sie beschwert.“

„Haben Sie das etwa nicht?“, fragte Jeannette verwirrt.

„Nein. Ich bin hier, um eine Lohnerhöhung für Sie zu erwirken. Als Gegenleistung für alles, was Sie bis jetzt für mich getan haben. Ich halte mich für gewöhnlich an meine Versprechen.“

„Manchmal werden Versprechungen nur so dahin gesagt“, erwiderte sie bitter. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie oft Ed über ihre baldige Hochzeit geredet hatte. Nur, um es dann doch nicht zu tun.

„Nicht in meinem Fall. Ich habe mich an die Abmachung gehalten. Was genau ist denn passiert?“

„Nun, wenn Sie sich nicht beschwert haben …“ Jeannette hielt nachdenklich inne. „Der Manager sagte mir, die Auftragslage sei im Moment sehr schlecht. Und dass er diejenigen, die er zuletzt eingestellt hat, zuerst entlässt. Vielleicht ist das ja die Wahrheit.“

„Ich kann mir durchaus vorstellen, dass derzeit nicht besonders viele Leute eine Reinigungskraft engagieren. Die aktuelle Wirtschaftslage ist nicht gerade rosig. Wenn Sie wollen, werde ich ein gutes Wort für Sie einlegen, damit Sie wieder eingestellt werden.“

„Aber wie sollte das möglich sein?“

Jonah fing an, sich ernsthaft zu langweilen. „Fahren wir jetzt los?“ Vertrauensvoll umfasste er einen Finger des fremden Mannes. „Sie können auch mitkommen.“

Jeannette strich ihrem Sohn übers Haar. „Oh nein, Jonah. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er das nicht kann.“

„Sie hat recht. Ich kann leider nicht. Aber ich wünsche dir viel Spaß im Kindergarten.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Jeannette zu. „Darf ich Sie zum Mittagessen einladen? Dann können wir in Ruhe über alles sprechen.“

„Ich fürchte, ich habe keine Zeit. Um elf Uhr fängt meine Schicht im LipSmackin’ Ribs an. Ich arbeite dort als Kellnerin.“

Als er ein abfälliges Brummen von sich gab, fragte sie sich, ob er damit diese Art von Job meinte. Sie hielt sich damit über Wasser. Und es war ihr ziemlich egal, ob sie Hunde ausführen oder einen Friseursalon ausfegen musste. Das hatte sie alles schon gemacht.

„Das mache ich, um meine Rechnungen bezahlen zu können“, sagte sie und hob angriffslustig den Kopf.

Er schüttelte den Kopf. „Bei Ihnen scheine ich aber auch in jedes Fettnäpfchen zu treten. Tut mir leid. Ich bin mit Dillon Traub befreundet. Sein Cousin DJ ist der Eigentümer vom Rib Shack. Ihm behagt die neue Konkurrenz überhaupt nicht. Und mir selbst gefällt die Atmosphäre im LipSmackin’ Ribs nicht besonders. Es hat also gar nichts mit Ihnen zu tun. Können wir uns nicht treffen, wenn Ihre Schicht zu Ende ist?“

„Ich muss Jonah abholen und zu seinem Babysitter bringen.“

„Und wie sieht es mit einer Kaffeepause aus?“, fragte er und lächelte amüsiert.

Dieses Lächeln jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Die Auswirkungen, die seine Nähe auf sie hatten, waren ebenso heftig wie erstaunlich. Es war sieben Jahre her, seit Ed sie um eine erste Verabredung gebeten hatte. Und seit seinem Tod hatte sie nicht einmal an einen anderen Mann gedacht.

Aber nun stand dieser rätselhafte Einsiedler vor ihr und beschleunigte durch seine bloße Anwesenheit ihren Herzschlag.

„Sie können Dillon gern anrufen. Er wird Ihnen bestätigen, dass ich ein harmloser und anständiger Kerl bin“, sagte er freundlich, zog eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und reichte sie ihr.

Jeannette warf einen kurzen Blick darauf. Dr. Dillon Traub. Sie hatte im Restaurant Gerüchte über ihn gehört. Ein Arzt, der gleichzeitig Erbe eines gigantischen Ölimperiums war. Auf der Karte standen zwei Telefonnummern. Noch zögerte sie, die Einladung ihres Berg-Eremiten anzunehmen. Ihr gesunder Menschenverstand warnte sie eindringlich davor. Außerdem wäre es ihr sehr unangenehm, Eds Eltern fürs Babysitten in Anspruch zu nehmen, weil sie eine Verabredung mit einem Mann hatte. Andererseits hatte sie gehört, dass Dr. Traub eine große Klinik in Thunder Canyon eröffnet hatte. Er schien ein geachteter Mitbürger zu sein und genoss einen guten Ruf. Das sprach natürlich auch für den seltsamen Fremden, der behauptete, sein Freund zu sein.

„Ich kenne noch nicht einmal Ihren Namen“, sagte sie ausweichend.

„Ich heiße Zane.“

„Einfach nur Zane?“, hakte sie nach.

Autor

Karen Rose Smith
Karen Rose Smith wurde in Pennsylvania, USA geboren. Sie war ein Einzelkind und lebte mit ihren Eltern, dem Großvater und einer Tante zusammen, bis sie fünf Jahre alt war. Mit fünf zog sie mit ihren Eltern in das selbstgebaute Haus „nebenan“. Da ihr Vater aus einer zehnköpfigen und ihre Mutter...
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