Bianca Extra Band 44

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MIT DER VERSUCHUNG TÜR AN TÜR von HILL, TERESA
Tolle Männer sind wie Schokolade: köstlich, aber ungesund! Weshalb Single Mom Lily um ihren neuen Nachbarn Nick Malone einen großen Bogen macht. Aber dann braucht der Traummann von nebenan ihre Hilfe, und mit jeder zärtlichen Berührung wächst Lilys Appetit auf Süßes …

HALTET DIE BRAUT! von KIRK, CINDY
Verliebt, verlobt - abgehauen! Sylvie hat zu viel Schlimmes erlebt, um an ein Happy End mit Andrew zu glauben. Lieber jetzt ein paar Tränen weinen als später tausende. Doch sie hat nicht mit Andrew gerechnet. Warum will er nicht einsehen, dass sie seine Liebe nicht verdient hat?

TRAUMMANN AM HAKEN von JUMP, SHIRLEY
Funkenflug bis zum Himmel: Verzweifelt sieht Rachel das Geschäft ihres Vaters in Flammen aufgehen. Doch Colton, neuer Feuerwehrmann von Stone Gap, ist da. Mit starken Armen und einem Kuss, der sagt: Wenn alles zerstört ist, ist die beste Zeit für einen Neuanfang …

KEIN GEHEIMNIS KANN UNS TRENNEN von WARREN, WENDY
Nach Thunder Ridge zurückzukehren war entweder ein Riesenfehler - oder die beste Entscheidung seines Lebens! Nate ist hin und hergerissen, als er Izzy wiedersieht, seine wunderschöne, unvergessene Sommerliebe. Aber warum geht sie ihm bloß beharrlich aus dem Weg?


  • Erscheinungstag 09.05.2017
  • Bandnummer 0044
  • ISBN / Artikelnummer 9783733732912
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Teresa Hill, Cindy Kirk, Shirley Jump, Wendy Warren

BIANCA EXTRA BAND 44

TERESA HILL

Mit der Versuchung Tür an Tür

Familienleben? Wollte Nick nie! Doch er muss sich um seinen verwaisten Neffen kümmern, und dann läuft ihm die alleinerziehende Lily über den Weg. Plötzlich erwacht in Nick eine gefährliche Sehnsucht …

CINDY KIRK

Haltet die Braut!

Fassungslos liest Dr. Andrew O’Shea Sylvies Abschiedsbrief. Sie haben sich geliebt, wollten heiraten, aber nun ist sie weg! Er will eine Erklärung – und fährt seiner geflohenen Braut hinterher …

SHIRLEY JUMP

Traummann am Haken

Feuerwehrmann Colton weiß, wie es ist, wenn Träume in Flammen aufgehen. Aber vielleicht ist Rachel gerade deshalb die Richtige? Ihr Kuss könnte seine Liebe wie Phönix aus der Asche steigen lassen …

WENDY WARREN

Kein Geheimnis kann uns trennen

Oh Gott, Nate ist wieder da! Viel erwachsener als damals, vor fünfzehn Jahren, ein höchst attraktiver Mann … der von Izzys Lüge nichts erfahren darf. Aber wie einen schlaksigen 14-Jährigen verstecken?

1. KAPITEL

„Ich weiß nicht, was das ganze Theater soll.“ Lily Tanner rollte genervt die Augen, während sie mit ihrer älteren Schwester Marcy telefonierte. Sie hatte sich das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, während sie die Schulbrote für ihre beiden Mädchen machte.

„Theater?“ Ihre Schwester schien fassungslos. „Männer sind für dich Theater?“

„Nein, nicht Theater.“ Lily verstrich die Erdnussbutter auf dem Brot so hastig, dass die Scheibe riss. Es war die letzte Scheibe – sonst hatte sie nur noch den Knust, und den hassten ihre Töchter.

„Wer macht Theater?“ Ihre Jüngste war hereingekommen, die sechsjährige Brittany.

„Niemand“, versicherte Lily ihr, während die Kleine sich wie im Trance durch die Küche bewegte und an ihrem Glas Milch nippte.

„Kein … Theater ist eine Zeit lang in Ordnung“, setzte Marcy am Telefon ungerührt hinzu. „Es ist auch absolut nachvollziehbar, wenn man bedenkt, was Richard dir zugemutet hat. Aber nach einer Weile braucht jede Frau wieder ein bisschen Theater.“

„Ach, verdammt, ich nenne das nicht Theater.“ Lily versuchte die Scheibe Brot zu retten. Ihr stand heute nicht der Sinn nach langen Tiraden ihrer Mädchen.

„Du hast gesagt, niemand macht Theater“, erinnerte Brittany sie.

„Theater? Wer macht Theater?“ Ginny, das ältere der beiden Mädchen, war hereingekommen. Sie sah wie so oft in letzter Zeit besorgt aus. „Geht es um Daddy? Hast du Theater mit Daddy?“

„Nein. Ich habe doch schon gesagt, dass niemand Theater macht.“ Lily seufzte. „Ich habe mich nur mit eurer Tante Marcy unterhalten. Und es ging überhaupt nicht um Theater, es ging um …“

„Na, da bin ich aber gespannt!“, ließ sich Marcy an ihrem Ohr vernehmen.

„… um Toffees.“ Etwas anderes fiel Lily so schnell nicht ein.

Marcy prustete laut los.

Lily schob die Brote in die Lunch-Box.

Ginny schien unsicher, ob sie ihrer Mutter glauben sollte.

Brittany hingegen verkündete mit der ganzen Inbrunst einer Sechsjährigen: „Ich mag Toffees.“

„Na also.“ Lily lächelte ihre beiden Mädchen an. „Jeder mag Toffees.“ Sie brachte die Kinder zur Tür.

Brittany zupfte sie am Stoff ihrer Shorts. „Haben wir Toffees da?“

„Nein, Liebes, im Moment nicht. Aber vielleicht heute Abend. Ihr müsst euch jetzt beeilen, denn Mrs. Hamilton kann jeden Augenblick hier sein.“

Lily winkte Betsy Hamilton zu, die an diesem Tag den Fahrdienst zur Schule hatte und gerade am Straßenrand vorgefahren war. Nachdem die Mädchen fort waren, wandte sie sich wieder ihrer Schwester am Telefon zu. „Also wirklich, Marcy! Toffees? Für Männer und Sex?“

„He, du hast das Wort aufgebracht, nicht ich. Aber das wird fortan unser Code sein.“

„Wir brauchen kein Codewort. Wir brauchen überhaupt nicht über das Thema zu reden. Es geht mir gut“, beharrte Lily.

Sie hatte wirklich etwas Besseres zu tun, als sich Gedanken über Männer zu machen. Nicht, solange sie jeden Tag tausend Dinge zu erledigen hatte und die Mädchen sie ständig in Beschlag nahmen. Und solange Richard so nervig war wie eh und je.

Wem stand da der Sinn nach Männern?

„Darf ich dich daran erinnern, dass mir nur noch ein knappes Jahr für dieses Haus bleibt? Zehneinhalb Monate, um ganz genau zu sein. In der Zeit muss ich es so aufgemöbelt haben, dass es sich gut verkaufen lässt. Mein Anteil muss genug Geld bringen, damit ich für die Mädchen und mich ein anderes Haus kaufen kann. Damit dürfte ich in den kommenden Monaten mehr als ausgelastet sein.“

„Ich weiß, ich weiß.“

„Und wo sollte ich überhaupt einen Mann kennenlernen? Du kennst doch die Gegend hier. Alles verheiratete Paare mit Kindern im Alter meiner Mädchen. Und wenn sie sich scheiden lassen, bleibt die Frau mit den Kindern hier im Vorort, während der Mann sich mit seiner jungen Geliebten ein Liebesnest in der Stadt einrichtet.“ Sie seufzte frustriert auf.

„Irgendwann muss die Frau dann aus Geldnot verkaufen, und es zieht wieder ein frisch verheiratetes Paar ein. Das ist ein Vorort wie tausend andere. Ich könnte mich hier einen ganzen Monat lang umsehen und nicht einen einzigen Mann treffen, der Single ist und für mich infrage käme – und selbst wenn, hätte ich keine Zeit für Dates. Ich habe ja kaum Zeit, in Ruhe einen Kaffee zu trinken.“

Lily seufzte stumm. Ihre Schwester hatte keine Ahnung, wie ihr Leben im Moment tatsächlich aussah. Es war deprimierend, sich so alleingelassen zu fühlen – nur weil Richard sich auf seiner letzten Geschäftsreise nach Baltimore in eine Frau von Anfang Zwanzig verliebt hatte.

„Es tut mir wirklich leid“, sagte Marcy, und Lily hörte jetzt Marcys Kinder im Hintergrund. „Ich wollte dir das Leben nicht noch schwerer machen. Ich wollte dich nur warnen, dass man eine Weile gut ohne … Toffees leben kann, aber irgendwann … nicht mehr. Du bist gerade einmal vierunddreißig. Wir haben alle unsere Bedürfnisse. Und wir alle fühlen uns gelegentlich einsam.“

„Ich vermisse nichts“, beharrte Lily, und sammelte die halb vollen Gläser ein, die sich wie die Kaninchen im Haus zu vermehren schienen, sobald sie ihnen den Rücken zugekehrt hatte. „Zumindest nicht, was … Toffees betrifft. Ein schönes Schaumbad – ja, gut, das fehlt mir manchmal. Oder ein gutes Buch und genügend Zeit, um es ungestört lesen zu können. Aber Toffees …“

Lily unterbrach sich. Sie hatte gerade vier Tassen in den Geschirrspüler gestellt und richtete sich auf. Dabei fiel ihr Blick durch das Fenster auf das Nachbarhaus, das seit Wochen leer gestanden hatte.

Offenbar zog jetzt jemand ein. Ein Umzugswagen stand auf der Einfahrt. Muskulöse, von der Sonne gebräunte Arme reichten einen Tisch nach unten. Ein großer Rhododendron behinderte Lilys Blick.

„Was ist?“, fragte Marcy. „Wo bist du jetzt?“

„Immer noch in der Küche.“ Lily sah die Arme erneut, jetzt gefolgt von einer muskulösen Schulter. Und dann der zweiten. Für einen Moment vergaß sie den Mund zu schließen. Zu den breiten Schultern gehörte der durchtrainierteste Waschbrettbauch, den sie jemals gesehen hatte. Lange, männliche Beine zeichneten sich unter einer engen Jeans ab, die lässig tief auf den Hüften hing. „Oh …“ Lily seufzte hingerissen.

„Was ist?“, fragte Marcy alarmiert. „Ist alles in Ordnung?“

Lily hatte das Gefühl, plötzlich in Flammen zu stehen. Eine wahre Hitzewelle durchlief ihren ganzen Körper bis in die letzte Zelle. Der Mann im Nachbarhaus war einfach atemberaubend: das Spiel seiner Muskeln … der leicht glänzende Schweißfilm auf der nackten Brust … Und plötzlich begriff sie, was ihre Schwester ihr hatte sagen wollen. Begriff, was sie für Bedürfnisse meinte.

Sie waren mit einem Schlag in ihr erwacht – drängend und einfach überwältigend.

„Verdammt!“ Lily spürte, wie das Handy ihren plötzlich kraftlosen Fingern entglitt und zu Boden fiel.

Lily fürchtete, der Mann könne sie im Küchenfenster gesehen haben. Vielleicht hatte er auch gehört, wie ihr Telefon auf die Fliesen gefallen war. Letzteres war eher unwahrscheinlich bei der Entfernung, und wenn man berücksichtigte, dass auch noch die Wand des Hauses zwischen ihnen war.

Aber er fuhr abrupt herum und starrte sie direkt an. Peinlich betreten ging sie auf die Knie, um das Handy aufzuheben. Sie war völlig verwirrt – und heiß am ganzen Körper.

Als ob sie von jetzt auf gleich ein hohes Fieber bekommen hätte.

Wurde sie vielleicht krank?

Unwillkürlich legte Lily sich eine Hand auf die Stirn, um zu sehen, ob sie heiß war.

Eine Mutter konnte so etwas sofort feststellen – nachdem sie schon so oft mit fiebernden Kindern zu tun gehabt hatte.

Aber diesmal konnte sie es nicht sagen. Zumindest nicht mit Sicherheit.

Langsam richtete sie sich auf und warf verstohlen einen Blick aus dem Fenster. Sie sah nichts außer dem offenen Umzugswagen und ein paar Kartons.

Keine Spur von ihm.

Wahrscheinlich war es einer der Umzugsmänner gewesen. Sie warf einen suchenden Blick in den Schrank, in dem sie ihre Medikamente aufbewahrte. Die Männer in dieser Gegend sahen mit nacktem Oberkörper nicht so gut aus. Sie hatten weder solche Muskeln noch eine derart gebräunte Haut.

So einen Körper bekam man nicht in einem Bürojob.

Lily fand das Fieberthermometer und steckte es sich in den Mund, gerade als ihr Telefon sich schrill bemerkbar machte.

Wahrscheinlich wieder ihre Schwester. Lily wollte in diesem Moment nicht mit ihr sprechen, aber sie wusste, dass sie keine Chance hatte. Marcy würde so lange anrufen, bis Lily sich meldete. Entweder das oder sie würde sich in den Wagen setzen und herkommen, um sich zu überzeugen, dass alles in Ordnung war. Zwischen ihren Häusern lag eine Fahrzeit von gerade einmal zwanzig Minuten. Marcy fühlte sich als ihre große Beschützerin, seit Richard ausgezogen war.

Das Thermometer piepte. Lily warf einen Blick auf die Anzeige.

Kein Fieber.

Merkwürdig.

„Hallo“, meldete sie sich rasch, „tut mir leid, aber mir ist das Handy auf den Boden gefallen.“ Sie beugte sich leicht nach links, um aus dem Fenster sehen zu können. Und da war er wieder – gerade dabei, einen Küchenstuhl herunterzuheben. Lily seufzte unwillkürlich.

„Was ist bei dir los?“, fragte Marcy sofort. „Hast du einen Mann bei dir?“

„Nein, es ist keiner hier, und ich will auch keinen hier haben. Ich bin gerade einen Mann losgeworden, und die Probleme, die ich mit ihm hatte, reichen für ein ganzes Leben.“

„Hör mal, darüber haben wir doch gerade gesprochen. Im Moment mag dein Bedarf an Männern gedeckt sein, aber das gilt nicht für das ganze Leben. Ich garantiere dir, du befindest dich im Moment nur in einer Art Schockstarre.“

„Wie bitte?“

„Ja, ich meine, was Männer angeht. Aber das wird nicht immer so bleiben. Eines Tages wird ein Mann vorbeikommen, und dann passiert es einfach! Die Schockstarre deines … Toffee – Lebens ist beendet.“

„Was ist ein Toffee-Leben?“, hörte Lily Stacy fragen, Marcys jüngste Tochter. „Isst man dann den ganzen Tag nur Toffees?“

„Nein, bestimmt nicht“, versicherte Marcy ihr.

„Kann ich ein Toffee-Leben haben?“

„Nein. Niemand isst immer nur Toffees“, zügelte Marcy die hohen Erwartungen ihrer Tochter, um dann an Lily gewandt zu zischen: „Toffee-Leben! Das werde ich jetzt nicht mehr los! Wahrscheinlich erzählt sie den anderen Kindern in der Schule davon, und die Mütter rufen dann an und wollen wissen, wieso ich den Kindern erzähle, sie könnten den ganzen Tag Toffees essen. Wie soll ich das erklären?“

„Tut mir leid, ich muss Schluss machen.“ Lily hörte ihre Schwester noch etwas Unverständliches murmeln, bevor sie die Verbindung beendete.

Ein Toffee-Leben?

Lily musste lachen.

Wenigstens konnte sie das wieder – ab und zu herzhaft lachen.

Eine Zeit lang war das unmöglich gewesen. Das Gefühl, ganz allein mit allem dazustehen und für zwei kleine Mädchen verantwortlich zu sein, hatte ihr Angst gemacht. Aber mit der Zeit war der Schrecken verblasst. Sie mochte am Boden sein, aber sie war nicht geschlagen.

Lily warf wieder einen Blick aus dem Fenster. Er trug jetzt eine große Kiste auf der Schulter, und die Muskeln seiner Arme glänzten vor Schweiß.

Es musste einer der Umzugsleute sein.

Kein derart gut aussehender Mann würde hier einziehen.

Es war heiß.

Wahrscheinlich hatten die Männer nichts Kaltes zu trinken. Es wäre doch nur ein Zeichen guter Nachbarschaft, hinüberzugehen und ihnen eine Kleinigkeit anzubieten. Vielleicht tauchten dann auch die neuen Nachbarn selbst auf. Oder sie konnte von den Umzugsleuten ein paar Informationen über sie bekommen.

Ihre Mädchen freuten sich immer, neue Freundinnen zum Spielen zu haben. Wenn sie von der Schule kamen, würden sie als Erstes wissen wollen, ob die neuen Nachbarn Mädchen in ihrem Alter hatten. Eine gute Mutter sollte ihnen dann die richtige Antwort geben können, oder?

Lily warf einen Blick in den Kühlschrank. Ein Krug mit Eistee wäre nicht schlecht. Und vielleicht ein paar Kekse? Sie sah in die Schränke und überlegte. Sie hatte keine Backmischung für Kekse da – aber alle Zutaten für Toffees …

„Einfach gute Nachbarschaft!“, murmelte Lily vor sich hin, als sie mit einem Krug Eistee, vier Plastikbechern und einem Blech noch warmer Toffees nach nebenan ging. Es ging nur um gute Nachbarschaft, nicht mehr und nicht weniger.

Sie ging am Umzugswagen entlang und hörte jemanden im Innern leise fluchen. Als sie von hinten auf die Ladefläche sehen konnte, sah sie ihn – er hatte die Augen konzentriert zusammengekniffen und eine Schulter unter einen Karton geschoben, der sich irgendwie verkantet zu haben schien.

Von Nahem sah sie, dass er ausgesprochen markante Züge hatte. Seine Augen waren dunkel, fast schon schwarz. Das dichte, dunkelbraune Haar war ein wenig zu lang. Am meisten beeindruckte sie jedoch die gebräunte Haut. Und das Spiel der Muskeln, das sich darunter abzeichnete.

Lily wurde wieder ganz heiß. Für einen Moment erwog sie, sich den Krug mit dem Eistee an die Stirn zu halten. Wenn sie wieder zu Hause war, wollte sie noch einmal ihre Temperatur messen. Irgendetwas stimmte nicht mit ihr.

„Hi. Kann ich Ihnen helfen, Ma’am?“, ließ sich eine Stimme hinter ihr vernehmen.

„Oh!“ Sie erschrak und hätte den Krug fallen lassen, hätte der schlaksige Teenager ihn nicht geistesgegenwärtig ergriffen und festgehalten.

„Tut mir leid“, sagte der Junge hastig, „ich wollte Sie nicht erschrecken.“

„Oh, das ist schon in Ordnung. Ich … ich habe dich einfach nicht gehört.“ Ich war zu fasziniert von deinem Vater.

Wie peinlich! Wusste der Junge, dass Frauen so auf seinen Vater reagierten? Wusste sein Vater es? Am liebsten wäre Lily vor Scham im Rhododendron verschwunden.

„Kein Problem.“ Der Junge deutete auf das Blech mit den Toffees in ihrer Hand. „Ist das für uns?“

„Jake!“ Der Mann stand jetzt hinten im Wagen und sah auf sie beide herunter. Sein Ton enthielt eine unausgesprochene Warnung: Benimm dich, oder es passiert was!

Lily sah nervös zu ihm auf. Groß, sexy, alles Muskeln und kein Lächeln – das war ihr erster Eindruck.

„Tut mir leid.“ Der Junge sah sie betreten an. „Es ist nur … es ist heiß. Und wir schleppen jetzt schon seit Stunden. Ich habe Hunger.“

„Du hast immer Hunger“, bemerkte der Mann vom Wagen her knapp.

„Ich habe Neffen in deinem Alter“, beeilte sich Lily ihm beizuspringen. „Ich weiß, dass Jungen immer Hunger haben. Und ich dachte, ich komme rüber und … stelle mich vor.“

„Klasse.“ Jake strahlte, als sie ihm das Blech reichte. „Ich bin Jake Elliott. Das ist mein Onkel, Nick Malone.“

Onkel!

Nicht Dad.

Betrieben sie zusammen ein Umzugsunternehmen? Oder zogen Jake und seine Familie ein, und Onkel Nick half ihnen?

„Ich bin Lily Tanner von nebenan.“ Sie hielt den Krug hoch. „Eistee?“

„Oh, ja.“ Jake nickte begeistert. Er hatte den Mund bereits voller Toffees. „Hey, die sind ja noch ganz warm. Haben Sie die gerade erst gemacht?“

Lily nickte.

„Sweet!“

Sie wusste, dass das Wort jetzt in der Jugendsprache für cool stand.

„Bevor du noch mehr davon in dich hineinschlingst, solltest du dich bedanken“, bemerkte sein Onkel.

„Danke.“ Das Wort war kaum zu verstehen, so voll hatte der Junge den Mund. „Wirklich, Ma’am“, bestätigte er, als er wieder sprechen konnte. „Die Toffees sind super.“

Sie reichte ihm einen Plastikbecher und füllte ihn mit Eistee. Dabei wappnete sie sich für die Begegnung mit dem Onkel, der gerade vom Wagen gesprungen war.

Mit wenigen Griffen streifte er sich ein T-Shirt über.

Lily war ihm dankbar dafür. Vielleicht verschwand mit dem Anblick seiner Muskeln auch ihr mysteriöses Fieber.

Doch ihre Hoffnung wurde enttäuscht. Im Gegenteil. Ihr wurde noch heißer, als er jetzt neben ihr stand und sie mit seinen dunklen Augen so durchdringend ansah.

„Tut mir leid“, sagte er. „Ich habe ihn wohl schon eine Million Mal gebeten, Danke und Bitte zu sagen, aber es scheint einfach nicht durchzudringen.“

„Ich weiß. Es geht mir bei meinen Mädchen genauso.“

„Sie haben Mädchen?“ Jake war höchst interessiert.

Lily lächelte. „Ich fürchte, sie sind zu jung für dich.“

„Ich bin erst fünfzehn.“

Es war unglaublich. Er war hoch aufgeschossen und schlaksig. Das einzig Jungenhafte an ihm war das Gesicht.

„Meine Mädchen sind sechs und neun.“

„Oh.“ Er zuckte die Schultern, als spiele das keine Rolle.

Lily war sicher, dass alle Mädchen mit ihm flirteten – genau wie mit seinem Onkel.

„Ich gehe kurz rein, dort ist es kühler.“ Jake wandte sich zum Gehen. „Nochmals vielen Dank, Mrs. Tanner.“

„Keine Ursache.“ Lily sah ihm lächelnd nach – und verstummte. Die Nähe des Muskelmanns machte sie verlegen. Um ihre Nervosität zu überspielen, reichte sie ihm einen Becher und schenkte ihm ein.

„Hat die kleine Ratte alle Toffees mitgenommen?“ Er schüttelte den Kopf.

„Ich glaube.“ Lily lachte leise. „Falls er so ist wie meine Neffen, könnte er das ganze Blech in fünf Minuten vernichten.“

„Klingt nach Jake.“ Er trank. „Wow, das tut gut.“

„Sie können den Krug gern hierbehalten“, sagte sie. „Ich dachte, Ihr Kühlschrank ist wahrscheinlich leer, und bei der Hitze heute …“

„Das war wirklich eine nette Idee. Vielen Dank.“

„Wer zieht denn hier ein? Sie? Oder Jake und seine Familie?“ Sie konnte nur hoffen, dass das nach neutralem, nachbarschaftlichem Interesse klang und dass die Röte ihrer Wangen sie nicht verriet.

„Nur Jake und ich.“ Seine Miene wurde noch ernster. „Meine Schwester und ihr Mann sind vor sechs Wochen bei einem Autounfall umgekommen. Sie haben drei Söhne. Die Zwillinge besuchen das College. Jake ist der Jüngste. Ich bin jetzt seine Familie.“

„Oh. Das tut mir leid“, sagte sie leise.

„Danke. Es ist alles noch sehr frisch, aber …“

„Natürlich. Tut mir leid, dass ich gefragt habe …“

„Ich bin froh, dass Sie mich gefragt haben und nicht ihn. Er … nun ja … er weiß nicht so recht, was er sagen soll.“

„Natürlich. Meine Mädchen waren genauso, als mein Mann und ich uns getrennt haben. Ich weiß, das ist nicht dasselbe, aber … sie haben es gehasst, immer erklären zu müssen, wieso ihr Vater nicht mehr bei uns wohnt.“

Er nickte verständnisvoll.

Ein Mann, der es auf sich genommen hatte, seinen fünfzehnjährigen Neffen allein zu erziehen.

Falls es überhaupt möglich war, machte ihn das noch attraktiver. Vielleicht war sein verschlossener Ausdruck schlicht das Ergebnis dessen, was in den vergangenen sechs Wochen passiert war.

„Ich glaube, ich sollte Sie beide nicht länger von der Arbeit abhalten“, sagte sie und reichte ihm den Krug. „Lassen Sie es mich wissen, falls Sie noch etwas brauchen. Ich bin fast immer zu Hause.“

„Danke. Sie sind sehr nett.“

Nett.

Er fand sie nett.

Sie hatte ihn angehimmelt wie ein liebeskranker Teenager, während er um den Verlust seiner Schwester und seines Schwagers trauerte und die Verantwortung für seinen verwaisten Neffen übernahm!

Was ist los mit dir? Lily versuchte ihre Bestürzung hinter einem aufgesetzten Lächeln zu verbergen.

Er nickte in Richtung Haus. „Ich sichere mir noch ein paar Toffees.“

2. KAPITEL

Jake stopfte die Toffees in sich hinein, als gäbe es kein Morgen. „Einfach sweet“, stöhnte er, als die Füllung seines Mundes es einmal erlaubte, zwei Worte über die Lippen zu bringen.

„Ich kann das nicht beurteilen, denn ich habe noch keine gehabt.“ Nick hoffte, dass sein Ton nicht zu unwirsch war. Vor seiner Zeit beim FBI war er viele Jahre bei der Army gewesen. Der Kommandoton dort hatte seine Spuren hinterlassen. Er bemühte sich jetzt, ihn für Jake und seine Brüder abzulegen. Sie brauchten wirklich niemanden, der so klang, als brülle er sie an oder sei wütend auf sie.

Jake hielt ihm den Rest der Toffees hin.

Nick ließ einen auf der Zunge zergehen und spürte eine wahre Geschmacksexplosion in seinem Mund. „Oh … Mann!“

„Ich weiß, was du meinst.“ Jake nickte. „Was glaubst du – was müssten wir tun, um sie dazu zu bringen, ein Abendessen für uns zu machen?“

„Hmm. Sie ist eine alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Töchtern.“ Nick ließ sich noch einen Toffee auf der Zunge zergehen. „Wahrscheinlich hat sie nicht viel Zeit.“

„Ich wette, sie würde es für dich tun. Hast du gemerkt, wie sie dich angesehen hat? Als wäre es ihr ganz egal, dass du schon so …“

„… dass ich schon so alt bin?“, ergänzte Nick.

„Ich wollte uralt sagen.“ Jake griff nach dem letzten Toffee.

„Den lässt du mir“, knurrte Nick. „Du hast schon genug gehabt.“

„Ich habe immer noch Hunger.“

Und es war noch nicht einmal zehn Uhr!

Lily Tanner hatte recht gehabt. Jungen im Teenageralter waren wie ein Fass ohne Boden. Nick hatte in der Woche nach dem Tod seiner Schwester und seines Schwagers nicht weiter darüber nachgedacht. Die Nachbarn hatten ihnen Essen gebracht. Berge von Essen. Und alles verschwand innerhalb kürzester Zeit. Nicht einmal Trauer schien den Appetit von Teenagern dämpfen zu können.

„Lass uns den Wagen ausladen, bevor es noch heißer wird. Dann kümmern wir uns um das Essen“, schlug Nick vor. „Wer weiß? Vielleicht haben wir Glück, und eine andere Nachbarin bringt uns Mittagessen. Du musst einfach nur eine mitleiderregende Miene aufsetzen und völlig geschwächt wirken.“

„Kein Problem!“ Jake trank noch einen Becher Eistee und verließ das Haus.

Nick schob sich das letzte Stück Toffee in den Mund und ließ den Blick wandern. Überall nur unausgepackte Kartons und Möbel, die noch ihren Platz finden mussten. Wohl zum tausendsten Mal fragte er sich, ob es richtig gewesen war, hierher nach Virginia zu kommen und zu versuchen, dem Jungen die Familie zu ersetzen.

Was um alles in der Welt hatte seine Schwester bewogen, ihn zum Vormund zu bestimmen?

Bis Mittag hatten Nick und Jake den Wagen weitgehend ausgeräumt. Sie gingen ins Haus und schoben ein paar Kartons beiseite, damit sie sich auf das Sofa fallen lassen konnten, das direkt unter einem Deckenventilator stand.

Das musste Nick dem Jungen lassen: Er konnte anpacken, und er hatte wirklich Kraft. Was Letztere betraf – Nick war überzeugt, dass er dem Jungen im Notfall in einem Kampf überlegen war. Den unzähligen Erziehungsratschlägen zufolge, die er im Laufe der vergangenen Wochen erhalten hatte, lief die Erziehung eines Teenagers letztlich darauf hinaus, ihm wenigstens ein Mal zu beweisen, wer der Stärkere war. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, dass Jake es auf einen Kampf ankommen lassen würde.

Aber was wusste er schon? Er hatte so gut wie keine Ahnung von Kindererziehung. Glücklicherweise hatte seine Schwester nur Söhne. Wären es Mädchen gewesen, hätte er nicht den Hauch einer Chance gehabt. Aber in dem Fall hätte seine Schwester sicher nicht ausgerechnet ihn zum Vormund ernannt.

„Ich komme um vor Hunger“, erklärte Jake, der den Kopf gegen die Sofalehne gelegt und die Beine weit von sich gestreckt hatte.

„Erzähl mir etwas Neues.“ Nick überlegte, welche Restaurants er am Morgen vom LKW aus gesehen hatte.

Es klingelte.

Jake setzte sich mit einem Ruck auf. „Vielleicht noch ein Blech mit Toffees?“ Er trabte erwartungsvoll zur Tür.

Nick war froh darüber, denn allein die Vorstellung, jetzt aufstehen zu müssen, ließ jeden seiner Muskeln protestieren. Für nichts in der Welt hätte er noch einmal fünfzehn sein wollen, aber den Körper eines Fünfzehnjährigen haben mit dieser Kraft … Damit hätte er leben können, zumal an Tagen wie diesen.

Jake öffnete – und ein breites Grinsen glitt über seine Züge.

Es musste etwas Essbares sein.

Nick quälte sich auf die Beine und versuchte nicht das Gesicht zu verziehen, als sein Rücken sich schmerzhaft bemerkbar machte. Wenigstens sah es der Junge nicht.

Jake konzentrierte sich ganz auf die Auflaufform, die ihm eine Nachbarin in die Hand gedrückt hatte.

Sie machten ein paar Minuten freundlichen Small Talk mit der Frau und eilten dann in die Küche. Jeder nahm sich eine Gabel, und dann schlangen sie den Hähnchen-Nudel-Auflauf in sich hinein – direkt aus dem Topf.

Jake schien kurz davor, ihn auszuschlecken wie ein junger Hund, der seit Tagen nichts gegessen hatte. „Ich glaube, diese Nachbarschaft gefällt mir“, stöhnte er zufrieden. „Jetzt müsste nur noch jemand ein Abendessen bringen …“

Lily hatte vorgehabt, an dem Tag einige Arbeiten an ihrem Esszimmer zu erledigen, aber als sie von ihren neuen Nachbarn zurückkam, musste sie zuerst noch einmal Fieber messen – nur um erneut festzustellen, dass ihre Temperatur völlig normal war. Dabei war ihr immer noch heiß, und sie fühlte sich ganz aufgewühlt und … schwach.

Brütete sie etwas aus?

Wahrscheinlich.

Womit sonst ließ sich ihr Zustand erklären?

Sie beschloss, sich an die Arbeit zu machen. Die Wände des Esszimmers bestanden nur aus Rigipsplatten, die noch isoliert und verspachtelt werden mussten, bevor man sie tapezieren und anstreichen konnte. Als Letztes waren dann die Abschlussleisten aus Holz anzubringen.

Vor der Geburt der Mädchen hatte sie als Innenarchitektin gearbeitet. Sie hatte den Job aufgegeben, um sich um die Kinder zu kümmern. Daraus hatte sich die Idee mit den Sanierungen ergeben. Sie hatte Richard überredet, ihr kleineres Haus gegen ein größeres zu tauschen, das renoviert werden musste.

Die Arbeit machte ihr Spaß, und sie konnten das Haus bald mit einem guten Profit wieder verkaufen. Dies war ihr viertes Haus. Sie hatten es gerade gekauft, als Richard sich entschied, sie zu verlassen. Im Scheidungsurteil war festgehalten, dass sie ihm beim Verkauf die Hälfte des ursprünglichen Kaufpreises schuldete. Der Rest gehörte ihr.

Lily hatte hart um diese Vereinbarung gekämpft und hoffte, dass sie damit genug Geld verdiente, um ein kleineres Haus kaufen zu können, in dem sie mit den Mädchen leben konnte.

Sie hatte also wirklich genug zu tun, aber an diesem Tag klingelte pausenlos das Telefon. Es schien, dass die meisten Nachbarinnen sie bei ihrem Gespräch mit dem neuen Nachbarn beobachtet hatten. Nun wollten alle wissen, ob er wirklich hier einzog, ob der Teenager sein Sohn war und ob dieser attraktive Mann vielleicht solo war.

Da Lily eine Antwort auf alle diese Fragen hatte, war sie an diesem Vormittag eine sehr gesuchte Frau. Und keine der Nachbarinnen wollte es sich nehmen lassen, ihren Eistee und die Toffees zu überbieten.

Gegen Mittag machte sich eine ganze Reihe von Frauen auf den Weg zum neuen Nachbarn, ausgerüstet mit Töpfen und Schüsseln. Lily hatte den Eindruck, dass das sorgfältige Make-up und das Outfit einiger Frauen eher zu einem offiziellen Date gepasst hätten als zu einem beiläufigen Nachbarschaftsbesuch.

„Schamlos“, murmelte Lily, als sie Jean Sumner nebenan klingeln sah. Das tief ausgeschnittene, eng anliegende T-Shirt überließ kaum etwas der Fantasie. „Absolut schamlos!“

Ihre neuen Nachbarn würden diesen Ausblick weit mehr genießen als Jeans Curry-Hähnchen, da war Lily sich sicher. Es war allgemein bekannt, dass Jeans Kochkünste sich in überschaubaren Grenzen hielten.

Sissy Williams kam in einem knappen Tennis-Outfit förmlich herübergehüpft und brachte etwas mit, das aus der Ferne nach einem Kuchen aussah. Jake würde begeistert sein.

Die Schamloseste von allen war nach Lilys Einschätzung Audrey Graham. Sie erschien in Joggingshorts und einem Sport-BH. Hätte sie nicht wenigstens eine Bluse überwerfen können?

Unwillkürlich fragte Lily sich, ob sich die anderen Frauen nach ihrem Besuch auch leicht fiebrig fühlten, denn Nick hatte wieder das T-Shirt abgestreift. Es war nicht so, dass sie pausenlos hinübergestarrt hätte, aber sie kam doch immer wieder einmal an ihrem Küchenfenster vorbei und bekam dann rein zufällig einen Blick auf das Geschehen am Nachbarhaus.

Noch nie hatte Lily ihre Nachbarinnen in einem solch kollektiven Hormontaumel erlebt. Schließlich war dies eine respektable Straße in einem respektablen Vorort.

Lilys Schwester rief noch einmal an, aber es gelang Lily, sie mit einigen vagen Auskünften über ihre Aktivitäten des Tages abzuwimmeln. Toffees – welcher Art auch immer – wurden nicht wieder erwähnt.

Die Mädchen kamen glücklich und voller Energie aus der Schule – bis zu dem Zeitpunkt, als Lily sie nach dem Abendessen auf ihre Hausaufgaben ansprach. Plötzlich waren sie so müde, dass sie gerade noch einen Disney-Film im Kinderkanal ansehen konnten, bevor sie um halb neun ins Bett wankten.

Lily war dabei, den Geschirrspüler zu beladen, als sie sah, wie Jake auf ihre Küchentür zusteuerte. Rasch fuhr sie sich über das Haar und zupfte ihre Bluse zurecht, bevor sie sie öffnete. „Hi. Habt ihr alles ausgeladen?“

„Ja, Ma’am.“ Er kam herein.

„Du musst müde sein.“

„Ein bisschen“, gab er zu.

„Was kann ich für dich tun?“

„Na ja … ich habe da ein Problem … ich weiß nicht, was ich machen soll“, gestand er. „Heute sind den ganzen Tag über Leute vorbeigekommen und haben uns etwas zu essen gebracht …“

„Das habe ich gesehen“, bekannte Lily.

„Nichts davon war so gut wie Ihre Toffees, aber trotzdem … Mein Onkel sagte, ich soll eine Liste machen – wer was gebracht hat, damit wir das Geschirr zurückgeben und uns bedanken können. Ich … ich habe da eine Liste angefangen … aber irgendwie bin ich durcheinandergekommen.“

„Verstehe …“ Lily nickte. „Du hattest Hunger und hast dich ablenken lassen …“

„Stimmt.“ Er nickte. „Die Frauen haben alle ihre Karte dagelassen, aber ich weiß nicht mehr, welche Karte zu welchem Topf gehört. Ich glaube, ich weiß noch, wie einige der Frauen aussahen …“

Wie Audrey mit ihrem Sport-BH … Lily hätte wetten mögen, dass Jake sich an sie erinnerte.

„Wahrscheinlich kann ich die meisten deiner Karten zuordnen“, überlegte Lily. „Jeder von uns hat seine Standard-Rezepte, wenn wir etwas mitbringen.“

Jake sah sie so dankbar an, dass sie sich zurückhalten musste, um ihn nicht in den Arm zu nehmen.

Der arme Junge! Sein Tag war wirklich lang gewesen, und hinter ihm lagen sechs schreckliche Wochen. „Ich kann im Moment nicht weg. Meine Mädchen schlafen oben und …“

„Ich könnte hierbleiben für den Fall, dass sie aufwachen“, bot er an.

„Okay.“ Lily nickte. „Es wird nicht lange dauern. Ist alles im Kühlschrank?“

„Ja, und die Karten liegen auf der Arbeitsplatte daneben. Ich habe die Seitentür offen gelassen. Mein Onkel bringt gerade den LKW zurück. Es ist also niemand da.“

„Okay, ich bin gleich zurück.“

Lily kannte das Haus noch von seinen letzten Bewohnern her. Sie musste nur um den Rhododendron herumgehen, und schon war sie an der Seitentür.

Sissy hatte tatsächlich einen Kuchen gebracht. Etwas Ausgefallenes mit Obst und Glasur. „Garantiert nicht selbst gemacht“, murmelte Lily. Sissy war kein großes As in der Küche. Und sie hätte wissen sollen, dass Obstkuchen bei Teenagern nicht ganz hoch im Kurs stand.

Jeans Truthahn sah etwas schmackhafter aus als gewöhnlich. Es fiel Lily leicht, ihre Karte und ein halbes Dutzend weiterer richtig zuzuordnen. Blieb nur noch Audreys Name und eine Karte mit einer schrecklichen Handschrift, die von einem jungen Mädchen sein könnte. Versuchten die heutzutage auch schon, sich mit Kochkünsten einen Mann zu angeln?

Übrig blieben eine Schüssel mit Nudelsalat und ein Auflauf mit Hähnchenfleisch. Bei ihrer Figur war es wenig wahrscheinlich, dass Audrey sich Nudeln antat, dazu passte eher ein mageres Hähnchen. Sie beschloss, Jake vorsichtshalber zu fragen. Wenig wahrscheinlich, dass er Audrey in ihrem spärlichen Outfit vergessen hatte. Oder hatte ihr Anblick ihn vergessen lassen, was sie gebracht hatte?

Sie nahm die Auflaufform, um sie Jake zu zeigen. Gerade hatte sie die Küchentür aufgezogen, als plötzlich Nick vor ihr stand.

Vor Schreck hätte sie die Form fast fallen lassen. Während sie rasch danach griff, griff er nach ihr – mit einer Reaktionsgeschwindigkeit und Kraft, die sie nur bewundern konnte.

Er musterte sie mit einem leicht amüsierten Lächeln. „Lily … ist alles in Ordnung?“

„Ja …“ Sie musste sich räuspern, bevor die Stimme ihr gehorchte.

„Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe.“

Ihre Reaktion auf ihn war nicht wirklich überraschend. Schließlich war sie seit Jahren keinem Mann mehr so nahe gewesen wie ihm – abgesehen von ihrem Exmann. Daher war es vielleicht verständlich, dass ihr Körper mit prickelnder Nervosität reagierte.

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie gekommen sind, um Essen zu stehlen …“

„Nein, das bin ich wirklich nicht.“ Wahrscheinlich hielt er sie für verrückt! „Jake wusste nicht mehr, welcher Name zu welchem Gericht gehört. Ich habe angeboten, ihm zu helfen.“

„Ja, er hat die Karten einfach abgerissen und angefangen zu essen …“

Lily nickte. „Im Moment ist er in meinem Haus, für den Fall, dass die Mädchen aufwachen und merken, dass ich nicht da bin. Ich bin mir ziemlich sicher, was die Zuordnung der Namen angeht – bis auf einen Nudelsalat und dies hier.“ Sie hielt ihm die Auflaufform hin.

„Daran erinnere ich mich“, sagte er.

„Eine Frau, die …“

„… so gut wie nichts anhatte“, ergänzte er trocken.

„Shorts und …“

„… so etwas wie einen BH.“

„Audrey Graham.“ Lily trug die Form zurück in die Küche. „Ich lege die Karte mit ihrem Namen dazu …“

„Läuft sie immer so spärlich bekleidet herum?“

Lily musste unwillkürlich lachen, bis ihr klar wurde, dass sie vielleicht selbst im Glashaus saß und nicht mit Steinen werfen sollte. Gut, sie hatte sich vielleicht nicht so provozierend zurechtgemacht wie die anderen Frauen, aber sie war doch die Erste gewesen, die am Morgen auf seiner Matte gestanden hatte.

Was sagte das über sie? Was dachte er jetzt von ihr? Dass sie war wie die anderen?

„Audrey ist … na ja, seit ihrer Scheidung ist sie ein Fitness-Freak geworden. Sie geht fast jeden Tag joggen, und da es heute so heiß war …“

Lily drehte sich um, nachdem sie alle Karten zugeordnet hatte.

Nick Malone stand für ihren Geschmack viel zu nah.

„Eine freundliche Nachbarschaft“, bemerkte er.

„Ja, das kann man sagen.“

„Ist es immer so, wenn jemand neu einzieht?“

„Na ja …“ Sie räusperte sich. „Es gibt nicht viele ledige Männer hier.“

„Hmm …“ Die Information schien ihm nicht wirklich weiterzuhelfen.

„Hier leben vorwiegend verheiratete Paare und geschiedene Mütter“, erklärte sie und setzte stumm hinzu: Einsame, geschiedene Mütter … Mütter mit gewissen unerfüllten Bedürfnissen …

Wobei sich ihre eigenen Bedürfnisse bisher auf ein heißes Bad beschränkt hatten und ein gutes Buch. Und nun stand sie hier mit diesem atemberaubenden Mann und glaubte wieder, Fieber zu haben, so heiß war ihr in seiner Nähe.

„Die Frauen, die heute hier waren, sind alle geschieden?“ Die Vorstellung schien Nick Unbehagen zu verursachen.

„Nicht alle.“ Blieb nur zu hoffen, dass er nicht dachte, sie spioniere ihm nach. Aber sie hatte ja die Karten mit den Namen gesehen und sie den Gerichten zugeordnet. „Sie freuen sich einfach, einen neuen Nachbarn begrüßen zu können.“

Einen neuen Mann, hatte Lily sagen wollen, hatte es aber gerade noch verhindern können. So wie sie die Situation einschätzte, konnte er hier jeden Tag eine andere Frau haben, falls ihm der Sinn danach stand.

Wollte er das? Und was war mit Jake? Sicher wollte er dem Jungen nicht jeden Tag eine andere Frau im Haus zumuten. Oder?

„Wie auch immer – Jake ist sehr glücklich“, sagte er schließlich. „Leider bin ich kein guter Koch, und seine Erfahrungen in der Küche sind auch überschaubar.“

„Ich glaube, ich sollte wieder nach drüben gehen.“ Lily schob sich an ihm vorbei zur Tür und hoffte, dass es nicht zu sehr nach einer Flucht aussah.

„Vielen Dank für alles“, sagte Nick.

„Keine Ursache. Ich hoffe, Sie beide leben sich hier bald ein.“ Vielleicht auch ohne jeden Tag eine neue Frau, setzte sie stumm hinzu und ärgerte sich, dass der Gedanke sie erröten ließ. „Ich schicke Jake gleich nach Hause.“

3. KAPITEL

Vier Tage später

Nick wartete hinter der Haustür. Es war früh am Morgen, und er wollte eine Runde joggen. Aber statt einfach das Haus zu verlassen, warf er vorsichtig einen Blick durch das vordere Fenster, als habe er Angst, hier in einer der ruhigsten Gegenden der Stadt überfallen zu werden.

Dabei dachte er weniger an einen Raubüberfall als an eine erwachsene Frau mit einem Sport-BH. Sie war ihm vor zwei Tagen die ganzen fünf Meilen seines Morgenlaufs gefolgt und hatte dabei ohne Unterlass geredet. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, war sie dann sogar noch mit ins Haus gekommen. Ehe er wusste, was ihm geschah, hatte sie sich ihm an den Hals geworfen, hier gleich in der Küche. Und ausgerechnet in dem Moment war Jake hereingekommen. Es war ein Albtraum gewesen!

So eine Situation wollte Nick unter keinen Umständen wiederholen.

Er hatte Audrey höflich, aber bestimmt klar gemacht, dass er nicht interessiert war, wusste aber nicht, ob die Botschaft bei ihr angekommen war.

„Was machst du denn da?“ Jake war hinter ihm aufgetaucht.

Nick stieß einen Fluch aus.

Der Junge gähnte. „Ich wollte dich nicht erschrecken.“

„Irgendwann erledige ich dich mit einem Handkantenschlag, ohne erst zu gucken, wer da ist“, warnte Nick.

„Kannst du das?“ Jake war voller Bewunderung.

„Problemlos“, bestätigte Nick und hoffte, dass der Junge die Warnung beherzigte.

„Warst du schon joggen?“

„Noch nicht.“

Plötzlich war Jake hellwach. „Einen Moment mal … Du versuchst nicht gerade, jemanden unbemerkt aus dem Haus zu bringen, oder?“

„Was?“ Nick sah ihn verblüfft an.

„Na ja, ich meine … eine Frau vielleicht.“

„Nein, bestimmt nicht.“

„Ich habe nichts dagegen, wenn du eine Frau hier übernachten lassen willst. Ist es diese Audrey? Die mit dem Riesenvorbau?“ Jake hielt seine Hände wohl einen halben Meter vor seine Brust, um das Ausmaß zu demonstrieren. „Sie hat eine wirklich süße Tochter. Die würde ich gern mal kennenlernen.“

„Nein, sie ist es nicht. Es ist überhaupt niemand.“

„Niemand, den ich kenne, was? Okay …“ Jakes Interesse hielt unvermindert an.

„Hier war niemand. Das würde ich nicht machen.“

Nick wollte sagen: nicht mit dir im Haus. Aber das klang doch irgendwie scheinheilig. Sollte er so tun, als sei er ein Mönch? Nur, weil er ledig und Vormund für einen Jungen war? Für einen Jungen, der wahrscheinlich selbst mit seinen Hormonen zu kämpfen hatte.

Er wusste nicht, was die Etikette für alleinerziehende Eltern und ihr Sex-Leben vorsah. Er war auch noch nie ernsthaft mit einer Frau liiert gewesen, die Kinder hatte. Überhaupt hatte er kaum längere Beziehungen zu Frauen gehabt.

„Du willst also, bis ich achtzehn bin, ohne auskommen?“ Jake sah ihn fassungslos an. „Ich dachte, du wärst richtig cool. Ich meine … du weißt schon. Wir bringen beide unsere Frauen mit nach Hause und gehen cool damit um.“

Nick traute seinen Ohren nicht. „Du hast Frauen? Plural?“

„Nicht direkt“, schränkte Jake ein. „Wenigstens im Moment nicht.“

„Okay, und eine? Hast du eine Freundin, die du mit hierherbringen willst? Mit fünfzehn?“

„Na ja … vielleicht.“

„Ausgeschlossen.“

„Wirklich?“ Der Junge schien alle seine Träume entschweben zu sehen.

„Wirklich!“ Nick schlug unwillkürlich seinen Kasernenhofton an.

„Meine Güte“, murrte Jake. „Ich dachte …“

„Was auch immer du gedacht hast – vergiss es!“

Jake rollte nur die Augen und verschwand Richtung Küche. Immerhin war es schon sechs Stunden her, seit Nick ihn um Mitternacht vor dem Kühlschrank erwischt hatte. Er konnte eine Kleinigkeit vertragen …

Nick begriff: Sogar wenn er es gewollt hätte, wäre es unmöglich gewesen, eine Frau heimlich ins Haus oder hinauszuschmuggeln. Jake hatte zu oft Hunger, als dass so etwas klappen könnte. Und hatte nicht nur Hunger auf Essbares …

„Verdammt!“ Nick sandte ein stummes Stoßgebet zum Himmel. Wie sollte er mit dieser Situation umgehen? Er konnte ja nicht einmal joggen gehen, ohne befürchten zu müssen, diese Audrey am Hals zu haben. Als er die Tür öffnete, sah er sie in der Nähe hinter einem Baum stehen.

Gereizt schlug er die Tür zu. Hatte sie nichts Besseres zu tun, als ihm aufzulauern?

Es war schon später am Morgen, und Nick mähte den Rasen, als Lily mit ihrem kleinen SUV nach Hause kam. Er winkte ihr zu, mähte aber weiter. Er wollte den Job erledigt haben, bevor es zu heiß wurde. Aber dann sah er, wie sie die Heckklappe ihres Wagens öffnete und mit einem Berg von Leisten kämpfte. Er stellte den Rasenmäher ab und ging hinüber.

„Hoppla!“ Er fing eine Leiste auf, die ihr zu entgleiten drohte. „Lassen Sie mich Ihnen helfen.“

„Oh.“ Sie fuhr herum, und ihre Last geriet gefährlich ins Trudeln. Nick beeilte sich, alles wieder ins Lot zu bringen. Dabei fragte er sich, ob sie von Natur aus schreckhaft oder einfach nur ungeschickt war.

„Tut mir leid, ich habe für einen Moment vergessen, dass ich die Leisten in der Hand hatte …“

„Kommen Sie, ich trage sie ins Haus.“ Er wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn.

„Danke.“

Sie angelte nach den Schlüsseln in ihrer Tasche und eilte zur Hintertür, um ihn durch die Küche ins Esszimmer zu führen. Die Wände waren inzwischen in einem gedämpften Goldton gestrichen und warteten nur noch auf die breiten Abschlussleisten.

„Legen Sie sie einfach irgendwo ab“, bat Lily.

Er stapelte das Holz in einer Ecke des Zimmers. „Machen Sie die ganze Arbeit allein?“

„Ja, es macht mir Spaß. Ich war früher Innenarchitektin. Seit die Mädchen da sind, renoviere ich nebenher Häuser, um sie dann wieder zu verkaufen.“

Er sah sich um. „Sie machen einen tollen Job, Lily“, sagte er mit unverhohlener Bewunderung.

„Danke. Wie geht es Ihnen? Und Jake?“

„Jake geht es … so gut, wie unter den Umständen zu erwarten“, sagte er vorsichtig. „Aber was weiß ich schon? Was halten Sie denn von ihm?“

„Ein netter Junge. Sehr freundlich. Er hat mir angeboten, meinen Rasen gegen ein weiteres Blech Toffees zu mähen.“

„Oh, das tut mir leid …“

„Das ist doch ein Superangebot! Einmal Rasenmähen ist wesentlich mehr wert als ein Blech Toffees.“

„Sind Sie sicher?“

„Absolut.“ Sie ging in die Küche und holte zwei Gläser aus dem Schrank. „Möchten Sie etwas trinken? Sie sehen so aus, als wären Sie schon eine Weile da draußen in der Hitze.“

„Ein Glas Wasser wäre schön, danke.“

Er leerte sein Glas in einem langen Zug.

Wortlos füllte sie es noch einmal nach.

„Dann ist das also in Ordnung, wenn ich den Deal mit Jake mache? Essen gegen Rasenmähen?“

„Für mich ist das okay. Aber Sie sollten darauf achten, dass er Sie nicht ausnutzt oder Ihnen zu viel Zeit stiehlt.“

Sie zuckte nur die Schultern. „Ich koche und backe gern, da spielt die Menge keine Rolle. Was ist denn sein Leibgericht?“

„Offen gestanden weiß ich es nicht. Bisher habe ich noch nichts gefunden, was der Junge nicht isst. Ich erinnere mich, dass ich meine Schwester vor einem Jahr besucht habe. Sie hat einen Schmorbraten gemacht, und der Junge hat Berge davon vertilgt …“

„Okay“, entschied Lily, „dann gibt es also einen Schmorbraten. Kann ich Ihnen sonst irgendwie helfen?“

Nick zögerte. Es gab da einiges, worüber er gern mit jemandem gesprochen hätte, aber … Lily? Er kannte sie kaum. Einige Frauen gingen ja heutzutage sehr offen mit ihrer Sexualität um, aber er bezweifelte, dass sie dazu gehörte. Sie wirkte sehr süß und ein wenig scheu. Nein, ausgeschlossen. Er konnte sie nicht einfach fragen, wie sie ihr Sex-Leben gestaltete mit zwei kleinen Mädchen im Haus.

„Wenn ich kann, helfe ich gern“, beteuerte sie.

Nick runzelte die Stirn. Vielleicht konnte er durch sie etwas über Audrey Graham herausfinden, das ihm helfen konnte, ihr aus dem Weg zu gehen.

„Na ja …“ Er zögerte. „Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, und ich möchte nicht, dass es Ihnen unangenehm ist, aber …“

Ahhhh!

Lily hätte vor Scham im Boden versinken mögen. Er wusste es! Er wusste, dass sie ihn anschmachtete, und er wollte darüber reden.

Nick sah sie plötzlich besorgt an. „Lily? Alles in Ordnung?“

„Ja“, log sie – nicht sehr überzeugend.

„Bist du sicher?“ Er war unwillkürlich auf das vertraute Du übergegangen, und sie hatte anderes zu bedenken, als es zu kommentieren.

„Ja, natürlich. Sag ruhig, was du denkst. Es geht um …“

„Audrey Graham.“ Er sah so aus, als schmerze es ihn, den Namen in ihrer Gegenwart auszusprechen.

„Oh! Audrey?“ Lily war so erleichtert, dass sie am liebsten ein Dankgebet zum Himmel geschickt hätte.

„Ja, Audrey. Hast du nicht mal erwähnt, dass sie jeden Morgen joggt?“

„Das stimmt.“

Wollte er dabei zusehen? Die Frau machte wirklich eine Show daraus. Ihre Outfits wurden mit jedem Tag knapper. Offensichtlich hatte sie ein paar neue Teile erstanden, seit Nick eingezogen war.

Jemand hatte erzählt, Nick und Audrey seien vor zwei Tagen gemeinsam joggen gewesen, und anschließend sei Audrey mit in sein Haus gegangen. Aber die Leute redeten viel, wenn der Tag lang war, und Lily zog aus Prinzip immer die Hälfte von allem ab, was man ihr erzählte.

„Weißt du, wo sie joggt? Ich meine, welche Route sie nimmt?“

„Nicht wirklich. Ich sehe sie nur manchmal an unserem Haus vorbeilaufen.“

Seit Nick eingezogen war, allerdings häufiger als früher.

„Und … äh … ich meine, mich interessiert, wann und wo ich laufen müsste, um ihr nicht zu begegnen.“

„Oh.“ Lily war gleichermaßen erleichtert wie verblüfft. Er wollte einer Frau mit einem Körper wie Audreys ausweichen? Kaum vorstellbar!

„Ich jogge gern allein“, sagte er. „Das ist alles. Vor zwei Tagen ist sie mir gefolgt und … na ja, sie hat pausenlos geredet.“

„Hmm.“ Bei der Vorstellung, wie Audrey mit hüpfenden Brüsten hinter Nick herlief und ihm mit jedem Schritt mehr auf die Nerven ging, musste Lily sich ein Lachen verbeißen.

„Wenn du durch meinen Garten läufst und am Ende den Weg zuerst links und dann rechts nimmst, kommst du am anderen Ende der Siedlung heraus. Dort solltest du ihr ausweichen können.“

Er grinste erleichtert. „Das ist super. Danke.“

„Kein Problem“, versicherte sie ihm.

Er sah so aus, als läge ihm noch etwas auf der Zunge, aber dann besann er sich und stellte das leere Glas auf den Tisch. „Ich glaube, ich sollte jetzt den Rasen fertig mähen, bevor es noch heißer wird.“

„Okay.“

Lily wollte ihm die Tür aufmachen, und er griff im selben Moment nach der Klinke. Fast wären sie zusammengestoßen. Als sie sich aufrichteten, waren sie sich plötzlich sehr nah.

Er lachte leise.

Lily konnte sich nicht rühren. Sie stand einfach nur da und atmete den Duft seiner Haut ein … die Hitze seines Körpers …

„Verdammt“, knurrte er.

„Was ist?“ Hatte sie sich verraten? Würde jemand anderes ihm Tipps geben müssen, wie er ihr aus dem Weg gehen konnte?

„Audrey ist dort draußen. Ich habe sie gerade durch das Küchenfenster gesehen.“

„Oh.“

„Und sie sieht uns.“

Ja, und? „Ich verstehe nicht …“

„Lily, sie ist mir vorgestern bis in die Küche gefolgt und hat sich auf mich gestürzt, gerade als Jake nach unten kam.“

„Oh!“

„Ich dachte, ich hätte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nicht interessiert bin, aber offensichtlich ist es mir nicht gelungen, denn seitdem lauert sie mir ständig auf. Jake träumt davon, etwas mit ihrer Tochter anzufangen. Ich möchte sie also nicht völlig vor den Kopf stoßen, wenn es nicht unbedingt nötig ist.“

„Okay.“ Lily stand immer noch wie erstarrt – und genoss es. Genoss es sehr. „Aber was hat das … hiermit zu tun?“

Er atmete tief durch. Brust und Schultern hoben sich und schienen ihr noch näher zu kommen. Sie sehnte sich nach seiner Berührung. Ihr ganzer Körper schien vor Verlangen zu vibrieren. Schien förmlich zu singen vor Glück. Nick war so groß und stark. So sehr … Mann. Und es war lange her, seit sie einem Mann so nahe gewesen war.

Erst recht einem so attraktiven Mann. Natürlich nur rein körperlich betrachtet. Sie kannte ihn ja kaum. Sie wusste nur, dass ihr Körper sich danach sehnte, ihn besser kennenzulernen.

Wortlos senkte er seinen Kopf, bis seine Lippen irgendwo an ihrem Halsansatz waren. Ohne sie wirklich zu berühren.

Es war so sexy, dass es schon fast einer Berührung gleichkam.

Sie spürte seinen Atem an ihrer Haut.

„Wenn ich das nur für einen Moment tun könnte“, flüsterte er, während er behutsam seine Arme um sie legte.

„Mmm-hmm.“ Ihre Stimme wollte ihr nicht so recht gehorchen.

„Und wenn du deine Arme um mich legen könntest …“

„Okay.“ Sie kam seiner Bitte langsam nach.

Seit Tagen träumte sie davon, ihn zu berühren. Träumte davon, ihn überall auf jede mögliche Art zu berühren. Wurde sogar rot bei ihren Fantasien.

Ihn wirklich zu berühren war noch besser als in ihren Träumen. Sein Körper war hart und sexy, das Spiel seiner Muskeln faszinierend zu fühlen, als ihre Hände über seinen Bizeps glitten hinauf zu seinen Schultern.

„Genau so“, seufzte er hingerissen. „Genau so.“

Lily musste einmal tief durchatmen. Dabei hätten ihre Brüste fast seinen Körper berührt.

Er lachte leise. „Sie beobachtet alles, was wir tun“, sagte er. „Und wenn du einverstanden bist, würde ich gern noch etwas länger so bleiben …“

Er ließ seine Nase an ihrem Hals hinaufgleiten. Seine Lippen waren ihrer Haut so nah, dass sie eine Spur des Verlangens zogen.

Lily stöhnte leise; sie konnte es nicht verhindern. Falls das nicht bald aufhörte, würde sie ihn anflehen, die Show für Audrey zu beenden und sie endlich richtig zu küssen.

Sie stellte sich vor, wie seine Lippen sich leicht öffneten und dann genau die Stelle an ihrer Halsbeuge berührten, die bereits vor Verlangen brannte. Sie stellte sich vor, wie seine warmen, feuchten Lippen ihren Hals liebkosten, während sein harter Körper sich an sie presste …

Lilly ließ sich an ihn sinken. Der Druck seiner Arme verstärkte sich langsam – fast so, als müsste er sich zwingen, die Situation nicht auszunutzen.

Er blies seinen Atem in ihr Ohr. Seine Lippen streiften ihre Schläfen, bevor er sich langsam zurücklehnte.

Lilly bemühte sich, ein Stöhnen zu unterdrücken. „Hat sie genug gesehen?“ Darum ging es schließlich. Nur darum.

„Hat sie.“ Er grinste und sah sie dabei so an, wie ein Mann eine gute Freundin ansieht. „Ich hoffe, das war okay? Ich meine, ich hoffe, ich habe dich nicht gekränkt …“

„Nein, natürlich nicht. Das fällt alles unter Nachbarschaftshilfe.“

„Sie ist jetzt weg … Ich sollte wieder an die Arbeit gehen. Nochmals vielen Dank, Lily.“

„Keine Ursache.“

Sie wartete, bis sie den Rasenmäher wieder laufen hörte, bevor sie sich gegen den Schrank lehnte, zu Boden glitt und die Beine von sich streckte. Sie schloss die Augen und ließ noch einmal jede Sekunde vor ihrem geistigen Auge ablaufen.

Jede Sekunde einer Begegnung, die so aufregend gewesen war wie nichts zuvor in ihrem Leben.

4. KAPITEL

Jake hatte ihnen nicht nachspioniert.

Wirklich nicht.

Er hatte Audrey Graham beobachtet, die Frau, die immer diese winzigen Tops trug und sich quasi auf seinen Onkel gestürzt hatte – vor ein paar Tagen, morgens in der Küche. Mrs. Graham hatte eine sechzehnjährige Tochter, die meilenweit außerhalb seiner Liga war und ihn in der Schule keines Blickes würdigte.

Aber – ein Junge durfte ja wohl hoffen, oder?

Er beobachtete, wie Mrs. Graham zu Lilys Haus hinübersah. Was auch immer sie dort sah, schien sie nicht sonderlich glücklich zu machen. Was mochte es sein? Und dann sah er sie.

Seinen Onkel und Lily.

Es sah so aus, als ob Nick Lilys Hals leckte. Und es schien Lily zu gefallen.

Frauen mochten es, wenn man ihnen den Hals leckte?

Jake runzelte die Stirn.

Er wusste nicht viel von Frauen, aber mit Sicherheit hatte er davon noch nie etwas gehört. Den Hals küssen, ja. Aber lecken? Natürlich hatte er kein Problem damit, es zu versuchen. Er war offen für so gut wie alles, vor allem, wenn es um Andie Graham ging. Er würde ihr jeden Wunsch von den Augen ablesen und ihr williger Sklave sein, falls es ihm jemals gelingen sollte, dass sie ihn als Lebewesen wahrnahm und ihn nah genug an sich heranließ, dass er etwas mit ihrem herrlichen Hals anfangen konnte.

Jake sah noch einmal zu seinem Onkel und Lily. Er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Einerseits wollte er nicht, dass sein Onkel Andies Mutter wütend machte – nur für den Fall, dass Andie vielleicht eines Tages bereit sein sollte, ihn wahrzunehmen. Und er mochte Lily. Sie war sweet. Sie war nett und verständnisvoll – und konnte die tollsten Toffees machen. Er wollte nicht, dass irgendjemand ihr wehtat.

Vor ein paar Tagen hatte er seinen Onkel morgens in der Küche in einer heißen Szene mit Mrs. Graham gesehen. Das würde Lily sicher nicht gefallen, wenn sie es wüsste. Frauen teilten nicht gern, das hatte er schon gehört.

„Entschuldige – ich suche das Malone-Haus. Ist es das?“

Für einen Moment glaubte Jake zu träumen. Die Stimme kannte er doch. Er hatte von ihr geträumt. Und nicht nur von der Stimme!

Betont langsam drehte er sich herum und überzeugte sich davon, dass es wirklich Andie Graham war, die da vor ihm stand. Und die ihn tatsächlich angesprochen hatte!

„Äh …“ Er musste einmal tief durchatmen. Sie trug knappe Shorts und ein kleines, weißes Top mit Spaghetti-Trägern. Wahnsinn!

Sie warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. Wahrscheinlich hielt sie ihn für ziemlich beschränkt.

„Das Malone-Haus?“, wiederholte er und hasste seine Stimme für dieses furchtbare Kieksen, das sich nicht mehr bemerkbar gemacht hatte, seit er vierzehn war.

Sie nickte nur, als fürchte sie, jedes Wort könne zu viel sein für ihn.

„Das ist mein Haus.“ Es konnte nicht sein, dass sie seinetwegen gekommen war.

Sie runzelte die Stirn. Entweder glaubte sie ihm nicht oder war wirklich verwirrt. „Ist Nick Malone dein Dad?“

„Nein, mein Onkel.“

„Oh. Und das ist euer Haus?“ Sie deutete auf das Haus von Lily.

„Nein, das daneben.“

„Ach so. Ich dachte …“ Sie wirkte ganz anders als die blonde Prinzessin in seinen Träumen. Eher wie ein echter Mensch, der echte Probleme hatte wie jeder andere. „Ich suche meine Mom.“

Dachte sie, ihre Mom sei da bei seinem Onkel? Dass die beiden etwas miteinander hatten?

„Sie ist da drüben.“ Verblüfft sah Jake, dass die Frau nicht mehr da war. „Dort hat sie gerade noch gestanden.“

Andie seufzte: „Glaubst du, sie ist ins Haus gegangen?“

„Nein, mein Onkel ist nicht da.“

„Oh.“ Andie seufzte. „Ist er verheiratet?“

„Nein.“ Jake verstand nicht, was die Frage sollte.

„Na ja … danke. Ich … ich bin dann mal …“ Sie musterte ihn fragend. „Kenne ich dich irgendwoher?“

Jake schüttelte den Kopf, bis ihm bewusst wurde, dass dies seine große Chance war. Sie nahm ihn wahr – und sei es nur, weil er ihr helfen konnte, ein Haus zu finden. „Ich bin Jake. Jake Elliott. Wir gehen zur selben Schule. Ich meine … Zumindest glaube ich das. Jefferson?“

„Ja, ich gehe zur Jefferson High. In welcher Klasse bist du?“

„In der neunten.“ Er wusste, sie war in der zehnten. Unerreichbar weit über ihm.

„Aha.“ Sie nickte. „Ich muss jetzt meine Mom suchen. Man sieht sich.“

„Man sieht sich.“ Fasziniert sah er ihr nach: die langen braunen Beine – die extrem knappen Shorts – das lange, blonde Haar, das mit jedem Schritt hin und her flog. Er wünschte, das ganze Gespräch noch einmal haben zu können – ohne dass er sich wieder wie ein Idiot anhörte.

Andie hatte mit ihm gesprochen!

Sie kannte seinen Namen und wusste, wo er wohnte!

Er würde in dieser Nacht wieder von ihr träumen – noch intensiver als zuvor.

Okay, das war vielleicht nicht die beste Idee gewesen, die er je gehabt hatte.

Nick war wieder in seinem eigenen Haus, verborgen vor forschenden Blicken und mehr als ein paar Zentimeter von Lily entfernt.

Von der unglaublich sinnlichen Lily.

Er schnitt eine Grimasse. Sinnlich war keine Bezeichnung, die für eine unkomplizierte Nachbarschaft sprach. Schon gar nicht mit einem Teenager im Haus, der davon träumte, Frauen mit nach Hause zu bringen.

Nein, Lily in den Arm zu nehmen und ihren Hals – wenn auch nur scheinbar – zu liebkosen, war eindeutig keine gute Idee gewesen. Aber es hatte sich gut angefühlt. Sehr gut sogar.

Nick versuchte an etwas anderes zu denken. An alles andere, nur nicht daran, wie lange es her war, seit er ein Verhältnis mit einer Frau gehabt hatte. Und daran, wie wenig wahrscheinlich es war, dass er Lily Tanner jemals in seinem Bett haben würde.

Audrey mit ihrem knappen Jogging-Outfit – die hätte er haben können, das wusste er, aber sie wollte er nicht.

Er vermutete, dass Lily außer Reichweite war. Mit Sicherheit hatte sie noch nie in ihrem Leben eine flüchtige Affäre gehabt. Sie war einfach zu süß, zu nett, zu freundlich.

Überhaupt nicht sein Typ.

Und doch … sie war hübsch, keine Frage. Sie hatte langes, blondes Haar und ein offenes, freundliches Lächeln. Sie wirkte irgendwie echt. Genau, das war es. Sie war echt und nett und dabei unglaublich sinnlich.

Er holte sich ein Glas Wasser aus dem Kühlschrank.

Verdammt, Lily.

Sie hatte sich so weich und zerbrechlich unter seinen Händen angefühlt. Hatte so gut geduftet. Sie hatte leicht gezittert und war auch ein bisschen rot geworden.

Nick hatte an sich halten müssen, nicht gleich in der Küche über sie herzufallen. Er trank einen großen Schluck von dem kalten Wasser, aber es schien ihn nicht abzukühlen.

Im Geiste ging er die Frauen durch, die am Tag des Einzugs vor seinem Haus aufgetaucht waren, um ihm Essen, Getränke und – unausgesprochen – ihre Gesellschaft anzubieten. Sicher gab es doch wenigstens eine Frau darunter, mit der er sich mehr hätte vorstellen können.

Aber er ertappte sich immer wieder dabei, dass er sehnsüchtig zu Lilys Haus sah.

Er musste sich einfach von ihr fernhalten. Das war alles.

Er musste sich um Jake kümmern, den Nachlass seiner Schwester regeln und herausfinden, ob genügend Mittel da waren, die drei Jungen durch das College zu bringen. Und wenn dann noch Zeit blieb, konnte er sich um sein eigenes Leben kümmern.

Aber erst dann. Das sollte doch wohl reichen, um zu verhindern, dass er mit seinen Gedanken bei einer sinnlichen Frau weilte.

Drei Tage später.

Lily zeigte Jake, wie er an der vierten Wand im Esszimmer die alten Tapeten lösen konnte.

Und er begann sie nach Audrey Graham auszufragen.

Sie runzelte die Stirn. Verfolgte die Frau Nick immer noch? Sogar nach dem … nach der Show in ihrer Küche? Die Erinnerung daran ließ sie innerlich erbeben. Es war einfach nur gut gewesen. Unglaublich prickelnd.

Besser als die herrlichsten noch ofenfrischen Toffees …

„Du kennst sie doch, oder?“ Jake duzte sie inzwischen ebenfalls.

„Ja, ich kenne sie.“ Lily musste ein Stöhnen unterdrücken. „Belästigt sie deinen Onkel?“

Jake sah sie verwirrt an. „Ich weiß nicht. Vielleicht.“

Lily wandte sich wieder den Tapeten zu. Warum habe ich bloß gefragt? Sie hatte Audrey Graham nicht beim Nachbarhaus herumlungern sehen, aber das hieß nicht, dass sie nicht da gewesen war. Audrey konnte sehr beharrlich sein. Vielleicht hatte Lily sie einfach verpasst.

Dann wiederum fragte sie sich, ob Jake sie irgendwie warnen wollte. Vielleicht war Audrey tatsächlich da gewesen, und Nick hatte sich nicht von ihr belästigt gefühlt, sondern genoss ihr Interesse. Hatte Audrey irgendetwas getan, um seine Meinung zu ändern?

Lily hasste den Gedanken, Nick könne mit Audrey zusammen sein. Und sie hasste die Vorstellung, sie zusammen sehen zu müssen. Sie zu hören. An sie zu denken. Nick in einer Umarmung mit Audrey Graham?! Lily wusste nicht, ob sie schreien oder weinen wollte.

„Ist alles in Ordnung?“ Jake sah sie aufmerksam an.

„Natürlich“, log Lily und hoffte, dass sie halbwegs überzeugend klang.

„Mrs. Graham hat doch eine Tochter, oder?“ Jake schien wieder ganz vertieft in das Abkratzen der alten Tapetenreste.

„Stimmt.“ Hatte sie die ganze Unterhaltung völlig missverstanden? War sie so besessen von Nick Malone, dass sie völlig falsche Schlüsse gezogen hatte? „Ich glaube, sie besucht dieselbe Highschool wie du.“

Jake lief rot an.

Lily begriff.

Die Graham-Frauen fesselten Männer jedes Alters.

„Kennst du Andie?“, fragte sie, nachdem sie sich von ihrer Verblüffung erholt hatte.

„Äh … ja. Ich glaube nicht, dass sie sich an mich erinnert. Aber … ich habe sie schon gesehen.“

„Ist sie nicht zu alt für dich, Jake?“ Der Junge war hinreißend. Falls Andie auch nur annähernd so war wie ihre Mutter, würde sie ihn am ausgestreckten Arm verhungern lassen, ohne sich etwas dabei zu denken. Lily wollte nicht mit ansehen müssen, wie er verletzt wurde.

„Sie ist nur ein Jahr älter als ich.“

Lily nickte.

„Weißt du, was sie so unternimmt?“, fragte er. „Ich meine, wo sie abhängt oder so?“

„Ich glaube, ich habe sie ein paar Mal im Einkaufszentrum gesehen.“ Um zu verhindern, dass er jetzt jede freie Minute dort in der Hoffnung verbrachte, das Mädchen zu sehen, setzte Lily rasch hinzu: „Soweit ich weiß, hat sie einen Freund, der das College besucht. Er ist im letzten Jahr mit der Highschool fertig geworden.“

„Oh.“ Jake war sichtlich enttäuscht.

Lily ertrug den Anblick nicht. Sie musste ihn irgendwie ablenken. „Wie wäre es, wenn wir eine Pause machen, und ich fange an, das Abendessen vorzubereiten?“

„Essen?“ Das war sein Stichwort.

„Du darfst dir etwas aussuchen.“ Wenn er schon nicht Andie Graham haben konnte, dann wenigstens ein gutes Abendessen.

Jake entschied sich für ein Reisgericht mit Huhn, das ihm in der vergangenen Woche besonders gut geschmeckt hatte.

Lily hatte doppelt so viel eingekauft wie in der Vorwoche. Es überraschte sie immer wieder, wie viel er essen konnte, und sie wollte genug kochen, um ihm eine Portion für Nick mitgeben zu können. Sie beschloss, Jake das Kochen beizubringen, denn sonst bestand die Gefahr, dass die beiden nicht überlebten. Immer nur Pizza oder Gerichte vom Chinesen konnten auf Dauer nicht gut sein.

Jake schnitt gerade das Hähnchenfleisch klein, und Lily stellte die Zutaten zusammen, als ihre beiden Mädchen lauthals streitend die Küche stürmten.

„Kannst du nicht!“ Ginny eilte zum Kühlschrank.

„Kann ich doch!“ Brittany machte einen so süßen Schmollmund, dass Lily an sich halten musste, um nicht laut zu lachen.

„Was ist es denn, was Brittany nicht kann?“ Lily bedachte ihre älteste Tochter mit einem Blick, der sie noch vor Kurzem eingeschüchtert hätte, der aber zunehmend seine Wirkung verlor.

„Sie kann kein Pferd zum Geburtstag bekommen!“, erklärte Ginny triumphierend.

„Ein Pferd?“ Lily sah ihre kleine Tochter fassungslos an.

Brittanys Augen füllten sich langsam mit großen Tränen. Sie wusste nur zu gut, wie sie ihren Willen bekommen konnte. „Mattie Wright hat auch ein Pferd bekommen“, schluchzte sie. „Und Reitstiefel. Und Reitstunden. Zu ihrem Geburtstag.“

„Der Vater von Mattie Wright hat eine große Farm, Darling. Dort kann das Pferd leben. Wir haben keinen Platz dafür.“

„Aber im Garten wäre doch Platz genug!“, beharrte die Kleine.

„Nein, er ist zu klein.“

„Dann nehmen wir eben ein kleines Pferd. Ein Baby-Pferd. Das braucht weniger Platz.“

Ginny lachte. „Du bist doch doof. Ein kleines Pferd wird ganz schnell groß, Brittany. Das weiß doch jeder.“

Brittany begann nun richtig zu weinen.

Jake versuchte zu helfen. „Weißt du, Brittany, Pferde sind richtig groß. Und sie können einem Angst machen. Einer meiner Brüder hat mal auf einem Pferd gesessen, und er ist heruntergefallen. Das Pferd hat aus Versehen auf ihn getreten und ihm die Nase gebrochen.“

„Wirklich?“ Brittany schien skeptisch.

Jake nickte. „Vielleicht wäre es besser, zu warten, bis du etwas größer bist.“

Jake sah Lily an, um zu erkunden, ob er sich zu weit vorgewagt hatte. Schließlich hatte er damit angedeutet, Brittany könne vielleicht später ein Pferd bekommen.

Lily nickte. Ihr war alles recht, solange es ihre Tochter im Moment von ihrer Pferde-Idee abbrachte.

„Gibt es denn nicht etwas anderes, das du dir zum Geburtstag wünschen könntest?“, hakte Jake nach.

„Na ja …“ Brittany seufzte schwer. „Vielleicht ein Baumhaus.“

„Ein Baumhaus?“ Lilys Begeisterung hielt sich in Grenzen.

„Genau.“ Brittany strahlte, als sei es die tollste Idee überhaupt.

„Kennst du dich mit dem Bau von Baumhäusern aus?“ Jake sah seinen Onkel fragend an, als sie drei Tage später gemeinsam beim Abendessen saßen.

Nick sah ihn verblüfft an. „Willst du ein Baumhaus haben?“

„Ich nicht, aber Lilys kleine Tochter. Sie hat in der nächsten Woche Geburtstag. Ich habe gehört, wie sie mit Lily darüber gesprochen hat.“

„Oh.“

Lily.

Bleib auf Distanz zu Lily!

Vielleicht sollte er sich ein Neonschild zulegen, das ihm die Botschaft immer wieder vor Augen hielt.

„Was ist? Kennst du dich damit aus?“, hakte Jake nach.

„Nicht wirklich. Ich meine, wir hatten eins, als deine Mutter und ich klein waren, aber es war eigentlich nicht viel mehr als eine Plattform in einem Baum und eine Leiter, mit der man hinaufsteigen konnte.“

„Glaubst du, ich könnte eins bauen?“, fragte Jake, bevor er sich eine Gabel voll Curry Chicken in den Mund schob.

„Hast du so etwas schon einmal gemacht?“

„Nicht wirklich.“

„Dann solltest du nicht mit etwas in einem Baum anfangen. Das muss solide verankert werden, besonders, wenn kleine Mädchen darin herumklettern und spielen.“

„Das hat Lily auch gesagt“, erklärte Jake mit halb vollem Mund. „Deswegen traut sie sich nicht zu, es selbst zu bauen.“

„Hmm.“ Nick überlegte. Bleib auf Distanz! Bleib auf Distanz! Bleib auf Distanz!

Es wäre ihm so viel leichter gefallen, sich an sein Mantra zu halten, wenn er nicht immer daran denken müsste, wie sie sich in seinen Armen angefühlt hatte!

„Könntest du das machen?“

„Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist, Jake.“ Nick überlegte fieberhaft, welchen Vorwand er vorschieben konnte. Schließlich konnte er nicht gut sagen, dass er sich zu Lily hingezogen fühlte. Und zwar mehr, als ihm lieb war.

„Wieso nicht?“, wollte Jake wissen.

„Ach, ich habe einfach sehr viel zu tun. Wir sind gerade erst eingezogen, und es muss noch viel gemacht werden.“ Nick fragte sich, ob der Junge ihn durchschaute und wusste, dass er Lily aus dem Weg zu gehen versuchte, aber Jake sah ihn nur merkwürdig an.

„Die Kleine hat wirklich ein blödes Jahr hinter sich“, sagte er. „Ihr Vater ist ausgezogen, und sie hat Geburtstag. Sie wollte ein Pferd, aber Lily hat gesagt, das geht nicht. Dann hat sie sich ein Baumhaus gewünscht und … ich weiß nicht. Ich möchte einfach nicht, dass sie an ihrem Geburtstag traurig ist. Ich möchte ihr helfen.“ Jake war kurz davor, in Tränen auszubrechen.

Nick hatte das Gefühl, dass es hier um weit mehr ging als um Lilys Tochter. Wenigstens zum Teil ging es auch darum, dass Jake seine Eltern verloren hatte und sich deswegen ziemlich schlecht fühlte. Er brauchte irgendetwas, das ihm Freude machte. Es rührte Nick, dass der Junge sich Gedanken um andere Menschen machte. Was machte man in einer solchen Situation mit einem Teenager? Nahm man ihn in den Arm? Klopfte ihm auf die Schulter? Nick sagte, was ihm in den Sinn kam. „Ich finde es toll von dir, Jake, dass du ihr helfen willst. Deine Mutter wäre stolz auf dich.“

„Glaubst du?“

„Ganz bestimmt.“

„Dann hilfst du also bei dem Baumhaus?“ Jake ließ ihm keinen Ausweg.

„Wir überlegen uns was“, versprach Nick.

Vielleicht konnte er helfen, ohne selbst dabei zu sein. Irgendwie aus der Ferne. Oder vielleicht konnte Lily wegfahren, und er und Jake konnten in der Zeit das Ding bauen – ohne Lily oder ihren verführerischen Hals in der Nähe.

Das war doch vielleicht die rettende Idee.

5. KAPITEL

„Ein ganzes Wochenende für dich, was?“ Marcy lachte vielsagend am Telefon, während Lily die Sachen ihrer Töchter für die Tage mit ihrem Vater neu packte. „Was hast du vor?“

„Nichts weiter.“ Lily fragte sich, wie ihre Jüngste das Wochenende ohne Socken, ohne Unterwäsche und ohne Pyjama bestreiten wollte, stattdessen aber mit drei Haarschleifen und einem halben Dutzend Spielsachen. Also wirklich!

„Lily, du kannst nicht einfach herumsitzen und erwarten, dass das Leben zu dir kommt. Du musst auch mal rausgehen und dem Leben eine Chance geben“, erklärte Marcy energisch.

„Vielleicht gebe ich meinem Friseur eine Chance“, bemerkte Lily geistesabwesend, während sie die Unterwäsche für Brittany einpackte.

Marcy seufzte schwer, so als sei Lilys Leben eine Last, die sie zu schultern habe.

„Ich gehe gern zum Friseur“, versicherte Lily ihr. Sie liebte die Ruhe im Salon, liebte es, ihr Haar waschen und sich die Kopfhaut massieren zu lassen. Der Gedanke an den Genuss ließ sie aufseufzen.

„Was war das denn?“, wollte Marcy wissen.

„Ich habe daran gedacht, wie der Friseur mir den Kopf massiert.“

„Ist er zufällig Hetero und Single?“

Lachend ging Lily auf die Knie, um unter dem Bett nach Brittanys zweitem Schuh zu suchen. „Schön wär’s!“ Sie schloss die Augen und sah sich förmlich vor Wohlbehagen seufzend im Salon sitzen, während starke, männliche Hände sie massierten und durch ihr Haar fuhren …

Unwillkürlich begann sie genüsslich zu stöhnen. Ihr Fantasie-Friseur beugte sich über sie und hob eine ihrer Haarsträhnen an seine Nase, um ihren Duft einzusaugen. Dann glaubte sie seinen warmen Atem an ihrem Hals zu spüren. Sie sah in den Spiegel. Sah …

Nick!

„Ahhhh!“ Mit einem Schlag kehrte Lily in die Wirklichkeit zurück.

„Dein Friseur muss ja wirklich ein Kracher sein!“, sagte Marcy.

„Vergiss es!“, warnte Lily. Sie hatte nicht die Absicht, Marcy von ihrem Nachbarn zu erzählen. Von ihrem Nachbarn, der so getan hatte, als küsse er sie, um sich eine andere Frau vom Hals zu halten. Und seitdem hatte sie sehr verstörende, sinnliche Träume von ihm.

Das war alles.

„Wenn du mir nicht sofort alles erzählst …“

„Ich muss los“, unterbrach Lily ihre Schwester. „Ich habe Richards Wagen auf der Einfahrt gehört.“

Lily beendete das Gespräch und schnappte sich die Taschen der Mädchen, um damit nach unten zu eilen. Sie hasste dieses Ritual der Kinder-Übergabe. Dabei bemühte sie sich, freundlich zu sein, aber es fiel ihr schwer.

Die Mädchen waren im Wohnzimmer und spielten am Computer. Lily rief ihnen zu, dass ihr Vater gekommen war, und eilte zur Haustür. Sie wollte alles so schnell wie möglich hinter sich bringen, auch wenn sie jetzt schon wusste, dass das Haus ihr anschließend unheimlich ruhig vorkommen würde.

Richard stand neben seinem Wagen und musterte das Haus, so als versuche er herauszufinden, was es im Moment wert sein mochte.

„Die Mädchen kommen gleich“, sagte Lily rasch. „Ich habe ihre Taschen kontrolliert. Sie haben alles dabei, was sie brauchen, einschließlich Ginnys Medikamente, falls sie …“

„Warte, Lily …“

Sie sah ihn fragend an.

„Ich kann sie an diesem Wochenende nicht nehmen.“

„Was soll das heißen?“

„Es geht nicht. Mir ist etwas dazwischengekommen.“

„Richard, Brittany hat Geburtstag!“

„Der ist erst am nächsten Donnerstag. Dann komme ich vorbei. Oder am Tag vorher.“

„Du hast versprochen, an diesem Wochenende mit ihr in den Zoo zu gehen – als ihr Geburtstagsgeschenk. Sie freut sich seit zwei Wochen darauf!“

„Tut mir leid, aber mein Job geht vor.“

Jake stand in der offenen Küchentür und sah hinaus, als Nick nach unten kam, um nachzusehen, ob noch Reste vom Abendessen da waren.

„Was ist los?“

„Lilys Exmann macht ihr Probleme.“

Nick sah, wie Lily sich auf ihrer Auffahrt mit einem Mann in einem erkennbar teuren Anzug unterhielt. Sie sprachen so leise, dass er nichts verstehen konnte, aber die Miene des Mannes gefiel ihm nicht. Und auch nicht, wie nah er Lily war.

„Bist du sicher, dass es ihr Exmann ist?“

„Ja, er sollte die Mädchen an diesem Wochenende nehmen, aber er macht einen Rückzieher.“ Jake schien das Gefühl zu haben, sich verteidigen zu müssen. „Ich bin gerade nach Hause gekommen, als er kam, und ich wollte nur sehen, ob mit Lily alles in Ordnung ist.“

Nick legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Das ist gut. Ein Mann sollte sich immer um eine Frau kümmern. Was hast du sonst noch gehört?“

„Er will nicht einmal ins Haus kommen und es den Mädchen selbst sagen. Das soll Lily für ihn tun.“

Nick hatte die Wahl: Er konnte sich von Lily fernhalten und aufhören sich zu fragen, wie ein Mann es fertigbringen konnte, sie zu verlassen. Sie und ihre Mädchen.

Oder er konnte etwas tun.

Und Nick war ein Mann der Tat, wenn jemand sich einer Frau gegenüber in seinen Augen falsch verhielt. Aber Lily machte den Eindruck, sehr wohl für sich einstehen zu können. Und vielleicht war sie ihm alles andere als dankbar, wenn er sich einmischte. Möglicherweise wollte sie nicht einmal, dass er wusste, dass sie sich mit ihrem Exmann stritt.

„Lass uns eine Minute warten und sehen, wie es sich entwickelt.“

„Wieso? Der Kerl ist ein Vollidiot“, murrte Jake.

Richard wedelte mit einem Finger vor Lilys Gesicht herum und stieß ihn ihr dann in die Schulter.

Nick sah rot.

„Du hast recht“, knurrte er. „Du gehst ins Haus und holst die Mädchen.“

Jake zögerte. „Sicher?“

„Der Kerl soll es ihnen selbst erklären. Mal sehen, ob er den Mut dazu hat.“

„Aber …“

„Geh schon. Ich komme mit. Ich werde mit ihm fertig.“

Lily sah Nick und Jake erst, als Jake an ihr vorbeiging und in ihrer Küche verschwand. Sie wollte ihn gerade fragen, was er vorhabe, als Nick ihr lässig einen Arm um die Schulter legte – so, als begrüße er sie jeden Tag auf diese Art.

„Hi, Lily. Alles in Ordnung?“ Nick hauchte ihr einen Kuss auf die Schläfe.

Richard wich drei Schritte zurück. Der Finger, mit dem er Lily fast zur Weißglut getrieben hatte, verschwand. Und überhaupt – der Mann schien vor ihren Augen zu schrumpfen und mit jedem Moment jämmerlicher zu werden.

Lily war so froh darüber, Richard auf dem Rückzug zu erleben, dass sie ihren gerade noch kaum bezwingbaren Wunsch vergaß, ihm eine Faust ins Gesicht zu rammen. Seit Monaten musste sie alles allein schultern, hatte niemanden, der ihr half oder in der Not zur Seite stand. Sie musste an sich halten, Nick Malone nicht vor Dankbarkeit um den Hals zu fallen und ihn gleich hier auf der Einfahrt zu küssen.

Lily widerstand der Versuchung und beschränkte sich darauf, sich entspannt an Nick zu lehnen. „Richard und ich haben nur eine kleine Meinungsverschiedenheit. Er möchte die Mädchen am Wochenende nicht nehmen, obwohl sie alles gepackt haben.“

„Oh.“ Nick tat so, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, dass er sich an dieser Unterhaltung beteiligte. „Das muss ja wirklich wichtig sein, wenn es einen Mann davon abhält, für seine Töchter da zu sein. Besonders an diesem Wochenende.“

Richard kam langsam wieder zu sich. „Wer sind Sie denn überhaupt?“, erkundigte er sich herablassend.

„Nick Malone. Lilys neuer Nachbar.“ Er bezeichnete sich als Nachbar, aber sein Arm um ihrer Schulter besagte etwas anderes.

Richard schien verwirrt. „Du hast mir nicht gesagt, dass du mit jemandem zusammen bist, Lily.“

„Ich wusste nicht, dass es dich interessiert, Richard.“ Lily bedachte den Mann, der ihren Exmann einfach nur erbärmlich aussehen ließ, mit einem strahlenden Lächeln.

In dem Moment ging die Tür hinter ihnen auf. Die Mädchen kamen heraus.

Nick löste sich augenblicklich von Lily.

Brittany strahlte ihren Vater an und umarmte ihn, während Ginny sich etwas zurückhielt – wie sie es immer tat, seit er ausgezogen war.

Brittany begann sofort von dem Zoo-Besuch zu reden, den Richard ihnen offensichtlich versprochen hatte.

Lily hätte ihren Exmann erwürgen mögen. Sie begriff, dass Nick bewusst dafür gesorgt hatte, dass Richard sich seinen Töchtern stellen musste. Wie auch immer – es würde sehr schmerzhaft für die Mädchen sein. Und sie wusste nicht, wie sie dazu stand, dass Nick Richard unter Druck setzte.

Sie wollte gerade einspringen und den Mädchen etwas erklären, als Richard schon selbst begann, unbeholfen und sichtlich gezwungen.

Lily kochte vor Wut.

Er brachte es wirklich fertig, es den Mädchen direkt ins Gesicht zu sagen. Das hätte sie nicht für möglich gehalten. Diese Ratte!

Ginny wirkte nicht sonderlich überrascht, aber Brittany protestierte heftig. „Du hast es versprochen!“ Tränen traten ihr in die Augen.

Richard setzte noch einmal neu an und sah dann flehend zu Lily.

Er erwartete Hilfe? Von ihr? Das war doch wirklich das Letzte! Nick war es, der die Situation – und den Tag – rettete.

„Lily“, sagte er, sah dabei aber Brittany an, „vielleicht ist es doch besser, wenn die Mädchen an diesem Wochenende hier sind. Ich meine, es sollte eine Überraschung sein, aber schließlich ist es ein Geschenk für Brittany. Wenn sie hier ist, kann sie selbst sagen, wie sie es gern hätte und vielleicht sogar beim Bauen helfen. Das würde doch Spaß machen.“

„Was?“ Brittanys Augen waren noch tränennass, aber das Wort Geschenk hatte ihr Interesse geweckt.

„Sie bauen etwas für meine Tochter?“, fragte Richard empört.

Nun war es plötzlich seine Tochter. Lily jubilierte innerlich. Richard erinnerte sich nicht einmal daran, was seine Tochter sich wünschte, obwohl sie es ihm gesagt hatte, aber Nick wusste es offensichtlich.

„Ja, wir machen uns ein schönes Wochenende damit.“ Nick klang so, als könne er es kaum erwarten, damit anzufangen. „Heute überlegen wir uns, wie das Baumhaus aussehen soll, und dann fahren wir in den Baumarkt und holen alles, was wir brauchen. Morgen früh fangen wir an zu bauen. Was meinst du dazu, Brittany?“

„Du und Jake – ihr wollt mein Baumhaus bauen?“ Sie zog die Nase hoch und trocknete ihre Tränen.

„Es sollte eine Überraschung sein, aber vielleicht ist es besser so. Wenn du hier bist“ – er warf Richard einen vernichtenden Blick zu – „kannst du uns genau sagen, wie du es haben willst.“

Lily beobachtete, wie der Ausdruck der Kleinen von traurig und empört umschwenkte zu glücklich und aufgeregt. Ginny wirkte einfach nur erleichtert, und Jake schien hoch erfreut. Offensichtlich hatte er Nick alles erzählt.

„Ja, ich will helfen.“ Brittany strahlte Nick an.

„Okay. Dann lass uns in den Garten gehen und sehen, welcher Baum infrage kommt.“

Sie schob ihre kleine Hand in Nicks.

Lily sah Richard lächelnd an. „Man sieht sich – irgendwann.“

Er wirkte völlig irritiert und verwirrt. „Dies war mein Wochenende mit den Kindern.“ Er schrie es fast.

„Richtig, aber du hast ja keine Zeit.“

„Wer zum Teufel ist dieser Mann?“

„Unser neuer Nachbar. Ein wirklich netter Mann, findest du nicht?“

Damit ließ Lily ihren Exmann vor Wut kochend stehen und folgte den anderen in den Garten.

Nick hatte bereits jedem eine Aufgabe zugeteilt.

Brittany war auf dem Weg in ihr Zimmer, um ein Buch zu suchen mit einem Bild von einem Baumhaus, wie sie es haben wollte.

Ginny holte einen Zollstock aus der Küche, und Jake eine Leiter.

Nick stand an den größten Baum ihres Gartens gelehnt und sah Lily unsicher entgegen. Er wusste nicht so recht, was er erwarten sollte. „Bist du jetzt böse auf mich?“, fragte er leise, als Lily zu ihm trat.

„Nein, wieso sollte ich?“

„Weil ich mich eingemischt habe, obwohl es mich nichts anging. Ich habe deinem Exmann den Eindruck vermittelt, zwischen uns sei etwas. Habe ihn gezwungen, ehrlich zu den Mädchen zu sein. Und habe deiner Tochter ein Baumhaus versprochen, ohne zu wissen, ob du das überhaupt willst.“

Lily nickte. „Ganz schön viele Vergehen.“

„Du hättest also ein Recht, wütend zu sein.“ Er lächelte verlegen. „Aber ich hätte mich nicht eingemischt, wenn er dir nicht den Finger in die Schulter gedrückt hätte. Außerdem habe ich ihn ja nicht geschlagen, obwohl mir danach war …“

„Okay. Aber ich wäre schon mit ihm fertig geworden. Schließlich ist er mein Exmann. Irgendwann war ich verrückt genug, ihn zu heiraten und Kinder mit ihm zu haben. Also muss ich jetzt mit ihm klarkommen.“ Sie wollte nicht daran denken, wie unglaublich gut es tat, dass ein Mann sie zu beschützen versuchte.

„Entschuldige bitte“, sagte Nick. „Ich habe einfach ein Problem damit, zuzusehen, wie ein Mann eine Frau angreift.“

Lily war sich nicht sicher, ob sie Richards Geste so weit interpretieren wollte, aber sie beließ es dabei.

„Sag mir in Zukunft, dass ich mich heraushalten soll, und dann tue ich das“, versprach er. „Es sei denn, er wird handgreiflich, dann muss ich einfach damit leben, dass du wütend auf mich bist.“

„Okay, abgemacht.“ Sie lachte. „Was hast du gesagt, was machst du beruflich, Nick?“

„Ich glaube nicht, dass ich das erwähnt habe.“

„Mommy?“ Ginny kam zu ihnen gerannt und hielt ihnen einen Zollstock hin. „Ist das das Ding, das ihr braucht?“

Lily nahm ihn ihr ab. „Das ist genau richtig, mein Schatz.“

Ginny sah Nick an. „Ich habe Papier und Stift vergessen. Das hole ich gleich.“

Ehe Lily sie aufhalten konnte, rannte Ginny zurück ins Haus. Alles nur, weil ein Mann ein paar Wünsche geäußert hatte!

Lily sah ihn fragend an. „Lass mich raten. Polizist?“

„Ich war lange bei der Army“, gestand er. „In den letzten Jahren dann beim FBI.“

„Oh.“ Das war ja noch gefährlicher, als sie gedacht hatte. Aber es passte. Ein Mann, der es nicht ertrug, wenn jemand Hand an eine Frau legte. Ein Mann, der es gewohnt war, sich mit unangenehmen Situationen auseinanderzusetzen.

„Ich habe mich beurlauben lassen, um mich erst einmal um Jake kümmern zu können“, erklärte er. „Während der letzten drei Jahre habe ich in Washington in der Vermissten-Fahndung gearbeitet und hatte oft mit gefährlichen Menschen zu tun.“

„Richard ist Versicherungsagent. Völlig ungefährlich.“

„Man kann nie wissen, wie Menschen unter Druck reagieren – und eine Scheidung ist nun einmal eine Stresssituation, in der alle möglichen Gefühle hochkochen. Dann können Menschen Dinge tun, die man ihnen sonst niemals zugetraut hätte.“

„In dieser Hinsicht dürften wir sicher sein, denn Gefühle hat Richard für die Mädchen und mich schon lange nicht mehr. Wir sind ihm nur noch lästig.“

Nick gab Lily einen Moment, um sich wieder zu fangen.

Dankbar lehnte sie sich gegen den Stamm des Baumes und zwang sich, tief durchzuatmen. Schließlich war sie eine starke, selbstbewusste Frau. Zumindest hatte sie das gerade vorgegeben, bevor sie sich fast in Tränen aufgelöst hatte bei dem Gedanken, dass ihr Exmann keinerlei Gefühle mehr für sie und ihre Kinder empfand.

„Alles in Ordnung?“ Nick legte einen Arm um ihre Schultern.

Lily versuchte sich gegen die Gefühle zu wehren, die er in ihr auslöste. Sie versuchte es wirklich.

Autor

Wendy Warren

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