Bianca Extra Band 18

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NIE MEHR EINEN MILLIONÄR? von PADE, VICTORIA
Natalie sollte nur sein Haus verschönern, doch sie verzaubert gleich sein ganzes Leben. Cade findet immer neue Vorwände, um Zeit mit der schönen Raumgestalterin zu verbringen. Nach einer zärtlichen Nacht jedoch zieht sie sich zurück. Wie kann der Millionär Natalies Herz erobern?

HÖCHSTGEBOT: LIEBE von BUTLER, CHRISTYNE
Hundedame Daisy duldet keine Frau in der Nähe ihres Herrchens - außer Priscilla Lennox. Dabei passt der lässige Dean gar nicht zu der Hollywood-Schönheit, die im verschlafenen Destiny eine Junggesellen-Versteigerung für den guten Zweck organisiert. Aber Daisy weiß es instinktiv besser …

ES WAR EINMAL IN DEINEN ARMEN von FERRARELLA, MARIE
"Du trägst noch immer dieses Parfum", flüstert Sebastian, als sie sich in seinen Armen wiegt - zum selben Lied wie vor zehn Jahren. Doch nach dieser Nacht wird sie wieder ein Ozean trennen. Kein Mann gibt wegen eines einzigen Tanzes sein gewohntes Leben auf - oder etwa doch?

SCHRITT FÜR SCHRITT ZURÜCK INS GLÜCK von KLASKY, MINDY
Herz, Fuß, Stolz - alles ist angeknackst, und die Ballerina Kat ist auf Hilfe angewiesen. Es scheint, als könne Rye Harmon nicht nur ihr altes Tanzstudio, sondern auch ihr Herz reparieren … Aber wird Kats zartes Vertrauen in Rye auch sein großes Geheimnis überstehen?


  • Erscheinungstag 12.05.2015
  • Bandnummer 18
  • ISBN / Artikelnummer 9783733732486
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Victoria Pade, Christyne Butler, Marie Ferrarella, Mindy Klasky

BIANCA EXTRA BAND 18

VICTORIA PADE

Nie mehr einen Millionär?

„Nie mehr einen Millionär!“ schwört sich Natalie nach ihrer Scheidung – und verliebt sich ausgerechnet in Cade Camden. Kann sie noch einmal einem Mann vertrauen, der sich jede Laune leisten kann?

CHRISTYNE BUTLER

Höchstgebot: Liebe

Priscilla organisiert eine Charity-Auktion! Im Angebot: Ein Date mit Dean. Wie gern würde sie selbst auf den breitschultrigen Hünen bieten. Doch damit könnte sie ihr Herz aufs Spiel setzen …

MARIE FERRARELLA

Es war einmal in deinen Armen

Sebastian ist überwältigt, als er seine Jugendliebe Brianna wiedersieht. Dem Auswanderer bleiben sieben Tage um herauszufinden, ob sie mehr verbindet, als ein Ozean je wieder trennen darf …

MINDY KLASKY

Schritt für Schritt zurück ins Glück

Wie wird Kat reagieren, wenn sie die Wahrheit erfährt? Gerade als Rye seine Traumfrau gefunden hat, holt ihn die Vergangenheit ein: Er entdeckt, dass er ein Kind hat. Und Kats Zwilling ist die Mutter …

PROLOG

„Wenn du uns alle um Mitternacht zur Malzmilch in die Küche bestellst … dann muss irgendwas los sein“, stellte Cade Camden fest. Zusammen mit seinen drei Geschwistern und sechs Cousins und Cousinen saß er in der großen Küche seiner Großmutter, bei der sie aufgewachsen waren: Georgianna Camden, genannt GiGi, hatte alle zehn Enkelkinder nach dem tragischen Tod ihrer Eltern zu sich genommen.

„Schoko- oder Vanillegeschmack?“, erkundigte sie sich und wich damit erst mal einer Antwort aus.

„Schoko, bitte“, erwiderte Cade.

„Hat einer von uns etwas angestellt? Das hatten wir doch zuletzt als Teenager“, fügte Cades großer Bruder Seth hinzu.

„Es ist hoffentlich niemand gestorben, oder, GiGi?“, wollte Lang wissen, ein Cousin von Cade.

Früher, als sie noch alle zusammen bei ihrer Großmutter gewohnt hatten, hatten sie sich nachts oft zur Krisenbesprechung in der Küche versammelt. Jedenfalls, wenn es Probleme gegeben hatte. Aber was immer auch passiert war und selbst wenn sich Georgianna noch so sehr über die Dummheiten ihrer Enkel geärgert hatte – sie hatte trotzdem allen eine Malzmilch zubereitet und ihnen versichert, dass sie die kleine oder große Katastrophe schon gemeinsam überstehen würden.

Als Georgianna sie heute an ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag zu sich in die Küche gerufen hatte, hatten bei Cade sofort die Alarmglocken geschrillt. Eigentlich hatte er schon mit so etwas gerechnet, weil Georgianna alle Enkel gebeten hatte, bei ihr zu übernachten – „so wie früher“.

Jetzt saßen sie zu zehnt um die große Kücheninsel herum, nippten an ihrer Malzmilch und schauten Georgianna erwartungsvoll an.

„Ich habe mir inzwischen die Tagebücher durchgelesen“, verkündete sie bedeutungsvoll.

Sofort wussten alle, was Sache war: Einige Wochen vor Georgiannas Geburtstag hatte ihr ältester Enkel Seth einen alten Koffer gefunden, der seinem Urgroßvater und Georgiannas Schwiegervater Henry James Camden gehört hatte. Henry James Camden, genannt H. J., dem Gründer des Großkonzerns Camden Incorporated und der dazugehörigen internationalen Warenhauskette. Der Koffer war unter den Bodendielen einer alten Scheune verborgen gewesen. Die Scheune wiederum stand in der Kleinstadt Northbridge im Bundesstaat Montana – in H. J. Camdens Geburtsort. Gleich mehrere Tagebücher hatten in dem Koffer gelegen, alle in H. J.s Handschrift verfasst. Seth hatte die Bücher sofort seiner Großmutter geschickt.

„Oje, das hört sich gar nicht gut an“, sagte Cades Cousine Livi leise. Es hatte immer wieder Gerüchte gegeben, dass H. J., dessen Sohn Hank Jr. und selbst die beiden Enkel Howard und Mitchum das beachtliche Familienvermögen der Camdens durch unlautere Praktiken angehäuft hatten: Lügen, Betrügereien und Bestechung waren da noch die harmloseren Vorwürfe, die man den Männern machte.

„Es ist auch nicht gut“, bestätigte Georgianna Livis Befürchtung. „Ich habe zwar noch nicht alles gelesen, aber genug, um sagen zu können, dass alles, was man sich über H. J. erzählt, den Tatsachen entspricht. Es war in Wirklichkeit sogar noch viel schlimmer.“

In der Küche herrschte erschrockenes Schweigen.

Alle Camden-Enkel wussten, dass Georgianna mit den Praktiken der Camdens nie etwas zu tun gehabt hatte. H. J. und ihr verstorbener Ehemann Hank hatten Geschäft und Familie immer strikt getrennt und sich beide als verantwortungsbewusste und sehr liebevolle Ehemänner, Väter und Großväter gezeigt. Insofern hatte Georgianna immer nur das Beste von ihnen angenommen. Und dann hatte sie alles darangesetzt, ihre Söhne und Enkelkinder zu anständigen Menschen mit einem gesunden Rechtsempfinden zu erziehen.

„In den letzten zwei Monaten vor seinem Tod hat H. J. mir schon ein paar Dinge erzählt, die mich stutzig gemacht haben“, berichtete Georgianna. „Für mich hörte sich das ganz so an, als hätte er gute Gründe für ein schlechtes Gewissen. Weil er da schon ziemlich verwirrt war, habe ich immer noch gehofft, dass das Schlimmste davon nicht zutrifft. Aber besonders H. J. und mein Mann Hank …“ Ihre Stimme brach. Schließlich hob sie das Kinn und sprach weiter: „Die beiden sind praktisch über Leichen gegangen, um ihr Vermögen aufzubauen.“

Ihre Enkel schwiegen.

Es dauerte einen Moment, bis Georgianna sich gesammelt hatte. Dann fuhr sie fort: „Immerhin sind die schlimmsten Zeiten schon lange vorbei. Eure Väter haben viel Geld an wohltätige Organisationen gespendet. Trotzdem sind auch sie H. J.s und Hanks Anordnungen gefolgt.“

Georgianna seufzte. „Euch habe ich zu aufrichtigen, verantwortungsbewussten Menschen erzogen, und ich bin sehr stolz auf euch.“ Sie sah jedem ihrer Enkel einen Moment lang in die Augen und lächelte. „Aber je länger ich in diesen Tagebüchern lese, desto bewusster wird mir, dass der gesamte Wohlstand der Camdens auf Kosten anderer Menschen aufgebaut ist. Und ich habe mich gefragt, ob womöglich die Kinder und Enkelkinder der Menschen, die H. J. so böse ausgenutzt hat, immer noch unter den Konsequenzen leiden. Vielleicht haben sich die betroffenen Familien nie davon erholt?“

„Das ist wohl für uns alle eine schlimme Vorstellung“, bemerkte Cades Cousin Dylan. „Aber …“

„Kein Aber!“ Georgianna schnitt ihm das Wort ab, so wie sie es früher oft getan hatte, wenn ihre Enkel sich in Ausreden flüchten wollten. „Was passiert ist, geht uns alle etwas an. Wir müssen unbedingt herausfinden, wie schlimm die Konsequenzen sind. Und dann müssen wir etwas unternehmen.“

„Willst du den Familien etwa Wiedergutmachungen zahlen?“, schaltete sich Cade ein.

„Ja, so ungefähr. Aber vorher muss ich erst noch genauer nachforschen. Darum wünsche ich mir zum Geburtstag, dass ihr mir einen besonderen Gefallen tut: Ihr müsst mir alle dabei helfen, herauszufinden, welche Auswirkungen diese Geschäftspraktiken auf die betroffenen Familien hatten, damit wir sie angemessen entschädigen können. Seth, du hast schon deinen Teil dazu beigetragen, indem du die Tagebücher gefunden hast.“

„Aber müssen wir nicht aufpassen, dass wir damit keine Lawine lostreten?“, gab Cades Cousin Derek zu bedenken. „Sobald wir zugeben, dass die Camdens früher einigen Menschen übel mitgespielt haben, stehen bestimmt Tausende vor unserer Tür und machen irgendwelche Ansprüche geltend … auch wenn sie gar keinen Grund dazu haben.“

„Darum müssen wir auch vorsichtig vorgehen“, sagte Georgianna. „Und wir dürfen das mit den Wiedergutmachungen nicht zu offensichtlich betreiben. Ich finde es besser, wenn wir die Betroffenen irgendwie unterstützen. Vielleicht, indem wir ihnen Aufträge zukommen lassen. Oder jemandem, der gerade einen Job braucht, eine Position in unserem Unternehmen anbieten. Dabei müssen wir natürlich unauffällig vorgehen, Nachforschungen anstellen …“

„Sollen wir die Leute etwa ausspionieren?“, hakte Cades Cousine Lindie nach.

„Es geschieht ja nur zu ihrem Besten“, beschwichtigte Georgianna. „Auf diese Weise dringen unsere Absichten nicht an die Öffentlichkeit, und wir treten damit keine Lawine los, wie Derek schon befürchtet.“

„Also, ich weiß nicht“, wandte Cade ein. „Die Leute, die von H. J., Grandpa, Dad oder Onkel Mitchum über den Tisch gezogen wurden – die müssen uns doch hassen. Und wir sollen jetzt einfach so auf sie zugehen und ihnen Jobs anbieten?“

„Wahrscheinlich denken sie sofort, dass die Sache einen Haken hat und wir sie bloß wieder übers Ohr hauen wollen“, sagte Dylan.

Georgianna nickte. „Ich gebe ja zu, dass das nicht einfach wird. Höchstwahrscheinlich empfangen uns die meisten nicht gerade mit offenen Armen. Aber irgendetwas müssen wir unternehmen. Oder könnt ihr gut damit leben, dass die Camdens ihr Vermögen auf Kosten anderer Menschen erwirtschaftet haben?“

„Nein!“, gaben ihre Enkel einstimmig zurück.

„Dann sehen wir zu, dass wir diese Leute entschädigen. Aber bitte vorsichtig und unauffällig.“

„Und dafür schickst du uns alle nacheinander auf so eine … Mission?“, hakte Lindie nach.

„Ja, so habe ich mir das gedacht. Und die erste sogenannte Mission geht an Cade.“

Cade verzog das Gesicht. „Na, wunderbar. Dann bin ich also dein Versuchskaninchen.“

„Nur, weil es bei dir so perfekt passt. Du hast doch in deinem Haus diese hässliche Wand mit der abgeblätterten Tapete, die unbedingt renoviert werden müsste.“

„Jaaa …“

„Und in Arden gibt es in der Altstadt ein kleines Geschäft, das …“

„Das findest du unauffällig?“, fiel Cade ihr ins Wort. „Ich wohne mitten in Denver. Warum sollte ich ausgerechnet in einem kleinen Vorort nach jemandem suchen, der mir schnell eine Wand überstreicht?“

„Ach, so weit ist das gar nicht von hier, nur zwanzig Minuten auf dem Highway. Außerdem weiß ich aus zuverlässiger Quelle, dass die junge Frau in dem Geschäft ganz tolle Arbeit leistet. Dafür lohnt sich die Fahrt allemal“, erklärte Georgianna. „Sie heißt übrigens Natalie Morrison. In ihrem Laden verkauft sie restaurierte alte Möbel und ein bisschen Kunsthandwerk. Volkskunst und so. Sie gestaltet aber auch Wände nach Kundenwunsch. Du beauftragst sie einfach damit, deine Wand zu verschönern.“

„Ich will aber keine Volkskunst an meiner Esszimmerwand haben!“

„Musst du auch nicht. Sie kennt sich mit allen möglichen Techniken aus. Und während sie bei dir arbeitet, versuchst du herauszufinden, was aus ihrer Familie geworden ist, nachdem H. J. ihren Großvater Jonah Morrison um seine Existenz gebracht hat.“

„Morrison heißt er, sagst du? Hat er irgendetwas mit den Morrisons aus Northbridge zu tun?“, hakte Cade nach. In dieser Kleinstadt im Bundesstaat Montana hatte H. J. Camden den Grundstein für sein späteres Imperium gelegt. Cades älterer Bruder Seth kümmerte sich von dort aus um die Rinderbetriebe, die zum Camden-Konzern gehörten.

„Jonah Morrison!“, rief Livi aus, als hätte sie gerade ein Aha-Erlebnis. „War das nicht deine erste große Liebe, GiGi?“

„Na ja, wir gingen an der Highschool mal kurz miteinander aus“, verbesserte ihre Großmutter sie. „Offenbar hat H. J. die Hypothek gekauft, die die Morrisons für ihre Farm aufgenommen hatten, und sie dann gekündigt. Deswegen musste die Familie damals aus Northbridge wegziehen.“

„Und das hast du erst durch diese Tagebücher erfahren?“, wollte Cades jüngere Schwester Jani wissen.

„Bis vor Kurzem wusste ich nur, dass die Morrisons ihre Farm an H. J. verkauft hatten. Aber ich hatte immer gedacht, dass das ihr eigener Entschluss gewesen war und sie sowieso nach Denver ziehen wollten. Dass sie keine andere Wahl hatten, weil H. J. ihnen die Hypothek gekündigt hatte … davon habe ich nichts geahnt. Damals hatten Jonah und ich uns längst getrennt, und ich war schon mit eurem Großvater zusammen.“

„Und jetzt wohnt ihr beide schon lange in Denver, Jonah Morrison und du“, stellte Lindie fest. „Hast du dich während der ganzen Zeit hier nie bei deinem Exfreund gemeldet?“

„Warum hätte ich das tun sollen? Ich war glücklich mit eurem Großvater verheiratet, und die Geschichte mit Jonah Morrison war schon lange vorbei. Ich habe gar nicht mehr weiter an ihn gedacht … bis ich in diesen Tagebüchern auf den Namen Morrison gestoßen bin. Und dann ist mir eingefallen, dass eine Bekannte neulich von einer jungen Frau geschwärmt hat, die das Babyzimmer im Haus ihrer Tochter so wunderschön gestaltet hat.“

„Dieses Mädchen mit dem Volkskunst-Laden, das auch Morrison mit Nachnamen heißt?“, wollte Cade wissen.

„Ja, ein Wink des Schicksals!“, sagte Georgianna begeistert. „Ich habe dann ein bisschen nachgeforscht und war schnell erfolgreich. Die Familie von Natalie Morrison kommt tatsächlich aus Montana, und Natalie hat auch einen Großvater, der Jonah heißt. Also fangen wir mit unserem Projekt gleich bei ihr an. Beziehungsweise … du fängst bei ihr an, Cade.“

„Dann soll ich jetzt die Enkelin deiner Jugendliebe beauftragen, meine Wand zu verschönern.“ Cade klang alles andere als begeistert.

„Ja, und dabei versuchst du unauffällig herauszufinden, welche Auswirkungen es hatte, dass H. J. den Morrisons die Hypothek gekündigt hat. Ob er sie damit ins Unglück gestürzt oder ihnen vielleicht sogar eine neue Chance eröffnet hat. Ich möchte wissen, was aus Jonah und seiner Familie geworden ist … und aus dieser jungen Frau, der das Geschäft gehört.“

„Und wenn H. J. wirklich die ganze Familie ins Unglück gestürzt hat?“, hakte Cades Bruder Beau nach.

„Dann sorgen wir dafür, dass Natalie Morrison genug lukrative Aufträge bekommt. Und wir überlegen uns, was wir sonst noch für sie und ihre Familie tun können.“ Georgianna schien sich ihrer Sache sehr sicher zu sein. „Aber erst mal warten wir ab, was Cade herausfindet.“

Einen Moment lang schwiegen alle. Was sie da gerade erfahren hatten, mussten sie erst mal sacken lassen.

Schließlich seufzte Cade. „Okay, dann bin ich jetzt wohl dran. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, GiGi.“

1. KAPITEL

„Ach so, Sie sind ja gar nicht echt. Von draußen haben Sie noch so lebendig ausgesehen.“

Erst als Nati Morrison die Männerstimme hörte, wurde ihr klar, dass es für den Besucher so aussehen musste, als würde eine Vogelscheuche die Kasse bedienen. Nati hatte die lebensgroße Puppe hinter den Tresen gestellt, um ihr von innen Stroh an den Rocksaum zu nähen. Von seinem Standpunkt aus konnte der Mann Nati also nicht sehen … und sie ihn ebenso wenig.

Wahrscheinlich war es Gus Spurgis, der das Herbstfest organisierte und in dessen Auftrag sie gerade die Vogelscheuche anfertigte. Der Mann hatte Humor, also erweckte Nati die Vogelscheuche zum Leben, indem sie den Stab, der durch ihren Körper ging, auf und ab bewegte.

„Kann ich Ihnen helfen?“, sagte Nati mit hoher Fistelstimme.

Keine Reaktion.

Komisch, dachte Nati und blickte hoch … in die Augen eines Mannes, der sich gerade über den Tresen beugte und zu ihr hinuntersah. Gus Spurgis war es nicht, sondern ein völlig fremder Mann. Ein Mann, der auch noch umwerfend aussah, mit seinem markanten Gesicht und seinen wunderschönen tiefblauen Augen.

Er lächelte. „Ich finde Ihre Rezeptionistin ein bisschen steif“, bemerkte er. „Und außerdem ziemlich gruselig.“

„Schon, aber sie ist eine günstige Arbeitskraft“, erwiderte Nati und stand auf. Dann nahm sie den Mann noch einmal gründlich in Augenschein, der in Anzug und Krawatte vor ihrem Tresen stand.

Er war groß, breitschultrig und offensichtlich durchtrainiert. Sein dunkelbraunes Haar erinnerte sie an Zartbitterschokolade. Er hatte eine lange, leicht gebogene Nase, volle, sinnliche Lippen und markante Gesichtszüge. Und dazu diese unglaublich blauen Augen …

Außerdem kam ihr der Mann irgendwie bekannt vor. Sie überlegte angestrengt, wo sie ihn schon mal gesehen haben könnte. Aber wahrscheinlich bildete sie sich das nur ein. Denn wenn sie sich wirklich schon mal über den Weg gelaufen wären, müsste sie jetzt nicht lange überlegen. Diese Begegnung hätte sie nie wieder vergessen.

Ich muss aufhören, ihn so anzustarren, sagte sie sich und beschloss, das Thema Vogelscheuche wieder aufzunehmen. „Finden Sie sie wirklich gruselig?“ Nachdenklich betrachtete sie ihr Werk. Das Gesicht hatte sie aus Ton modelliert und angemalt, es war von einem Haarkranz aus Stroh umgeben. Die Puppe trug ein voluminöses Baumwollkleid und darunter eine Pumphose. An den Arm- und Beinabschlüssen der Kleidung kamen Hände und Füße aus Stroh zum Vorschein. „Jetzt müsste ich eigentlich beleidigt sein, ich habe das Gesicht nämlich meinem nachempfunden“, meinte Nati.

„Die Puppe hat was. Aber wenn das Gesicht Ihrem ähnlich sehen soll, dann sind Sie sich damit nicht gerecht geworden.“

Wie sollte sie das bloß auffassen? Als Kompliment? Oder als Kritik an ihren handwerklichen Fähigkeiten? Nati beschloss, seine Bemerkung nicht persönlich zu nehmen. „Es soll eher eine Karikatur sein“, erklärte sie. „Meine Nase ist auch so ein bisschen nach oben gebogen …“

„Ja, das sieht richtig keck aus.“ Der Mann ließ den Blick von Natis Nase zum Gesicht der Vogelscheuche schweifen.

„Der Puppe habe ich eine richtige Himmelfahrtsnase modelliert“, fuhr sie fort. „Und zum Glück ist mein Kinn auch nicht so spitz.“

„Nein, Sie haben ein schönes, zartes Kinn.“

Eigentlich war Nati gar nicht auf Komplimente aus gewesen, aber sie fühlte sich doch geschmeichelt.

„Außerdem sieht der Mund ganz anders aus als Ihrer“, fuhr er fort. „Sie haben nämlich sehr schöne, volle Lippen. Und die Vogelscheuche lächelt ziemlich verkniffen.“

Was hatte er da gesagt? Hatte er ihr Kinn gerade wirklich als zart bezeichnet und ihre Lippen als voll? Nati spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, und schämte sich gleichzeitig dafür. Sie durfte sich auf keinen Fall einbilden, dass dieser Mann gerade mit ihr flirtete! Oder?

Inzwischen war es schon ziemlich lange her, dass sich ein Mann für Nati interessiert hatte. Abgesehen von ihrem Großvater. Sie musste dringend aufpassen, dass ihr die freundlichen Worte des Besuchers nicht zu Kopf stiegen. Er war einfach ein Kunde, der ein bisschen Small Talk mit ihr machen wollte.

Oder war er vielleicht doch kein Kunde? Sondern ein Zusteller, der sie über einen unangenehmen Gerichtstermin informieren musste? Deswegen war er vielleicht auch so freundlich: weil ihm das, was er ihr mitzuteilen hatte, unangenehm war. Tatsächlich erinnerte das Verhalten des Mannes sie ein bisschen an jemanden, den ihr die Anwälte ihres Exmannes Doug Pirfoy und seiner Familie vorbeigeschickt hatten. Damals, als es um ihre Scheidung gegangen war.

Allerdings war dieses Kapitel längst abgeschlossen. Nati hatte sämtliche Scheidungspapiere unterschrieben. Da konnten die übermächtigen Pirfoys eigentlich nichts mehr von ihr oder ihrem Großvater verlangen, oder? Und auch Doug hatte jetzt, ein gutes halbes Jahr nach der Scheidung, bestimmt keine Lust mehr, sich weiter damit auseinanderzusetzen. Wo er doch so gut weggekommen war.

Erneut blickte Nati dem Mann in die sagenhaft blauen Augen, um die sich charmante kleine Fältchen bildeten, als er sie anlächelte. „Was kann ich für Sie tun?“, erkundigte sie sich.

„Ich hätte gern mit Natalie Morrison gesprochen.“

Also doch ein Zusteller? Ein eiskalter Schauer durchfuhr sie. „Das tun Sie gerade“, gab sie schließlich zurück und war froh, hinter dem Tresen zu stehen. Dadurch fühlte sie sich ein kleines bisschen sicherer. „Nati Morrison, das bin ich. Entschuldigen Sie, ich war erst etwas verwirrt, weil ich meinen vollen Namen so selten höre“, erklärte sie ihr kurzes Zögern, das dem Mann nicht entgangen sein dürfte. „Alle nennen mich Nati.“

Anstatt sofort einen Umschlag aus seiner Brusttasche zu ziehen, reichte der Mann ihr die Hand. „Freut mich. Ich bin übrigens Cade Camden.“

Also war er definitiv kein Überbringer schlechter Nachrichten, sondern jemand aus dem Camden-Clan. Ob das so viel besser war? Jetzt wurde Nati auch klar, warum er ihr bekannt vorgekommen war: Sie waren sich zwar noch nicht begegnet, aber dafür hatte sie schon oft Bilder von Cade Camden und seiner großen Familie in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften gesehen. Immerhin gehörten die Camdens zu den bekanntesten Familien Denvers.

Auch darüber hinaus war ihr der Name ein Begriff: Durch H. J. Camden hatte Natis Urgroßvater seine Farm in Northbridge verloren. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als zusammen mit seiner Frau und seinem Sohn – Natis Großvater – seinen kleinen Geburtsort in Montana zu verlassen, um sich woanders Arbeit zu suchen. Diese Geschichte hatte Nati schon hundertmal gehört.

Ob Cade Camden wohl auch davon wusste? Und warum war er ausgerechnet in ihr Geschäft gekommen?

Sie überlegte kurz, ihn ins Kreuzverhör zu nehmen. Oder ihn gleich aus dem Laden zu werfen. Stattdessen wiederholte sie bloß ihre Frage von vorhin: „Was kann ich für Sie tun, Mr Camden?“ Diesmal klang es deutlich unterkühlter.

„Ich habe vor einiger Zeit ein Haus in Denver gekauft“, begann er. „An einer Esszimmerwand klebt die scheußlichste Tapete der Welt. Na ja, sie hängt eigentlich eher in Fetzen herunter und blättert ab. Und die Wand darunter sieht auch nicht viel besser aus, die müsste man wohl erst mal glätten. Ich habe gehört, dass Sie auf dem Gebiet wahre Wunder vollbringen; darum bin ich hier. Ich möchte aber nichts mit Schabloniertechnik oder so einem Firlefanz. Ich mag es edel und dezent.“

„Wie sind Sie denn auf mich gekommen?“, hakte sie nach.

„Sie haben mal ein Babyzimmer für eine Bekannte meiner Großmutter gestaltet, und die Frau war hellauf begeistert.“

Nati hatte schon zahlreiche Babyzimmer hergerichtet, daher war die Erklärung durchaus plausibel. Allerdings hatte sie immer noch nicht herausgefunden, ob er wusste, was früher zwischen ihren Familien passiert war.

Und jetzt? Sie könnte ihm einfach sagen, dass sie im Moment komplett ausgebucht war, um ihm dann jemand zu empfehlen, der bestimmt alles verpfuschen würde. Oder aber sie übernahm den Auftrag selbst und schrieb ihm später eine viel zu hohe Rechnung. Dann hätte sie sich wenigstens ein bisschen für das gerächt, was sein Urgroßvater ihrer Familie angetan hatte.

Aber wenn sie genauer darüber nachdachte, gefiel ihr keine dieser Lösungen: Letztlich war ihr ein reines Gewissen wichtiger, als diesem völlig fremden Menschen eins auszuwischen. Zumal er einige Generationen jünger war als H. J. Camden. Außerdem hatte sie ihren Laden erst vor wenigen Monaten eröffnet. Das Geschäft lief langsam an, und sie musste noch einige Rechnungen begleichen. Da brauchte sie jeden Cent und konnte schlecht einen Auftrag ablehnen. Selbst dann nicht, wenn er aus der Camden-Familie kam.

„Ich müsste mir diese Esszimmerwand erst mal anschauen“, sagte sie schließlich. „Um abzuschätzen, was daran zu tun ist und was ich Ihnen dafür berechnen werde. Außerdem müssen wir uns genauer darüber unterhalten, was Ihnen so vorschwebt. Wandgestaltung ist nicht gleich Wandgestaltung, es gibt einfache und sehr aufwendige Techniken. Die kosten dann auch entsprechend mehr.“

„Natürlich“, gab Cade zurück. Dass die Gestaltung seiner Wand ziemlich kostspielig werden könnte, schien ihn nicht abzuschrecken. Warum auch? Immerhin waren die Camdens so reich, dass sie locker Natis ganzen Laden aufkaufen könnten … und noch zehn Millionen weitere dazu.

„Hätten Sie rein zufällig morgen schon Zeit, sich das Ganze anzusehen?“, fragte er. „Abends vielleicht, wenn Sie hier fertig sind und ich aus dem Büro komme?“

„Ach, ich bin da ganz flexibel.“ Nati wies mit dem Kopf auf einen Durchgang rechts hinter dem Tresen. Der Durchgang ließ sich mit Schiebetüren schließen, aber jetzt stand er offen und gab den Blick auf den Nachbarladen frei. „Die Besitzerin der Tierboutique nebenan ist eine gute Freundin von mir. Wenn eine von uns mal einen Termin hat, öffnen wir einfach die Schiebetüren, und die andere kümmert sich um beide Läden. Im Moment bin ich gerade zuständig, weil Holly heute zur Bank musste.“ Nati biss sich auf die Lippen. Was erzählte sie diesem fremden Mann da eigentlich alles?

„Und wie sieht es morgen Abend bei Ihnen aus? Hätten Sie da Zeit?“

Dafür musste Nati nicht erst in ihren Kalender schauen. „Nennen Sie mir einfach einen Termin.“

„Wie wär’s mit halb sieben? Ich wohne mitten in Denver, im Stadtteil Cherry Creek. Ich hoffe, das ist Ihnen nicht zu weit?“

„Nein, kein Problem“, erwiderte sie. „Aber gibt es bei Ihnen in der Nähe denn keine Handwerksbetriebe, die sich um Ihre Wand …“

„Das schon, aber Sie wurden mir besonders empfohlen. Und ich lege großen Wert auf sorgfältige, professionelle Arbeit.“

„Ich verstehe“, sagte sie. Komisch, irgendwie war sie ein bisschen enttäuscht: Vorhin hatten sie noch ganz locker über die Vogelscheuche gewitzelt, und jetzt sprachen sie auf einmal sachlich und geschäftsmäßig miteinander.

Aber so ist es auch am besten, sagte sie sich. Erst recht jetzt, nachdem ich weiß, wer er ist.

Cade Camden schrieb seine Adresse auf und beschrieb Nati den Weg zu seinem Haus. „Also dann bis morgen um halb sieben“, sagte er. „Toll, dass Sie an einem Freitagabend noch so spät einen Kundenbesuch machen. Ich verspreche Ihnen auch, dass ich Sie nicht zu lange aufhalte.“

Gut, dass er nicht wusste, wie sie normalerweise ihre Freitagabende verbrachte. Genauso wie alle anderen Abende in der Woche nämlich: Abends restaurierte und bemalte sie normalerweise noch Artikel für den Verkauf im Laden. „Kein Problem.“

Eigentlich hätte er sich jetzt gut verabschieden können. Stattdessen blieb er stehen und blickte sie lange an. Schließlich sagte er: „Als meine Großmutter von ihrer Bekannten erfahren hat, wie Sie heißen, ist sie übrigens erst mal stutzig geworden. Sie kannte nämlich mal eine Familie Morrison, die auch in dieser Gegend wohnen soll. Insbesondere einen Jonah Morrison. Das ist aber schon lange her. Damals hat sie noch in …“

„Northbridge gewohnt“, brachte Nati seinen Satz zu Ende. „In Montana. Jonah Morrison ist mein Großvater.“

„Na, das ist ja ein Zufall.“

Wirklich? dachte Nati.

„Okay.“ Cade seufzte. „Dann bis morgen Abend.“

Irgendwie kam es ihr so vor, als suchte er nach einem Vorwand, noch länger bei ihr im Laden zu bleiben. Aber dafür wollte sie ihm keine Vorlage geben. Selbst wenn sie sich insgeheim dasselbe wünschte.

„In Ordnung, um halb sieben bin ich da“, sagte sie stattdessen.

„Ich freue mich“, erwiderte er kaum hörbar, mehr zu sich selbst als zu ihr.

Dann ging er in den sonnigen Oktobertag hinaus, und Nati sah ihm noch eine ganze Weile lang hinterher.

2. KAPITEL

Cade Camdens Haus stand in einer gehobenen Wohngegend mit vielen alten, wunderschön gepflegten Stadtvillen. Es war ein zweistöckiges Backsteingebäude aus dem 19. Jahrhundert: wirklich schön, aber kein protziges Anwesen, was Natalie eigentlich erwartet hatte. Die Eingangstür war schwarz gestrichen, und alle Fenster hatten passende schwarze Fensterläden.

Warum bin ich bloß so schrecklich aufgeregt? fragte sie sich, während sie den Sicherheitsgurt löste, ihre Unterlagen zusammensuchte und aus ihrem uralten Wagen stieg. Das ist doch nicht das erste Mal, dass ich einen Kunden besuche!

Allerdings hatte es sich bei keinem ihrer vorigen Kunden um jemanden aus der Familie Camden gehandelt.

Cade Camden, um genau zu sein.

Seit sie gestern zum ersten Mal in seine unglaublich blauen Augen geschaut hatte, hatte sie nicht aufhören können, an ihn zu denken.

Leider!

Immerhin war sie ein ganzes Jahr von den Anwälten ihres Exmannes und dessen Familie drangsaliert worden, bis endlich die Scheidung ausgesprochen war. Sechs Monate lag das jetzt zurück. So etwas wollte sie nicht noch mal durchmachen. Und deswegen durfte sie sich auf gar keinen Fall noch einmal auf einen reichen jungen Mann und seine Familie einlassen.

Sie stieg die beiden Stufen zur Haustür hoch und drückte auf die Türklingel. Dann hörte sie, wie ihr von innen jemand ein gedämpftes „Ich komme gleich!“ entgegenrief.

Kurz darauf öffnete Cade Camden höchstpersönlich die Haustür. Er trug eine Anzughose und ein weißes Hemd. Die Ärmel hatte er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, den Kragen aufgeknöpft. Er trocknete sich gerade die Hände an einem Geschirrhandtusch ab, und auf seinem Hemd zeichneten sich einige Wasserspritzer ab.

„Hey, Sie sind ja auf die Minute genau pünktlich!“, begrüßte er sie. „Ein Glück. Vor zehn Minuten hat sich in meiner Spüle nämlich noch das schmutzige Geschirr gestapelt.“

„Oh. Hat Ihre Haushaltshilfe sich nicht darum gekümmert?“

„Meine Haushaltshilfe?“ Er lachte. „Ich habe gar keine.“

„Oh, sorry“, sagte Nati. „Ich dachte bloß …“ Aufmerksam betrachtete sie sein Gesicht. Um dabei festzustellen, dass sie sich sein umwerfendes Aussehen nicht bloß eingebildet hatte. Dazu duftete er auch noch toll nach Zitrusfrüchten und frischer Bergluft. Offenbar hatte er sich gerade rasiert.

Ihr wurden die Knie weich …

Außerdem hatte er wunderschönes Haar. Es war dicht und kräftig. Hinten und an den Seiten war es kurz geschnitten. Insgesamt sah sein Schnitt gepflegt aus, aber nicht so, als würde Cade besonders viel Zeit vor dem Spiegel verbringen. Der leicht verwuschelte Look wirkte leger und nicht ganz so streng und geschäftsmäßig.

Am liebsten hätte Nati ihm jetzt durchs Haar gestrichen …

Sie umklammerte ihren Notizblock und die Broschüren, als könnte sie nur so ihre Hände bei sich behalten.

„Kommen Sie doch herein“, forderte er sie auf und ging einen Schritt zur Seite.

Die Eingangshalle war riesig. Direkt hinter der Tür war eine steile Treppe in den ersten Stock, und neben der Treppe führte ein breiter Flur geradeaus in die Küche auf der anderen Seite des Hauses. Links schloss sich ein vornehmes Wohnzimmer an den Eingangsbereich an, und rechts stand eine Doppeltür offen und gab den Blick auf Cades riesige Bibliothek frei, die Nati an englische Romane aus dem 19. Jahrhundert erinnerte.

Cade schloss die Haustür. „Es geht übrigens um die Wand im Esszimmer“, erklärte er. „Machen Sie sich schon mal auf etwas gefasst.“ Er ging ihr voran den Flur hinunter in Richtung Küche.

„Sie haben ein wirklich schönes Haus“, bemerkte sie und nahm die geräumige, blitzsaubere Küche in Augenschein. Selbst wenn hier vorhin noch Chaos geherrscht haben sollte – jetzt war davon nichts mehr zu sehen.

Cade warf sein Geschirrhandtuch auf die Arbeitsplatte. „Inzwischen wohne ich seit fast einem Jahr hier, aber zu der schönen Einrichtung habe ich leider noch nichts beigetragen. Ich habe das Haus in diesem Zustand von einem Paar übernommen. Die beiden haben es Zimmer für Zimmer renoviert, und das Esszimmer sollte als Letztes drankommen. Aber als es endlich so weit war, haben sie sich getrennt.“ Er führte Nati durch die Küche in ein großes Esszimmer. In der Mitte stand ein langer, rechteckiger Mahagonitisch mit sechs Stühlen.

Das Auffälligste an dem Raum war allerdings die Rückwand: Die goldene Tapete mit dem schwarzen Safari-Tieraufdruck tat Nati in den Augen weh. „Oje!“ Sie lachte erstaunt auf.

„Ich weiß“, sagte er. „Ganz schön schlimm, oder? Selbst wenn sich die Tapete nicht in ihre Bestandteile auflösen würde.“

„Darf ich dieses Stück hier weiter abreißen, damit ich besser einschätzen kann, wie die Wand dahinter aussieht?“ Nati wies auf einen herunterhängenden Streifen.

„Nur zu. Tun Sie sich keinen Zwang an. Es kommt ja sowieso alles runter.“

Nati legte ihre Unterlagen auf dem Esstisch ab und machte sich ans Werk. „Die Tapete lässt sich leicht ablösen, und der Untergrund sieht so weit ganz vernünftig aus“, bemerkte sie. „Das ist schon mal eine gute Nachricht. Zuerst müsste ich die gesamte Tapete entfernen und die Wand rückstandsfrei säubern. Dafür brauche ich etwa einen Arbeitstag. Dann wird die Wand grundiert, bevor ich sie nach Ihren Vorstellungen gestalten kann.“

Als sie zu Cade hinüberblickte, fiel ihr auf, dass er nicht etwa die Wand betrachtete, sondern sie. „Heißt das, dass Sie den Auftrag übernehmen können?“

„Auf jeden Fall“, erwiderte sie. „Dafür brauche ich allerdings einige Tage, weil die Wand ziemlich groß ist und zwischen den einzelnen Arbeitsgängen gut trocknen muss. Aber ja, das bekomme ich hin.“

„Das ist Musik in meinen Ohren. Wann können Sie anfangen?“

„Dafür muss ich erst mal Holly aus dem Nachbargeschäft fragen, wann sie auf meinen Laden aufpassen kann. Aber wahrscheinlich klappt es schon morgen Nachmittag. Dann löse ich die Tapete ab und grundiere die Wand, damit sie Sonntag gut trocknen kann. Am Montag könnte ich weitermachen. Würde Ihnen das so passen?“

„Ja. Ich bin zwar morgen auch im Büro, aber ich gebe Ihnen einfach den Zahlencode für die Eingangstür. Dann können Sie kommen und gehen, wie Sie wollen.“

Damit gab er ihr einen erheblichen Vertrauensvorschuss. Aber den hatte Nati auch verdient. Außerdem glaubten die Camdens wahrscheinlich, dass niemand es wagen würde, sie zu hintergehen.

„Gut. Nach dem Grundieren können wir uns ja noch mal darüber unterhalten, wie es weitergehen soll, ja?“

„Einverstanden.“

„Ich zeige Ihnen jetzt erst mal die Farbpalette und stelle Ihnen ein paar Veredelungstechniken vor.“

Cade zog einen Stuhl für sie unter dem Tisch hervor und nahm über Eck am Kopfende des Tisches Platz. Er lehnte sich zurück, legte das rechte Fußgelenk aufs linke Knie und umfasste sein Schienbein mit einer Hand.

Wie gebannt betrachtete Nati seinen muskulösen Unterarm unter dem hochgekrempelten Ärmel.

Sie schluckte und zwang sich, sich auf das Renovierungsprojekt zu konzentrieren. Hastig öffnete sie ihr Notizbuch, legte Farbkarten und Broschüren auf den Tisch und erklärte ihm die unterschiedlichen Veredelungstechniken. „Ich kann Ihnen das alles gern hierlassen, wenn Sie die Wandgestaltung noch mit jemand anders besprechen möchten … mit Ihrer Partnerin vielleicht.“

Dass es möglicherweise eine Frau an Cade Camdens Seite gab, kam Nati erst jetzt in den Sinn. Bisher hatte sie angenommen, dass er Single war – weil er immer nur von seinem Projekt und von seinem Haus gesprochen hatte. Aber wenn sie ihn so ansah und auch noch seine tiefe Stimme hörte, die ihr einen Schauer nach dem anderen den Rücken hinunterjagte … dann wurde ihr klar, dass ihm die Frauen wahrscheinlich scharenweise hinterherliefen und er sich bloß eine auszusuchen brauchte. Bestimmt hatte er das auch schon getan.

„Nein, das entscheide ich allein“, erwiderte er. „Ich habe keine Partnerin.“

Auf einmal war Nati die Situation schrecklich unangenehm. „Entschuldigen Sie bitte, das muss Ihnen ja vorkommen, als würde ich Sie aushorchen. Dabei habe ich das bloß gesagt, weil ich dachte … na ja, das Haus ist ziemlich groß für eine einzige Person, und …“ Als sie merkte, dass sie mit ihren Erklärungen alles nur noch schlimmer machte, hielt sie inne.

„Ach, ist auch nicht so wichtig“, schloss sie. „Ich wollte damit eigentlich nur sagen, dass Sie sich nicht von jetzt auf gleich für eine Wandlösung entscheiden müssen, sondern sich gern noch mal mit jemandem beraten können.“

Er betrachtete sie amüsiert. „Ich habe das Haus gekauft, weil ich gern etwas Eigenes haben wollte, ganz für mich. Grundstück und Gebäude haben mir sehr gut gefallen. Außerdem brauche ich von hier aus nur zehn Minuten zu meinem Büro, zu meiner Großmutter und den meisten meiner Geschwister, Cousins und Cousinen. Und was die Wand angeht … da lasse ich Ihnen freie Hand. An Ihrem Geschäft habe ich ja schon gesehen, wie geschmackssicher Sie sind. Ich möchte bloß keinen …“

„Firlefanz“, ergänzte Nati. „Weil Sie es dezent und edel mögen“, wiederholte sie das, was er ihr im Laden erklärt hatte.

„Ganz genau.“

„Das kriege ich hin“, versicherte sie ihm und schlug einige Broschüren auf, in denen verschiedene Wandveredelungen vorgestellt wurden.

„Hm, ich glaube, mir gefällt dieser venezianische Dekorputz auch am besten“, sagte Cade schließlich. „In Hellgrau. Verputzen Sie die Wand selbst?“

„Ich streiche und verputze die Wand, dann schleife ich sie ab und streiche sie gegebenenfalls noch mal über. Und ja, das mache ich alles selbst“, versicherte sie ihm.

„Haben Sie eine Ausbildung in der Richtung gemacht?“

„Nein, ich habe am College Kunstgeschichte und Restaurierung studiert. Aber mein Großvater hat als Maler und Lackierer gearbeitet. Ich habe ihm immer wieder bei der Arbeit geholfen und dabei schnell die Grundtechniken gelernt.“ Sie lachte. „Und natürlich habe ich jede Menge Pinsel auswaschen müssen.

In meinem Beruf verbinde ich das, was ich am College gelernt habe, mit dem, was mir mein Großvater gezeigt hat. Ich habe beides in die bemalten Möbel, Wandveredlungen, Fresken und Bordüren einfließen lassen, die Sie in meinem Laden gesehen haben. Außerdem nehme ich Restaurationsaufträge an. Kurz nach meinem College-Abschluss habe ich für ein Unternehmen gearbeitet, das Kunstobjekte restauriert. Aber dann …“ Sie unterbrach sich. „Sorry, so genau wollten Sie das bestimmt nicht wissen.“

„Doch, das interessiert mich sogar sehr“, widersprach er, und es klang ehrlich. „Haben Sie damals alte Gemälde restauriert oder …“

„Ach, ich war in erster Linie eine Aushilfskraft und habe auch da jede Menge Pinsel gereinigt“, sagte sie. „Es war eine Art bezahltes Praktikum, aber ich bin nicht besonders lange dort geblieben. Darum konnte ich mich nicht bis zu den interessanteren Aufgaben vorarbeiten.“

„Und warum haben Sie so schnell wieder aufgehört?“

„Ich hatte geheiratet …“ Darüber wollte sie nun wirklich nicht ausführlicher reden, und so fuhr sie hastig fort: „Und als ich einige Jahre später wieder einen Job brauchte, hatte ich zwar meinen Abschluss als Kunsthistorikerin, aber keinerlei praktische Berufserfahrung. Und ohne Berufserfahrung war mein Abschlusszeugnis nicht mehr wert als das Papier, auf dem es gedruckt war.“

„Dann haben Sie Ihren eigenen Laden eröffnet.“

„Ja, Holly hat mich davon überzeugt. Wir sind schon seit der ersten Klasse befreundet.“

„Und sind Sie zufrieden mit dem Geschäft? Finanziell, meine ich“, erkundigte sich Cade.

„Haben Sie etwa Angst, dass ich Ihnen eine saftige Rechnung für Ihre Wand schreibe?“, scherzte Nati.

Er lachte. „Nein, ich habe mich nur gefragt, wie Sie zurechtkommen.“

„Na ja, ich habe weder eine Rentenversicherung noch Ersparnisse. Aber ich bin auch erst seit einem halben Jahr dabei und hole immerhin meine Ausgaben wieder herein. Die Stadt Arden ist auch sehr darum bemüht, die Altstadt weiter zu beleben. Dafür stehen eine Menge Veranstaltungen auf dem Programm, zum Beispiel das Herbstfest, für das ich die Vogelscheuche gemacht habe. Außerdem kommen oft Menschen auf Empfehlung zu mir. So wie Sie zum Beispiel. Ich glaube, mein Geschäft entwickelt sich ganz gut dafür, dass ich erst ein paar Monate dabei bin.“

„Bis zur Rente haben Sie ja noch viel Zeit. Aber dass Sie so gar keine Ersparnisse haben, finde ich ein bisschen … besorgniserregend.“

Wieder musste Nati lachen. „Wie bitte, Sie machen sich meinetwegen Sorgen?“

„Ich wollte damit nur sagen, dass es immer besser ist, etwas Geld in Reserve zu haben.“

„Das strebe ich auch an. Aber jetzt freue ich mich erst mal, dass ich eine Arbeit habe, die mich erfüllt. Und was die Sache mit der saftigen Rechnung angeht … ich berechne Ihnen die Materialkosten und meinen regulären Stundensatz.“ Sie rechnete einige Zahlen zusammen. „Für Ihre Wand müssten Sie bei mir etwa diese Summe einkalkulieren.“ Sie reichte ihm den Zettel.

„Das ist völlig in Ordnung“, sagte Cade, ohne sich den Zettel richtig angesehen zu haben.

„Sie können gern noch weitere Angebote einholen, bevor Sie sich entscheiden“, schlug sie vor.

„Nein, ich habe mich schon für Sie entschieden.“ Er biss sich auf die Lippe, als hätte er eben etwas Unüberlegtes gesagt. Dann fuhr er fort: „Ich meine, ich will Ihnen den Auftrag auf jeden Fall geben. Sie wurden mir wirklich wärmstens empfohlen. Mir ist auch klar, dass so ein Projekt gern mal länger dauern kann als angenommen und entsprechend teurer wird.“

„Dann sind wir also im Geschäft?“, fragte Nati.

„Ja, auf jeden Fall!“ Komisch, wie sehr Cade sich darüber zu freuen schien. Wenn er sie so intensiv anschaute wie jetzt, wurde sie das Gefühl nicht los, dass es ihm nicht nur um seine Wand ging, sondern er noch andere Hintergründe hatte. Aber wahrscheinlich bildete sie sich das alles nur ein.

„Wie regeln wir denn das Finanzielle?“, erkundigte er sich.

„Sie können mir einfach einen Scheck über die ungefähren Materialkosten ausstellen, den Rest begleichen Sie dann, sobald ich fertig bin.“

„Gut, dann hole ich schnell mein Scheckbuch.“ Cade verschwand aus dem Esszimmer. Wenige Sekunden später war er schon wieder da und füllte den Scheck aus.

„Ich bringe Ihnen morgen die üblichen Auftragsunterlagen mit“, sagte Nati. „Wenn ich Sie hier nicht antreffe, lege ich sie Ihnen zum Unterschreiben auf den Tisch und nehme sie Montag wieder mit. Wahrscheinlich sehen wir uns dann auch nicht, weil Sie tagsüber im Büro sind.“

War sie etwa enttäuscht, dass sie Cade Camden während ihrer Arbeit an der Wand nur selten zu Gesicht bekommen würde?

„Ach, ich schaue in den nächsten Tagen bestimmt immer mal wieder hier rein“, erwiderte er, und es klang wie ein Versprechen. Dann überreichte er ihr den Scheck. „Aber jetzt habe ich Sie schon viel zu lange aufgehalten, an einem Freitagabend. Bestimmt haben Sie etwas vor, vielleicht mit Ihrem … Mann?“

Nati hatte ihm vorhin erzählt, dass sie aus ihrem ersten richtigen Job ausgestiegen war, um zu heiraten. Wie es danach weitergegangen war, hatte sie ausgelassen. „Inzwischen bin ich nicht mehr verheiratet“, sagte sie schließlich. „Wir haben uns scheiden lassen.“

„Oh, das tut mir leid. Wie lange ist das her?“

„Vor sechs Monaten ist die Scheidung amtlich geworden. Die Verhandlungen haben sich über ein Jahr hingezogen. Und nein, ich habe heute Abend keine Verabredung. Aber in meinem Badezimmer wartet schon eine frische Flasche Schaumbad auf mich …“

Sie stand auf und klemmte sich ihre Präsentationsmaterialien wie ein Schulmädchen unter den Arm. „Gut, dann sehen wir uns vielleicht morgen oder Montag oder vielleicht auch gar nicht“, sagte sie und ging in Richtung Ausgang.

„Bis morgen oder Montag“, erwiderte er und begleitete sie zur Tür.

„Ich bin’s nur!“

Cade Camdens Stimme kam aus dem Eingangsbereich.

Ein wohliger Schauer rieselte Nati über den Rücken.

Inzwischen war es nach fünf Uhr am Samstagnachmittag, und sie hatte schon damit gerechnet, dass er jeden Moment hier auftauchte. Vielleicht, ganz vielleicht, hatte sie sogar ein bisschen darauf gehofft …

Sie hatte den ganzen Tag damit verbracht, die hässliche Tapete abzuziehen, die Wand zu säubern und zu grundieren – eine etwas chaotische und dreckige Angelegenheit. Gerade beseitigte sie die letzten Reste ihrer Arbeit, da kam Cade ins Esszimmer.

Offenbar folgte er samstags keiner strengen Kleiderordnung im Büro: Er trug ein hellgelbes Polohemd und enge Jeans. Als Nati bewusst wurde, dass sie ihm schon seit einigen Sekunden auf die Beine starrte, zwang sie sich, ihm ins Gesicht zu schauen. Mit seinem Bartschatten sah er ganz schön sexy aus.

„Hi“, begrüßte sie ihn, dabei blieb ihr fast die Stimme im Hals stecken.

„Hi. Das ist ja schön, dass Sie noch hier sind.“

Ein wohliges Gefühl erfüllte sie bei seinen Worten.

„In fünf Minuten wäre ich schon weg gewesen“, erklärte sie und stopfte die letzte Tapetenbahn in einen Müllsack. „Ihren Vertrag habe ich auf den Esstisch gelegt, wie besprochen.“

„Hätten Sie eventuell Zeit, ein bisschen länger hierzubleiben?“, erkundigte er sich. „Ich unterschreibe eben den Vertrag, und danach würde ich mit Ihnen gern noch über einen weiteren Auftrag sprechen. Oder müssen Sie schnell los?“

„Nein, ich muss nirgendwohin, schon gar nicht schnell“, gab sie zurück. Erst nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihr klar, dass es für Cade so klingen musste, als wäre sie eine echte Langweilerin. Andererseits konnte ihr das herzlich egal sein. Sie zog den Müllbeutel zu. „Ich bringe das hier noch in meinen Wagen und komme gleich wieder. In der Zwischenzeit können Sie sich ja den Vertrag durchlesen.“

Draußen war es schon dunkel, und mit dem Sonnenuntergang war auch die Außentemperatur gesunken. Nati verstaute den Müllsack im Kofferraum. Dann holte sie ein Oberteil aus dem Auto und zog es über. Sie hatte in Jeans und einem ganz unspektakulären T-Shirt an der Wand gearbeitet. Mit dem dunkelbraunen Oberteil aus feinem Wollgarn wirkte ihr Outfit allerdings gleich viel edler.

Als Nächstes holte sie eine Bürste aus dem Handschuhfach, fuhr sich damit durch den kinnlangen Bob und legte noch etwas Lipgloss auf. Spätestens jetzt konnte sie sich wirklich nicht mehr einreden, dass es ihr egal war, was Cade Camden von ihr hielt.

Na und? dachte sie. Es ist doch völlig normal, dass man bei einem Kundengespräch einigermaßen vorzeigbar aussehen will.

Schließlich ging sie wieder ins Haus und hoffte, dass ihm die Veränderung nicht auffallen würde. Aber kaum war sie ins Esszimmer gekommen, musterte er sie von oben bis unten und lächelte anerkennend. Immerhin schien ihm zu gefallen, was er sah. Dann reichte er ihr den unterschriebenen Vertrag.

„Das ging ja schnell“, sagte sie. „Haben Sie gar keine Fragen dazu?“

„Nein, das sieht alles wunderbar aus“, sagte er, und es klang ein bisschen so, als würde er damit auch ihr Outfit kommentieren.

Dann wandte er sich zu der Wand um, die sie den ganzen Nachmittag bearbeitet hatte. „Die macht auch schon einen viel besseren Eindruck“, bemerkte er.

„Bisher habe ich sie nur grundiert, aber immerhin ist diese schreckliche Tapete jetzt runter.“

„Ich habe übrigens meiner Großmutter erzählt, dass Sie auch Antiquitäten restaurieren“, sagte Cade. „Dabei ist ihr die Aussteuertruhe ihrer Großmutter wieder eingefallen. Von der Substanz her ist sie ganz gut erhalten, aber die Bemalung an der Vorderseite um das Schloss herum und oben auf dem Deckel ist kaum noch zu erkennen. Ich soll Sie von GiGi fragen, ob Sie die Truhe wohl wiederaufbereiten würden.“

„Um das zu entscheiden, müsste ich mir das erst mal anschauen.“

„Warum nicht gleich jetzt? Wenn Sie nicht sofort wegmüssen, können wir doch schnell rüberfahren.“

„Jetzt gleich? Zu Ihrer Großmutter?“

„Na ja, es muss auch nicht sofort sein. Ich dachte bloß, weil wir beide heute Abend nichts weiter vorhaben und Sie sowieso gerade hier sind. GiGi wohnt nämlich ganz in der Nähe.“

Wie bitte? Cade Camden hatte an einem Samstagabend nichts vor, genau wie sie? Keine Party, keine Verabredung mit einer umwerfenden Frau aus der High Society?

„Doch, wir können jetzt gern hin“, sagte sie.

Sie einigten sich, mit zwei Wagen hinzufahren: Cade fuhr mit seinem schnittigen schwarzen Sportwagen vor, und Nati folgte ihm in ihrer Rostlaube. Sie bemerkte, dass er auf der kurzen Strecke immer wieder in den Rückspiegel schaute, um sich zu vergewissern, dass sie noch hinter ihm war. Allerdings fuhr er in einem so gemäßigten Tempo, dass sie keinerlei Schwierigkeiten hatte, hinterherzukommen.

Nach nur wenigen Minuten bog Cade in eine Auffahrt ein. Links und rechts war sie von einer roten Backsteinmauer begrenzt, die ein beachtliches Anwesen säumte. Vor einer Garage, die fünf Wagen Platz bot, kamen sie zum Stehen. Das Haus dahinter war riesig.

Das zweistöckige Gebäude war in einem mittelalterlichen Fachwerk-Stil errichtet. Das charakteristische steile Dach war von efeubewachsenen Giebeln durchsetzt, und zwei dekorativ gemauerte schmale Schornsteine ragten in den Himmel.

Natis Auto gab seltsame Geräusche von sich, als sie den Motor abstellte. Beim Aussteigen versuchte sie sich nicht anmerken zu lassen, wie unangenehm ihr das war.

Cade öffnete die Tür, ohne vorher zu klingeln, und hielt sie für Nati auf.

Vorsichtig betrat sie das beeindruckende Foyer. Er schloss die Tür und stellte sich neben Nati. „GiGi? Bist du noch hier?“

„Ja, im Familienzimmer!“, rief jemand vom hinteren Teil des Hauses zurück.

Während ihrer Ehe mit Doug, dem Erben einer Fluggesellschaft, hatte Nati einige ziemlich beeindruckende Anwesen gesehen. Aber nichts davon reichte an das heran, was sie hier geboten bekam.

Links vom Foyer stieß Cade eine Doppelflügeltür auf und ging Nati voran in ein eichenvertäfeltes Familienzimmer. Dort standen zwei Frauen vor einer Vitrine: Die eine staubte vorsichtig eine antike Armbanduhr nach der anderen ab, die andere setzte sie jeweils vorsichtig zurück in den Glasschrank.

Nati schätzte die Frau, die die Vitrine bestückte, auf etwa sechzig, also zu jung, um Cades Großmutter zu sein. Sie war klein und untersetzt und hatte runde, rosige Wangen. Ihre legere Kleidung bestand aus einer Jerseyhose und einem Sweatshirt, das aschblonde Haar trug sie als praktischen Kurzhaarschnitt.

Die andere Frau war älter, höchstwahrscheinlich war sie also das weibliche Familienoberhaupt der Camdens. Auch sie war eher klein und etwas pummelig und gleichzeitig sehr attraktiv: Ihr faltiges Gesicht war immer noch strahlend schön. Das grau melierte, lockige Haar trug sie ebenfalls kurz geschnitten. Ihr schicker schwarzer Hosenanzug und ihre weiße Spitzenbluse hielten sie offenbar nicht davon ab, den Inhalt der Vitrine abzustauben.

„Hallo GiGi. Hast du dich zum Saubermachen nicht etwas zu festlich angezogen?“, scherzte Cade, ging auf die Frau zu und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann begrüßte er die andere Frau auf die gleiche Weise. „Hi Margaret. Es ist Samstagabend, und du bist am Putzen?“

Das erstaunte Nati allerdings auch. In den sechs Jahren, die sie mit den Pirfoys zu tun gehabt hatte, hatte keiner aus dieser ach so bedeutenden Familie jemals einen Putzlappen in die Hand genommen. Schon gar nicht ihre ehemalige Schwiegermutter. Die hätte es außerdem nicht gutgeheißen, wenn jemand zur Begrüßung durch das ganze Haus gebrüllt hätte, so wie Cade eben.

Der wandte sich nun Nati zu, um die Frauen miteinander bekannt zu machen. „GiGi, das hier ist Nati Morrison. Und das ist meine Großmutter Georgianna Camden.“

„Sagen Sie ruhig GiGi zu mir, das macht sowieso jeder. Das ist auch viel unkomplizierter“, schlug sie vor.

„Und das“, Cade nickte der anderen Frau zu, „ist Margaret Haliburton. Sie und ihr Mann Louie kümmern sich schon seit Ewigkeiten um das Haus, und früher haben sie sich auch um uns gekümmert. Ohne die beiden wären wir völlig aufgeschmissen gewesen.“

„Es freut mich, Sie beide kennenzulernen“, sagte Nati.

In diesem Moment ertönte ein lautes Hupen von der Auffahrt her. Margaret Haliburton lächelte entschuldigend. „Das ist Louie. Wir wollen heute zum Bowlen. Ich muss los, bis später!“

Nati hatte noch nie erlebt, dass eine Haushälterin sich ihren Arbeitgebern gegenüber so ungezwungen verhielt.

Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, wandte Georgianna Camden sich Nati zu und musterte sie aufmerksam. „Nati Morrison also. Cade hat mir erzählt, dass Sie die Enkelin von Jonah Morrison aus Northbridge in Montana sind.“

„Das stimmt.“

Die ältere Frau hob die Augenbrauen. „Dann lebt er also noch?“

„Ja, allerdings.“

„Ich hoffe, es geht ihm gut?“

„Er genießt seinen Ruhestand. Im Moment ist er gerade mit einigen Freunden in Las Vegas.“

„Das klingt ja gut!“ Georgianna lachte und beugte sich zu Nati herüber. „Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben, aber als Teenager waren wir mal ein Paar. Ich war damals noch ganz jung, gerade mal sechzehn, aber ich hätte ihn trotzdem sofort geheiratet. Er hatte so dichtes schokoladenbraunes Haar …“

„Er hat immer noch dichtes Haar. Es ist jetzt allerdings schneeweiß“, sagte Nati.

„Und wenn er gelächelt hat …“ Während Georgianna sich daran erinnerte, musste sie selbst lächeln. „Dann haben seine Augen richtig gefunkelt. Wie bei einem kleinen Jungen. Er hatte einen tollen Humor und war außerdem ein wunderbarer Mensch.“

„Das ist er immer noch“, versicherte Nati ihr. Jetzt hatte die ältere Frau ihr Interesse geweckt.

Ihr Großvater Jonah hatte immer daran festgehalten, dass Georgianna möglicherweise nichts von den eigennützigen Machenschaften der Camden-Männer wusste. Dass sie nicht ahnte, dass die Camdens die Morrisons gewissermaßen aus Northbridge vertrieben hatten. Damals hatte Nati das immer auf Jonahs Großmut geschoben. Aber jetzt, als sie Georgianna persönlich kennenlernte, musste sie sich fragen, ob ihr Großvater nicht doch recht hatte.

In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Georgianna seufzte und schüttelte den Kopf. „Das ist wahrscheinlich der Chauffeur, der mich zu dieser Wohltätigkeitsveranstaltung bringen soll. Wenn es nach mir ginge, müssten die Leute dafür kein Geld ausgeben, das wäre anderswo viel besser aufgehoben.“

„Ja, aber so bekommst du einen Auftritt wie die Königin von England“, witzelte Cade.

Seine Großmutter verdrehte die Augen. „Im Kühlschrank steht noch ein Auflauf, davon könnt ihr euch gern etwas nehmen.“ Dann drehte sie sich noch einmal zu Nati. „Ich freue mich sehr, Sie kennen gelernt zu haben! Hoffentlich können Sie meine alte Truhe wieder aufmöbeln, ich möchte sie mir nämlich ins Schlafzimmer stellen. Und grüßen Sie bitte Jonah ganz herzlich von mir!“

Statt ihr das zu versprechen, nickte Nati bloß. „Ich freue mich auch, Sie kennenzulernen.“

Georgianna Camden verabschiedete sich und lief in Richtung Hauseingang.

Fasziniert und verblüfft starrte Nati ihr hinterher. Bei ihren ehemaligen Schwiegereltern war es damals ganz anders zugegangen.

„Jetzt haben Sie auch meine Großmutter kennengelernt“, sagte Cade, dann lachte er. „Wahrscheinlich redet sie den ganzen Abend lang nur noch davon, wie unnötig es ist, sie von einem Chauffeur abholen zu lassen.“

„Sie hat ja recht“, erwiderte Nati. Sie mochte die ältere Frau.

„Wollen wir jetzt auf den Dachboden gehen?“, schlug Cade vor und erinnerte sie damit an den eigentlichen Anlass ihres Besuchs.

Er stieg ihr voran eine breite, geschwungene Treppe mit kunstvoll gedrechselten Eichenstützen hinauf. Im ersten Stock führte er Nati an mehreren Schlafzimmern vorbei zu einer zweiten, kleineren Treppe, über die sie auf den Dachboden gelangten. Dort schaltete er das Licht an.

Trotz der Dachschräge war selbst dieser Raum noch sehr geräumig und bot Platz für jede Menge Möbel und Kartons.

„Die Aussteuertruhe steht da hinten.“ Cade wies auf einen beachtlichen alten Überseekoffer, dessen Verzierungen schon stark verblasst waren.

Nati musterte die Truhe eingehend. Schließlich gab sie ihr fachliches Urteil ab: „Sie haben recht, sie ist wirklich gut erhalten. Und an einigen Stellen kann man die ursprünglichen Verzierungen noch erkennen, sodass sie sich gut reproduzieren lassen. Das kriege ich hin.“

„Heißt das, dass Sie diesen Auftrag annehmen?“

Nati konnte es sich nicht leisten, irgendeinen Auftrag abzulehnen. „Natürlich.“

„Darüber freut sich GiGi bestimmt.“

„Ich muss die Truhe allerdings in meinem Laden restaurieren. Da sind die Lichtverhältnisse günstiger, und ich kann die Farben besser aufeinander abstimmen.“

„Kein Problem, ich bringe sie Ihnen vorbei. Und jetzt muss ich dringend etwas essen. Was halten Sie davon, wenn wir GiGis Angebot annehmen und uns ihren Auflauf aufwärmen? Sie ist übrigens eine tolle Köchin.“

Hieß das etwa, dass seine Großmutter nicht bloß putzte, sondern auch noch kochte? Unglaublich, dachte Nati.

Außerdem fand sie die Aussicht wirklich verlockend, noch etwas Zeit mit Cade zu verbringen. So verlockend, dass es ihr ein bisschen unheimlich war. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie sie zusammen am Tisch saßen, aßen, sich angeregt unterhielten und lachten … wie bei einem richtigen Date.

Und darauf konnte sie sich auf keinen Fall einlassen!

„Vielen Dank, aber es ist besser, wenn ich jetzt losfahre“, erwiderte sie, obwohl es ihr nicht leichtfiel.

„Warum denn? Sagten Sie nicht vorhin, Sie hätten heute Abend noch nichts vor? Außerdem müssen Sie doch etwas essen.“ Mit seinem gewinnenden Lächeln hätte er jeden umstimmen können. Jeden, außer Nati.

„Ich habe heute auch nichts vor“, bestätigte sie. „Aber ich muss zu Hause noch einiges erledigen. Außerdem habe ich mir für heute Abend schon etwas gekocht.“

Das stimmte zwar nicht, hätte aber durchaus so sein können.

Cade wirkte direkt ein bisschen enttäuscht. Trotzdem gab er nach. „Dann lassen Sie uns jetzt über die Hintertreppe in die Küche gehen, damit ich mir eine Portion Auflauf für zu Hause einpacken kann.“

„In Ordnung.“

Unten kamen sie in einer riesigen Küche an, die trotz ihrer Größe aber sehr gemütlich und einladend wirkte: Der Boden war mit blauen und weißen Fliesen im Schachbrettmuster gestaltet, die Lampen und Armaturen waren aus leicht oxidiertem Messing und wirkten dadurch besonders nostalgisch. Die weißen Schränke verbreiteten eine helle, freundliche Atmosphäre.

„Wow, von so etwas träumt jeder Koch“, murmelte Nati, während sie bewundernd die weitere Kücheneinrichtung in Augenschein nahm: den zweitürigen Kühlschrank, den sechsflammigen Gasherd mit zusätzlichem Grill, die beiden Backöfen und die drei Spülen. Und dazu die riesige Kücheninsel in der Mitte des Raumes, die viel Arbeitsfläche bot.

„Das stimmt. GiGi hat uns früher immer ihre zehn kleinen Köche genannt“, sagte Cade.

Die Verwirrung stand Nati offenbar ins Gesicht geschrieben. Während er eine der beiden Kühlschranktüren öffnete und eine Aufbewahrungsbox herausholte, erklärte er ihr, was er damit meinte: „Als ich neun Jahre alt war, sind wir alle zu GiGi gezogen: meine zwei Brüder, meine Schwester January und meine sechs Cousins und Cousinen.“

Das war Nati neu. Über die Familiengeschichte der Camdens wusste sie noch sehr wenig. „Wie ist es dazu gekommen?“

Inzwischen hatte Cade eine kleinere Aufbewahrungsbox und einen Löffel geholt. An der Kücheninsel füllte er einen Teil des Auflaufs um. „Meine Eltern, meine Tante, mein Onkel und mein Großvater sind damals alle bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.“

„Das tut mir schrecklich leid, das wusste ich noch gar nicht.“

„Sie waren damals auch noch sehr klein und haben davon wahrscheinlich nichts mitbekommen. Eigentlich hatten alle Erwachsenen aus unserer Familie zusammen verreisen wollen. Aber ein paar Tage, bevor es losgehen sollte, hat sich H. J. – also mein Urgroßvater – am Rücken verletzt und konnte deswegen nicht mit. Da hat GiGi angeboten, ebenfalls zu Hause zu bleiben und sich um ihn zu kümmern. Wenn das nicht passiert wäre, wären alle Erwachsenen umgekommen, und wir zehn Kinder wären ganz allein zurückgeblieben. GiGi hat uns schließlich alle bei sich aufgenommen.“

„Dann hat Ihr Urgroßvater also auch hier im Haus gewohnt?“, erkundigte sich Nati und betrachtete dabei Cades Profil. Sie wollte sich jedes Detail seiner faszinierenden Gesichtszüge einprägen.

„H. J. hatte kurz nach seiner Pensionierung einen Herzinfarkt. Danach ist er bei meinen Großeltern eingezogen. Also haben sie uns alle zusammen großgezogen: GiGi, H. J., Margaret und ihr Mann Louie. Aber GiGi hatte dabei immer das Sagen.“

„Das hört sich so an, als wäre sie ziemlich streng gewesen“, vermutete Nati.

„Ja, GiGi war absolut unerbittlich!“, behauptete er und lachte. Es klang warmherzig und liebevoll. Sein Lachen vertrieb alle traurigen Erinnerungen an seine Eltern.

Sie verdrehte im Scherz die Augen. „Ihre Großmutter war unerbittlich? Durfte etwa nicht jeder sein eigenes Kindermädchen haben?“

„Kindermädchen hatten wir nur vor dem Unglück, als wir alle noch bei unseren Eltern gewohnt hatten. Aber GiGi hielt nichts davon. Sie war der Meinung, dass die Leute ihre Kinder selbst großziehen sollten.“

„Dann hat sie sich ganz allein um alle zehn Kinder gekümmert? Ohne fremde Hilfe?“

Cade lachte erneut. „Ach, GiGi hätte es auch ohne Weiteres mit zwanzig von uns aufnehmen können.“ Respekt und Bewunderung schwangen in seiner Stimme mit. „Sie hat uns nach den gleichen Prinzipien großgezogen, nach denen sie auch aufgewachsen ist. Wir mussten alles selbst erledigen: Betten machen und neu beziehen, die schmutzige Wäsche wegbringen und aufräumen. Und wir waren zu zehnt auf drei Zimmer verteilt.“

„Und Sie haben auch zu zehnt zusammen gekocht?“, hakte Nati nach.

„Ja. Gemeinsame Mahlzeiten haben bei uns immer eine große Rolle gespielt. Jeden Abend haben wir zehn uns mit GiGi in die Küche gestellt und zusammen das Abendessen gekocht. Da drüben haben wir uns hingesetzt und gegessen.“ Er wies auf einen Tisch in einer Nische, in der ein ganzes Fußballteam Platz gefunden hätte. „Das war unser tägliches Ritual. Heute treffen wir uns immer noch jeden Sonntag zum Familiendinner. Allerdings kochen wir nicht mehr zusammen, sondern jeder bringt etwas mit.“ Er schloss die beiden Aufbewahrungsboxen und drehte Nati den Rücken zu, um die größere davon zurück in den Kühlschrank zu stellen.

Sie ließ den Blick über seine breiten Schultern gleiten, hinunter zu seiner schmalen Taille … und dem knackigen Po.

Dann riss sie sich wieder von dem Anblick los. „Hausmannskost und Mitbringpartys bei den Camdens – wer hätte das gedacht?“, kommentierte sie.

„GiGi hat uns hier so erzogen, wie sie selbst erzogen wurde, in ihrer Heimatstadt Northbridge. Wir sind mit den gleichen Regeln und Wertvorstellungen aufgewachsen, die sie in ihrer Kleinstadt verinnerlicht hatte. Sie hat uns immer wieder zu verstehen gegeben, dass wir zusammenhalten und auf uns aufpassen sollen. Dass wir der Welt als geschlossene Einheit gegenübertreten. Und dass wir uns anderen Menschen gegenüber anständig verhalten müssen.“

Nati sagte nichts weiter dazu. Zunächst einmal hörte sich das ja gut an. Andererseits hatte sie schon sehr unangenehme Erfahrungen mit Menschen gemacht, die der Welt gegenüber eine geschlossene Einheit bildeten und ihre eigene Gemeinschaft über alles andere stellten. Diese Erfahrungen wollte sie kein zweites Mal machen müssen. Sie holte tief Luft. „Jetzt muss ich aber wirklich nach Hause“, sagte sie.

Cade nahm die Box mit dem Auflauf. „Ich habe übrigens gleich zwei Portionen eingepackt.“

„Tut mir leid, es geht nicht“, wiederholte sie schnell, bevor er sie doch noch umstimmte.

„Gut, wenn Sie nicht wollen …“, gab er scheinbar gelassen zurück. Aber in Natis Augen wirkte das Lächeln auf seinen sinnlichen Lippen ein bisschen enttäuscht.

Cade ging ihr voraus einen Flur entlang, der sie direkt in die Eingangshalle zurückführte. Draußen schloss er die Eingangstür zu und drückte zusätzlich einen Knopf an seinem Schlüsselanhänger. Offenbar aktivierte er damit ein Alarmsystem. Anschließend begleitete er Nati zu ihrem Auto.

„Und was bringen Sie morgen zum Sonntagsessen mit ihrer Familie mit?“, erkundigte sich Nati, während sie die Fahrertür aufschloss. Sie musste ein bisschen daran rütteln, bis sie endlich nachgab.

„Brot aus einer italienischen Bäckerei, die mir auf dem Nachhauseweg von Ihrem Geschäft aufgefallen ist. Möchten Sie mitkommen?“

Nati war sich nicht sicher, ob sie ihn richtig verstanden hatte. Hatte er sie etwa gerade zum heiligen Familienessen der Camdens eingeladen?

Aber dann fuhr er auch schon fort: „Wenn wir wollen, dürfen wir nämlich alle einen Gast mitbringen. Na, wie wär’s?“

Komisch – warum fand sie diesen Vorschlag bloß so verlockend?

Wahrscheinlich bin ich einfach neugierig, dachte Nati.

Außerdem würde sie ihn dann morgen schon wiedersehen.

„Nein, danke“, erwiderte sie schnell, damit er bloß nichts von ihren geheimen Gefühlen mitbekam. „Morgen Abend koche ich schon etwas für meinen Großvater. Aber am Montag arbeite ich weiter an Ihrer Wand. Meine Freundin Holly passt bis drei Uhr nachmittags auf beide Läden auf. Danach muss ich sie ablösen. Das gibt mir genug Zeit, die Fläche einmal überzustreichen.“

„Gut.“

Einen Moment lang standen sie schweigend vor Natis offener Autotür und sahen sich an. Sie genoss den Anblick seines schönen Gesichts, und er fixierte sie mit seinen unglaublich blauen Augen. Fast rechnete sie damit, dass er ihr gleich einen Abschiedskuss geben würde.

Eine absolut irrsinnige Idee.

Und trotzdem hielt diese Erkenntnis sie nicht davon ab, sich vorzustellen, wie es sich anfühlen würde, wenn er sich langsam zu ihr herunterbeugte und ganz sanft ihre Lippen mit seinen berührte.

Irgendwann brach sie den Blickkontakt ab und stieg ein. Gerade wollte sie die Fahrertür zuziehen, da lehnte sich Cade auf den Rahmen und betrachtete Nati weiter. So, als wollte er sie einfach nicht wegfahren lassen.

Es wurde immer verrückter.

Als er schließlich doch zurückwich, rief sie schnell „Bis nächste Woche dann!“, zog die Tür zu und fuhr los.

3. KAPITEL

„Ich freue mich, dass es dir in Las Vegas gefallen hat“, sagte Nati am nächsten Abend zu ihrem Großvater Jonah Morrison beim Spaghettiessen in ihrer Wohnung.

Zum Nachtisch schnitt sie ihnen beiden ein Stück selbst gebackenen Kuchen ab und stellte die Teller auf den Küchentisch. Dann nahm sie allen Mut zusammen, um das schwierige Thema anzuschneiden, das ihr auf dem Herzen lag. „Ich muss dir etwas sagen, und es kann gut sein, dass es dir gar nicht gefällt“, begann sie.

„Du gehst doch nicht etwa zu Doug zurück?“, sagte Jonah Morrison – als wäre das seine schlimmste Befürchtung.

„Nein!“, erwiderte Nati heftig. „Das würde ich nie tun. Ich bleibe hier in Arden. Du brauchst also gar nicht erst nach einer flotten Witwe zu suchen, die in meine Souterrainwohnung zieht“, scherzte sie.

Jonah lachte. „Schon klar, die flotten Witwen kann ich mir abschminken.“

Er war zwar kein besonders großer, aber dafür ein athletischer Mann. Mit seinem dichten weißen Haarschopf sah er immer noch sehr attraktiv aus. Es gab viele Frauen in seinem Alter, die sich ganz offensichtlich für ihn interessierten. So waren auch die Witze über Jonah und die „flotten Witwen“ entstanden.

„Was ist denn passiert?“, fragte er jetzt und klang dabei schon viel ernster als eben.

„Ich habe zwei Aufträge von den Camdens angenommen“, erklärte Nati geradeheraus.

Ihr Großvater runzelte die Stirn. „Und zwar?“

„Für Cade Camden veredle ich eine Wand. Er ist einer der zehn Camden-Enkel. Und dann soll ich noch eine alte Aussteuertruhe für seine Großmutter restaurieren …“

„Für Georgianna?“

„Ja, gestern habe ich sie kennengelernt …“

„Wie geht es ihr denn?“ Jonah klang interessiert und alles andere als verbittert.

„Gut, glaube ich. Jedenfalls sah sie gut aus. Ich soll dich übrigens von ihr grüßen.“

„Sie war schon immer ein tolles Mädchen.“

Damit hatte Nati nun wirklich nicht gerechnet: dass ihr Großvater darauf so reagierte, als würde sie ihm von einer guten alten Bekannten erzählen.

„Aber sie ist doch eine von den Camdens“, erinnerte sie ihn. Hatte er das etwa vergessen?

„Ja, und das ist nicht zuletzt meine Schuld. Dass sie jetzt eine von den Camdens ist“, gab er zu Natis großer Überraschung zurück.

„Wie meinst du das?“

„Ach, Nati. Als wir zwei uns kennengelernt haben, war ich noch ein junger Hüpfer. Ich habe Georgianna wirklich geliebt. Sie war eine ganz besondere junge Frau. Aber wir beide waren gerade erst mit der Highschool fertig, und sie wollte, dass wir heiraten. So weit war ich noch nicht. Ich wollte erst noch ein bisschen meine Freiheit auskosten und mich nicht schon mit achtzehn für immer auf etwas festlegen. Noch nicht mal auf so eine besondere Frau wie sie. Deswegen habe ich mit ihr Schluss gemacht.“

Du hast Schluss gemacht? Das wusste ich ja noch gar nicht. Aus irgendeinem Grund war ich immer davon ausgegangen, dass sie dich abserviert hat. Wegen dieses Camden-Typen.“

„Das stimmt nicht, ich habe sie abserviert, wie du das eben genannt hast“, erwiderte er, und es klang ein bisschen schuldbewusst. „Sie hat Hank Camden erst später kennengelernt, gegen Ende des Sommers. Da war ich schon mit zwei Mädchen gleichzeitig beschäftigt, die natürlich nichts voneinander wissen durften.“

„Und ich dachte immer, dass H. J. Camden die Hypothek für eure Farm aufgekauft und abgestoßen hat, damit sein Sohn Georgianna kriegt.“

Der ältere Mann zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich war der alte H. J. Camden auch wirklich etwas in Sorge, dass ich seinem Sohn und Georgianna noch in die Quere kommen könnte. Er hat da so etwas von sich gegeben, als mein Vater und ich gerade die letzten Dinge aus dem Farmhaus holten. Dass ich nun endlich aus dem Weg sei, hat er gesagt. Da habe ich mich schon gefragt, ob der alte Griesgram das alles nur getan hatte, um mich loszuwerden.“

„Hältst du ihn wirklich für so hinterhältig?“

„H. J. Camden? Aber natürlich. Er war ein absolut rücksichtsloser Mann, der anderen Menschen noch viel übler mitgespielt hat als uns. Wenn du meinst, dass die Morrisons gute Gründe hatten, die Camdens zu hassen, dann solltest du dich mal bei anderen Familien umhören.“

„Und wie ist es mit dir? Wie stehst du jetzt zu den Camdens? Ich meine … ich war nie davon ausgegangen, dass du sie magst, aber …“

„An H. J. habe ich keine besonders schönen Erinnerungen, das ist schon mal klar. Aber Georgianna zum Beispiel hat ja nur in die Familie eingeheiratet. Und ich würde meinen letzten Cent darauf verwetten, dass sie nicht geahnt hat, was ihr Schwiegervater mit unserer Hypothek vorhatte. Im Grunde habe ich das Ganze eher mir zuzuschreiben als ihr: Wenn ich sie damals geheiratet hätte, hätte sie nichts mit Hank angefangen, und die Camdens hätten uns völlig in Ruhe gelassen.“

„Tja, und jetzt wohnt ihr beide schon seit Jahrzehnten in Denver, Georgianna und du“, überlegte Nati laut. „Und trotzdem habt ihr seitdem nie wieder Kontakt aufgenommen?“

„Nein“, erwiderte Jonah bestimmt, als fände er den Gedanken vollkommen abwegig. „Warum sollten wir? Wir bewegen uns in völlig unterschiedlichen Kreisen. Ich bin Maler und Lackierer geworden und sie das Familienoberhaupt des großen, mächtigen Camden-Clans. Wir wären uns wohl nur begegnet, wenn die Camdens mich beauftragt hätten, ihre Fassade zu streichen. Aber das hätte H. J. wohl kaum zugelassen. Ganz abgesehen davon, dass ich den Auftrag nicht angenommen hätte …“

„Aber dass ich jetzt für sie arbeite, findest du in Ordnung?“

„Wieso nicht? Du hast doch nichts mit der ganzen Sache zu tun. Und ihr Geld ist genauso gut wie jedes andere auch, solange diese Leute nicht unverschämt werden.“

Nati lachte. Sie musste an Cades Lächeln denken und daran, wie aufmerksam er sich ihr gegenüber verhalten hatte und wie wohl sie sich in seiner Gegenwart fühlte. „Bisher ist noch niemand unverschämt geworden.“

Am Montagmorgen strich Nati Cades Wand zum ersten Mal über, dann fuhr sie für den Rest des Arbeitstages zurück in ihren Laden. Cade war sie nicht begegnet, aber trotzdem hatte sie die ganze Zeit an ihn denken müssen. Zuletzt hatte sie ihn am Samstag gesehen, und es kam ihr so vor, als wäre das inzwischen eine Ewigkeit her.

Als sie kurz davor war, ihren Laden zu schießen, schaute sie noch einmal durch das Schaufenster nach draußen. Dort fuhr gerade ein Lieferwagen vor, und hinter dem Steuer saß Cade.

Ihr fiel ein, dass sie wahrscheinlich ziemlich zerzaust aussah, weil sie den ganzen Tag gearbeitet hatte. Hektisch rannte sie in das kleine Bad, das sie sich mit Holly teilte. Okay, ihre Frisur war ein bisschen in sich zusammengefallen, aber die Wimperntusche, die ihre großen braunen Augen umarmte, sah noch ganz passabel aus. Ihre Jeans hatte keine Farbspritzer abbekommen, und ihr graues Shirt hatte sie erst nach ihrer Malerarbeit über das weiße Tanktop gezogen.

Schnell schob sie sich noch ein Pfefferminzbonbon in den Mund, lief wieder zurück in den Verkaufsraum und stellte sich dort hinter den Tresen, als wäre nichts gewesen. Gerade noch rechtzeitig, denn in diesem Moment kam schon Cade durch die Ladentür. Er zog eine Sackkarre mit der Aussteuertruhe seiner Großmutter hinter sich her.

„Ein Glück, dann habe ich’s ja doch noch rechtzeitig geschafft, bevor Sie schließen“, sagte er und rollte die Truhe in die Mitte des Ladens. Dann drehte er sich zu Nati um und lächelte sie so strahlend an, als würde er sich genauso über das Wiedersehen freuen wie sie. „Hi“, sagte er.

„Hi“, erwiderte Nati und versuchte das Grinsen zu unterdrücken, das sich langsam auf ihrem Gesicht ausbreitete.

Cade wies mit dem Kopf auf die Aussteuertruhe. „Wo soll ich das Ding hinbringen?“

„In meine Werkstatt.“ Nati hielt ihm die Tür zum Hinterzimmer auf. „Stellen Sie sie einfach irgendwo in der Mitte ab.“

Cade manövrierte die Karre an mehreren Arbeitstischen vorbei, auf denen halb fertige Projekte in unterschiedlichen Zuständen auf ihre Fertigstellung warteten. Er schnallte die Truhe von der Sackkarre los. „So, das wär’s. Jetzt können Sie übernehmen.“

„Vielen Dank für die Anlieferung.“

„Gern. Meine Wand sieht übrigens schon richtig gut aus. Ich war heute Mittag kurz zu Hause, da habe ich sie mir angeschaut.“

„Das ist nur der erste Anstrich, die Farbe wird noch dunkler – falls Sie sich deswegen Gedanken gemacht haben.“

„Nein, ich vertraue Ihnen blind.“

Und jetzt? fragte Nati sich. Wahrscheinlich würde er jetzt wieder gehen. Aber das wollte sie einfach nicht. „Wie war denn gestern das Essen mit Ihrer Familie?“, erkundigte sie sich schnell, um den Abschied noch etwas hinauszuzögern.

„Ach, genauso wie alle anderen Familienessen eigentlich – sehr schön. Darum wiederholen wir das ja auch jeden Sonntag.“ Er lachte. „Und wie war das Abendessen mit Ihrem Großvater?“

„Das war auch sehr schön. Ich bin wirklich gern mit ihm zusammen.“

„Und was ist mit heute Abend? Haben Sie schon etwas vor?“, erkundigte sich Cade so locker, als wären sie schon lange befreundet.

„Ähm, nein …“, stammelte Nati unsicher. Warum fragte er sie das?

„Ich bin extra schnell nach Hause gefahren, weil ich Sie noch abpassen wollte … und habe dummerweise vergessen, etwas zu essen. Jetzt hängt mir der Magen in den Kniekehlen. Können Sie die kleine Grillbar auf der anderen Straßenseite empfehlen?“

Natis Laden lag mitten im historischen Teil von Arden, einem kleinen Vorort von Denver. Viele der alten Gebäude waren modernisiert worden, mit dem Ziel, die Gegend aufzuwerten und neue Geschäfte und Kundschaft anzulocken.

„Die haben wirklich tolle Burger und die besten Fish and Chips, die ich je hatte. Außerdem gibt’s da diesen absolut saftigen Kuchen zum Nachtisch, Sticky Toffee Pudding heißt er …“, schwärmte Nati. „Den muss man unbedingt dazu bestellen.“

„Dann machen wir das doch.“

„Wir?“

„Ich esse nicht gern allein. Wenn Sie heute Abend noch nichts vorhaben, würde ich Sie einladen. Mit Sticky Toffee Pudding zum Nachtisch.“

Nati wusste, dass sie sich auf gar keinen Fall darauf einlassen durfte. Immer wieder rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie von einem reichen Mann wie ihm nichts Gutes zu erwarten hatte. Dass sie erst seit sechs Monaten geschieden war und gerade dabei war, wieder Oberwasser zu gewinnen.

Und trotzdem …

„Okay, ich leiste Ihnen beim Essen Gesellschaft.“

Jetzt grinste Cade sogar noch breiter. „Traumhaft“, sagte er. „Dann bringe ich nur schnell Louies Sackkarre in den Wagen.“

„Ich würde wirklich gern etwas mehr über Ihren Großvater erfahren“, sagte Cade, nachdem sie in der Grillbar ihre Bestellung aufgegeben hatten. Er hatte sich einen Hamburger bestellt; Nati hatte sich für Fish and Chips entschieden. „GiGi ist ganz angetan von ihm. Was meinte sie doch gleich? Dass er ein wunderbarer Mensch ist …“

„Allerdings. Er liebt das Leben, denkt immer positiv, ist großzügig und warmherzig und …“

„Dann ähnelt er also ein bisschen seiner Enkelin?“ Cade lächelte sie an.

„Ach, ich wäre froh, wenn ich ihm ähnlicher wäre. Ich liebe ihn über alle Maßen“, sagte Nati und tat dabei so, als hätte sie sein Kompliment überhört. Dabei hatte sie sich unglaublich darüber gefreut.

„Je mehr meine Großmutter von ihm erzählt, desto überzeugter bin ich, dass es ihr damals auch so gegangen ist“, sagte Cade.

„Bis sie schließlich Ihren Großvater kennengelernt hat?“

„Das hört sich so an, als hätte mein Großvater sie Ihrem weggenommen. Aber wenn ich mich richtig erinnere, waren die beiden schon getrennt, als sie meinen Großvater kennengelernt hat.“

Wusste er etwa auch, dass Jonah Georgianna verlassen hatte, nicht umgekehrt?

Nati beschloss, das Thema nicht zu vertiefen. „Schwer zu sagen, was damals passiert ist“, sagte sie leise.

„Wie haben Ihr Großvater und Ihre Großmutter sich denn kennengelernt?“, fragte Cade, als gerade ihr Essen serviert wurde.

„Möchten Sie meine ganze Familiengeschichte hören?“

„Auf jeden Fall.“ Er klang tatsächlich interessiert.

„Meine Großeltern haben sich hier in Denver kennengelernt“, berichtete sie. „Ungefähr fünf Jahre, nachdem seine Familie aus Northbridge weggezogen war. Er hat als Maler und Lackierer gearbeitet, und sie hat in einem Geschäft für Handwerkerbedarf Farbe verkauft.“

„Wie romantisch“, scherzte Cade. „Und wie viele Kinder haben die beiden?“

„Nur meinen Vater.“

„Nur ein Kind? So etwas gibt es in meiner Familie nicht.“ Er lachte. „Und Sie sind die Tochter dieses einzigen Sohnes.“

„Ja, und ich bin auch ein Einzelkind“, erklärte Nati.

Cade blickte sie aus seinen unendlich blauen Augen an. „Wollten Ihre Eltern nur ein Kind, oder hat sich das so ergeben? Oder hatte das auch finanzielle Gründe?“

„Finanzielle Gründe?“

„Womit verdient Ihr Vater denn seinen Lebensunterhalt?“, hakte Cade nach.

Nati tunkte ein Stück frittierten Fisch in Salz und Essig, steckte es in den Mund und kaute lange. „Mein Vater lebt nicht mehr. Er und meine Mutter sind bei einem Unfall auf dem Highway ums Leben gekommen, als ich dreizehn war.“

„Oh, das tut mir leid. Das wusste ich nicht.“

„Woher auch? Jedenfalls haben meine Eltern ständig ihre Jobs gewechselt, bis ich ungefähr vier Jahre alt war. Sie kamen mit den festen Arbeitszeiten nicht zurecht und haben sich auch nicht gern von Vorgesetzten etwas sagen lassen. Kein Beruf hat so richtig zu ihnen gepasst … bis sie das Fahren von Sattelschleppern für sich entdeckten.“

Cade hob leicht die Augenbrauen. Eigentlich hatte Nati mit einer etwas heftigeren Reaktion gerechnet. Ihre Schwiegereltern hatten damals ihrem Entsetzen jedenfalls freien Lauf gelassen. Aber dafür war er wahrscheinlich zu höflich.

„Ja, Sie haben richtig gehört, meine Eltern waren beide Trucker“, sagte sie und beobachtete ihn aufmerksam, um festzustellen, ob er jetzt genauso blass wurde wie ihre Ex-Schwiegermutter.

Cade aß ein paar Pommes frites, dann sagte er: „Das ist eine ehrliche Arbeit. Mochten die beiden ihren Beruf?“

„Na ja, sie brauchten die ständige Veränderung. Und in diesem Job konnten sie ihre Ruhelosigkeit gemeinsam ausleben.“

„Glauben Sie denn, dass alles anders gekommen wäre, wenn Ihre Familie in Northbridge geblieben wäre? Meine Großmutter meinte, dass sie dort eine Farm betrieben hatten. Meinen Sie, dass Ihr Vater glücklich gewesen wäre, wenn er unter freiem Himmel hätte arbeiten können?“

Sie dachte einen Moment lang darüber nach. „Ja, wahrscheinlich hätte mein Vater ganz gern an der frischen Luft gearbeitet. In seinen Bürojobs hat er sich jedenfalls immer eingepfercht gefühlt. Aber ich bin mir auch nicht hundertprozentig sicher, ob meine Eltern gute Farmer geworden wären. Eigentlich waren die Fahrten mit dem Sattelschlepper optimal für sie: ständig in Bewegung zu sein, jeden Tag etwas Neues zu sehen … das hat ihnen gefallen.“

„Wie war das eigentlich bei Ihnen?“, wollte Cade wissen. „Sind Sie mitgefahren?“

„Nein, ich habe die meiste Zeit bei meinen Großeltern gewohnt.“ Nati aß den letzten Bissen Fisch auf, nahm sich noch zwei Pommes frites und schob den Teller zur Seite.

„Dann war das ja ein bisschen so wie bei mir“, sagte Cade und signalisierte der Serviererin, dass sie jetzt den Nachtisch bringen konnte.

„Mein Vater war praktisch nie von zu Hause ausgezogen, weil er lange kein geregeltes Einkommen hatte. Als er und meine Mutter heirateten, war sie erst neunzehn, sieben Jahre jünger als er. Sie ist einfach mit eingezogen. Und dann waren die beiden sowieso die meiste Zeit unterwegs und haben praktisch in ihren Trucks gewohnt.“

„Ihre Eltern haben Sie also einfach bei Ihren Großeltern zurückgelassen?“

„Auf kürzeren Strecken bin ich manchmal mitgefahren, wenn ich gerade Schulferien hatte. Bei uns waren sich alle einig darüber, dass Kinder ein festes Zuhause und geregelte Tagesabläufe brauchen. Das alles hatte ich bei meinen Großeltern.“

„Und wie fanden Sie das?“

Die Serviererin stellte den Sticky Toffee Pudding auf den Tisch, legte zwei Löffel dazu und räumte den Tisch ab. Als sie wieder gegangen war, beugten Nati und Cade sich über den Tisch, um den Nachtisch zu probieren.

Cade schloss die Augen und seufzte genüsslich, nachdem er einen Löffel von dem warmen, saftigen, mit Karamellsoße durchtränkten Kuchen in den Mund geschoben hatte.

Ob es wohl noch andere Dinge gab, die so eine Reaktion bei ihm hervorriefen? Darüber durfte Nati nicht genauer nachdenken. Hastig trank sie einen Schluck Wasser und versuchte sich wieder auf ihr ursprüngliches Gespräch zu konzentrieren.

„Manchmal habe ich es meinen Eltern doch übel genommen, dass sie nicht richtig für mich da waren“, gab sie zu. „Aber ich habe auch sehr gern bei meinen Großeltern gewohnt. Ich hatte es richtig gut bei ihnen, sie haben mich sogar ziemlich verwöhnt. Für Sie war der Tod Ihrer Eltern wahrscheinlich ein viel schlimmerer Einschnitt als für mich“, fuhr sie fort. „Sie mussten damals Ihr Zuhause verlassen und sich auf einmal auf das Zusammenleben mit anderen Menschen einstellen. Bei mir blieb alles beim Alten.“ Sie seufzte. „So schrecklich es auch für mich war, dass meine Eltern nicht mehr lebten.“

„Ich glaube, dass es für Sie auch sehr schwer war“, sagte Cade. „Und zwar für Sie alle. Ihr Großvater hat wahrscheinlich gedacht, dass er seinen einzigen Sohn nicht verloren hätte, wenn Sie alle auf der Farm in Northbridge gelebt hätten …“

Die Sache mit der Farm in Northbridge schien Cade sehr zu beschäftigen. Allerdings kam in diesem Moment die Kellnerin, um sie darüber zu informieren, dass sie montags immer schon früher schlossen und sie deswegen jetzt abkassieren würde.

Cade zahlte mit seiner Kreditkarte und bestand darauf, Nati einzuladen.

Nachdem sie den Nachtisch aufgegessen hatten, gingen sie zurück zu Natis Laden. Statt mit Cade zum Parkplatz weiterzugehen, blieb sie an der Ladentür stehen. „Ich möchte mir jetzt gern noch mal die Aussteuertruhe ansehen.“

„Sind Sie morgen wieder bei mir zu Hause und arbeiten an der Wand weiter?“

„Ja, am Nachmittag. Bis dahin habe ich vielleicht auch ein paar Entwürfe für das Truhendekor fertig. Die lege ich Ihnen dann auf den Esstisch.“

„Sie brauchen deswegen aber nicht bis spätabends zu arbeiten. Der Auftrag ist nicht eilig.“

„Ich weiß. Aber ich arbeite am liebsten, wenn es so schön ruhig ist wie jetzt.“ Außerdem war sie nach dem gemeinsamen Essen mit Cade noch viel zu aufgedreht, um schon nach Hause zu fahren.

Er nickte, offenbar nahm er ihre Worte für bare Münze. Trotzdem machte er keine Anstalten, zu seinem Wagen zu gehen, sondern blieb direkt vor Nati stehen und betrachtete sie dabei so intensiv, als müsste er sich ihre Gesichtszüge für immer einprägen. „Das war ein schöner Abend“, sagte er schließlich. „Vielen Dank dafür, dass Sie mir beim Essen Gesellschaft geleistet haben.“

„Gern. Ich danke Ihnen für die Einladung.“

Noch immer musterte er sie aufmerksam.

Warum verabschiedete er sich nicht einfach?

Schließlich berührte er vorsichtig ihren Oberarm. „Für mich ist das etwas ganz Besonderes – mit jemanden entspannt zu essen und dabei über alles Mögliche reden zu können“, sagte er. Dann beugte er sich vor, um sie auf die Schläfe zu küssen.

Nati war von seiner Berührung am Oberarm so abgelenkt gewesen, dass sie von dem Kuss überrascht wurde. Aber als sie seine warmen Lippen auf ihrer Haut spürte, durchströmte ein wohliges Kribbeln ihren Körper.

Und jetzt? Wahrscheinlich müsste sie Cade deutlich machen, dass er ihr nicht zu nah kommen sollte. Andererseits – was war eigentlich passiert? Der Mann hatte sie kurz auf die Schläfe geküsst, na und? Wahrscheinlich interpretierte sie schon wieder viel zu viel in diese kleine Geste hinein.

„Bis bald“, sagte er und drückte ihren Arm noch einmal sanft zum Abschied.

„Bis bald“, gab Nati schwach zurück. Dann wandte sie sich zur Tür, während Cade zum Parkplatz ging.

Während sie mit zitternden Fingern versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, sah sie ihm aus den Augenwinkeln nach. Und die ganze Zeit konnte sie immer nur eins denken: Er hat mich geküsst.

4. KAPITEL

„Ich habe Caesar Salad dabei, außerdem Ravioli, Spaghetti mit Tomatensoße und Kapern, dazu kleine Kekse mit verschiedenen Körnern drauf, Weißbrot und ordentlich alkoholisiertes Tiramisu“, erklärte Cade. „Ich konnte mich nicht entscheiden, darum habe ich einfach alles mitgenommen. Aber allein schaffe ich das nicht. Darum müssen Sie mir helfen.“

Nati hörte Cades Stimme vom Flur aus. Es war Dienstagnachmittag. Nati hatte ihre Arbeit an der Wand beendet und packte gerade ihre Sachen zusammen.

„Hi“, begrüßte er sie, als er mit einer großen braunen Tüte zu ihr ins Esszimmer kam.

„Hi“, erwiderte Nati und runzelte die Stirn.

Autor

Victoria Pade

Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...

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