Bianca Exklusiv Band 260

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NIMM MICH MIT INS PARADIES von HUDSON, JANIS REAMS
So schön sie auch ist: Eigentlich ist die kühle Anna ganz und gar nicht Gavins Typ. Irgendetwas aber reizt den lebensfrohen Songwriter daran, sie mit seiner warmen Musik zum Schmelzen zu bringen. Ob Anna seine ungewöhnliche Liebeserklärung verstehen wird?

ROMANZE UNTERM REGENBOGEN von KAY, PATRICIA
Als Maggie nach Rainbow's End zurückkehrt, wird dem Sheriff Zach Tate blitzschnell klar: Sie ist und bleibt seine Traumfrau, mit der er unbedingt einen Neuanfang will. Wenn sie ihn jedoch ein zweites Mal verlässt, würde sein Herz endgültig brechen …

GEWAGTES SPIEL MIT SÜßEN FOLGEN von RIMMER, CHRISTINE
Zehn Jahre hat der gefragte Anwalt Tucker Bravo die hübsche Lori nicht gesehen! Als sie jetzt nach Texas zurückkehrt, will er endlich mit ihr eine Familie gründen. Er ahnt nicht, welches Geheimnis Lori davon abhält, auf seine zärtlichen Avancen einzugehen …


  • Erscheinungstag 17.07.2015
  • Bandnummer 0260
  • ISBN / Artikelnummer 9783733730215
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Janis Reams Hudson, Patricia Kay, Christine Rimmer

BIANCA EXKLUSIV BAND 260

JANIS REAMS HUDSON

Nimm mich mit ins Paradies

Abgesehen von dem umwerfenden Charme, mit dem der Songwriter Gavin Marshall die ernste Anna zutiefst verwirrt, erscheint der Motorradfreak kaum besser als ihr spielsüchtiger Bruder. Gavin gibt so wenig auf Konventionen, dass es Anna Angst macht. Und sein Lachen ist so überwältigend, dass es sie von einer Zukunft träumen lässt. Aber die kann es nicht geben ...

PATRICIA KAY

Romanze unterm Regenbogen

Sehr jung ist Maggie Callahan, als sie aus der Enge ihrer Heimatstadt nach New York flieht. Erst Jahre später kehrt sie, elegant und erfolgreich, zurück – und trifft ihre Jugendliebe Zach wieder. Damals musste sie ihn für ihre Träume aufgegeben. Jetzt macht der attraktive Sheriff ihr verführerisch klar, dass sein Herz ihr eine zweite Chance gibt ...

CHRISTINE RIMMER

Gewagtes Spiel mit süßen Folgen

Anstelle ihrer Zwillingsschwester geht Lori mit dem attraktiven Tucker Bravo zu einem Ball. Schon immer hat sie ihn insgeheim geliebt! Nach einer heißen Nacht aber verlässt sie möglichst schnell die Stadt. Erst zehn Jahre später sehen sie sich wieder, und Tucker spricht gleich von Heirat! Doch Lori weiß: Erst wird sie ihm ihr Geheimnis verraten müssen …

1. KAPITEL

Es war eine typisch arbeitsreiche Woche gewesen, die mit einem typisch hektischen Freitag geendet hatte. Alles deutete darauf hin, dass es ein typisch ruhiges Wochenende in Oklahoma Citys typisch friedlichem Vorort Warr Acres werden würde.

Bis sie nach Hause kam.

Am Freitagabend hielt Anna Collins in ihrer Einfahrt. Bei laufendem Motor stieg sie aus und ging langsam zum Briefkasten an der Veranda. Sie wollte rennen, aber das hätte nicht zu ihr gepasst.

Sei da, sei da, bat sie stumm.

Mit zitternder Hand griff sie hinein. Sie ertastete die Umschläge und zog sie heraus. Eine Rechnung von Oklahoma Gas and Electric. Ein Gutschein für einen preisgünstigen Auspuff. Ein langer brauner Umschlag von …

Es ist gekommen! Es ist gekommen! jubelte sie in Gedanken.

Nach einem Blick über die Schulter, um sicher zu sein, dass niemand sie beobachtete, presste sie den Umschlag von der University of Central Oklahoma an sich und seufzte. Endlich. Ihr Antrag auf Zulassung zum Studium.

Jetzt brauchte sie nur noch den Fragebogen auszufüllen und ihn zusammen mit dem Abschlusszeugnis der Highschool und den Ergebnissen des Collegeeignungstests abzuschicken und zu warten, ob sie angenommen worden war. Das dürfte kein Problem sein. Dann würde sie sich einschreiben und mit den Kursen beginnen.

Endlich. Anna Lee Collins ging aufs College.

Seit der Kindheit hatte sie davon geträumt. Träume waren etwas, das Anna Collins sich normalerweise nicht gestattete, aber dieser war einfach nicht zu unterdrücken gewesen. Und fast genauso unmöglich zu verwirklichen. Sie war dreißig und bewarb sich erst jetzt um einen Studienplatz. So lange hatte es gedauert, die Schulden ihrer Eltern abzuzahlen, ihr Leben in den Griff zu kriegen, das ihres Bruders und ihre eigenen Finanzen.

Aber jetzt hatte sie das Geld. Endlich war es soweit. Obwohl sie tagsüber arbeiten und abends studieren würde, freute sie sich riesig. Der ersehnte Abschluss in Buchhaltung war zum Greifen nah.

College! Ich gehe aufs College! freute sie sich.

Anna wirbelte herum und hätte am liebsten einen Luftsprung gemacht, doch sie zwang sich, ruhig zur Einfahrt zu gehen. Sie schloss die Garage auf. Knarrend glitt das alte hölzerne Tor nach oben, und Anna stöhnte auf, als sie sah, was dahinter stand.

Das Motorrad ihres Bruders.

„Oh nein“, entfuhr es ihr. Sie liebte Ben. Wirklich, das tat sie. Aber …

Aber nichts. Dass er wieder einmal unangekündigt heimgekommen war, hieß nicht, dass er hier war, weil er Geld brauchte. Oder doch?

Wenn ja, was sollte sie tun? Sie musste sparen und hatte keinen Penny übrig. Aber sie hatte Ben noch nie abgewiesen. Wäre es fair, jetzt damit zu beginnen, ohne Vorwarnung?

Anna knabberte an ihrer Unterlippe. Als es ihr bewusst wurde, hörte sie auf und schloss das Tor. Für das Motorrad und ihren achtzehn Jahre alten Chevy war nicht genug Platz in der Garage.

Sie stellte den Motor ab, nahm ihre Tasche und ging zur Haustür, den Brief von der Universität in der Hand. Leise ging sie hinein, denn vielleicht schlief Ben. Falls er wie sonst die ganze Nacht hindurchgefahren war, lag er auf der Couch oder seinem Bett, das Gesicht nach unten und für mindestens achtzehn Stunden außer Gefecht.

Sie behielt recht. Da lag er, auf der Couch im Wohnzimmer, und trug nichts als schäbige Jeans. Ein weißes T-Shirt hing über der Reisetasche an der Wand. Daneben standen braune Lederstiefel, ein kleiner schwarzer Kulturbeutel, ein grellgelber Motorradhelm und … eine Gitarre? Seit wann spielte Ben Gitarre?

Kopfschüttelnd schloss Anna die Haustür. Woher mochte er diesmal gekommen sein. Die helleren Streifen in seinem blonden Haar und der gebräunte Rücken ließen vermuten, dass er am Strand gewesen war. Aber an welchem? Ostküste, Westküste oder am Golf? Und so muskulös war er bei seinem letzten Besuch auch nicht gewesen.

„Ben?“

Keine Antwort.

Anna zuckte mit den Schultern. Sie müsste sich längst daran gewöhnt haben, dass er von Zeit zu Zeit auftauchte. Ohne Vorankündigung. Immer wenn er pleite war. Er war vierundzwanzig. Wann würde er sich irgendwo niederlassen, einen festen Job finden, erwachsen werden?

Stirnrunzelnd ging sie ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Hoffentlich brauchte er diesmal kein Geld. Nach dem letzten Mal, der Sache mit dem Hunderennen, hatte er versprochen, nie wieder zu spielen oder zu wetten. Das war jetzt über ein Jahr her, und bisher hatte er Wort gehalten. Vielleicht hatte ihre Mühe sich ja doch gelohnt, und er würde nicht so enden wie Daddy.

Anna steckte den Umschlag in die Handtasche und legte sie auf die Kommode. Sie zog den Rock und die Jacke aus grauem Leinen aus, hängte sie auf Kleiderbügel und streifte sich die weiße Bluse ab. Danach schlüpfte sie in Jeans, Socken und bequeme Schuhe und schlich in die Küche. Nach einem Salat und einer gebackenen Kartoffel aus der Mikrowelle hatte sie es geschafft, sich um Ben keine Sorgen mehr zu machen. Dazu war es noch früh genug, wenn er ihr beichtete, warum er hier war.

Sie räumte die Küche auf, setzte sich an den kleinen Schreibtisch im Arbeitszimmer und füllte den Antrag aus. Dabei musste sie dreimal tief durchatmen, weil ihre Hand so sehr zitterte. Sie wollte nichts falsch machen. Nicht jetzt, da sie so kurz davor war, ihren Traum zu verwirklichen.

Sie ließ Ben bis zum nächsten Morgen schlafen. Erst dann beugte sie sich über ihn und berührte seine Schulter. „Du hast ewig lange geschlafen. Steh auf, und ich mache dir Frühstück.“

Er stöhnte auf und streckte sich, das Gesicht noch immer im Kissen vergraben. „Du bist eine Heilige, Mom.“

Mom?

Dann drehte er sich um, lächelte und schlug langsam die Augen auf.

Es war schwer zu sagen, wer verblüffter war. Anna oder der Mann auf ihrer Couch. Der Mann, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.

Mit einem Aufschrei wich sie zurück, stolperte über den flachen Tisch und landete auf dem Po.

Der Fremde sprang auf und streckte die Arme nach ihr aus. „Sind Sie okay?“

Als sie ihn auf sich zukommen sah, schrie Anna erneut auf und stemmte sich mit den Füßen gegen den Couchtisch. Die Kante der Glasplatte traf ihn an den Schienbeinen, und er stieß einen Schmerzenslaut aus.

Würde sie versuchen, durch die Haustür zu flüchten, könnte er sie packen. Die Hintertür führte in die Garage, und dort wäre sie gefangen, weil das Tor sich nicht von innen öffnen ließ. Die Seitentür klemmte, und die große war viel zu schwerfällig.

Vorausgesetzt, ihre Beine würden sie überhaupt weit genug tragen. Das war unwahrscheinlich, denn sie fühlten sich an wie gekochte Spaghetti.

Blieb nur das Telefon. Sie musste ans Telefon.

„Fassen Sie mich nicht an“, sagte sie, bevor die Panik sie lähmte.

„Okay“, erwiderte er atemlos und ließ sich wieder auf die Couch fallen. „Okay. Tut mir leid. Ich wollte Sie nicht erschrecken. Verdammt“, murmelte er. „Das hat weh getan.“

Ihr war egal, ob sie ihm beide Beine gebrochen hatte. Sie kam mühsam hoch und eilte an den Apparat neben dem Küchenschrank. Sie riss den Hörer von der Gabel und hatte den Zeigefinger schon auf der ersten Taste …

„Das brauchen Sie nicht zu tun“, sagte der Fremde hastig. „Mein Name ist Gavin Marshall.“

Sie verfehlte die zweite Taste, traf die falsche und musste von vorn anfangen.

„Ich bin ein Freund Ihres Bruders.“

Endlich begriff sie, was der Mann gesagt hatte. Ben? Er hatte etwas mit Ben zu tun? Aber es war zu spät. Sie hatte die Nummer bereits gedrückt.

Sie starrte den Eindringling an. Offenbar hatte er es nicht auf sie abgesehen. Er saß noch immer auf der Couch.

Mit klopfendem Herzen unterbrach sie die Verbindung, bevor die Notrufzentrale sich meldete. „Woher soll ich wissen, dass Sie wirklich Bens Freund sind?“

Der Mann zog seine Brieftasche heraus und warf sie ihr zu. Sie landete vor ihren Füßen. „Schätze, falls er nie von mir gesprochen hat, kann ich es nicht beweisen. Aber wenigstens kann ich mich ausweisen.“

Anna klappte die Brieftasche auf. Kalifornischer Führerschein, ein halbes Dutzend Gold- und Platinkreditkarten und eine Art Gewerkschaftsausweis. Auf allen stand sein Name. Gavin Marshall aus Santa Monica, Kalifornien.

Sie verglich das Foto auf dem Führerschein mit dem Fremden vor ihr. Es ist nicht fair, dachte sie, dass ein so gut aussehender Mann ein so gutes Foto im Führerschein hat. Es wirkte wie ein Studioporträt. Das Licht betonte die markanten Gesichtszüge, das dunkle Haar, die auffallend blauen Augen, den atemberaubenden Mund. Auf dem Foto lächelte er. Wenn er sie, Anna, jemals so anlächelte …

„Wo ist Ben?“, fragte sie, um sich nicht in ihren Fantasien zu verlieren.

„Keine Ahnung“, erwiderte Marshall. „Wenn er nicht schon hier war und wieder gegangen ist, müsste er jeden Moment auftauchen.“

„Sie meinen, er ist nicht mit Ihnen gekommen?“

„Nein.“

„Nein, was?“, fuhr sie ihn an. „Nein, das meinen Sie nicht, oder nein, er ist nicht mit Ihnen hier?“

„Nein, er ist nicht mit mir hier.“

„Wieso fahren Sie dann sein Motorrad? Was tun Sie in meinem Haus? Wie sind Sie überhaupt hereingekommen?“

„Ben hat mir seine Schlüssel gegeben.“

Anna blinzelte. „Ben überlässt niemandem sein Motorrad. Niemals.“

„Das dachte ich auch. Aber er wollte meinen Wagen fahren, also hat er mir seine Schlüssel gegeben. Wir sind hier verabredet.“

„Hier? Sind Sie den weiten Weg aus Kalifornien hergekommen, um sein Motorrad gegen Ihren Wagen zu tauschen?“

„Ja, Ma’am.“

Nun ja, Ben war so etwas zuzutrauen. Als sie darüber nachdachte, kam ihr der Name Gavin plötzlich bekannt vorher. Sie wusste nicht genau, woher, aber es hatte, mit etwas zu tun, das Ben ihr erzählt hatte. Etwas, das sich ganz vernünftig angehört hatte.

Der Mann musste ein echter Freund von Ben sein, keine von den zwielichtigen Gestalten, mit denen ihr Bruder wettete und spielte.

Vor Erleichterung wurden ihr die Knie weich. Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich. „Sie haben mich ganz schön erschreckt. Das kostet mich mindestens zehn Jahre meines Lebens.“

„Tut mir leid“, sagte er. „Ich wollte nicht einschlafen, sondern mich nur eine Weile hinlegen …“ Er bückte sich und nahm das T-Shirt von der Tasche. Als er den Kopf hindurchsteckte, sah er sich um und runzelte die Stirn. „Ist heute wirklich schon Samstag?“

„Sicher“, fauchte sie. Ihre Angst hatte sich gelegt, Zorn und Verwirrung gewannen die Oberhand. Dass dieser Mann ihr Todesangst eingejagt hatte, machte sie fuchsteufelswild.

„Und als Ben nicht hier war, haben Sie einfach mein Haus betreten, ja? Ich finde das … unverschämt.“

„Sie haben recht.“ Er lächelte verlegen. „Das hätte ich nicht tun sollen.“

„Es war unverfroren.“

„Ja, Ma’am. Und es war frech und unhöflich, Sie so zu erschrecken. Es tut mir leid. Ich kam mittags hier an und wollte nicht zu lange auf der Veranda herumhängen. Vielleicht hätten die Nachbarn die Polizei gerufen.“

Es tat ihm wirklich leid. Aber sie war nicht ganz schuldlos. Gavin wusste, dass Anna Collins ihrem Bruder immer half, wenn er in Schwierigkeiten steckte. Er konnte sich jedes Mal auf sie verlassen und war daher nie richtig erwachsen geworden.

Sie wich seinem Blick nicht aus. In ihren großen grauen Augen lag noch ein Rest von Angst. Irgendwie bewunderte Gavin diese Frau. Sie hatte Mut, das musste man ihr lassen. Zumal sie nur halb so groß war wie er.

„Sie haben recht“, sagte sie. „Vermutlich hätten meine Nachbarn die Polizei gerufen.“

„Sieht aus, als würde ich doch noch mit ihnen reden müssen.“

„Mit meinen Nachbarn?“

„Polizei.“

„Wieso?“ Sie blinzelte wie ein Eulenbaby.

„Sie haben den Notruf gewählt, oder?“

„Ich habe aufgelegt, bevor sich jemand meldete.“

Gavin schüttelte den Kopf. „Das ist egal. Sobald Sie alle drei Ziffern wählen, weiß die Polizei, wer angerufen hat. Meistens schicken sie einen Streifenwagen hin, um sicher zu sein, dass alles in Ordnung ist.“

Großartig, dachte Anna. Das hatte ihr noch gefehlt. Die Polizei. Ihre Nachbarn würden begeistert sein.

Es war gerade erst neun Uhr morgens, und sie war erschöpft. Obwohl es ihr schwerfiel, stand sie auf und schob den Stuhl unter den Esstisch. „Wann wollte Ben denn hier sein?“

Gavin erhob sich ebenfalls. „Wenn er direkt hergefahren wäre, hätte er am Donnerstagabend oder Freitagmorgen hier sein müssen. Darf ich Ihr Badezimmer benutzen?“

Sie nickte. „Durch die Tür dort und dann nach links.“

Nachdenklich sah sie ihm nach.

„Wie haben Sie das gemeint?“, fragte sie, als er zurückkam. „Wenn er direkt hergefahren wäre … Ich dachte, es wäre alles abgesprochen. Hat er Ihnen nicht gesagt, wann er sich mit Ihnen treffen will?“

Oh je, dachte Gavin und rieb sich die Nase. „Nicht so richtig.“ Er wollte sie nicht anlügen, aber die Wahrheit würde ihr nicht gefallen.

Er fand es hinreißend, wie sie eine Augenbraue hochzog. „Nicht so richtig was?“, fragte sie scharf.

„Es war nicht so richtig abgesprochen“, gab er zu.

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich glaube, Sie sollten mir jetzt besser erklären, was los ist, Mr Marshall. Vielleicht hätte ich doch nicht auflegen sollen.“

„Nennen Sie mich Gavin, und nein, Sie konnten ruhig auflegen. Wenn ich meinen Wagen von Ben zurückbekomme, gibt es keinen Grund, die Polizei damit zu befassen.“

„Was?“, rief sie. „Was sagen Sie da?“

Gavin hätte sich treten können. Warum hatte er das gesagt? Aber er war verdammt wütend auf Ben Collins. Diesmal war der Knabe zu weit gegangen, und jemand musste ihm eine Lektion erteilen, bevor er echte Probleme bekam. Ben erinnerte ihn an Danny, und Gavin wollte nicht, dass Ben so endete wie Danny.

„Ich sage, dass ich hier bin, um mit Ben das Fahrzeug zu tauschen. Das ist wahr. Aber der ursprüngliche Tausch … als er sich meinen Wagen auslieh und mir seine Harley zurückließ … geschah ohne mein Wissen oder Einverständnis.“

Anna umklammerte die Stuhllehne. Gavin Marschall mochte auslieh gesagt haben, aber Anna hörte heraus, was er meinte. Sie zwang sich ruhiger zu atmen. „Kommen Sie“, forderte sie ihn auf. „Erzählen Sie mir endlich, was wirklich geschehen ist.“

„Warum setzen wir uns nicht wieder hin?“

„Warum erzählen Sie mir nicht, was Sie mir verschweigen wollten?“

Gavin hatte das Gefühl, auf Zehenspitzen durch ein Minenfeld zu schleichen, aber es ließ sich nicht ändern. Er wollte nicht riskieren, dass Ben ihr ein Märchen auftischte, an ihr Mitleid appellierte und ihr wieder einmal Geld abknöpfte. Diesmal würde Ben seine Probleme allein lösen.

Gavin zog den Stuhl am anderen Ende des Tisches heraus und wartete.

Nach kurzem Zögern nahm Anna Platz. „Okay, ich sitze.“

Gavin setzte sich ebenfalls und sah sie an. „Erstens müssen Sie wissen, dass ich nicht gelogen habe. Ben und ich sind Freunde. Gute Freunde.“

„Aber?“

„Aber diesmal ist er zu weit gegangen. Er hätte meinen Wagen nicht nehmen dürfen.“

Anna senkte den Blick. „Vorhin sagten Sie, er hätte ihn ausgeliehen, jetzt hat er ihn plötzlich genommen.“

„Er hat mich nicht gefragt, Anna“, erklärte Gavin behutsam. „Er wusste, dass ich Nein gesagt hätte.“

Sie hob den Kopf. „Ein guter Freund, ja? Und Sie hätten ihm Ihren Wagen nicht geliehen?“

„Meine 57er-Corvette?“, entgegnete er empört. „Niemals. An das Steuer meiner Corvette würde ich nicht einmal meine Mutter lassen. Und Ben weiß das.“

Anna kannte sich mit Autos nicht aus, doch sie wusste, dass eine Corvette Baujahr 1957 als Klassiker galt. Und sie wusste auch, dass Männer sehr empfindlich waren, wenn es um ihre Spielzeuge ging.

Ben, Ben, was hast du getan? haderte sie stumm mit ihm.

Ihr Bruder hatte versprochen, vorsichtiger zu sein. Er würde kein Verbrechen begehen. Er würde nie ein Auto stehlen.

„Ben ist kein Dieb“, sagte sie mit zitternder Stimme.

Gavin zuckte zusammen. Ihr schmerzlicher und flehender Blick ging ihm ans Herz. Aber er durfte nicht weich werden, denn irgendwann würde Ben bitter dafür bezahlen, wenn er auch diesmal wieder ungestraft davonkam.

„Er hat meine Schlüssel vom Tresen genommen, als ich nicht hinsah, und dann die Stadt verlassen. Meinem Anrufbeantworter hat er erzählt, dass er los ist, um das Geld aufzutreiben, das er mir schuldet.“

Anna schloss die Augen. Sie schluckte schwer. „Was …“ Sie musste erneut schlucken. „Was wollen Sie von mir? Ich … habe nicht viel Geld.“

„Ich will Ihren Bruder.“

„Aber Sie sehen doch, dass er nicht hier ist.“ Da war er wieder, der Schmerz. Und das Flehen.

„Noch nicht. Aber er wird kommen.“

„Woher wissen Sie das?“

„Er kommt immer her, wenn er in Schwierigkeiten steckt, oder?“

Ihre Augen wurden groß. „Woher …“

„Von Ben. Er spricht mit seinen Freunden über Sie.“

„Er ist kein Dieb. Bestimmt nicht.“

In Gavins Ohren klang das, als ob sie eher sich selbst als ihn überzeugen wollte. Er wusste, dass Ben Collins kein Dieb war. Ben war einfach nur unreif und verantwortungslos. Gavin war zwar stinksauer auf ihn, aber er konnte noch immer nicht glauben, dass Ben bösartig oder kriminell war.

Nein, das mit dem Wagen war ein Streich. Ben spielte seinen Mitmenschen gern Streiche. Manchmal auch üble. Gavin war fest entschlossen, dem Knaben eine Lektion zu erteilen, bevor er dem Falschen einen Streich spielte.

„Vor ein paar Monaten hat er sich von mir Geld geliehen und es nicht zum versprochenen Zeitpunkt zurückgezahlt. Vor zwei Tagen hat er meinen Wagen aus der Einfahrt gestohlen und ist spurlos verschwunden. Wie würden Sie das nennen?“

Die Frau starrte ihn an wie ein Hase, der ins Scheinwerferlicht eines Wagens geraten war. „Ein Mißverständnis?“

„Guter Versuch, aber nein.“

„Ein … ein Streich?“

Also kannte sie ihren Bruder doch ein wenig. „Ein verdammt teurer Streich, finden Sie nicht auch?“

„Sie haben sein Motorrad. Das war nicht gerade billig.“

„Sie müssen es wissen. Ich wette, Sie haben es bezahlt. Aber eine 57er-Corvette ist auch nicht billig.“

„Wie wertvoll kann ein über vierzig Jahre alter Wagen schon sein, verglichen mit Bens Motorrad?“, fragte sie.

Gavin wusste, dass ihm der Unterkiefer heruntergeklappt war, aber irgendwie bekam er den Mund nicht wieder zu. Dann brach er in Gelächter aus. „Das war gut“, prustete er.

„Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Aber da es bei dieser Sache um meinen Bruder geht und er offensichtlich nicht hier ist, schlage ich vor, Sie beseitigen das Chaos, das Sie in meinem Wohnzimmer angerichtet haben, und verlassen mein Haus.“

Verwirrt sah Gavin sich um. Chaos? Welches Chaos? Er schüttelte den Kopf. „Ich enttäusche Sie nur ungern, aber ich muss bleiben, bis Ben auftaucht.“

Anna stand auf. „Sie brauchen nicht hier auf ihn zu warten. Ich bin ziemlich sicher, dass es auch in Santa Monica Telefone gibt.“

„Die gibt es. Aber Ihr kleiner Bruder hat kapiert, dass er diesmal bis zum Hals in Schwierigkeiten steckt. Und wenn ich eins über Ben Collins weiß, dann ist es, dass er zu seiner großen Schwester flüchtet, wenn er Probleme hat. Tut mir leid, Anna, aber Sie werden mich ertragen müssen, bis er erscheint.“

„Das kann nicht Ihr Ernst sein!“, protestierte sie.

„Mir bleibt keine andere Wahl.“

Sie schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land. „Sie können nicht in meinem Haus bleiben.“

„Ich muss“, antwortete er. „Ich verspreche, ich werde Ihnen keinerlei Umstände bereiten. Sie werden gar nicht merken, dass ich hier bin.“

„Soll das ein Scherz sein? Ich finde das nicht lustig, aber es kann nur ein Scherz sein“, sagte sie fassungslos.

„Wenn es ein Scherz ist, würde ich gern die Pointe kennen“, erwiderte er gereizt.

„Das … darf … nicht … wahr sein“, stammelte sie.

„Es tut mir leid, Anna, aber ich muss hier sein, wenn Ben auftaucht.“

„Hier können Sie nicht bleiben“, wiederholte sie.

Okay, dachte er und biss die Zähne zusammen. Er hatte versucht, vernünftig zu sein, aber sie sah es nicht ein. Es war Zeit, die Samthandschuhe auszuziehen. „Da ich mindestens fünfundsiebzig Pfund schwerer als Sie bin, werden Sie mich wohl kaum daran hindern können. Ich werde erst verschwinden, wenn ich weiß, wo mein Wagen ist und dass ich ihn zurückbekomme.“

Sie straffte die Schultern. „Das wird sich zeigen.“ Sie drehte sich um und marschierte zum Telefon.

„Sie haben die Polizei schon einmal angerufen.“

„Diesmal werde ich nicht auflegen.“

Die harte Tour zieht auch nicht, dachte Gavin. Anna Collins war kein Feigling. Also würde er bluffen müssen. „Ich habe noch keine Anzeige erstattet. Wollen Sie, dass ich das tue?“

Sie wirbelte herum. „Woher weiß ich, dass Sie sich diese verrückte Geschichte nicht ausgedacht haben? Vielleicht haben Sie Ben ermordet und sein Motorrad gestohlen? Vielleicht wollen Sie mich auch noch umbringen?“

„Das tue ich gleich, wenn Sie nicht aufhören, meine Maschine als Motorrad zu bezeichnen, als wäre sie ein Rasenmäher mit zehn PS. Meine Maschine ist eine Harley-Davidson, kein gewöhnliches Motorrad. Und ich habe Ihren Bruder nicht ermordet. Noch nicht …“

„Das soll ich einem Wildfremden glauben, der in mein Haus eingebrochen ist?“

„Ich bin nicht eingebrochen“, erwiderte er verärgert. „Ich habe Bens Schlüssel.“

Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Er hat seine Schlüssel bei Ihnen gelassen. Für mich hört sich das nach einem Tausch an, nicht nach Autodiebstahl.“

„Für ihn auch, aber ich war nie damit einverstanden. Er macht eine Spritztour in einem sehr teuren Wagen, der ihm nicht gehört, und wenn er mir eine Beule hineinfährt, drehe ich ihm den Hals um.“

„Wegen eines alten Wagens regen Sie sich so auf?“, rief sie entrüstet.

„Eine 57er-Corvette in tadellosem Zustand ist kein alter Wagen!“

„Haben Sie schon mal daran gedacht, eine Therapie zu machen?“, fragte sie. „Ich finde Ihr Verhältnis zu Kraftfahrzeugen irgendwie ungesund.“

Er musste aufhören, die Zähne zusammenzubeißen, sonst hatte er bald keine mehr. „Es geht nicht nur um den Wagen, sondern auch um die Sachen auf dem Rücksitz.“

Sie stemmte die Hände in die Taille.

Hübsche Taille, dachte er.

„Was für Sachen?“

„Das geht Sie nichts an.“

„Das sehe ich anders. Sie beschuldigen meinen Bruder eines Verbrechens, Sie dringen ungebeten in mein Haus …“

„Dafür habe ich mich schon mehrfach entschuldigt“, unterbrach er sie.

„Sie können im Hotel wohnen. Ich rufe Sie an, wenn Ben kommt.“

Gavin schüttelte den Kopf. „Anna, das kann ich nicht. Wenn ich nicht hier bin, werden Sie ihm sagen, dass ich in der Stadt bin, und dann verschwindet er wieder. Oder Sie geben ihm das Geld, damit er seine Schulden bei mir bezahlt. Ich will nicht, dass Sie ihm auch diesmal aus der Patsche helfen. Er ist alt genug, um die Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Er kann sich nicht ewig auf Ihre Hilfe verlassen.“

Anna wollte widersprechen, schloss den Mund jedoch sofort wieder. Es hatte recht, auch wenn es wehtat.

Vor dem Haus wurden Wagentüren zugeworfen. Sie warf einen Blick durchs Fenster und erstarrte. Die Polizei!

Was sollte sie tun? Die Wahrheit sagen und Ben in Schwierigkeiten bringen oder so tun, als wäre alles in Ordnung?

Aber sie durfte kein Risiko eingehen. Konnte sie sicher sein, dass Gavin Marshall kein Serienmörder auf Betriebsausflug war?

Doch ihr Beschützerinstinkt war stärker als ihre Angst. Sie durfte ihren Bruder nicht der Polizei ausliefern. Außerdem war da noch die innere Stimme, die ihr zuflüsterte, dass Gavin Marshall die Wahrheit sagte und ihr nichts tun würde.

Durfte sie der Stimme trauen?

Vage erinnerte sie sich daran, dass Ben ihr einmal erzählt hatte, welch guten Einfluss sein Freund Gavin auf ihn hatte, wie sehr er den Mann bewunderte und wie wichtig ihm dessen Hilfe war.

Das klang nicht nach jemanden, der hergekommen war, um ihr etwas anzutun, oder?

Bevor sie sich entscheiden konnte, betraten zwei Polizisten die Veranda und läuteten an der Tür.

2. KAPITEL

Als die Türglocke verklang, warf Gavin Anna einen durchdringenden Blick zu. „Zwingen Sie mich nicht, etwas zu tun, was ich nicht will, Anna. Ich möchte Ben nicht ans Messer liefern, aber ich werde mich auch nicht festnehmen lassen.“

Als Anna ihn nur ratlos anstarrte, ging er an ihr vorbei und öffnete die Haustür. Verlegen lächelte er die Polizisten an. „Ich habe ihr gesagt, dass sie zu spät aufgelegt hat und Sie trotzdem kommen würden.“

„Gibt es ein Problem?“, fragte einer der Uniformierten.

Anna stellte sich neben Gavin.

„Ms Collins.“

„Officer Wilkins“, grüßte sie zurück.

„Oho.“ Gavin lachte. „Sie kennen sich, was?“

Anna ignorierte ihn.

„Und Sie sind?“, fragte Officer Wilkins.

Gavin streckte die Hand aus. „Gavin Marshall. Es war meine Schuld, dass Anna den Notruf gewählt hat.“

„Wie das?“

Gavin schaffte es, noch verlegener dreinzublicken. „Ihr Bruder und ich haben die Fahrzeuge getauscht, und ich bin hier mit ihm verabredet. Da ich Bens Schlüssel habe, bin ich einfach ins Haus gegangen. Als Anna kam, hielt sie mich für einen Einbrecher. Bevor ich alles erklären konnte, hatte sie schon gewählt.“

Der Polizist spitzte die Lippen und sah Anna an. „Stimmt das?“

Das musste sie Gavin lassen, er hatte die Wahrheit gesagt. Und er hatte den Beamten seinen Namen genannt. Das konnte nur bedeuten, dass er ihr nichts tun wollte. Denn wenn ihr etwas zustieß, würde die Polizei wissen, nach wem sie suchen musste.

Natürlich wäre sie dann schon tot oder …

Unsinn! sagte sie sich. Wenn der Mann dir etwas hätte tun wollen, wäre längst Zeit dazu gewesen. Er war die ganze Nacht hier, und du hast wie ein Baby geschlafen. Er hätte dich mühelos ermorden können.

Nein, er hatte geschlafen. Er war hinter Ben her, nicht hinter ihr.

Sie nickte. „Ich habe ihn nicht erwartet“, sagte sie zu Officer Wilkins. „Es tut mir leid, dass Sie umsonst gekommen sind.“

Officer Wilkins entspannte sich sichtlich. „Kein Problem. Wie geht es denn Ihrem Bruder? Er steckt doch nicht etwa wieder in Schwierigkeiten?“

Anna musste sich beherrschen. Nur weil die Nachbarn ein- oder zweimal Bens wegen die Polizei gerufen hatte, hieß das noch lange nicht, dass ihr Bruder ihr dauernd Probleme bereitete. „Ben geht es gut“, erwiderte sie spitz.

Die Polizisten gingen davon. An der Treppe drehte Wilkins sich noch einmal zu Anna ungebetenem Gast um. „Sie fahren seine Harley?“

„Sie steht in der Garage.“

„Ich hoffe, Sie rasen nicht so durch die Stadt, wie es der junge Collins immer tut, wenn er hier ist. In dieser Gegend kennt jeder Polizist die Maschine.“

„Das werde ich mir merken, Officer.“

„Tun Sie das.“

Als die Beamten den Streifenwagen erreichten, schloss Anna die Haustür.

Gavin berührte ihren Arm. „Danke.“

Anna schüttelte seine Hand ab. „Wofür? Dafür, dass ich feige bin?“

Er lachte. „Sie sind nicht feige, Anna Collins. Die blauen Flecken an meinen Beinen beweisen das.“

„Falls Sie erwarten, dass ich mich dafür entschuldige, können Sie lange warten.“

Er lachte wieder. „Ich erwarte keine Entschuldigung. An Ihrer Stelle hätte ich genau dasselbe getan. Was halten Sie davon, wenn ich Sie zur Entschädigung zum Frühstück einlade?“

Anna blieb stehen. Man hatte ihr beigebracht, dass jeder käuflich war. Ihr Preis war eine kostenlose Mahlzeit. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sie bis zu drei Jobs gleichzeitig gehabt, um sich die Gläubiger vom Leib zu halten. Damals war ein kostenloses Essen ein Geschenk des Himmels gewesen. Manchmal war es die einzige Möglichkeit, nicht hungrig zu Bett zu gehen.

Auch jetzt, zwölf Jahre später, zählte sie jeden Penny, aber inzwischen konnte sie sich selbst ernähren. Trotzdem war der Gedanke verlockend.

„Aha“, sagte Gavin. „Ich glaube, ich habe gerade den Schlüssel zu Ihrem Herzen gefunden.“

„Das möchten Sie wohl.“

Ich nicht, dachte Gavin. Eines Tages würde bestimmt ein Mann das Herz von Anna Collins erobern, aber bestimmt nicht Gavin Marshall.

Nicht, dass etwas an ihr auszusetzen war.

Na ja, außer der Tatsache, dass sie ihren Bruder bemutterte. Abgesehen davon war sie klug, tapfer, trotzig. Ja, sogar ihr Trotz imponierte ihm. Und sie sah nicht schlecht aus. Klein, schlank, anmutig. Ihr Haar erinnerte ihn an reinen Honig. Es reichte ihr bis zum Kinn und umspielte das ovale Gesicht. Die grauen Augen waren so groß, dass ein Mann nicht oft genug darin ertrinken konnte.

Oh ja, irgendein Mann konnte verdammt froh sein, wenn er den Schlüssel zu ihrem Herzen fand.

Gavin dagegen war nicht auf der Suche nach einer gemeinsamen Zukunft. Ihm gefiel sein Leben, wie es war. Er konnte kommen und gehen, wann er wollte, ohne auf andere Rücksicht zu nehmen. Frei und ungebunden. Er mochte seine Beziehungen so wie seine Urlaube – aufregend, abenteuerlich und zeitlich begrenzt.

Anna Collins war nicht der Typ für so etwas. Sie war eine Frau für Heim und Herd, für eine enge, dauerhafte Beziehung.

Das war nichts für ihn. Nein, Sir. Er wollte den Schlüssel zu ihrem Herzen nicht.

„Okay“, sagte er lächelnd. „Vielleicht ist ein Frühstück auch nur der Schlüssel dazu, dass Sie mir verzeihen. Sie dürfen auch den Helm tragen.“

„Wozu brauche ich in meinem eigenen Wagen einen Helm?“

„Ich möchte Sie einladen. Das heißt, ich fahre. Mit der Harley.“

Anna hatte nicht vor, für eine kostenlose Mahlzeit ihr Leben zu riskieren. „Ich koche uns etwas.“

„Ich dachte, Sie würden gern ausgehen?“

Sie steuerte die Küche an. „Nicht, wenn ich mich dazu auf das knatternde Ungeheuer setzen muss.“

„Sie fahren nicht gern mit der Harley?“, fragte er, als könnte er es kaum fassen.

„Ich muss Sie enttäuschen, aber ich stehe auch nicht auf Baseball und Hotdogs. Dafür liebe ich Apfelkuchen und hisse an Feiertagen die amerikanische Flagge. Was halten Sie von Spiegeleiern und Schinken?“

Anna legte noch einen Schinkenstreifen in die Pfanne. Plötzlich kam es ihr idiotisch vor, für einen Mann Frühstück zu machen, den sie nicht in ihrem Haus haben wollte. Aber ihr ging auch auf, dass sie keine Angst mehr vor Gavin Marshall hatte.

Ben, was soll ich tun? Die Frage ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.

Sie wusste nur, dass sie ihn loswerden musste, bevor ihr Bruder eintraf. Dann konnte sie ihn Ruhe mit Ben reden.

Sie nahm das Brot für den Toaster aus dem Kasten, gab sechs Eier in eine Schüssel und tat geriebenen Cheddar hinzu. Wenig später stand alles auf dem Tisch. Sie fragte sich noch immer, wie sie Gavin zum Gehen bewegen konnte, während sie sich setzte und ihren Teller füllte.

Bevor sie etwas sagen konnte, nahm auch Gavin Platz. „Das sieht toll aus. Wie etwas, das meine Mutter mir machen würde.“

„Sie haben eine Mutter, Mr Marshall?“

„Ich habe ein Juwel von Mutter. Und mein Name ist Gavin.“

„Ich frage mich, was Ihre Mutter dazu sagen würde, dass ihr Sohn in ein fremdes Haus eingedrungen ist und sich weigert, es wieder zu verlassen, Mr Marshall.“

„Ich bin sicher, sie würde mir eine nette lange Strafpredigt halten. Haben Sie Salz, Süße?“

„Mein Name ist Anna Collins“, erwiderte sie scharf. „Sie dürfen mich Mrs Collins nennen. Das Salz ist in dem Schrank rechts vom Herd, Mr Marshall. Wie ist die Telefonnummer Ihrer Mutter?“

Er stand auf und ging in die Küche. Anna hörte, wie ein Hängeschrank geöffnet und geschlossen wurde. Dann der Kühlschrank.

Fühlen Sie sich wie zu Hause, dachte sie und schob sich etwas Rührei in den Mund.

„Wessen Nummer?“ Er kehrte mit Salz, Pfeffer und ihrer selbst gemachten Erdbeermarmelade zurück. „Moms?“

„Oder darf sie keine Anrufe entgegennehmen?“

Er war schon dabei, Marmelade auf seinen Toast zu streichen, und sah stirnrunzelnd auf. „Was soll das heißen, darf sie keine Anrufe entgegennehmen?“

Anna lächelte spöttisch. „So, wie ich Sie bisher erlebt habe, kann ich nur vermuten, dass die arme Frau, die Sie großgezogen hat, entweder in einer Anstalt oder im Gefängnis ist.“

Der Mann schmunzelte. „Sie sind gemein, Anna Collins. Meine Mom ist normaler als jeder andere Mensch, den ich kenne.“

„Aber Sie geben mir ihre Nummer nicht.“

Er gab sie ihr. Genauer gesagt, er gab ihr eine Nummer. Er ratterte sie herunter und nahm bestimmt an, dass sie sie sich nicht merken konnte. Aber er konnte nicht wissen, dass Anna ein fantastisches Zahlengedächtnis besaß. Sie aß noch eine Weile, dann trug sie ihr Geschirr in die Küche, spülte es kurz ab und stellte es in die Spülmaschine. Danach nahm sie den Hörer ab und wählte die Nummer, die er ihr genannt hatte.

„Rufen Sie jetzt doch die Polizei?“

Anna unterdrückte ein Lächeln, während sie es am anderen Ende der Leitung läuten hörte. Gavin Marshall wirkte ein wenig nervös.

„Hallo?“, meldete sich eine Frau.

Anna packte den Hörer fester. Ihre Hand war feucht. „Ich möchte Mrs Marshall sprechen.“

Gavin stand in der Tür. Seine Augen wurden groß.

„Das bin ich“, erwiderte die freundliche Stimme.

„Mrs Marshall, mein Name ist Anna Collins. In meinem Haus ist ein Mann, der behauptet, Ihr Sohn zu sein.“

„Oh je.“ Mrs Marshall schmunzelte. „Und Sie rufen mich nicht an, um sich bei mir dafür zu bedanken, was?“

Anna musste lächeln. „Ich möchte nur feststellen, ob er wirklich der ist, als der er sich ausgibt.“

Mrs Marshall seufzte. „Das kann nur Gavin sein. John und Michael haben mir noch nie Sorgen bereitet. Was hat er diesmal angestellt?“

„Nichts Schlimmes“, beruhigte Anna die Frau, ohne zu wissen, warum sie das tat. „Könnten Sie ihn beschreiben?“

„Ihn beschreiben? Na gut. Mal sehen … Er ist eins achtzig und hat dunkelbraunes Haar, obwohl es wahrscheinlich heller ist, wenn er in letzter Zeit viel geschwommen ist. Große blaue Augen, die jede Frau dahinschmelzen lassen. Es sei denn, er ist aufgeregt oder zornig. Dann funkeln sie wie wild, und er sieht aus wie ein Verrückter“, fügte sie lachend hinzu.

Unwillkürlich hob Anna den Blick und schaute direkt in genau jene großen blauen Augen. Sie schmolz nicht dahin, und ihr Herz klopfte nur, weil ein Fremder in ihr Haus eingedrungen war.

Aber was das andere betraf, hatte Mrs Marshall recht. Er wirkte tatsächlich ein wenig verrückt.

„Und ein Lächeln, das einem den Atem raubt.“ Der Stolz der liebenden Mutter war nicht zu überhören.

Wie von selbst richtete Annas Blick sich auf seinen Mund. Seinen lächelnden Mund. Tatsächlich, ihr stockte der Atem. Vor Nervosität, sagte sie sich. Sonst nichts.

„Hört sich das nach ihm an?“

Anna starrte wieder auf die Wand, an der der Apparat hing. „Mehr oder weniger. Danke. Ich hoffe, ich habe Sie nicht gestört.“

„Natürlich nicht, Liebes. Gavin geht es doch gut, oder?“

„Ja. Ja, es geht ihm gut. Möchten Sie ihn sprechen?“

„Sehr gern. Oh, Augenblick … Sagten Sie gerade, Ihr Name sei Anna Collins?“

„Ja, Ma’am.“

„Aus … was hat er noch erzählt … Oklahoma?“

„Stimmt, aber woher …“

„Dann müssen Sie Bens Schwester sein“, rief die Frau erfreut aus. „Das ist wirklich eine schöne Überraschung.“

„Sie kennen Ben?“, fragte Anna verblüfft.

„Aber ja. Vor ein paar Monaten war er mal mit Gavin hier. Ja, jetzt erinnere ich mich. Das war das zweite Mal, das wir ihn getroffen haben. Das erste Mal war im letzten Sommer, als wir Gavin besucht haben. Ben war so nett und höflich.“

„Das freut mich.“

„Und ich freue mich, dass Gavin Sie endlich einmal besucht. Er hat schon oft gesagt, dass er Bens Schwester unbedingt kennenlernen möchte.“

„So?“

„Ja. Danke, dass Sie mich angerufen haben. Es ist gut zu wissen, wo er ist. Er meldet sich nicht so oft, wie ich möchte.“

„Warten Sie, ich gebe ihn Ihnen.“ Anna reichte Gavin den Hörer.

Ihre letzten Zweifel, ob er wirklich ein guter Freund ihres Bruders war, waren verflogen.

„Hallo, Mom. Wie geht es dir? … Nein … Nein, so ist es nicht. Ich wollte Ben besuchen und habe sie überrascht, das ist alles … Wie geht es Dad? … Im Ernst? Sag ihm, dass ich das toll finde. Und sag Onkel Mick, dass er mir zwanzig Dollar schuldet … Natürlich habe ich das.“

Anna ging auf, dass sie lauschte. Hastig räumte sie die Küche auf.

Was für ein seltsamer Mann, dachte sie. Im Gespräch mit seiner Mutter klang er so umgänglich. Wie ein ganz normaler Mensch, der eine Mutter, einen Vater und einen Onkel hatte. Nicht wie ein Eindringling. Nicht wie ein Mann, der sich einer Frau aufdrängte.

Vielleicht war er Ben ähnlicher, als sie sich eingestehen wollte. Hatte er nicht gerade gesagt, dass er Geld von seinem Onkel gewonnen hatte?

„Ich glaube es nicht“, sagte er, als er auflegte. „Endlich hat Dad Onkel Mick beim Golf geschlagen.“

„Und Sie haben gewettet, dass er es schafft.“

„Verdammt richtig. Onkel Mick schlägt Dad seit Jahren. Er hat behauptet, dass er ihn selbst dann besiegen kann, wenn Dad Stunden beim Golflehrer nimmt. Das hat der Angeber nun davon.“

Er klang begeistert, und Anna wusste, dass sie ihn richtig eingeschätzt hatte. Er war Ben sogar sehr ähnlich. Jeder, der übers Wetten lachen konnte … Wenigstens hatte Ben nicht darüber gelacht. Jedenfalls nicht vor ihr. Nicht wie Dad es immer getan hatte.

Die Liste der Dinge, die sie Gavin Marshall vorwarf, wurde immer länger. Er fluchte, er drang in Häuser ein, er spielte und wettete um Geld, und er war unordentlich – seine Sachen lagen noch immer im Wohnzimmer herum.

„Warum sehen Sie mich so an?“

Anna zog die Gummihandschuhe an. „Wie?“

„Mit gespitzten Lippen. So hat meine Lehrerin mich in der dritten Klasse angesehen, als sie mich im Unterricht mit einem Kaugummi erwischt hat.“

Sie würdigte ihn keiner Antwort. Dieser Mann würde ihr Leben nicht noch mehr durcheinanderbringen. Samstag war der Tag für den Hausputz und die Wäsche, also machte sie sich an die Arbeit und ignorierte Gavin Marshall.

Nun ja, nicht ganz. Schließlich war es schwer zu vergessen, dass ein wildfremder Mann in ihrem Wohnzimmer saß.

Als sie die Badewanne reinigte, hörte sie, wie der Fernseher eingeschaltet wurde. Auf dem Weg in die Küche bemerkte sie, dass er sich ein Baseballspiel ansah.

Typisch. Sport, kein Bildungsprogramm. Vermutlich las er Comics. Wenn er überhaupt las.

Kurz nach eins war die zweite Ladung Wäsche in der Maschine, und sie brauchte nur noch Staub zu saugen. Sie gönnte sich eine Pause, um sich ein Thunfischsandwich zu machen.

Kaum hatte sie den Deckel von der Dose genommen, stand Gavin auch schon neben ihr.

Der Mann hat eine Nase wie ein Spürhund, dachte sie verärgert.

„Reicht das auch für zwei?“

„Leider nicht.“ Natürlich hatte sie genug Thunfisch mit Ei und Mayonnaise, aber sie strich die Mischung so dick auf das Brot, dass nichts übrig blieb. Betrübt sah er zu.

Dann lächelte er. „Ich gehe mal kurz was essen.“

„Ich dachte, Sie können nicht weg, weil Sie hier sein wollen, wenn Ben kommt?“

Er schnippte mit den Fingern. „Stimmt. Danke, dass Sie mich daran erinnert haben.“

Anna hätte sich treten können. Wie dumm konnte ein Mensch sein?

„Wissen Sie was?“, sagte er. „Ich gehe trotzdem. Aber Sie müssen mir etwas versprechen.“

„Was?“

„Falls Ben auftaucht, während ich fort bin, erzählen Sie ihm erst nach dreißig Minuten, dass ich in der Stadt bin, okay?“

„Sicher. Warum nicht?“, erwiderte sie rasch.

„Haha“, sagte er. „Spielen Sie nie Poker, Anna. Man sieht Ihnen an, was Sie denken.“

Mit brennenden Wangen kehrte Anna ihm den Rücken zu. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden.“

„Anna, ich bin nicht der Einzige, dem Ben Geld schuldet.“

Ben, was hast du getan? Das war die nächste bohrende Frage.

„Ich verstaue meine Sachen in Bens Schrank, damit er sie nicht gleich sieht, wenn er kommt.“

Sie beobachtete ihn dabei und fragte sich die ganze Zeit, was sie tun würde, wenn Ben in seiner Abwesenheit kam. Ihm nichts von Gavin zu sagen, wäre hinterhältig. Sie würde ihrem eigenen Bruder eine Falle stellen.

Gavin kam in die Küche. Er hatte die Schlüssel in der Hand. „Dreißig Minuten, Anna, mehr verlange ich nicht. Nur eine halbe Stunde.“

„Ich … werde es versuchen. Mehr kann ich nicht versprechen. Aber wenn er mich direkt fragt, werde ich ihn nicht anlügen.“

Gavin nickte. „Okay. Soll ich Ihnen etwas mitbringen?“

„Nein.“

Anna schloss die Haustür hinter ihm ab. Weil sie hoffte, dass Ben nicht ihre sämtlichen Schlüssel an seinem Bund hatte, verriegelte sie auch noch alle anderen Türen einschließlich des Garagentors. Es war einen Versuch wert, obwohl sie bezweifelte, dass Gavin Marshall sich dadurch aufhalten lassen würde.

Fünfundzwanzig Minuten später war er wieder da. Er stellte Bens Motorrad in die Garage und rüttelte an der Tür zur Küche. Ein Schlüssel wurde ins Schloss geschoben, dann stand er vor ihr.

„Guter Versuch“, sagte er. „Sehen Sie mich nicht so enttäuscht an, Anna. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich Bens Schlüssel habe.“

Wortlos ging sie in ihr Schlafzimmer.

Die Tür hatte kein Schloss. Das hatte sie noch nie gestört. Aber jetzt störte es sie. Wenn sie Gavin schon nicht aus dem Haus bekam, wollte sie ihn wenigstens nicht in ihrem Zimmer haben.

Anna beschloss, nicht mehr an Gavin zu denken, sondern einkaufen zu gehen. Fünfzehn Minuten später verließ sie ihr Zimmer in einem hellblauen Hosenanzug, in weißen Socken und Tennisschuhen.

Als sie den Eindringling auf der Couch sitzen sah, die Ellbogen auf die Knie gestützt, blieb sie stehen.

Er sah hoch und lächelte. „Sie gehen aus?“ Er starrte auf die Schlüssel in ihrer Hand. „Meinetwegen müssen Sie nicht weg.“

„Ich muss Lebensmittel kaufen.“

„Gut. Ich begleite Sie.“

„Nein, danke. Aber Sie können etwas für mich tun.“

„Schon geschehen.“

Sie lächelte gequält. „Leider nicht. Seien Sie verschwunden, wenn ich wiederkomme.“

„Kommen Sie, Anna.“ Er stand auf. „Sie wissen, dass ich das nicht kann.“

„Sie wollen es nicht.“

„Okay, ich will nicht. Hören Sie, Anna, warum schließen wir nicht einen Waffenstillstand? Ich will nichts von Ihnen. Ich will Ihnen nichts tun. Falls meine Mutter Sie nicht davon überzeugt, dass ich ein netter Kerl bin, gebe ich Ihnen eine lange Liste von Leuten, die für mich bürgen können. Ich will doch nur hier sein, wenn Ben auftaucht.“

Anna musterte ihn. „Und wenn ich Ihnen verspreche, Sie anzurufen, sobald Ben kommt?“

Noch bevor sie die Frage beendet hatte, schüttelte er den Kopf. „Läuft nicht, Darling.“

„Nennen Sie mich nicht so.“

„Okay. Miss Collins. Aber Sie wissen so gut wie ich, dass Ihr Bruder Sie mit irgendeiner erfundenen Geschichte zu Tränen rühren wird. Und Sie werden ihm anbieten, seine Schulden zu begleichen.“

„Und wenn?“

„Oh nein, Lady. Sie schulden mir kein Geld, und von Ihnen will ich keins. Ich will auch nicht, dass Sie es Ben leihen. Der Bursche hat sich diese Suppe selbst eingebrockt und wird sie auch selbst auslöffeln. Es wird Zeit, dass er erwachsen wird, finden Sie nicht?“

„Ich werde mit Ihnen nicht über den Charakter meines …“

„Oder seine Charakterlosigkeit“, unterbrach er sie.

„… Bruders reden. Ich habe nichts dagegen, dass Ben seine Probleme eigenständig löst. Aber ich habe etwas dagegen, dass Sie in meinem Haus sind. Sie haben kein Recht dazu.“

„Das ist wahr. Aber jemand muss Ihrem Bruder eine Lektion erteilen, bevor er sich größeren Ärger einhandelt. Ganz offenbar sind Sie nicht dieser Jemand, sonst hätten Sie es längst getan, und ich wäre nicht hier.“

Anna traute ihren Ohren nicht. „Ich bin also schuld, dass Sie sich in meinem Haus eingenistet haben?“

Gavin holte tief Luft. Er musste hart bleiben. Sie musste ihm glauben. „Vielleicht. Hätten Sie ihm nicht jahrelang das Händchen gehalten, hätte er inzwischen vielleicht gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen.“

Anna wurde rot. Dieser Mann machte sie wütend. Wut war etwas, das sie kaum kannte.

Erst recht nicht Wut auf sich selbst. Gavin Marshalls letzte Bemerkung enthielt mehr an Wahrheit, als ihr lieb war.

„Dieses Gespräch ist beendet“, fauchte sie. „Ich will, dass Sie weg sind, wenn ich zurückkehre.“ Sie marschierte an ihm vorbei in die Küche, bis ihr einfiel, dass ihr Wagen nicht in der Garage stand. Verärgert machte sie kehrt und ging durch die Vordertür.

Als Anna zwei Häuser von ihrem entfernt am Stoppschild hielt, hörte sie hinter sich plötzlich ein tiefes Knattern. Sie sah in den Rückspiegel. Es war eine schwarze Harley, und darauf saß Gavin Marshall.

Fuhr er weg? Ihre Knie wurden weich. Vor Erleichterung? Es konnte nur Erleichterung sein.

Mach dir nichts vor, flüsterte ihre innere Stimme. Vor Enttäuschung.

Unsinn. Sie konnte unmöglich enttäuscht darüber sein, dass ein Fremder ihr Haus verließ, nachdem sie ihn dazu aufgefordert hatte.

Sicher, irgendwie war es aufregend, einen wildfremden Mann auf ihrer Couch zu finden. Einen Mann, der noch dazu gut aussah und hinreißend lächelte.

Gib es zu, flüsterte die Stimme weiter. Das war das Aufregendste, was du je erlebt hast.

Hastig verdrängte sie den Gedanken. Es mochte wahr sein, aber es spielte keine Rolle. Es war besser, wenn er verschwand. Besser für Ben, besser für sie.

Die Kreuzung war frei. Anna warf einen letzten Blick in den Rückspiegel und fuhr los.

3. KAPITEL

Als Anna kurz darauf erneut in den Rückspiegel schaute, hielt sie den Atem an.

Gavin Marshall war noch immer hinter ihr.

Die verspiegelte Sonnenbrille, hinter der er seine Augen verbarg, verlieh ihm etwas Unheimliches. Die Art, wie er lässig auf dem schweren Motorrad saß, die abgetragene Jeans eng um die muskulösen Schenkel, mit wehendem Haar, ließ ihn irgendwie verwegen wirken.

Sein Anblick hatte sich ihr eingeprägt, als sie den Blick vom Spiegel losriss. Plötzlich ging ihr auf, dass er keinen Helm trug. Außerdem hatte er bestimmt keine Zeit gehabt, seine Sachen zu packen.

Das konnte nur eins bedeuten. Anna wollte nicht darüber nachdenken, sondern konzentrierte sich auf den Verkehr. Kurz darauf bog sie auf den Parkplatz des Supermarkts ein.

Er folgte ihr.

Als sie ausstieg und den Wagen abschloss, stand Gavin am Eingang und wartete auf sie. Sie straffte die Schultern, hängte sich die Handtasche in die Armbeuge und baute sich vor ihm auf. „Warum sind Sie mir gefolgt?“

Er legte die Hand an seine Brust und setzte eine Unschuldsmiene auf. „Glauben Sie etwa, ich erwarte, dass Sie für mich Lebensmittel kaufen? Für wen halten Sie mich?“ Er machte eine abwehrende Geste. „Nein, sagen Sie es nicht. Es würde mir nicht gefallen.“

Anna blinzelte. „Falls Sie glauben, nur weil Sie meine Lebensmittel bezahlen …“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich Ihre Lebensmittel bezahle. Ich bin hier, um meine eigenen zu kaufen.“

„Wozu brauchen Sie Lebensmittel, wenn Sie damit rechnen, dass Ben jeden Moment auftaucht?“, fragte Anna misstrauisch.

„Weil ich Hunger bekomme, wenn er bis zum Abendessen nicht hier ist.“

Sie spitzte die Lippen.

„Okay, ich kaufe Bens Lebensmittel, und bis er erscheint, bediene ich mich davon.“ Er trat zur Seite, deutete eine Verbeugung an und zeigte auf die automatische Tür. „Nach Ihnen, Ma’am.“

Anna musste sich beherrschen, um ihm nichts Unschönes an den Kopf zu werfen. Sie beschloss, ihn einfach zu ignorieren, und ging in den Supermarkt.

Aber Gavin Marshall war nicht zu ignorieren. Als sie sich einen Einkaufswagen nahm, nahm er sich ebenfalls einen.

Sie atmete auf, als er am Regal mit den Büchern und Zeitschriften stehen blieb. Rasch bog sie in den Gang mit den Reinigungsmitteln ein, stellte eine große Flasche in ihren Wagen und eilte weiter. In der Kosmetikabteilung schlenderte er an ihr vorbei und sah sich Rasiercremes an.

Anna wollte ihn ignorieren. Sie wollte es wirklich. Doch dann ertappte sie sich dabei, wie sie das anstarrte, was als Einziges in seinem Wagen lag. Sie war noch nie einem erwachsenen Mann begegnet, der Comichefte las.

Er nahm eine Dose Rasierschaum aus dem Regal und zeigte damit auf das Heft. „Wenn Sie nett sind, dürfen Sie es nach mir lesen.“

Anna wandte sich abrupt ab und griff nach einer Packung Einmalrasierer. Dann ging sie davon.

Sie kaufte Weizenflakes. Er kaufte Froot Loops.

Sie kaufte Tomatenmark, er Chili und Pfirsiche.

Sie ließ die Softdrinks aus, doch als sie ihm das nächste Mal begegnete, standen drei Literflaschen Cola in seinem Wagen.

Offenbar wusste er, was Ben gern trank.

Als er nach einem Sechserpack Bier griff, räusperte sie sich laut. „Ben trinkt in meinem Haus keinen Alkohol.“

Er lächelte. „Die sind für mich.“

Sie erwiderte das Lächeln. „Sie werden in meinem Haus auch keinen Alkohol trinken.“

Er runzelte die Stirn. „Nein?“

„Nein.“

Mit betrübtem Gesicht stellte Gavin das Bier zurück.

Danach kaufte sie Mehrkornbrot und Bagels, er Weißbrot und eine große Packung Zimtschnecken.

Sie fuhr an den Tiefkühltruhen vorbei, er versorgte sich mit Fertiggerichten, Eis und Fischstäbchen.

Am Fleischtresen ließ sie sich Hähnchenbrustfilets, Rinderfilet und drei Pfund Hackfleisch geben.

Gavin fuhr an ihr vorbei, nahm sich Hotdogs aus dem Kühlregal und drehte sich zu ihr um. „Ich nehme nicht an, dass Sie Senf im Haus haben … Okay, ich hole welchen.“

Als Nächstes kaufte sie vier Kartons Joghurt, einen Liter Milch, Diätmargarine und fettarmen Hüttenkäse. Gavin sah sie erst an der Kasse wieder. Er stand hinter einer Frau mit zwei kleinen Kindern und hatte genug Lebensmittel im Wagen, um eine längere Belagerung zu überstehen. Hinzugekommen waren zwei Dutzend Eier, eine Großpackung Schinken und drei Tüten Schokoladenkekse.

Anna ignorierte ihn und stellte sich hinter eine Frau, die nur eine Topfpflanze und ein Paket Hackfleisch kaufte. Bis Gavin seine Einkäufe aufs Band gestellt hatte, war sie bestimmt längst zu Hause.

Leider lief es nicht so, wie Anna es sich vorgestellt hatte. Die Frau vor ihr entdeckte an ihrem Philodendron Blattläuse. Anstatt ihren Platz in der Schlange aufzugeben, bestand sie darauf, dass ein Angestellter ihr eine gesunde Pflanze holte.

Der junge Mann kehrte mit einem Exemplar zurück, das genauso aussah wie das erste. Leider wies die Folie um den Topf nicht die gewünschte Farbe auf.

Anna holte tief Luft. An der Nachbarkasse zahlte die Frau mit den beiden Kindern und ging mit ihren Einkaufstüten hinaus.

Gavin stellte seine Sachen auf das Band, und die Kassiererin schob sie in Rekordzeit am Lesegerät vorbei. Als er wie ein Wildwestheld mit wiegendem Schritt den Supermarkt verließ, schrieb die Kundin vor Anna gerade einen Scheck aus.

Sie fragte sich, wie Gavin seine Einkäufe auf dem Motorrad nach Hause transportieren wollte.

Kurz darauf hatte sie die Kasse hinter sich und bekam die Antwort auf ihre Frage. Gavin Marshall stand an ihrem Wagen und lächelte ihr entgegen. Offenbar erwartete er, dass sie seine Einkäufe mitnahm.

„Ich wusste, dass es Ihnen nichts ausmacht“, sagte er.

Anna hatte große Lust, ihm die Plastiktüten aus den Händen zu reißen und den Inhalt auf dem Parkplatz zu verstreuen.

Das beunruhigte sie, denn sie war kein gewalttätiger Mensch. Mit zusammengebissenen Zähnen schloss sie den Kofferraum auf und sagte kein Wort, als er seine Einkäufe hineinstellte. Sie hatte Angst, dass sie etwas höchst Undamenhaftes sagen würde, wenn sie den Mund aufmachte.

Sie verstaute ihre Tüten, stieg ein und fuhr heim.

Gavin blieb ihr auf den Fersen. Langsam fing er an, diese Frau zu mögen. Wahrscheinlich war es nicht sehr nett von ihm, sie zu ärgern. Aber es machte nun mal Spaß.

Als Anna vor der Garage hielt, stellte er sich mit der Harley neben die Fahrertür. „Ich mache auf“, rief er.

Er schob das Tor hoch, sie fuhr hinein und stieg aus.

„Wenn Sie genau in der Mitte parken, bekomme ich die Harley nicht hinein.“

Anna zog eine Augenbraue hoch. „So?“

„Natürlich ist es nicht meine Maschine, also werde ich es verkraften, wenn sie gestohlen wird. Ich hoffe, sie ist versichert.“

Sie schloss kurz die Augen, zählte stumm bis fünf, stieg ein, fuhr hinaus und so wieder hinein, dass auf der Beifahrerseite genug Platz für Bens Harley blieb. Gavin parkte das Motorrad.

„Ich helfe Ihnen“, sagte er, als sie den Kofferraum öffnete.

Wenigstens macht er sich nützlich, dachte sie. Ben hatte ihr noch nie angeboten, die Einkäufe ins Haus zu tragen.

Sie brachte zwei Tüten in die Küche, drehte sich um und wäre fast mit Gavin zusammengestoßen. Er hatte nicht nur ihre restlichen Einkäufe, sondern auch seine dabei.

„Sie sollten ein automatisches Garagentor einbauen lassen“, sagte er und stellte die Tüten auf die Arbeitsplatte.

„Ich bin durchaus in der Lage, meine Garage zu öffnen“, erwiderte sie, während sie Milch, Joghurt und Käse im Kühlschrank verstaute. „Womit verdienen Sie eigentlich Ihr Geld, Mr Marshall? Es muss eine Menge sein, wenn Sie es für etwas so Überflüssiges wie ein automatisches Garagentor verschwenden?“

„Überflüssig?“, protestierte er. „Es ist nicht nur bequemer, sondern auch sicherer. Wenn Sie das Tor vom Wagen aus öffnen können, brauchen Sie nicht auszusteigen und einem Räuber den Rücken zuzukehren.“

Anna legte das Fleisch ins Eisfach und das Hackfleisch ins Spülbecken. Ein Räuber? Verkaufte Gavin automatische Garagentore?

„Wissen Sie, wie man Leute nennt, die unvorsichtig sind?“, fragte er.

„Nein, aber bestimmt sagen Sie es mir.“

„Opfer.“

Sie warf die Kühlschranktür zu und wirbelte zu ihm herum. „Ich bin das Opfer von niemandem, Mr Marshall.“

„Sie sind das Lieblingsopfer Ihres eigenen Bruders.“

„Das ist unverschämt.“

„Ben verlässt sich darauf, dass Sie ihm jedes Mal aus der Patsche helfen. Haben Sie deshalb kein automatisches Garagentor? Weil Sie Ihr ganzes Geld für seine Schulden ausgeben?“

„Wenn Sie nicht wollen, dass ich die Polizei rufe und Sie mit Gewalt aus meinem Haus befördern lasse, sollten Sie Ihre Meinung über meine Beziehung zu Ben für sich behalten“, entgegnete sie scharf.

„Hören Sie, ich mag Ben. Er ist kein schlechter Kerl. Er hat nur nie gelernt, Verantwortung zu tragen, weil Sie sie ihm immer abnehmen.“

Das war die Wahrheit, und sie konnte schwerlich widersprechen. Trotzdem gefiel ihr nicht, dass Gavin sie so offen aussprach. Sie half ihrem Bruder tatsächlich jedes Mal, wenn er in Not war. Was sollte sie anderes tun? Ben war der einzige Angehörige, der ihr geblieben war.

„Was zwischen Ben und mir abläuft, geht Sie nichts an.“

„Wenn er mich hereinlegt, geht es mich etwas an.“

Gavin hatte offenbar nicht vor, bald zu verschwinden. Er hatte genug Lebensmittel für eine Woche eingekauft.

Ben, Ben, wann wirst du endlich erwachsen und hörst auf, uns in derartige Schwierigkeiten zu bringen? dachte sie.

Aber sie konnte ihren Bruder nicht im Stich lassen, nur weil sie einsah, dass ihr Verhalten falsch war, oder weil Gavin Marshall es von ihr verlangte.

Resigniert drehte sie sich zu dem Mann in ihrer Küche um. „Wie viel schuldet Ben Ihnen?“

Gavin schüttelte den Kopf. „Oh nein, das werden Sie nicht. Sie werden seine Schulden nicht bezahlen. Um genau das zu verhindern, bin ich hier.“

„Wie viel?“

„Keine Chance. Ich nehme Ihr Geld nicht. Es sind nicht Ihre Schulden, sondern Bens. Sorgen Sie dafür, dass er die Suppe, die er sich eingebrockt hat, auch selbst auslöffelt, Anna.“

„Wie viel, Gavin?“

„Wie zum Teufel soll er jemals lernen, für seine Taten geradezustehen, wenn Sie ihm jedes Mal helfen?“

„Wie viel?“

„Fünfundvierzigtausend Dollar.“

Anna musste sich an der Arbeitsplatte festhalten, um nicht umzufallen.

4. KAPITEL

„Fünfund…

„Eigentlich eher sechsundvierzig“, sagte Gavin. „Denn der Wagen allein ist ungefähr einundvierzig wert, und er schuldet mir außerdem noch fünftausend in bar.“

Anna brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass dies kein Albtraum war. Nein, sie war in ihrer Küche. Mit Gavin Marshall. Und in ihren Ohren klang noch die unglaubliche Summe, die er eben genannt hatte.

Irgendwo auf der Straße wurde gehupt, und sofort begann der Hund zwei Häuser weiter zu bellen. Hinter ihrem Garten rauschte der Verkehr über die 63. Straße. Motoren heulten auf, und Reifen quietschten. Und der Mann in ihrer Küche behauptete, dass Ben ihm fünfundvierzigtausend Dollar schuldete.

„Das ist nicht Ihr Ernst“, protestierte sie.

„Oh doch, Darling. Diesmal steckt Ihr kleiner Bruder bis zum Hals drin.“

„Fünfundvierzig… tausend … Dollar?“

„Runden Sie auf sechsundvierzig auf und Sie liegen richtig. So, wie war das mit Ihrem Angebot?“

Anna schluckte schwer. „Soviel Geld habe ich nicht.“

„Selbst wenn Sie es hätten, es sind nicht Ihre Schulden. Es sind Bens.“

Endlich funktionierte Annas Verstand wieder. „Er schuldet Ihnen fünftausend in bar. Den Wagen wird er zurückgeben, weil er sein Motorrad will. Bis dahin haben Sie das Motorrad, und das ist eine Menge wert.“

„Stimmt. Nicht genug, aber eine Menge. Aber wie sieht mein Wagen aus, wenn er damit quer durchs Land gefahren ist? Jede Beule in der Tür mindert den Wert um etwa zehntausend.“

„Dollar?“

„Wir reden hier nicht über Erdnüsse, Schätzchen.“

Anna verzog das Gesicht. Das klang wie ein Dialog aus einem alten Gangsterfilm. Nicht, dass sie sich so etwas je ansah, aber sie bekam Ausschnitte mit, wenn sie umschaltete, um etwas Anspruchsvolleres zu finden.

Sie dachte an den Betrag, den Ben Gavin schuldete, und ihr wurde schlecht. Und Gavin hatte gesagt, dass Ben auch noch anderen Leuten Geld schuldete.

Soviel Geld habe ich nicht, dachte sie.

Plötzlich bekam sie ein schlechtes Gewissen. Denn ihr war aufgegangen, dass ihr Collegegeld nicht in Gefahr war. Selbst wenn sie ihre Ersparnisse opferte, würde es nicht reichen, um Bens Schulden bei Gavin zu begleichen. Nicht annähernd.

„Ihr Bruder schuldet mir sechsundvierzigtausend, und Sie lächeln?“

Anna kehrte ihm den Rücken zu und räumte die restlichen Einkäufe weg. Sie hatte nicht gelächelt.

Nicht wirklich.

Bestimmt nicht.

Zum Abendessen machte Anna sich eine gebackene Kartoffel und einen kleinen Salat.

Gavin stellte ein Fertiggericht in die Mikrowelle.

Sie würde einfach so tun, als wäre er nicht da. Vielleicht würde er dann verschwinden. Zunächst lief es großartig, obwohl er sich im Fernsehen ein Baseballspiel ansah. Doch dann nahm er seinen Teller und wollte sich vor den Apparat setzen. „Sie können das nicht mit ins Wohnzimmer nehmen.“

„Soll ich mich zu Ihnen setzen?“ Gavin lächelte. Es gefiel ihm nicht, ignoriert zu werden. Er hatte damit gerechnet, dass sie protestieren würde, wenn er einen Teller mit Pasta und Marinarasoße über ihren hellblauen Teppich trug. „Okay, schon gut.“

Er sah ihr an, dass sie wünschte, er würde sich in Luft auflösen. Dagegen musste er etwas tun. Es gefiel ihm auch nicht, so unbeliebt zu sein.

Normalerweise drang er nicht in die Häuser von Frauen ein und weigerte sich, wieder zu gehen.

Nun ja, abgesehen von der Geschichte vor drei Jahren. Aber die Frau hatte ihn nicht gehen lassen wollen. Er musste lächeln.

„Sie finden diese Situation amüsant?“, fragte Anna spitz.

Sein Lächeln wurde breiter. „Sagen wir, ich finde sie … interessant.“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich bin es nicht gewöhnt, ignoriert zu werden. Schon gar nicht von der Frau, bei der ich gerade erst eingezogen bin.“

„Tun Sie das öfter? Ungebeten bei einer Frau einziehen?“

Er überlegte kurz. „Nein, nur ein einziges Mal. Aber sie hat mich eingeladen und wollte mich auch nicht am ersten Tag wieder loswerden. In den Kreisen, in denen ich mich bewege, wird meine Anwesenheit sehr geschätzt.“

„Tatsächlich?“

„He, das stimmt. Ich bin im besten Alter, wohlhabend und sehe ganz gut aus.“

„Wenn Sie so wohlhabend sind, warum kaufen Sie sich nicht einen neuen Wagen und vergessen meinen Bruder?“

„Sind Sie verrückt?“, fuhr er sie an. „Man kauft sich nicht einfach eine neue 57er-Corvette. Davon gibt es nicht mehr viele. Deshalb sind sie so wertvoll.“

Sie starrte ihn an. „Sie meinen, der Wagen ist eine Geldanlage?“

„Verdammt noch mal, ja.“

„Müssen Sie sich an meinem Tisch so ordinär ausdrücken?“

„Du meine Güte, Sie klingen wie eine viktorianische Gouvernante.“

„Ich nehme an, das sollte eine Beleidigung sein, aber ich darf Sie daran erinnern, dass dies mein Haus ist und Sie hier nicht willkommen sind. Ich habe jedes Recht, mir eine unangemessene Ausdrucksweise zu verbitten.“ Sie legte die Gabel ab.

Gavin schüttelte den Kopf. „Lady, Sie sind unglaublich.“

Das Telefon läutete, bevor Anna antworten konnte. Sie bekam nur selten Anrufe. Überrascht stand sie auf und ging ans Telefon. Verwirrt hielt sie ihm den Hörer an. „Es ist für Sie.“

„Ich hoffe, es stört Sie nicht“, sagte er und stand auf. „Ich musste meinem Agenten eine Nummer geben, unter der ich zu erreichen bin.“

Anna runzelte die Stirn. Seinem Agenten?

Ihr fiel ein, dass er ihre Frage nach seinem Beruf nie beantwortet hatte. Schauspieler brauchten Agenten. Schriftsteller und Sänger auch. Er hatte eine Gitarre, also musste er Sänger sein.

Wieso hatte Ben mit jemandem zu tun, der einen Agenten besaß?

Er nahm den Hörer aus ihrer ausgestreckten Hand. Es war keine richtige Berührung, sondern seine Finger streiften ihre ganz leicht. Das Gefühl, das ihren Arm hinaufströmte, erinnerte sie an den Stromschlag, den sie einmal beim Auswechseln eines Lichtschalters bekommen hatte. Und auch ihre Reaktion war ähnlich. Sie schrie auf und zuckte zurück.

Anna hatte es nicht allein gespürt. Auch Gavin zog rasch die Hand zurück. Der Hörer fiel zu Boden. Mit gerunzelter Stirn starrte er ihn an, dann bückte er sich und berührte ihn mit der Fingerspitze.

Als nichts geschah, zuckte er mit den Schultern und hob ihn auf. „Ja?“

Anna rieb sich die Stelle, wo seine Finger sie gestreift hatte, und sah zur Seite, während er telefonierte.

„Nach dem, was er aus dem letzten Song gemacht hat“, sagte Gavin gerade, „nehme ich ihn lieber selbst auf. Lehn ab.“ Er lauschte kurz. „Es ist mir egal, wie viel er bietet. Der Schlachter rührt keinen meiner Songs mehr an, und das ist mein letztes Wort … Bon Jovi? Mit dem können wir ins Geschäft kommen. Der Mann weiß, wie man mit einem guten Song umgeht … Ja, richtig. Halt mich auf dem Laufenden.“

Er legte auf und drehte sich zum Tisch um.

„Sie schreiben Songs?“, fragte sie.

Er lachte. „Unter anderem. Sie hören sich an, als wäre das eine außerirdische Lebensform.“

„So habe ich das nicht gemeint.“ Na ja, vielleicht doch, aber sie wollte ihn nicht kränken. Aber … ein Songschreiber? „Was für Songs schreiben Sie?“

„Rock.“

„Rock?“, wiederholte Anna verblüfft.

„Wie in Rock ’n’ Roll.“

„Ich habe Sie verstanden.“

„Aber es gefällt Ihnen nicht?“

Anna wandte sich wieder ihrem Salat zu. „Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen. Was Sie mit Ihrer Zeit anfangen, ist Ihre Sache.“

„Aha …“ Er setzte sich. „Aber es gefällt Ihnen nicht. Das sehe ich Ihnen an. Sie mögen Rock nicht?“

„Ich interessiere mich nicht besonders dafür.“ Sie hörte solche Musik nur, wenn sie mit Donna zusammen im Pausenraum saß, und selbst dann versuchte sie, die Ohren zu verschließen. Sie war ihr zu laut und zu hektisch. „Sie sagten, unter anderem?“

„Nebenbei komponiere ich noch ein wenig.“

„Komponieren? Was denn?“

„Musik.“ Er lächelte verlegen. „Im nächsten Monat fange ich mit dem Soundtrack für einen Kinofilm an.“

„Oh.“ Obwohl sie es nicht wollte, war Anna beeindruckt.

„Ich nehme an, Sie halten das für seriöser als Rock.“

„Vielleicht“, erwiderte sie spitz.

Gavin wollte sich gerade Pasta in den Mund schieben, hielt jedoch inne und starrte Anna an. „Vielleicht bin ich im falschen Haus. Sind Sie sie wirklich Bens Schwester?“

Anna lächelte gequält. „Wirklich. Natürlich hat er, als er jünger war, auch Rock gehört. Aber meistens bin ich zu beschäftigt, um auf …“ Sie wollte etwas so Belangloses sagen, zügelte sich jedoch. „… die Musik zu achten, die mein Bruder hört.“

„Hört? Sie meinen spielt?“

„Spielt, hört, was auch immer.“

Gavins Augen wurden groß. „Vielleicht bin ich doch im falschen Haus. Wollen Sie etwa behaupten, Sie hätten noch nie gehört, wie Ben Klavier spielt?“

„Natürlich habe ich das. Er ist sehr begabt, vor allem bei Gospels und moderner Klassik.“

Gavin legte die Gabel hin und wischte sich mit der Serviette Soße von der Lippe, ohne Anna aus den Augen zu lassen. „Sie machen Spaß, habe ich recht?“

„Inwiefern?“, fragte sie verwirrt.

„Ich glaube langsam, ich weiß mehr über Ihren Bruder als Sie.“

„Das bezweifle ich.“

„Wie können Sie dann von seinen Gospels und der modernen Klassik reden, aber seinen Rock weglassen?“

Sie seufzte. „Ich habe wohl gehofft, dass er inzwischen mit dem Unsinn aufgehört hat.“

„Unsinn?“, rief er ungläubig.

„Sie meinen, er spielt noch immer Rock?“

„Spielt ihn? Ben Collins ist der heißeste Pianist, den die Musikszene von L. A. seit Jahren erlebt hat. Wenn er noch ein wenig an seiner Technik feilt und an seiner Stimme arbeitet, könnte er eines Tages so gut werden wie Elton John und Billy Joel.“

Anna bekam ein mulmiges Gefühl in der Magengegend. „Ben … ist ein professioneller … Musiker?“

„Das ist eine noch niederere Lebensform als die eines Songschreibers, was? Sie klingen, als hätte ich gerade verkündet, dass er ein professioneller Nasenbohrer ist.“

Für Anna war das tatsächlich kein großer Unterschied. Nur wenige Musiker konnten allein von der Musik leben, und an den Lebensstil von Rockmusikern wollte sie lieber nicht denken. Alkohol, Drogen, Groupies. Wilde Partys, zertrümmerte Hotelzimmer. Die Vorstellung, dass Ben so lebte, brachte sie den Tränen nah.

„Ich hatte gehofft, dass er etwas Festeres findet“, gab sie zu.

„Was meinen Sie damit?“

„Na ja, etwas mit regelmäßigem Einkommen, Krankenversicherung, Altersvorsorge. Ich habe noch nie von einem Rockmusiker gehört, der sich um seine Altersvorsorge kümmert.“ Wozu auch? dachte sie. Die meisten Rockmusiker lebten nicht lange genug, um sie zu brauchen.

„Haben Sie so einen Job? Fest, mit Altersvorsorge?“

Sie lächelte. „Ich bin Buchhalterin.“

„Aha, eine Erbsenzählerin.“

Anna konnte die Bezeichnung nicht ausstehen. „Als ich das letzte Mal Erbsen gezählt habe, waren es vier! Der Arzt musste sie aus Bens Nase holen. Das ist lange her.“

„Kann ich mir vorstellen. Wie alt war er? Einundzwanzig?“

„Der Arzt?“

„Ben.“

„Als er sich Erbsen in die Nase gesteckt hat? Natürlich nicht. Er war vier.“

„Das war ein Scherz, Anna.“

„Oh.“ Anna hatte keinen Appetit mehr. Sie stellte ihr Geschirr in die Spülmaschine.

Was sollte sie jetzt tun? Es war noch zu früh, um ins Bett zu gehen. Aber sie hatte keine Lust, den Rest des Abends mit ihrem ungebetenen Gast zu verbringen.

Baseball, Motorräder, alte Autos und Rockmusik? Tat der Mann nichts Richtiges? Nichts Sinnvolles?

Offenbar nicht. Sein Leben schien ein einziger Spaß zu sein. Kein richtiger Job, kein normales Auto, keine echte Verantwortung.

Kein Wunder, dass Gavin Marshall ihren Bruder kannte.

Als ihr bewusst wurde, wie lange sie schon auf einer Stelle herumwischte, spülte sie das Tuch aus und hängte es an die Tür unter dem Becken.

Was sollte sie tun? Sich mit einem Rocksongschreiber ein Baseballspiel ansehen?

Wieso denn? Dies war ihr Haus.

Als hätte sie gerade die wichtigste Entscheidung ihres Lebens getroffen, marschierte Anna ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher aus. Dann setzte sie sich mit der Morgenzeitung auf die Couch und hielt das Blatt so, dass sie Gavin nicht mehr sehen musste.

Das hieß leider nicht, dass sie ihn vergessen konnte. Sie hörte das Klappern der Gabel, wenn er aß, und sein Glas, wenn er es auf den Tisch stellte. Sie hörte, wie er den Stuhl zurückschob, aufstand und sein Geschirr abspülte.

Offenbar war er gut erzogen, denn er tat Teller, Glas und Besteck in die Spülmaschine.

Seine Schritte wurden leiser, als er den Teppich vor der Couch betrat. Dann gab es ein dumpfes Geräusch, gefolgt von einigen recht imposanten Schimpfwörtern.

Anna lugte über den Rand der Zeitung und sah, dass er sich ein Bein am Couchtisch gestoßen hatte. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er sich das Schienbein. „Haben Sie dem Tisch wehgetan?“

Er grunzte und humpelte zur Couch. „Er wird es überleben.“

„Das freut mich. Ich mag meinen Tisch.“

„Ich werde es mir merken“, erwiderte er. „Aber Baseball mögen Sie nicht?“

Anna runzelte die Stirn, als er sich an das andere Ende der Couch setzte. „Nicht mit zweihundert Dezibel in meinem Wohnzimmer.“

„Zweihundert Dezibel sind unmöglich“, sagte er lächelnd. „Wir wären tot und sämtliche Häuser platt.“

Anna spitzte die Lippen und sah wieder in die Zeitung.

„Mehr als sechzig waren es nicht“, fügte er hinzu.

„Danke für die Information.“

„Gern geschehen. Stört es Sie, wenn ich die Cartoons lese?“ Er nahm ihr den hinteren Teil der Zeitung aus den Händen und vertiefte sich in die Humorseite. Nach etwa dreißig Sekunden lachte er. Dann wieder. Und wieder. Alle paar Sekunden lachte er.

Es ging ihr auf die Nerven. Manche Menschen waren so einfach zu belustigen.

Anna begann zum dritten Mal mit dem Leitartikel über die Finanzierung des Denkmals, das an den Bombenanschlag in Oklahoma City erinnern sollte.

Am anderen Ende der Couch wurde die Zeitung zusammengefaltet.

„Und was macht man hier, wenn man Spaß haben will?“, fragte Gavin.

Anna schlug die Zeitung auf, um Gavin Marshall nicht mehr sehen zu müssen. „Falls Sie sich langweilen, Mrs Marshall, können Sie gern gehen. Ich versichere Ihnen, ich werde nicht beleidigt sein.“

„Ben hält Sie für die freundlichste, sanfteste, großherzigste Seele auf diesem Planeten. Offenbar kennt er Ihre kratzbürstige Seite nicht.“

Anna schloss die Augen und schlug die Zeitung zu. „Ich halte das nicht aus.“

„Stört es Sie, dass ich mit Ihnen spreche?“

„Es stört mich, dass Sie hier sind, Mr Marshall.“

„Mein Name ist Gavin. Meine Freunde nennen mich Gav.“

„Wie schön für Sie. Ich muss Sie trotzdem bitten, mein Haus zu verlassen.“

„Sobald Ihr Bruder auftaucht.“

„Nein.“ Sie sah ihn an. „Sie werden in ein Hotel gehen müssen. Oder noch besser, nach Hause. Geben Sie mir eine Nummer, dann rufe ich Sie an, wenn Ben kommt.“

Er kniff die Augen zusammen. „Warum glaube ich Ihnen nicht?“

„Sie müssen mir glauben. Hier können Sie nicht bleiben.“

Er lächelte, aber sein Blick wurde kühl. „Ich meine, ich glaube nicht, dass Sie mich anrufen werden. Sie sind viel zu sehr daran gewöhnt, Ben zu beschützen.“

Er hatte recht. Sie hatte ihn angelogen. Sie schämte sich, denn sie war keine Lügnerin. Aber sie schämte sich auch ihrer Angst, denn sie war noch nie feige gewesen. „Woher soll ich wissen, dass Sie mich nicht im Schlaf ermorden?“, platzte sie heraus.

Er wirkte zutiefst gekränkt. „Sie ermorden? Glauben Sie etwa, ich bin deshalb hier?“

„Es wäre naiv von mir, nicht daran zu denken.“

„Kein Wunder, dass Sie so unfreundlich sind. Sie halten mich für einen Mörder.“

„Ich bin eine Frau.“

„Das ist mir aufgefallen.“

„Keine sehr große.“

„Oh, ich weiß nicht.“ Er musterte sie. „Ich finde Sie genau richtig. Obwohl Sie nicht mein Typ sind.“

„Das beruhigt mich.“ Sie starrte ihn an. „Nur aus Neugier, was ist Ihr Typ? Die hirnlosen Groupies, die den Boden küssen, auf dem Sie gegangen sind?“

Er lächelte. „So ungefähr.“

Anna presste die Lippen zusammen. Sie hätte nicht fragen sollen. „Wissen Sie, wie viele Frauen jährlich in diesem Land in ihrer eigenen Wohnung ermordet werden?“

„Ehrlich gesagt, nein.“

„Ich auch nicht. Aber es müssen Tausende sein. Tausende. Ermordet. Von Männern. Männer, die sie kannten, oder Fremde. Sie gehören in beide Kategorien. Irgendwie verdoppelt das meine Chance, ermordet zu werden, finden Sie nicht auch?“

„Finden Sie nicht, dass Sie ein wenig zum Verfolgungswahn neigen?“, entgegnete er belustigt.

„Ich will kein Risiko eingehen.“

„Nein?“ Er legte einen Arm auf die Rückenlehne. „Dabei halte ich Sie für äußerst risikofreudig.“

Autor

Patricia Kay
Patricia Kay hat bis heute über 45 Romane geschrieben, von denen mehrere auf der renommierten Bestsellerliste von USA Today gelandet sind. Ihre Karriere als Autorin begann, als sie 1990 ihr erstes Manuskript verkaufte. Inzwischen haben ihre Bücher eine Gesamtauflage von vier Millionen Exemplaren in 18 verschiedenen Ländern erreicht!
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Christine Rimmers Romances sind für ihre liebenswerten, manchmal recht unkonventionellen Hauptfiguren und die spannungsgeladene Atmosphäre bekannt, die dafür sorgen, dass man ihre Bücher nicht aus der Hand legen kann. Ihr erster Liebesroman wurde 1987 veröffentlicht, und seitdem sind 35 weitere zeitgenössische Romances erschienen, die regelmäßig auf den amerikanischen Bestsellerlisten landen....
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