Bianca Gold Band 40

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  • Erscheinungstag 21.07.2017
  • Bandnummer 0040
  • ISBN / Artikelnummer 9783733733445
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Barbara Hannay, Diana Whitney, Marie Ferrarella

BIANCA GOLD BAND 40

PROLOG

Es würde nicht leicht werden, Gus von dem Baby zu erzählen, das wusste Freya.

Gus war ehrgeizig, und in ihren stundenlangen Gesprächen über die Zukunft hatte er ihr deutlich klargemacht, dass er vor seinem dreißigsten Lebensjahr auf keinen Fall Kinder haben wollte. Trotzdem versuchte Freya während der ganzen Fahrt von Sugar Bay nach Brisbane, sich einzureden, dass Gus seine Meinung bestimmt ändern würde, wenn sie ihm die Neuigkeit erzählte. Unmöglich, dass er ihr gemeinsames Baby nicht haben wollte. Bestimmt würde alles gut werden.

Fünf Stunden dauerte die Zugfahrt, und so hatte Freya Zeit genug, sich das Wiedersehen mit Gus vorzustellen. Währenddessen knabberte sie trockene Cracker, um gegen ihre morgendliche Übelkeit anzukämpfen.

In ihrer Fantasie geriet die Wiedersehensszene ein bisschen verschwommen, doch Gus selbst sah sie klar vor sich. Seine Sommerbräune war sicher schon ein wenig verblasst, nun, wo er in der Stadt studierte und den ganzen Tag in Vorlesungen und Seminaren herumsaß. Anscheinend hockte er selbst an den Wochenenden über seinen Büchern, denn er war zu beschäftigt gewesen, um Freya zu besuchen.

Sie stellte sich sein volles dunkles Haar vor, das ihm immer in die Stirn fiel, was sie unglaublich süß fand. Am deutlichsten konnte sie sich vorstellen, wie seine dunklen Augen aufleuchten würden, wenn er sie sah.

Wahrscheinlich würde er sie Floss nennen, das war der lustige Spitzname, den er ihr, kurz nachdem er in Sugar Bay angekommen war, verpasst hatte. Er würde sie mit seinem unwiderstehlichen Lächeln ansehen und sie dann so fest in die Arme nehmen, dass sie seinen Herzschlag spüren könnte. Sie würde den Duft seiner Haut einatmen, und sofort wäre ihre aus den Fugen geratene Welt wieder in Ordnung.

Später, wenn sie dann allein waren, würde sie bestimmt den Mut finden, es ihm zu sagen.

Wenn Gus sich erst einmal an den Gedanken gewöhnt hatte, Vater zu werden, würden sie gemeinsam überlegen, wie sie das mit dem Baby hinkriegten, und dann wäre die Zukunft kein beängstigendes schwarzes Loch mehr.

Kein Grund, sich Sorgen zu machen.

1. KAPITEL

Als am späten Freitagnachmittag das Telefon in Gus Wilders Büro klingelte, war er mit den Gedanken schon halb im Wochenende.

„Ein Ferngespräch für dich, Boss“, sagte Charlie vom Empfang. „Eine Freya Jones aus Sugar Bay in Queensland.“

Freya Jones.

Blitzartig fühlte Gus sich von seinem mobilen Büro im äußersten Norden Australiens an einen kleinen Küstenort in Queensland versetzt. Er war wieder achtzehn Jahre alt und stand vor der tosenden Brandung, neben ihm ein wunderschönes Mädchen, das ihn mit seinen meergrünen Augen lachend ansah.

Zwölf Jahre war es her, seit er von Sugar Bay weggegangen war, und seitdem hatte er Freya nicht mehr gesehen. Natürlich erinnerte er sich an sie, sehr gut sogar.

Jeder erinnerte sich doch an den süßen, zerbrechlichen Zauber der ersten Liebe.

Seit damals war viel passiert. Er hatte sein Studium beendet und in einem anderen Erdteil gearbeitet, und er hatte glückliche und schwierige Zeiten in der Liebe erlebt. Freya hatte sich gewiss auch verändert. Sicher war sie verheiratet. Irgendein Glückspilz hatte sie sich mittlerweile bestimmt geangelt.

Er konnte sich nicht vorstellen, weshalb sie ihn nach so langer Zeit anrief. Gab es vielleicht ein Klassentreffen? Oder schlechte Nachrichten von einem ihrer Mitschüler?

„Willst du das Gespräch nicht entgegennehmen, Boss?“, kam die Stimme seiner Assistentin.

„Doch, doch.“ Gus schluckte, weil ihm plötzlich die Kehle eng war. „Stell Freya durch.“

Dann hörte er ihre Stimme. „Gus?“

Erstaunlich. Noch immer schaffte sie es, selbst eine einzige Silbe melodisch klingen zu lassen. Schon immer war ihre Stimme so gewesen – hell, gefühlvoll, sinnlich.

„Hallo, Freya.“

„Du bist sicher überrascht, von mir zu hören. Eine geballte Ladung Vergangenheit.“

Jetzt klang sie nervös, ganz anders als das lachende, selbstbewusste Mädchen, an das Gus sich erinnerte. Ein ganzer Schwall von Fragen lag ihm auf der Zunge, aber instinktiv ließ er das übliche „Wie geht es dir?“ beiseite und fragte direkt: „Was kann ich für dich tun, Freya?“

Ein leises Seufzen kam vom anderen Ende der Leitung. „Ich fürchte, das ist nicht so einfach am Telefon zu erklären. Es ist aber sehr wichtig, Gus. Wirklich sehr wichtig. Ich … können wir uns irgendwo treffen?“

Er war so überrascht, dass er nicht gleich antworten konnte. „Ja, sicher“, sagte er schließlich. „Aber ich bin gerade ziemlich beschäftigt. Wann wolltest du mich denn treffen?“

„So schnell wie möglich.“

Ganz klar, hier ging es nicht um ein Klassentreffen. Gus warf einen kurzen Blick aus dem Fenster seines behelfsmäßigen Büros auf das Buschland, das sich endlos bis zu den roten Klippen am Horizont ausstreckte. „Du weißt sicher, dass ich hier oben in Arnhemland bin, oder?“

„Ja, ich habe gehört, dass du ein Siedlungsprojekt bei einem Stamm der Aborigines betreust.“

„Ja, das stimmt.“ Es war ein sehr wichtiges und anspruchsvolles Projekt und erforderte von Gus sehr viel diplomatisches Geschick. „Im Moment kann ich hier unmöglich weg. Um was geht es denn?“

„Ich könnte zu dir kommen.“

Gus schluckte. Wieso wollte Freya denn zu ihm? Nach so vielen Jahren? Was um Himmels willen konnte denn plötzlich derart wichtig sein?

Er stellte sich Freya vor, wie sie früher gewesen war, mit langem, von der Sonne gebleichtem braunen Haar und bronzefarbener Haut, meistens im Bikini, ein langes Baumwolltuch lose um die schlanken Hüften geschlungen. Selbst wenn sie ihre Hippieattitüde mittlerweile abgelegt hatte, würde ihre Erscheinung garantiert einen Aufruhr auf seiner männerdominierten Baustelle verursachen.

„Das könnte etwas schwierig werden“, erwiderte er. „Wir sind hier so ungefähr im entlegensten Winkel von Australien.“

„Gibt es keine Flüge dorthin?“

„Nein, zumindest keine Linienflüge.“

„Oh.“ Das klang ziemlich enttäuscht.

Gus zog eine Grimasse und strich sich über das Kinn. „Du hast gesagt, es sei sehr wichtig.“

„Ja, das ist es.“ Nach einer kleinen Pause fügte Freya mit leiser, ängstlicher Stimme hinzu: „Es geht um Leben und Tod.“

Sie verabredeten sich in Darwin, der Hauptstadt dieses nördlichsten Bundesstaates. In vielerlei Hinsicht war es ein idyllischer Fleck für ein Wiedersehen, besonders an einem Samstagabend bei Sonnenuntergang, am Ende eines milden tropischen Winters. Über dem Hafen glühte der Himmel in grellem, mit Goldfäden durchwebtem Rosa. Die Palmen an der Promenade sahen aus wie tanzende Silhouetten, und die Farben des Himmels spiegelten sich auf der ruhigen Wasseroberfläche.

Doch Freya hatte kaum Augen für diese wundervolle Szenerie.

Auf der Hotelterrasse saßen nur wenige Leute. Sie war etwas zu früh dran, und so setzte sie sich an einen der freien Tische, um auf Gus zu warten. Nervös wippte sie mit dem Fuß und hielt krampfhaft ihre Handtasche umklammert.

Sie hasste diese nervösen Anwandlungen, denn normalerweise war sie sehr entspannt. Schließlich war sie in der freizügigen, lockeren Atmosphäre eines Badeortes aufgewachsen und machte Yoga und meditierte.

Doch ihr Gleichmut hatte sie an dem Tag verlassen, als sie ihn am meisten gebraucht hätte – als der Arzt ihr die Diagnose mitteilte.

Freya schloss die Augen und atmete tief durch, während sie an ihren Sohn dachte, der zu Hause bei ihrer Mutter Poppy war. Falls Nick nicht gerade mit Urchin, seinem Hund, im Sonnenuntergang am Strand entlanglief, lag er bestimmt auf dem Teppich im Wohnzimmer und spielte mit seinem solarbetriebenen Grashüpfer-Roboter. Nebenan in der Küche kochte Poppy wahrscheinlich das Abendessen und verwendete dafür so viel Gemüse, wie sie sich traute, damit Nick das Essen noch mochte.

Schon jetzt vermisste Freya ihren Sohn. Noch nie war sie so weit von ihm entfernt gewesen, und wenn sie an die schwierige Aufgabe dachte, die vor ihr lag, dann wurde ihr ganz weinerlich zumute. Himmel, jetzt bloß nicht schwach werden!

Du schaffst das. Du musst es schaffen. Für Nick.

Alles würde sie für ihren Sohn tun, sogar Gus Wilder nach so langer Zeit die Wahrheit sagen.

Dieser Gedanke rief erneut einen Angstschauder hervor. Gus ausfindig zu machen und ihn anzurufen war relativ einfach gewesen, doch der schlimmste Teil stand ihr noch bevor.

Ein großer, auffallend gut aussehender Kellner ging mit einem Tablett voller Drinks an Freya vorbei und schenkte ihr ein bewunderndes Lächeln. „Darf ich Ihnen einen Drink bringen, Madam?“

„Noch nicht, danke. Ich warte auf …“ Der Rest des Satzes blieb unausgesprochen, denn Freya spürte plötzlich einen Kloß im Hals.

Hinter dem Kellner sah sie einen Mann durch die geöffnete Glastür auf die Terrasse treten.

Gus.

Groß, dunkelhaarig, im weißen Hemd, das seine gebräunte Haut betonte. Vielleicht nicht mehr ganz so schlank wie in ihrer Erinnerung, aber so gut aussehend und attraktiv, dass alle Frauen auf der Terrasse ihm ihre Blicke zuwandten.

Nein, Angus Wilder war mit den Jahren keineswegs uninteressanter geworden.

Was für ein Mann er wohl heute war? Wie viele Gräben mochten sich mit den Jahren zwischen ihnen aufgetan haben? Und wie würde er auf ihre Nachricht reagieren?

Während er sich einen Weg zwischen den Tischen hindurchbahnte, kamen ihr blitzlichtartig Erinnerungsbilder in den Sinn. Gus mit sechzehn an seinem ersten Schultag in Sugar Bay, wie er verzweifelt versuchte, sein Eliteschulen-Image loszuwerden. Gus, triumphierend auf dem Sportplatz, nachdem er seiner Mannschaft mit einem Treffer zum Sieg verholfen hatte.

Und sie sah sich selbst, wie sie beim Abschlussball in seinen Armen tanzte, berauscht vor Glück. Dann sie beide, wie sie im Mondschein Hand in Hand am Strand entlangliefen. Ihr wahnsinnig romantischer erster Kuss …

Plötzlich stand Gus vor ihr, beugte sich über sie und küsste ihre Wange. „Freya, wie schön, dich zu sehen.“

Er roch angenehm frisch, als hätte er gerade geduscht und ein dezentes Aftershave benutzt. Seine Lippen fühlten sich warm auf ihrer Haut an.

Ohne Vorwarnung fingen Freyas Augen an zu brennen. „Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen, Gus.“ Sie blinzelte heftig, um die Tränen zurückzuhalten. Das war nicht der Zeitpunkt, um nostalgisch zu werden. Sie musste Haltung bewahren und sich auf ihr Ziel konzentrieren. „Danke, dass du gekommen bist.“

Er rückte sich einen Stuhl zurecht und setzte sich. Dann streckte er die langen Beine aus und lehnte sich zurück, als versuche er bewusst, entspannt zu wirken. Sein Lächeln war zurückhaltend, aber in seinen braunen Augen lag ein warmer Ausdruck. „Wie geht es dir?“, fragte er und fügte schnell hinzu: „Du siehst fantastisch aus.“

Sie fühlte sich von seinem Kompliment geschmeichelt, doch sie antwortete nur: „Danke, mir geht es gut. Und dir? Was macht deine Arbeit?“

„Danke, beides läuft hervorragend.“ Sein Lächeln war nun schon weniger zurückhaltend, doch sie sah an seinem Hals, wie er nervös schluckte. „Ich vermute, du lebst immer noch in Sugar Bay?“

„Ja.“ Sie lächelte ihn scheu an und schnippte dann mit einer lässigen Kopfbewegung ihr Haar nach hinten. „Immer noch ein Beachgirl.“

„Es steht dir.“

Freya befeuchtete ihre Lippen, als sie sich innerlich darauf vorbereitete, ihm die Wahrheit zu gestehen.

Gus durchbrach das kurze Schweigen. „Wie geht es deiner Mutter?“

„Danke, gut. Sie wohnt immer noch in dem schiefen kleinen Haus am Strand und hat ihr Hippie-Leben nicht aufgegeben.“

Er betrachtete sie forschend, und Freya musterte ihn ebenfalls intensiv, obwohl ihr der Magen wie zugeschnürt war. Seine Augen waren immer noch genauso dunkel und eindringlich, und wie früher fiel ihm das Haar unablässig in die Stirn.

Unwillkürlich zog sich ihre Brust wehmütig zusammen. Sie hatte Gus Wilder so sehr vermisst. Zwölf Jahre lang war sie von seinem Leben abgeschnitten gewesen. Sie wusste nur, dass er lange in Afrika gearbeitet hatte. Wo genau war er gewesen? Was hatte er alles gesehen und erlebt? Welche Frauen hatte er geliebt?

„Ich weiß, du willst etwas sehr Wichtiges mit mir besprechen“, sagte Gus, „aber wollen wir uns zuerst was zu trinken bestellen?“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, winkte er dem Kellner.

„Was darf ich Ihnen bringen?“ Der Kellner benahm sich wesentlich reservierter, seit Gus neben Freya saß.

„Ein Bitter Lemon, bitte“, sagte Freya.

„Und ich nehme ein Weizenbier.“

„Sehr gern, Sir.“

Nachdem der Kellner gegangen war, entstand ein unbehagliches Schweigen, und Freya war klar, dass Gus darauf wartete, dass sie zu reden anfing. Wenn sie nicht gleich den Grund für dieses Treffen nannte, würde es immer schwieriger werden. Sie faltete die Hände im Schoß und holte tief Luft.

„Ich bin dir sehr dankbar, Gus, dass du hergekommen bist. Du fragst dich sicher, weshalb ich dich um ein Treffen gebeten habe. Es ist so … ich möchte dich um deine Hilfe bitten, das heißt, ich hoffe, dass du mir helfen kannst.“

„Du hast gesagt, es ginge um Leben und Tod.“

Sie nickte.

„Ich hatte gehofft, dass du ein bisschen dramatisiert hast.“

„Leider nicht.“

Der letzte Rest von Lächeln verschwand aus Gus’ Gesicht. Er beugte sich vor und nahm ihre Hand. „Was ist los, Freya? Was ist passiert?“

Seine Berührung war so sanft und sein Blick so besorgt, dass sie die Augen schließen musste. Vor zwölf Jahren hatte sie nicht den Mut gehabt, dieses Thema anzusprechen, und jetzt war es noch hundertmal schwerer. Wenn sie darüber nachdachte, wie ungeheuerlich es war, was sie ihm zu sagen hatte, dann fing ihr Herz an zu rasen, und ihr Magen rebellierte.

„Bevor ich es dir erzähle, muss ich dich etwas fragen. Bist du verheiratet?“

Einen ungeeigneteren Moment hätte der Kellner sich nicht aussuchen können, um die Getränke zu bringen. Freya zuckte zusammen und schlug die Augen nieder, als er die Gläser vor sie hinstellte.

Sie griff nach ihrer Handtasche, aber Gus kam ihr zuvor. „Das geht auf mich.“

„Eigentlich bin ich dran, wo du extra so weit hergekommen bist.“

Aber er hatte das Geld schon parat und gab es dem Kellner, und sie wollte nicht anfangen zu diskutieren. Daher bedankte sie sich und rührte mit dem Strohhalm in ihrem Drink herum, wobei die Eiswürfel aneinanderklirrten und die Limonenscheiben sich im Glas drehten.

Stirnrunzelnd nahm Gus sein eiskaltes Bierglas in die Hand. „Jetzt bin ich aber neugierig. Was hat denn mein Familienstand mit deinem Problem zu tun?“

Sie merkte, wie ihre Wangen zu glühen anfingen. „Es könnte … alles noch komplizierter machen. Wenn du verheiratet wärst, dann hätte deine Frau vielleicht etwas dagegen, dass du mir hilfst.“

Ach du lieber Himmel, sie redete sich um Kopf und Kragen. Kein Wunder, dass Gus reichlich verwirrt aussah. Sie wünschte, sie könnte einen Weg finden, ihm einfach alles zu erzählen, ohne herumzustammeln und nach Erklärungen zu suchen. Über den Weltfrieden zu verhandeln, war bestimmt einfacher.

Gus blickte auf ihre rechte Hand. „Bist du denn verheiratet?“

„Nein, ich bin immer noch ledig.“

Er machte große Augen. „Das überrascht mich aber. Ich war fest überzeugt, dass du inzwischen in festen Händen bist.“

Ich habe den Männern nie eine Chance gegeben, dachte Freya.

Gus stellte sein Glas ab und sah sie direkt an. „Ich habe vor drei Jahren geheiratet.“

Sie hatte sich innerlich gewappnet und war überzeugt, dass es ihr nichts ausmachen würde. Hier ging es schließlich nicht um verletzten Stolz. Doch es machte ihr etwas aus. Sehr viel sogar. Jetzt würde Gus ihr Problem mit seiner Frau besprechen müssen, und sie konnte nicht damit rechnen, dass diese genug Mitgefühl aufbringen würde.

Gus schluckte schwer, ehe er mit leiser Stimme hinzufügte: „Meine Frau ist gestorben.“

„Oh.“ Freya brachte nur ein Flüstern zustande. Sie war überwältigt von einer Flut von Gefühlen – Mitleid, weil Gus seine Frau verloren hatte, gepaart mit Eifersucht auf die Frau, die sein Herz erobert hatte, und Erleichterung, dass nun eine Hürde weniger zu überwinden wäre. „Das tut mir sehr leid, Gus. Warst du lange verheiratet?“

„Ungefähr ein Jahr. Wir haben uns in Afrika kennengelernt, wo wir zusammengearbeitet haben. Monique war Französin – sie war Ärztin bei der Organisation Ärzte ohne Grenzen.“

Seine Frau war also klug und mutig gewesen, mit viel Unternehmungsgeist und voller Ideale. Mit anderen Worten, genau wie Gus. Sie hatte perfekt zu ihm gepasst. „Wie traurig für dich.“

„Erzähl mir doch einfach, was du auf dem Herzen hast“, bemerkte Gus leicht ungeduldig.

„Mein Sohn ist in großen Schwierigkeiten“, schoss es aus ihr heraus.

„Dein Sohn?“, wiederholte Gus, offensichtlich schockiert.

Plötzlich kamen die ganze Anspannung und Sorgen der letzten Wochen in ihr hoch. Ihre Lippen fingen an zu zittern, und Freya musste ihre ganze Kraft aufwenden, um nicht zusammenzubrechen.

„Du bist also eine alleinerziehende Mutter?“

Sie konnte nur nicken, denn ihr Hals war wie zugeschnürt.

„Genau wie deine Mutter.“

Wieder nickte sie, froh, dass in seiner Stimme nicht die geringste Verachtung zu spüren war. Aber Gus war nie ein Snob gewesen – im Gegensatz zu seinem Vater, der auf die Hippies von Sugar Bay herabgeblickt hatte.

Aber natürlich hatte er recht mit seiner Feststellung. Freya war in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten. Genau genommen hatte Poppy ihre Tochter sogar ermutigt, ihr Kind allein großzuziehen.

Wir kriegen den Kleinen schon groß. Schließlich habe ich das bei dir ja auch ganz gut hingekriegt. Zusammen schaffen wir das. Ich finde, wir sind uns sehr ähnlich. Wir sind beide dazu bestimmt, unabhängig zu sein. Du brauchst keinen Mann, mein Schatz.

Leider hatte Poppy sich geirrt, denn es kam der schreckliche Tag, an dem keiner von ihnen beiden ihrem Sohn helfen konnte. Und Freya hatte keine andere Wahl, als einen Mann um Hilfe zu bitten, Nicks Vater.

Gus betrachtete sie aufmerksam, mit einer Mischung aus Verwirrung und Besorgnis. „Hast du noch Kontakt zu dem Vater deines Sohnes?“

Das war zu viel. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Viel zu lange hatte sie damit gewartet, es ihm zu erzählen – zwölf Jahre zu lange –, und jetzt würde es ihn wie ein Schlag treffen. Es war so unglaublich schwer. Sie wollte ihn doch nicht verletzen.

Aber es musste sein.

Indem sie mühsam um Fassung rang, wandte sie das Gesicht von ihm ab und blickte auf die ruhige See, die gesprenkelt war von den fantastischen Farben des Sonnenuntergangs. Sie blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten, und ihre Kehle war wie zugeschnürt.

Neben ihnen erschien eine Gruppe junger Leute. Sie lachten ausgelassen und riefen sich witzige Bemerkungen zu, als sie die Tische zusammenrückten und sich in einem fröhlichen Kreis zusammensetzten. Solche Szenarien erlebte Freya sehr häufig vor dem Pub am Strand von Sugar Bay. Früher waren sie und Gus auch Teil einer solch lustigen Clique gewesen.

Plötzlich fand sie die Vorstellung schrecklich, dass sie mitten unter all den Leuten in Tränen ausbrechen und Gus in Verlegenheit bringen könnte. „Bitte entschuldige. Macht es dir etwas aus, wenn wir woanders hingehen, wo wir ungestört sind? Wir könnten vielleicht einen Spaziergang machen.“

„Ja, gern. Es macht mir gar nichts aus.“

Bereitwillig stand er auf, und sie gingen die wenigen Stufen zur Promenade hinunter, die sich um die gesamte Bucht von Darwin erstreckte.

Draußen vor der Bucht jagten Motorboote entlang, und die hellen Segel der Jollen blähten sich in der leichten Brise. Freya verschränkte die Arme vor der Brust, während der Wind mit ihrem Haar spielte.

Gus ging neben ihr her, die Hände in den Hosentaschen. „Alles in Ordnung, Freya?“, fragte er.

„Geht so.“ Noch einmal holte sie tief Luft, bevor sie den Sprung ins kalte Wasser wagte. „Du hast mich gefragt, ob ich noch Kontakt mit dem Vater meines Sohnes habe.“

„Ja.“

„Ich habe keinen Kontakt mehr zu ihm.“

Sie sah ihn verstohlen von der Seite an und bemerkte das plötzliche Erkennen in seinen Augen. Abrupt blieb er stehen, und als er sie ansah, war jede Farbe aus seinem Gesicht gewichen. „Wie alt ist der Junge?“

Seine Stimme klang kalt und gefährlich ruhig, und Freyas Herz pochte so laut, dass es ihr in den Ohren dröhnte.

„Er ist elf – knapp elfeinhalb.“

Gus schüttelte den Kopf. „Nein, das geht nicht.“

Er starrte sie an, ungläubig und ärgerlich, und in seinen Augen las sie schon die Ablehnung dessen, was sie ihm gleich erzählen würde.

2. KAPITEL

Gus fiel das Atmen schwer. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen oder gar verstehen, was in ihm vorging. Doch sein Bauch sagte ihm ganz deutlich die Wahrheit, die Freya noch nicht ausgesprochen hatte.

Er hatte einen Sohn. Einen elfjährigen Jungen.

„Es tut mir so leid, Gus.“ Freya stand vor ihm auf dem Pfad und rang die Hände, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen.

Seine Gedanken schweiften zurück in die Vergangenheit. Zu jenem letzten Sommer, den er in Sugar Bay verbracht hatte – drei zauberhafte Ferienmonate zwischen dem Highschool-Abschluss und dem Beginn des ersten Semesters an der Universität –, als er und Freya unzertrennlich gewesen waren.

Zwölf Jahre waren inzwischen vergangen, und in mancherlei Hinsicht war Gus die Zeit wie ein ganzes Leben vorgekommen. Doch jetzt fühlte es sich für ihn an wie ein Leben im Exil.

Ein paar Mal ging er unruhig vor ihr auf und ab, dann blieb er vor ihr stehen. „Sag es, Freya. Spuck es aus. Dieser Junge ist mein Sohn, richtig?“

Mit erhobenem Kopf und gestrafften Schultern blickte sie ihm in die wütend blitzenden Augen. „Ja, Nick ist dein Sohn.“

„Nick?“

„Nicholas Angus ist der volle Name.“

Sein Herz verkrampfte sich vor Schmerz, Wut und Enttäuschung – ein Ansturm von Gefühlen, der ihn zu überwältigen drohte. Er drehte Freya den Rücken zu und rang mühsam um Fassung. Während er keuchend ein- und ausatmete, blies ihm der Seewind ins Gesicht.

Er versuchte, sich seinen Sohn vorzustellen, diesen Jungen, den er nie gesehen hatte. Sein eigenes Fleisch und Blut. Verflucht, er wusste noch nicht einmal, wie dieses Kind aussah.

Das war doch vollkommen verrückt.

Die Gedanken schwirrten ihm wahllos durch den Kopf. Er hatte einen Sohn. Ein Junge brauchte doch seinen Vater. Mit welchem Recht hatte Freya ihm seinen Sohn vorenthalten?

War es umgekehrt genauso? Wusste der Junge überhaupt etwas von ihm?

Gus wirbelte herum und blickte Freya herausfordernd an. „Warum? Warum zum Teufel hast du mir nichts davon erzählt?“ Er merkte, wie ärgerlich seine Stimme klang, aber so fühlte er sich auch. Genau genommen war er stinksauer. „Hast du es für dich behalten, weil du deinen Vater auch nicht gekannt hast? Ist das so eine Art verquere Tradition in deiner Familie?“

„Nein, natürlich nicht.“ Ihr Protest klang nicht sehr überzeugend.

„Warum dann? Warum hast du mir nicht erzählt, dass ich einen Sohn habe?“

„Ich dachte …“ Freya machte eine hilflose Geste, dann ließ sie die Arme sinken und stieß einen frustrierten Seufzer aus. „Ich habe es versucht, Gus. Ich wollte es dir wirklich erzählen, das musst du mir glauben.“

„Und wann soll das gewesen sein?“, rief er aufgebracht und ließ keinen Zweifel daran, dass er ihr nicht glaubte.

„Am Tag, als ich dich in der Universität besucht habe.“

Fassungslos öffnete er den Mund, als ihn die Erinnerung an diesen Tag mit peinlicher Klarheit überfiel. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt, und ein mulmiges Gefühl, das sich verdächtig nach schlechtem Gewissen anfühlte, breitete sich in seiner Magengegend aus.

Über die Jahre war die Erinnerung an Freyas plötzliches Erscheinen auf dem Santa Lucia Campus verblasst, dennoch war ein vages Unbehagen geblieben, das mit dem Tag zusammenhing, an dem sie sich zum letzten Mal gesehen hatten.

Freya drehte sich um und lief über das weiche Gras zu den Klippen hin, die das Ufer begrenzten. Als Gus sie einholte, schnäuzte sie sich gerade die Nase.

„Wir müssen darüber reden“, sagte er.

„Natürlich müssen wir das. Deshalb bin ich ja hergekommen.“ Ihre Stimme hörte sich mutlos an.

Gus hielt nach einem flachen Felsen Ausschau, und sie setzten sich nebeneinander auf den warmen Stein und blickten aufs Meer hinaus. Irgendwie erinnerte es ihn an alte Zeiten, außer dass das Meer hier viel ruhiger war als in Sugar Bay.

Freya stopfte das Taschentuch in ihre Handtasche zurück, dann atmete sie tief ein und stieß den Atem langsam wieder aus.

Gus betrachtete sie von der Seite und musste sich trotz seines Grolls und seiner Enttäuschung eingestehen, dass sie wunderschön aussah, wie sie da im Sonnenuntergang auf dem Felsen saß und aufs Meer blickte.

Sie drehte ihm den Kopf zu und sah ihn mit ihren großen, von langen Wimpern umkränzten Augen an. „Erinnerst du dich noch an den Tag, als ich zu dir in die Universität gekommen bin?“

„Natürlich.“

„Damals hatte ich fest vorgehabt, dir zu erzählen, dass ich schwanger bin.“

„Aber du hast es nicht gesagt. Nicht mal eine Andeutung.“ Er bemühte sich, ruhig zu sprechen. „Warum?“

Sie schlug die Augen nieder. „Nach so langer Zeit fällt es mir schwer, das zu erklären. Ich weiß nur, dass ich damals noch sehr jung und unreif war. Und dieses Gehabe an der Uni hat mich total verschreckt.“

Ihre Haare flatterten im Wind, und sie strich sich eine Strähne hinters Ohr. Unwillkürlich blickte Gus bewundernd auf ihr Ohrläppchen.

„Diese Reise nach Brisbane war für mich unglaublich anstrengend gewesen – die endlose Zugfahrt, und ich war ja schon um vier Uhr morgens aufgestanden. In der ersten Zeit der Schwangerschaft war mir morgens immer übel, und ich habe mich ziemlich schwach gefühlt. In Brisbane musste ich dann noch den Bus nach Santa Lucia nehmen. Und dann, als ich die Uni sah, das war so …“

Sie machte eine hilflose Gebärde, als sie nach dem passenden Wort suchte.

„Einschüchternd?“

„Ja, alles sah so groß und protzig aus. All die Sandsteingebäude mit den Säulen davor und der riesige Campus.“

Gus nickte. Inzwischen konnte er sich sehr gut vorstellen, wie ein junges Mädchen aus einem verschlafenen Badeort sich beim Anblick der Universität fühlen musste. Doch damals war auch er noch jung gewesen. Zurückblickend musste er sich eingestehen, dass er sich ziemlich unsensibel verhalten hatte.

Freya machte einen Schmollmund. „Du hast doch gewusst, dass ich komme, und ich dachte, du würdest vielleicht deine Vorlesung ausfallen lassen, um mich zu begrüßen. Aber ich musste endlos lange auf dich warten. Und als du dann aus dem Hörsaalgebäude kamst, schwirrte ein ganzer Schwarm von Verehrerinnen um dich herum.“

Gus stieg die Schamröte ins Gesicht, als er daran dachte. „Ein ganzer Schwarm war es nicht, und es waren auch noch ein paar Jungs dabei.“

Sie lachte spöttisch auf. „Ich glaube, ich war ganz schön naiv. Es hat mir einen ziemlichen Schock versetzt, plötzlich feststellen zu müssen, wie du dich verändert hast. Schließlich warst du erst sechs Wochen vorher weggegangen.“

„So viel anders kann ich doch gar nicht gewesen sein.“

„Glaub mir, Gus, du hattest dich komplett verändert. Plötzlich hattest du so ein intellektuelles Gehabe an dir und hast ständig davon geredet, wie toll du alles an der Uni findest, deine neuen Freunde und die Professoren.“

Gus schluckte schwer. Freya hatte ja so recht.

„Und die Mädchen waren alle so affig“, fuhr Freya fort. „Designer-Jeans, Perlenketten und perfektes Make-up. Ich fand es unmöglich, wie sie mich von oben herab behandelt haben.“

„Das hast du dir sicher nur eingebildet.“

Freya verdrehte die Augen, weil er offenbar nichts begriff. „Nein, sie haben mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nicht zu ihnen passe und dass du viel zu gut für mich bist.“

Gus erinnerte sich, wie Freya an diesem Tag ausgesehen hatte. Wie ein Hippiegirl aus den Siebzigerjahren in ihrem gebatikten Wickelrock, dem Fußkettchen und den flachen braunen Ledersandalen.

Ihm hatte es gefallen. So war Freya eben. Doch er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie sich gegenüber diesen Stadtmädchen fühlen musste. Zweifellos hatten die Mädchen mit ihrem ausgeklügelten weiblichen Radarsystem Signale ausgesandt, die Männer niemals verstehen würden.

Warum war er nicht aufmerksamer gewesen? Warum hatte er nicht zu seiner Freundin gestanden?

Mittlerweile konnte er das nicht mehr begreifen.

Doch Moment mal. Selbst wenn er sich unsensibel aufgeführt hatte – war das ein Grund, ihm nichts von der Schwangerschaft zu erzählen?

Er sah sie an. „Wieso bist du überhaupt schwanger geworden? Wir haben doch immer aufgepasst.“

Sie zog spöttisch die Augenbraue hoch. „Falls du dich erinnerst, warst du nicht gerade ein Experte im Umgang mit Kondomen.“

Beschämt blickte er zum Horizont, hinter dem die Sonne gerade verschwand. „Wenn du es mir erzählt hättest, wenn du mir eine Chance gegeben hättest, dann hätte ich mich der Verantwortung gestellt.“

„Ja, bestimmt hättest du das.“ Sie drehte den Riemen ihrer handgewebten Tasche zwischen den Fingern. „Aber ich wusste auch, dass du vorerst keine Kinder haben wolltest.“

„Das heißt doch nicht …“ Gus schüttelte den Kopf.

„Ich wollte nicht, dass du mich als Last empfindest. Mir wurde klar, was es für dich bedeuten würde, Vater zu werden. Dein Vater hatte so große Hoffnungen in dich gesetzt. Und du hattest selbst große Pläne. Ein Baby hätte das alles zerstört.“

„Ich hätte schon einen Weg gefunden.“

Sie blickte ihn herausfordernd an. „Sei mal ehrlich. Deine Eltern haben dich mit allen Mitteln unterstützt. Du warst ihr ältester Sohn, ihr Augapfel. Sie hätten es dir nie verziehen, wenn sie erfahren hätten, dass du ein Kind in die Welt gesetzt hast. Und wie wäre es für dich gewesen, wenn du dein Studium hättest aufgeben müssen, um Geld für den Unterhalt deiner Familie zu verdienen?“

„Ich weiß es nicht“, sagte Gus niedergeschlagen.

Eine ganze Weile schwiegen sie, dann sagte Freya leise: „Okay, wahrscheinlich war es ein Fehler, dir nichts zu erzählen.“ Sie senkte den Blick, doch Gus hatte das verräterische Glitzern in ihren Augen bemerkt. „Ich habe schon gesagt, dass es mir leidtut. Aber manchmal macht man Fehler aus den besten Absichten heraus.“

Gus seufzte schwer und fragte sich, in welchem Maße seine dominanten Eltern Freyas Entscheidung beeinflusst hatten. Die Ironie des Schicksals war, dass er nach dem Studium nicht die Karriereleiter erklommen hatte, wie sein Vater es für ihn vorgesehen hatte. Stattdessen war er nach Afrika gegangen und hatte sich voller Idealismus in die Entwicklungsarbeit gestürzt.

Neun Jahre lang hatte er sich dafür engagiert, fremden Menschen zu helfen. Natürlich benötigten sie dringend Hilfe, aber zu Hause in Australien hatte all die Jahre sein Sohn gelebt, der ihn ebenfalls gebraucht hätte.

Am liebsten hätte er seine Wut und Verzweiflung über die versäumten Jahre laut herausgeschrien. Wozu war es gut, die Welt retten zu wollen, aber für seinen eigenen Sohn keinen Finger zu rühren?

Das Schlimmste war, dass Freya versucht hatte, es ihm zu sagen. In ihrer Not war sie zu ihm gekommen, doch statt ihr rettender Prinz zu sein, hatte er sie fallen lassen.

Nicht, dass er sich an diesem Tag keine Mühe gegeben hätte. Immerhin hatte er dem Drang widerstanden, Freya heimlich für eine schnelle Nummer in sein Zimmer mitzunehmen. Stattdessen war er mit ihr in die Stadt gefahren und hatte sie in ein superteures Restaurant mit Blick auf den Brisbane River eingeladen. Allerdings hatte Freya während des Essens ziemlich angespannt gewirkt.

Wenn er jetzt zurückblickte, wurde ihm klar, dass er viel zu sehr mit sich und seiner neuen Rolle als Student beschäftigt gewesen war. Wahrscheinlich hatte er die ganze Zeit begeistert über die neue, aufregende Welt der Universität geredet und Freya gar keine Gelegenheit gegeben, von sich zu erzählen.

Schuldbewusst dachte er daran, wie erleichtert er gewesen war, als sie wieder im Zug zurück nach Sugar Bay gesessen hatte. Erst als er winkend neben dem abfahrenden Zug herlief, bemerkte er, dass ihr die Tränen über das Gesicht strömten.

Zu spät war ihm klar geworden, dass er sie enttäuscht hatte. Und heute erst begriff er, dass er ihr in seiner Ichbezogenheit keinen Raum gelassen hatte, um ihre Sorge loszuwerden. Alles in allem hatte er sich ziemlich mies benommen.

Die große Frage allerdings war: Hätte er Freya freudig einen Platz in seinem Leben eingeräumt, wenn er von dem Baby gewusst hätte?

Natürlich hatte er sie geliebt. Dieser Sommer mit ihr war seine zauberhafteste, nostalgischste Erinnerung. Doch in diesem ersten Semester an der Universität hatte es Gus genügt zu wissen, dass Freya in Sugar Bay auf ihn wartete. Er hätte gar nicht gewollt, dass sie an seinem neuen, aufregenden Leben teilnahm.

Schweigend saß er da, während ihm all diese Gedanken durch den Kopf gingen. Unter ihm schwappten leise die Wellen gegen die Felsen. Nach einer Weile sagte er: „Irgendwann hast du nicht mehr auf meine Briefe geantwortet.“

„Wir haben beschlossen, dass es besser wäre, einen glatten Bruch zu machen.“

„Wir?“ Für einen kurzen Moment dachte er, sie redete von einem anderen festen Freund. Doch dann fiel ihm Poppy ein. Freyas Mutter war immer schon eher wie eine Schwester oder eine gute Freundin gewesen. „Da hatte sicher Poppy ihre Finger im Spiel. Sie hat meine Anrufe erfolgreich abgeblockt.“

„Sie war mein Fels in der Brandung.“

Na klar, was auch sonst? dachte Gus grimmig. Poppy war bestimmt in ihrem Element gewesen. Bei einem Mann hatte sie es nie lange ausgehalten, aber für Freya und ihr Enkelkind hatte sie sich sicher die Beine ausgerissen. Wahrscheinlich hatte sie Freya sogar angestiftet, mit ihm Schluss zu machen und das Baby allein großzuziehen.

Die Quintessenz davon war, dass seine Beziehung zu Freya sang- und klanglos zu Ende ging. Nachdem sie sich nicht mehr meldete, hatte er es aufgegeben. Ohnehin füllte ihn sein neues Leben vollkommen aus.

Er und Freya hatten also vor zwölf Jahren getrennte Entscheidungen getroffen, und dafür mussten sie nun bezahlen.

Besser gesagt, der Junge, Nick, musste dafür bezahlen.

Gus blickte zum Himmel hoch, der sich inzwischen dunkelblau gefärbt hatte. Im Westen stand der Abendstern wie ein funkelnder Diamant in seiner einsamen Pracht. Als Gus ihn betrachtete, überfiel ihn schockartig der Gedanke, dass er immer noch nicht wusste, weshalb Freya ihn nach zwölf Jahren plötzlich so dringend sprechen musste. Die ganze Zeit war er nur mit der Vergangenheit beschäftigt gewesen, aber hatte sie nicht gesagt, dass ihr Sohn hier und jetzt ein Problem hätte?

Eine Sache von Leben und Tod?

Er unterdrückte einen Schreckenslaut. „Es geht noch um mehr, oder? Du hast mir noch immer nicht erzählt, warum du meine Hilfe brauchst.“

Zu seiner Bestürzung sackte Freya förmlich neben ihm zusammen, als hätte ihre Kraft sie urplötzlich verlassen. Spontan wollte er den Arm um sie legen, aber er stockte mitten in der Bewegung. „Was ist los? Ist etwas passiert?“

Sie schluchzte auf und schlug die Hände vors Gesicht.

Gus hatte das Gefühl, als würde ihm ein Messer ins Herz gestoßen. Einen Moment lang verspürte er den Drang, auf und davon zu laufen, um ihre schlechte Nachricht nicht hören zu müssen. Die Spannung war unerträglich.

Er zwang sich zu der nächsten Frage. „Ist … ist der Junge krank?“

Als Freya nickte, bohrte sich das Messer noch tiefer in ihn hinein. Leben und Tod. Vor Entsetzen stockte ihm das Blut in den Adern. Musste sein Sohn sterben?

Sein Hals schnürte sich zusammen. Nie hätte Gus es für möglich gehalten, dass er so schmerzlich für einen Jungen empfand, dem er nie begegnet war.

Freya spürte seine Bedrängnis und hob den Kopf. Die Hände im Schoß verschränkt, saß sie ganz still da und zwang sich, gefasst zu bleiben. Sie war an dem Punkt angelangt, wo es kein Zurück mehr gab. Sie durfte ihren Jungen nicht im Stich lassen.

Wie oft hatte sie sich gefragt, was sie in diesem Moment zu Gus sagen sollte. Wie sie ihm die Nachricht am schonendsten beibringen könnte. Doch jedes Mal hatte sie nur eine Antwort gefunden – sie musste ihm die schreckliche Wahrheit ganz direkt mitteilen.

Aber es fiel so schwer. Ihr war, als müsste sie vom höchsten Sprungturm in einen Fingerhut voll Wasser springen.

Sie dachte an Nick, ihren hübschen, talentierten kleinen Wildfang. Es musste sein. Sie atmete tief durch, dann sagte sie leise, aber unmissverständlich: „Nick hat Nierenversagen und braucht eine neue Niere.“

Es war schon fast dunkel, trotzdem entging Freya Nicks Reaktion nicht. Er sah aus wie ein Mann im Todeskampf, der plötzlich versteinerte.

Vor Entsetzen fing sie an zu zittern und schloss die Augen, weil sie seine Bedrängnis nicht mit ansehen konnte. Es tut mir entsetzlich leid, Gus. Aber ich habe keine andere Wahl. Bitte verzeih mir.

Das schreckliche Schweigen schien endlos zu dauern. Über ihnen kreisten die Flughunde und stießen spitze Schreie aus, als sie, lautstark mit den Flügeln schlagend, einander jagten.

Endlich fing Gus an zu sprechen, doch seine Stimme klang dumpf und leblos. „Ich nehme an, du bist auf der Suche nach einem Spender. Deshalb brauchst du mich.“

Freya versuchte zu antworten, aber es brach nur ein verzweifeltes Schluchzen aus ihr heraus. Ohne hinzusehen, kramte sie nach einem Taschentuch. „Es tut mir so leid“, sagte sie gehetzt. „Ich weiß, das ist der schlechteste denkbare Weg zu erfahren, dass man einen Sohn hat.“

„Du hast richtig gehandelt.“ Seiner Stimme war nicht anzumerken, was er fühlte.

Sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht erneut aufzuschluchzen. Es musste absolut schrecklich für Gus sein, erst zu erfahren, dass er einen Sohn hat, und gleich darauf das …

„Anscheinend kommst du als Spenderin nicht infrage.“

Freya schüttelte den Kopf. „Poppy und ich würden Nick gern eine Niere spenden, aber unsere Blutgruppen passen nicht.“ Vom Meer her kam jetzt ein kühler Wind, und Freya fröstelte.

„Wir haben beide Blutgruppe B, und Nick hat 0, also war klar, dass du auch 0 haben musst. Anscheinend kann jemand mit Blutgruppe B ein Organ von einem Spender mit Blutgruppe 0 bekommen, aber umgekehrt funktioniert es nicht.“

Sie merkte, wie Gus neben ihr unruhig wurde, und kurz darauf stand er auf. Als Freya es ihm nachtun wollte, hob er abwehrend die Hand. „Lass mir einen Moment Zeit“, sagte er mit kraftloser Stimme. „Ich muss das alles erst mal verdauen.“

„Natürlich.“

Mit finsterer Miene, die Hände in den Hosentaschen vergraben, ging er auf und ab. Der Wind zerzauste seine Haare. Schließlich blieb er stehen und starrte auf das dunkle Meer hinaus.

Freya öffnete den Mund, um etwas zu sagen, irgendetwas Tröstliches, aber ihr fiel nichts ein. Mit diesem Gefühlsansturm musste Gus wohl allein fertigwerden.

Völlig unvermittelt drehte er sich zu ihr um. Sein Gesicht war leichenblass, und seine Augen hatten einen wilden Ausdruck.

„Gus“, sagte sie erschrocken. „Ist alles in Ordnung?“

Himmel, was für eine blödsinnige Frage.

„Du machst wohl Witze.“ Er lachte bitter auf. Mit geballten Fäusten, den Körper wie ein Raubtier gespannt, kam er auf sie zu. „Natürlich ist nichts in Ordnung. Ich bin stinksauer, Freya. Auf dich, auf Poppy, auf dieses verrückte Leben, das meinem Kind so etwas antut. Und auch anderen Kindern.“

Freya saß immer noch auf dem Felsen, die angezogenen Beine fest umklammert, als wolle sie sich schützen.

Noch nie hatte sie Gus so außer sich erlebt. „Ich kann es dir nicht verdenken, dass du wütend bist.“

„Und wenn das nicht passiert wäre, hättest du mir wahrscheinlich nie von meinem Sohn erzählt, oder? Du bist nur zu mir gekommen, weil ich deine letzte Hoffnung bin.“

Was sollte Freya darauf antworten? Es war die grausame Wahrheit. Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn Gus nicht neun Jahre im tiefsten Afrika verbracht hätte … oder wenn ihr eigener Vater nicht irgendwann aus heiterem Himmel aufgetaucht wäre – als abschreckendes Beispiel.

„Verflucht noch mal, Freya, wenn du oder Poppy als Spender infrage gekommen wärt, dann hättest du mich mein ganzes Leben im Ungewissen darüber gelassen, dass ich einen Sohn habe.“

Wütend wandte er sich wieder von ihr ab. Sie konnte verstehen, dass er bis ins Mark erschüttert und verletzt war, und sie wünschte, sie hätte ihm das ersparen können. Wünschte, sie hätte sich damals anders entschieden. Doch selbst wenn sie mutiger gewesen wäre, selbst wenn alles sich auf wunderbare Weise eingerenkt hätte, wenn sie und Gus geheiratet hätten und Nick in einer Bilderbuchfamilie aufgewachsen wäre – das alles hätte Nicks Krankheit nicht verhindern können.

Gus wäre so oder so mit dieser Entscheidung konfrontiert.

Aber natürlich war es sein gutes Recht, wütend zu sein. Einen Moment lang dachte sie, er würde gleich einen Felsbrocken hochheben und ins Meer werfen. Stattdessen schlug er die Faust in seine Handfläche und stand schwer atmend da.

Als sie ihn beobachtete, schnürte der Schmerz ihr die Brust zusammen. Sein Bild verschwamm vor ihren Augen, und sie kramte nach ihrem Taschentuch.

Verlangte sie zu viel von Gus?

Er tat ihr leid. So vieles hatte er zu verkraften gehabt – den Tod seiner Frau und die anstrengende Entwicklungsarbeit und neuerdings das wichtige Bauprojekt bei den Aborigines. Wer weiß, was er noch alles für Sorgen hatte, sie wusste ja kaum etwas von ihm.

Sie dachte daran, wie sie sich gefühlt hatte, als der Arzt ihr vor ein paar Monaten die schreckliche Diagnose mitgeteilt hatte. Zu Tode betrübt und verzweifelt war sie den Strand entlanggelaufen, immer weiter. Sie hatte vergessen, einen Sonnenhut mitzunehmen, aber es war ihr egal gewesen. Nachdem sie die ganze Bucht von Sugar Bay abgelaufen war, kletterte sie über die Felsen zur nächsten Bucht und wieder zur nächsten.

Völlig erschöpft und mit einem fürchterlichen Sonnenbrand war sie nach Hause gekommen und hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Seit diesem Tag hatte sie keine Nacht mehr durchgeschlafen. Und wenn sie schlief, träumte sie von Nick – entweder, dass sie ihn verlieren würde, oder – was genauso schlimm war – dass er wieder gesund würde, weil sie dann beim Aufwachen merkte, dass es nicht stimmte. Seit Monaten nagte beständig die Angst an ihr.

Als Gus sich wieder zu ihr umdrehte, war seine Miene ernst, aber entschlossen.

Freya spürte, wie ihr nervöse Schauer über den Rücken rieselten, weil sie nicht wusste, was jetzt auf sie zukam. Sie machte Anstalten, von dem Felsen, auf dem sie saß, herunterzuhüpfen.

Doch zu ihrer Überraschung streckte Gus ihr die Hand entgegen, um ihr herunterzuhelfen. „Sei unbesorgt, Freya. Ich bin gern bereit, Nick zu helfen, wenn ich kann.“

Eine immense Welle der Erleichterung erfasste Freya. Irgendwann, in naher Zukunft, würde sie vielleicht Freudentänze vollführen, doch in diesem Moment war sie wie gelähmt. „Danke“, war alles, was sie herausbrachte.

„Du zitterst ja“, sagte Gus. Noch immer hielt er ihre Hand, und einen Augenblick lang dachte sie, er würde seinen Arm um sie legen. Ein wohliges Gefühl durchrieselte sie bei der Vorstellung, sich an ihn zu schmiegen und den Kopf an seine breite Brust zu lehnen.

Oh, wie sie sich danach sehnte, Gus Wilders starke Arme um sich zu spüren.

Als ob Gus auch nur im Traum daran dächte, sie zu umarmen. Wie dumm von ihr, sich so etwas vorzustellen. Dieses Privileg hatte sie schon vor langer Zeit verloren.

„Deine Finger sind ganz kalt“, sagte er und fing an, ihre Hände zwischen seinen warmen Handflächen zu reiben. Das gefiel ihr außerordentlich, auch wenn es nichts weiter zu bedeuten hatte.

„Wir sollten irgendwo reingehen, Freya, du bist viel zu dünn angezogen.“

„Mir war nicht klar, dass es in Darwin kühl werden könnte.“

„Und ob es hier kühl wird. An mindestens drei Tagen im Jahr müssen die Darwiner ihre Jacken anziehen.“

Bestimmt war es ein gutes Zeichen, dass er schon wieder scherzen konnte.

Er ließ ihre Hand los, und sie gingen Seite an Seite über das Gras zu dem hell erleuchteten Teerweg, der zum Hotel führte.

„So“, sagte er lebhaft, „und jetzt erzählst du mir alles, was du über Nicks Gesundheitszustand weißt. Ich will mir ein Bild machen können.“

Inzwischen hatte sie gelernt, nüchtern über Nicks Krankheit zu sprechen, so wie die Ärzte es taten. Damit konnte sie ihre schreckliche Angst gut verbergen.

„Es fing mit einer Magengrippe an. Er musste sich ständig übergeben und hatte hohes Fieber. Aus Angst, dass er zu viel Flüssigkeit verlieren könnte, bin ich mit ihm zu unserem Hausarzt gegangen. Der hat ihn nur kurz angesehen und ihn sofort ins Krankenhaus überwiesen.“

Ein Frösteln überlief sie bei der Erinnerung an diesen schrecklichen Moment. „Nick schien sich gut zu erholen, aber es wurden noch einige Bluttests gemacht, und dabei stellte sich heraus, dass seine Werte nicht in Ordnung waren.“ Sie seufzte. „Wir wurden dann an einen Facharzt in Brisbane überwiesen, und der stellte fest, dass Nick eine Krankheit hat, die sich Glomerulosklerose nennt.“

„Ein ziemlicher Zungenbrecher.“

„Ja, aber mittlerweile geht es mir problemlos über die Lippen. Nick nennt es seine globale Erderwärmung.“

„Scheint mir ein kleiner Spaßvogel zu sein.“ Gus lächelte zärtlich und traurig zugleich. „Sich über seine Krankheit lustig zu machen, dazu gehört ziemlich viel Mut.“

„Er ist unglaublich tapfer.“ Freya blinzelte, um ihre Tränen zurückzuhalten. „Im Gegensatz zu mir. Am Anfang war ich so erschüttert, dass ich ständig in Tränen ausgebrochen bin. Aber als ich gesehen habe, wie Nick damit umgeht, ist mir klar geworden, dass ich seinetwillen stark sein muss.“

Gus musste an die vielen jungen Mütter in Afrika denken, die zusehen mussten, wie ihre Kinder von Tag zu Tag schwächer wurden, und die ihre Verzweiflung hinter einer stoischen Maske versteckten. Wie schrecklich, dass Freya denselben Schmerz für ihren Sohn erleiden musste – für ihren gemeinsamen Sohn.

„Einfach ausgedrückt“, fuhr Freya fort, „bedeutet diese Krankheit, dass Nicks Nieren sich mit Narbengewebe füllen, und das führt schließlich zu totalem Nierenversagen.“

Sie waren fast am Hotel angekommen, und die Musik und das Gelächter drangen nach draußen. Freya blieb stehen.

„Seit einiger Zeit nimmt er Medikamente, die ziemlich gut wirken. Er fühlt sich viel besser, aber leider verlieren die Tabletten mit der Zeit ihre Wirkung.“ Sie sah Gus direkt an. „Deshalb braucht er eine neue Niere.“

„Der arme Junge.“ Gus schluckte schwer.

Trotz ihres Kummers musste Freya lächeln. „Von außen betrachtet, scheint es ihm gut zu gehen. Er muss nicht zur Dialyse, und mit den Tabletten kann er sogar schwimmen und mit seinem Hund herumtoben.“

„Er hat einen Hund?“

„Ja, eine hässliche Promenadenmischung, aber Nick liebt diesen Hund und verbringt jede freie Minute mit ihm.“

Gus’ Augen bekamen einen versonnenen Ausdruck, als ob er sich den Jungen mit seinem Hund vorstellte. Doch gleich darauf fragte er in nüchternem Ton: „Er weiß doch, dass er eine neue Niere braucht, oder?“

„Ja“, erwiderte Freya mit demselben Schulterzucken wie ihr Sohn, „aber es scheint ihn nicht sonderlich zu beschäftigen.“

„Das ist das Gute, wenn man noch jung ist.“ Gus seufzte.

„Wir reden nicht darüber, dass es vielleicht nicht klappen könnte. Ich habe ihm versprochen, einen Spender zu finden.“

„Hast du es schon woanders probiert?“

Freya wandte den Blick ab. „Wir stehen auf der Warteliste, aber der Arzt meint, du seist unsere größte Chance.“

Er nickte mit zusammengepressten Lippen. „Und wann soll das Ganze passieren?“

„Je eher, desto besser.“

„Dann wollen wir hoffen, dass ich ihm helfen kann.“

„Das wäre eine solche …“ Freya wollte Gus zeigen, wie dankbar sie ihm war, aber ihre Stimme versagte. Ihr war klar, was es für Gus bedeuten musste, ein funktionierendes Organ herzugeben. Aber sie wusste auch, dass es ihm peinlich wäre, wenn sie ihm jetzt überschwänglich danken würde. „Es tut mir wirklich leid, dass ich etwas so Ungeheuerliches von dir verlange. Ich weiß, es ist eine Zumutung und ich …“

Er stoppte sie mit einer Handbewegung. „Das ist keine Zumutung“, sagte er beinahe ärgerlich. „Nick ist mein Sohn.“

Freya nickte beschämt. Etwas anderes hatte sie auch nicht von Gus erwartet. Er war bereit, seinem Sohn zu helfen. Aber das hieß nicht, dass er ihr ihre Geheimnistuerei verzieh.

„Vielleicht ist heute Nicks glücklicher Tag“, fügte er mit schiefem Lächeln hinzu.

Sie lächelte ihn warm an. „Das hoffe ich sehr.“

„Sicher ist es ja nicht nur eine Frage der Blutgruppe, oder?“, fragte Gus.

„Die Blutgruppe ist das Wichtigste, aber natürlich müssen noch andere Tests gemacht werden. Was genau, weiß ich auch nicht.“

Plötzlich fiel Freya ein, dass sie gar nicht überlegt hatte, wie es nach der Aussprache mit Gus weitergehen würde. Vielleicht sollte sie ihn zum Essen einladen.

„Übernachtest du hier im Hotel?“

„Ja.“

Völlig überraschend wurde sie rot. „Und hast du heute Abend schon etwas vor?“

„Nein, eigentlich nicht.“

„Willst du … etwas essen?“

„Irgendetwas werde ich wohl essen müssen“, erwiderte er trocken.

Tat er absichtlich so, als hätte er sie nicht verstanden? Freya leckte sich über die Lippen und unternahm einen neuen Versuch. „Ich meine, wollen wir zusammen essen? Ich würde dich gern einladen.“

Seine Augen wurden schmal, und Freya hielt die Luft an. Sie merkte, dass sie große Lust hatte, mit Gus zu essen. Dabei könnte sie ihm mehr aus ihrem Leben erzählen, und sie könnten sich vielleicht ein wenig annähern.

„Danke, aber heute Abend nicht“, erwiderte Gus und holte seinen Zimmerschlüssel aus der Tasche, um die Nummer zu lesen. „Ich habe Zimmer 607. Vielleicht kannst du mich morgen früh anrufen und mir die Kontaktdaten des Arztes durchgeben.“

„Ja, natürlich.“

„Dann sage ich dir jetzt Gute Nacht.“

Freya schluckte ihre Enttäuschung hinunter. „Gute Nacht, Gus.“

Dann war ihr Treffen also schon zu Ende. Kein Kuss auf die Wange. Nicht mal ein Händedruck. Heute Abend würde es keine Annäherung mehr geben.

Vielleicht nie.

Gus nickte ihr zu, drehte sich um und betrat mit entschlossenen Schritten das Hotel.

3. KAPITEL

Gus nahm sich einen Scotch aus der Minibar und trank ihn in einem Zug. Dann bestellte er sich ein asiatisches Nudelgericht, legte sich auf das Bett und schaute sich ein Rugbyspiel an. Die Roosters spielten gegen die Dragons, und normalerweise hätte ihn dieses Spiel total gefangen genommen.

Heute Abend jedoch war er viel zu aufgewühlt. Wenigstens hoffte er, die Bilder und die Stimme des Kommentators würden ihn von seinen vielen beunruhigenden Gedanken ablenken.

Es funktionierte nicht. Nach ein paar Minuten stellte er sein Essen beiseite und schaltete den Fernsehapparat ab. Dann trat er hinaus auf den Balkon und blickte über die dunkel schimmernde Bucht, die sich vor ihm ausbreitete.

Ein paar Mal atmete er tief durch. Wenn er Nick helfen wollte, musste er zuallererst seinen Groll überwinden. Denn dadurch würde alles noch komplizierter. Es war ja nicht einmal sicher, ob er seinem Sohn überhaupt helfen konnte.

Dann würde der Junge sterben.

Verzweiflung überkam Gus, und er versuchte, sie mit vernünftigen Argumenten zu bekämpfen. Er war gesund und fit und hatte die richtige Blutgruppe, das waren immerhin gute Voraussetzungen. Was er bisher von Nierentransplantationen gehört hatte, verliefen sie meist erfolgreich.

Nur, wie sollte er den Schmerz darüber verwinden, dass er nicht hatte erleben dürfen, wie sein Sohn aufwuchs? Ihm kam es vor, als sei sein ganzes bisheriges Leben eine Lüge gewesen. Er hatte eine andere Frau geheiratet und sich um fremde Menschen gekümmert, während sein Sohn ihn vielleicht mehr gebraucht hätte.

Er konnte nur schwer akzeptieren, dass Freya ihm nichts von ihrer Schwangerschaft erzählt hatte. Noch schwieriger war es, die Gründe zu akzeptieren, die Freya ihm genannt hatte und die ihn zutiefst beschämten.

Im krassen Gegensatz zu seinen aufgewühlten Gefühlen war das Meer absolut ruhig und reflektierte ungebrochen das Mondlicht. Seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit, nach Afrika, den vielen Abenden, die er mit Monique auf der Veranda seiner äthiopischen Hütte verbracht hatte. Sie hatten das einheimische Fladenbrot und ein scharf gewürztes äthiopisches Gericht gegessen und genau denselben Mond betrachtet.

Er fragte sich, was Monique zu seiner Situation gesagt hätte.

Im Grunde wusste er genau, wie sie reagiert hätte. Als Ärztin mit einem leidenschaftlichen sozialen Gewissen hätte sie ihn auf jeden Fall unterstützt, dass er seine Niere spendete. Und als pragmatisch denkende Frau wäre sie keinen Moment eifersüchtig auf seine frühere Freundin und seinen unehelichen Sohn gewesen.

Früher hätte er Monique und Freya als zwei vollkommen gegensätzliche Menschen betrachtet. Doch heute war er nicht mehr so sicher, ob Freya, die romantische Künstlerin, vor zwölf Jahren nicht äußerst pragmatisch gehandelt hatte.

Als er hinüber zu den Klippen blickte, wo er vorhin mit ihr gesessen hatte, seufzte er tief auf.

Freya, die Sirene.

Immer war sie für ihn von einem Zauber umgeben gewesen, der auch jetzt noch wirkte. Es gab so viele Dinge, die ihn an ihr bezauberten – ihre sanfte, melodische Stimme, ihre Art, den Kopf zu halten, ihre hübschen Ohren, ihr Lächeln. Eine natürliche Schönheit umgab Freya und ließ sie so zeitlos erscheinen wie die Meerjungfrau aus dem Märchen.

Ihr einziger Schmuck war ein Band aus blauen und grünen Glasperlen an ihrer gebräunten Fessel. Damals hatten ihre Fußkettchen einen unglaublichen Reiz auf ihn ausgeübt, und das war auch heute noch so. Ebenso wie der Blick aus ihren rätselhaften graugrünen Augen sein Herz schneller schlagen ließ. Beinahe war er versucht gewesen, ihr zu verzeihen, dass sie ihm seinen Sohn vorenthalten hatte.

Doch als sie die Bombe mit Nicks Krankheit platzen ließ, begriff er, dass es hier nicht um eine Zusammenführung von Vater und Sohn ging. Freya suchte einfach nur einen Organspender, ansonsten hätte er vielleicht nie von seinem Sohn erfahren.

Und das brachte ihn derart in Rage, dass er bezweifelte, ihr jemals verzeihen zu können.

Der Mond war hinter einer Wolke verschwunden, und das Meer sah nun beinahe schwarz aus. Mit einem Mal fühlte Gus sich unbeschreiblich einsam und verletzt.

Gleich darauf meldete sich sein schlechtes Gewissen. Wenn er Freya damals mehr Beachtung geschenkt hätte, wäre sicher alles anders gekommen. Doch er hatte sich von dem Leben an der Universität blenden lassen und darüber seine Freundin vergessen.

Er seufzte. Schuldzuweisungen und Bedauern halfen in dieser Situation kein bisschen weiter. Das Einzige, was zählte, war sein Sohn. Gus konnte sich noch gut erinnern, wie er sich in Nicks Alter gefühlt hatte, mit all den Unsicherheiten, Hoffnungen und Träumen, dem veränderten Körpergefühl. Und er hatte keine lebensbedrohliche Krankheit gehabt.

Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, und er betete, dass seine Niere für Nick geeignet wäre. Dann kam ihm der Gedanke an das Danach. Falls alles gut ging, würden sie alle drei erst recht in einen Gefühlsstrudel geworfen.

Vielleicht sollte er sich einen genauen Plan überlegen, wie er all die möglichen Klippen umschiffen könnte.

Als der Mond langsam wieder zum Vorschein kam, traf Gus eine Entscheidung. Er würde alles nur Menschenmögliche für seinen Sohn tun, aber zu dessen Mutter eine klare emotionale Distanz halten. Obwohl er Freya immer attraktiv finden würde, durfte er auf keinen Fall der Versuchung erliegen.

Normalerweise machte es Freya nichts aus, allein zu essen.

Obwohl sie einige mehr oder weniger feste Bekanntschaften gehabt hatte, war sie daran gewöhnt, ohne männliche Begleitung auszugehen. Heute Abend jedoch, als die Kellnerin sie an einen Zweiertisch führte und das zweite Besteck entfernte, fühlte sie sich seltsam verunsichert.

Es war lächerlich, aber sie hatte das Gefühl, alle Leute würden ihr ansehen, dass sie einen Mann eingeladen hatte und zurückgewiesen worden war.

Ehrlich gesagt war sie gar nicht so sicher, ob sie darüber erleichtert oder enttäuscht sein sollte. Bestimmt war es am besten, wenn sie und Gus Abstand hielten.

Dummerweise waren bei Gus’ Anblick sofort ihre Gefühle und Sehnsüchte wieder erwacht. Die Wärme seiner Hände und seine tiefe, angenehme Stimme gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf, und sie sehnte sich danach, diesen wundervollen Mund wieder zu küssen. Früher war sie bei seinen Küssen dahingeschmolzen.

Vehement verdrängte sie diese Gedanken. Es wäre wirklich das Dümmste, was ihr einfallen könnte, sich in dieser Situation erneut in Gus zu verlieben.

Davon abgesehen würde sie nur wieder den Kürzeren ziehen. Wie er von seiner verstorbenen Frau gesprochen hatte, die so mutig, großzügig und selbstlos gewesen war – würde sie niemals seinen Ansprüchen genügen können.

Sie hatte keine andere Wahl, als ihre romantischen Erinnerungen zu begraben, so wie sie es vor zwölf Jahren getan hatte.

Als die Kellnerin zurückkam, um die Bestellung entgegenzunehmen, hatte Freya noch gar nicht in die Karte geschaut. Aufs Geratewohl bestellte sie eine gegrillte Forelle und einen gemischten Salat, und weil sie sich ein bisschen entspannen wollte, noch ein Glas Wein.

Während sie auf das Essen wartete, schickte sie eine Nachricht an ihren Sohn, dass sie morgen Abend wieder zu Hause wäre. Seinen Vater erwähnte sie nicht.

Als sie nach Darwin geflogen war, hatte sie Nick nur von einem möglichen Spender erzählt. Bisher hatte sie sich noch keine Gedanken darüber gemacht, wie sie den zweiten großen Schritt bewältigen sollte, nämlich Nick von Gus Wilder zu erzählen.

Wenn es ihr bloß gelänge, es ihm schonend beizubringen, ohne dass er sich zu viele Hoffnungen machte. Aus eigener Erfahrung wusste sie, wie enttäuschend Begegnungen mit Vätern verlaufen konnten.

Am nächsten Morgen rief Freya in munterem, sachlichem Ton Gus an. „Ich habe dir die Kontaktdaten des Arztes aufgeschrieben.“

„Danke“, erwiderte er ebenso sachlich. „Wollen wir uns unten im Café treffen?“

„Ich bin in fünf Minuten da.“

Für den Fall, dass Gus bei ihr im Zimmer vorbeikommen wollte, hatte sie vorsorglich aufgeräumt. Aber das Café als neutraler Ort war ihr viel lieber.

Eigentlich sollte es ihr egal sein, wie sie aussah, trotzdem blickte sie in den Spiegel. Zweimal. Einmal, um die Ringe unter ihren Augen zu verdecken, ein zweites Mal, um ihr Haar zu kämmen und einen Hauch Lipgloss aufzulegen.

Schuldbewusst stellte sie fest, dass auch Gus dunkle Ringe unter den Augen hatte. Und seine Gesichtszüge traten schärfer hervor. Er hatte wohl genauso wenig geschlafen wie sie.

Nachdem Freya zwei Becher Kaffee bestellt hatten, zog sie das Blatt Papier aus der Tasche und reichte es Gus. Er überflog die Informationen, faltete das Blatt kommentarlos zusammen und steckte es in seine Brusttasche. Dann sah er sie an, und Freya war überrascht, eine Spur von Wärme in seinen braunen Augen zu entdecken. „Deine Handschrift hat sich nicht verändert. Sie ist noch immer genauso verschnörkelt und verspielt wie früher.“

Freya riskierte ein Lächeln. „Ich bin Künstlerin, was erwartest du denn?“

„Du malst also immer noch? Ich habe mich oft gefragt, ob du tatsächlich Kunst studiert hast, wie du es vorhattest.“

Bei dem Wort „oft“ hüpfte Freya vor Freude das Herz. Hatte Gus wirklich oft an sie gedacht? Sie versuchte, gleichgültig zu wirken. „Ich habe immer mal wieder Kurse besucht, abends oder auch vormittags an der Uni.“

„Mit einem Baby war das sicher schwierig.“

„Es ging ganz gut. Ja, ich male immer noch.“

Ihre Kaffees kamen, und als Gus seine Tasse in die Hand nahm, fragte er betont beiläufig: „Hat Nick irgendwelche künstlerischen Neigungen?“

„Oh nein.“ Mit nervösem Lächeln öffnete sie ein Tütchen Rohrzucker und schüttete es in ihren Kaffee. „Nick ist sportlich und intelligent.“

Bewusst blickte sie in ihre Kaffeetasse, um das Aufblitzen in Gus’ Augen nicht zu sehen. „Er ist gut in Mathe, Naturwissenschaft und Rugby.“ Sie wurde rot. „So wie du.“

Als sie aufblickte, bedauerte sie das zuletzt Gesagte sofort. Gus hatte einen so schmerzlichen Ausdruck im Gesicht, dass es ihr einen Stich versetzte.

Hatte sie wirklich geglaubt, das Ganze emotional unbeteiligt zu überstehen? Das würde ihr genauso wenig gelingen wie Gus.

Ihre Situation war derart kompliziert und heikel. Sie hatten einen gemeinsamen Sohn, dessen Leben in Gefahr war, und sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit, die jede Menge Gefühle in sich barg.

„Was die ärztlichen Untersuchungen angeht“, sagte Freya schnell, um die Unterhaltung auf praktische, emotional weniger aufwühlende Dinge zu bringen, „die kannst du bestimmt hier in Darwin machen lassen. Dann brauchst du deine Arbeit nicht so häufig zu unterbrechen.“

Gus machte eine wegwerfende Handbewegung. „Was hast du Nick von … von seinem Vater erzählt?“

„Dass er … jemand ist, mit dem ich früher befreundet war.“

„Weiß er meinen Namen?“

Freya schüttelte beklommen den Kopf. „Ich habe ihm gesagt, du seist ein … sehr netter Mann und dass du im Ausland arbeitest.“ Sie faltete die leere Zuckertüte zusammen. „Ein einziges Mal, lange bevor er krank wurde, hat er gefragt, ob er dich jemals kennenlernen würde, und ich habe geantwortet, dass wir damit besser warten, bis er groß ist.“

„Aber weshalb um Himmels willen?“

Beschämt wandte Freya den Blick ab. „Ich wusste, dass du in Afrika bist, und es wäre schwierig gewesen, dich dort ausfindig zu machen. Es war einfach alles viel zu kompliziert. Wahrscheinlich habe ich auf den richtigen Moment gewartet. Und als dann der Reinfall mit meinem eigenen Vater passierte, kamen mir Zweifel, ob es überhaupt gut wäre, wenn er dich kennenlernt.“

Gus stieß langsam den Atem aus. „Okay … dann weiß Nick also nichts von unserem Treffen.“

Sie schüttelte den Kopf.

Er biss die Zähne zusammen. „Hast du ein Foto dabei?“

Ach du Schreck. Wieso hatte sie nicht daran gedacht, ein Foto mitzubringen? Da sie praktisch nie von Nick getrennt war, trug sie auch keins in ihrem Portemonnaie. „Ein Foto? Oh … hm … ich …“ Freya schwieg verlegen.

Er blickte sie über den Rand seiner Kaffeetasse erbarmungslos an. „Kein Foto?“

„Nein, tut mir leid.“ Wie konnte sie nur so gedankenlos sein? „Ich schicke dir Fotos, Gus. Natürlich sollst du Fotos haben. Ich scanne das ganze Album ein und schicke es dir per Mail.“

„Wann fliegst du zurück?“

„Heute Nachmittag.“

Er stellte seine Kaffeetasse ab, legte die Ellbogen auf den Tisch und beugte sich mit ernstem Gesicht zu ihr.

„Ich möchte mitkommen.“

Schock. Das war so weit außerhalb ihrer Vorstellung, dass sie Gus nur mit offenem Mund anstarren konnte. Irgendwann ja, aber heute? Nein, unmöglich.

„Du wirst doch sicher verstehen, dass ich meinen Sohn kennenlernen möchte.“ Gus sprach mit der ruhigen Bestimmtheit, mit der er vermutlich all seine Entwicklungshilfeprojekte über die bürokratischen Hürden gebracht hatte.

„Du meinst, du willst heute mit mir zurück nach Sugar Bay fliegen?“

„Ja, warum nicht?“

Das geht alles viel zu schnell. „Ich … ich dachte, du bist gerade mitten in einem sehr wichtigen Bauprojekt.“

„Schon, aber es ist alles so weit vorbereitet, dass ich mir eine kleine Pause erlauben kann. Meine Leute sind froh, dass sie etwas mehr Verantwortung übernehmen können. Für kurze Zeit natürlich nur.“

„Ich verstehe.“ Darauf musste sie Nick doch vorbereiten! Ihn warnen, dass es vielleicht so ausgehen könnte, wie er es mit seinem Großvater erlebt hatte.

Natürlich war Gus ein ganz anderer Mensch. Aber musste es derart plötzlich sein?

„Wahrscheinlich gibt es gar keine freien Plätze mehr im Flugzeug.“

„Doch, es gibt noch welche.“ Ein schelmisches Lächeln ging über Gus’ Gesicht und brachte die Lachfältchen um seine Augen zum Vorschein.

„Du hast also schon nachgesehen“, murmelte sie. „Wohl im Internet.“

„Ja, das ist heutzutage alles sehr einfach.“

Er hatte also schon längst alles geplant.

„Okay … ja, warum nicht?“, bemerkte Freya nicht allzu begeistert. Doch im Grunde gefiel ihr der Gedanke. Früher war es ihr schönster Traum gewesen, dass Gus eines Tages nach Sugar Bay zurückkäme. Nur dass er in ihrem Traum nicht Nicks wegen, sondern ihretwegen gekommen wäre. Sie hatte sich ausgemalt, dass Gus sich wieder in sie verliebte und sie fortan eine glückliche Familie wären.

Wie abgedroschen dieser Traum ihr heute erschien. Zum Glück war sie zur Besinnung gekommen.

„Wieso siehst du denn so besorgt aus? Gibt es ein Problem?“

Freya schüttelte den Kopf. „Nein, nicht, wenn wir behutsam vorgehen.“

„Ich möchte Nick in jeder Beziehung helfen, so gut ich kann, Freya.“ Er sah sie lange an. „Und ich verspreche dir, dass ich nichts überstürzen werde.“

Ja. Dafür würde sie sorgen.

4. KAPITEL

Am frühen Nachmittag landeten sie in Dirranvale, unweit von Sugar Bay im Landesinneren gelegen. Nachdem sie Freyas Auto aus der Tiefgarage des Flughafens geholt hatten, fuhren sie auf einer von Zuckerrohrfeldern gesäumten Straße in Richtung Küste.

Alles war genauso, wie Gus es in Erinnerung hatte – die sanft gewellten Hügel, die fruchtbare rote Erde, das Meer von malvenfarbenen Federbüschen an den Spitzen der Zuckerrohrstangen. Ganz unerwartet überfielen ihn nostalgische Gefühle.

Er dachte an seine erste Reise hierher, damals war er sechzehn gewesen. Zusammen mit seiner Schwester hatte er sich mürrisch auf dem Rücksitz des Kombiwagens seiner Eltern gelümmelt. Die Kinder waren furchtbar aufgebracht gewesen, als ihr Vater an die Küste versetzt worden war und sie aus ihrer Schule in der Stadt und ihrem Freundeskreis gerissen wurden.

Während der ganzen Fahrt hatten sie geschmollt – bis sie auf dem letzten Hügel ankamen und die Bucht in ihrer einzigartigen Schönheit vor ihnen lag.

Wenn er daran dachte, wie er zum ersten Mal den Küstenort gesehen hatte, der für zwei zauberhafte Jahre sein Zuhause geworden war, spürte er noch heute ein aufregendes Kribbeln. Er konnte es kaum erwarten, die salzige Seeluft zu schnuppern und den warmen, weichen Sand unter den Füßen zu spüren.

Zum ersten Mal seit langer Zeit erinnerte er sich an das berauschende Gefühl, als er mit seinem Surfbrett die Wellenberge hinabgesaust war.

Wie hatte er diesen Ort geliebt. Und warum war er bloß nicht früher zurückgekommen?

Er drehte Freya den Kopf zu. „Nick findet es bestimmt toll, hier zu leben.“

„Oh ja, das tut er.“

Die Hälfte ihres Gesichts war von einer Sonnenbrille verdeckt, aber Gus bemerkte das verlegene Kräuseln ihrer Lippen. Wahrscheinlich war sie noch nervöser als er.

Im Flugzeug hatten sie kaum geredet, hauptsächlich deshalb, weil die neugierige ältere Dame neben ihnen sich ständig einmischte.

Er wusste nur so viel, dass Nick während Freyas Abwesenheit bei seiner Großmutter wohnte, aber dass sie sonst in einer Wohnung neben Freyas Kunstgalerie lebten. Sie hatten vereinbart, dass Gus im Hotel wohnen würde.

„Hast du Poppy Bescheid gesagt, dass ich mitkomme?“, fragte er.

„Ehrlich gesagt, nein.“ Freya kaute an ihren Lippen.

„Gibt es einen Grund, warum du ihr nichts erzählt hast? Hat sie noch immer etwas gegen mich?“

Mit einem etwas gezwungenen Lächeln schüttelte Freya den Kopf. „Ich hatte Angst, dass sie die Neuigkeit nicht für sich behalten kann und Nick alles verrät.“

„Und wie willst du jetzt vorgehen? Soll ich erst mal ins Hotel gehen und warten, bis du mich herbeizitierst?“

Sie standen vor einer Kreuzung, und Freya musste die entgegenkommenden Autos vorbeilassen, bevor sie abbiegen konnte. Erst dann beantwortete sie Gus’ Frage. „Nick hat heute Nachmittag ein Spiel, und ich habe mir gedacht, dass du mitkommst.“ Schnell fügte sie hinzu: „Dort ist die Atmosphäre vielleicht entspannter.“

Zuerst war Gus etwas überrascht. Den ganzen Tag hatte er sich das Treffen mit seinem Sohn in Poppys Haus vorgestellt, wo Freya und Poppy mit besorgten Blicken die heikle Situation verfolgten. Ein Treffen auf dem Sportplatz war natürlich viel mehr nach seinem Geschmack. „Eine gute Idee. Was spielt Nick denn?“

„Rugby.“

Gus schluckte schwer, weil er plötzlich einen Knoten im Hals spürte. Es gab eine Zeit, da war ihm nichts wichtiger gewesen, als in der Rugbyliga zu spielen. „Wie kann er denn in seinem Zustand Rugby spielen? Das ist doch ein ziemlich hartes Spiel.“

„Ich weiß.“ Freya zuckte die Achseln. „Ich hatte auch erwartet, dass die Ärzte es ihm verbieten, aber sie meinten, solange die Medikamente noch wirken, sei das kein Problem.“

„Wann willst du ihm denn sagen, wer ich bin und warum ich hier bin?“

„Bei mir zu Hause, nach dem Spiel.“

Bei ihr zu Hause. Wieder überkam Gus dieses Gefühl, ausgeschlossen zu sein. Freya und Nick hatten all die Jahre zusammengelebt – ohne ihn.

Erst jetzt merkte er, dass sie den letzten Hügel hochfuhren, und dann sah er auch schon die Bucht ausgebreitet vor sich liegen. Sie erschien ihm noch schöner als in seiner Erinnerung.

Freya fuhr an den Straßenrand, damit er die Aussicht genießen konnte. Hinter einem makellosen hellgelben Sandstrand schmiegte der kleine Ort sich in die Bucht, eingerahmt von zwei grünen Landzungen, die sich wie Arme den glitzernden Wellen entgegenstreckten.

„Wow.“ Gus hatte nicht zu hoffen gewagt, dass Sugar Bay noch immer der verschlafene Küstenort von früher war. „Es hat sich nichts verändert.“

„Nicht sehr viel.“

„Ich hatte befürchtet, dass der Strand inzwischen von Touristen übersät oder von Hotelbauten verschandelt ist.“

„Es gibt schon ein paar neue Häuser.“ Freya deutete auf einige niedrige Blocks an der Promenade. „Aber die Stadtverwaltung hat strenge Auflagen erlassen. Neue Gebäude dürfen nicht mehr als fünf Stockwerke haben.“

„Sehr vernünftig.“

Erinnerungsfetzen kamen ihm in den Sinn. Er und Freya am Strand, mit einer Tüte Fish & Chips in der Hand, wie sie das Wetterleuchten draußen auf dem Meer betrachteten. Er ganz allein beim Wellenreiten, wie er sich vollkommen eins mit der Natur und dem gesamten Universum gefühlt hatte.

In diesem letzten Sommer, der ihm immer als Freyas Sommer in Erinnerung bleiben würde. Er verspürte einen Stich, als wäre ein Pfeil in sein Herz gedrungen.

Freya ließ den Wagen wieder an, und als sie den Hügel hinabfuhren, sah er das Haus, in dem er damals mit seinen Eltern gewohnt hatte. Die meisten seiner Freunde hatten weiter unten gewohnt. Und dann sah er die Highschool mit ihrem imposanten Backsteinanbau.

Weder Gus noch Freya sprachen ein Wort, als sie den Sportplatz hinter der Schule erreichten, der von hohen Banyanbäumen umsäumt war.

Gus blickte durch die Windschutzscheibe auf die Rasenfläche, und sein Hals war wie zugeschnürt. Sein Blick schweifte über die Jungen in ihren bunten Trikots und die Zuschauer, die entlang der Abgrenzung standen oder in Klappstühlen im Schatten saßen.

Zwei glückliche Jahre lang war das seine Welt gewesen.

Und jetzt war es die Welt seines Sohnes.

Das Bild verschwamm vor seinen Augen, und er konnte nur mit Mühe die Tränen zurückhalten.

Freya stellte den Motor ab.

„Bist du genauso nervös wie ich?“

Gus nickte. Was für ein bedeutsamer Moment. Als würde man heiraten oder eine Geburt miterleben. Nun würde er Vater werden – zwölf Jahre zu spät.

Beim Aussteigen wurden sie von lauten Beifallsrufen empfangen, und Freya blickte zu dem Feld hinüber. „Sieht aus, als hätte die gegnerische Mannschaft ein Tor erzielt.“ Sie schob enttäuscht die Unterlippe vor.

„Gegen wen spielen sie denn?“

„Dirranvale. Die schlagen uns meistens.“

„Genau wie damals.“ Gus warf ihr ein schelmisches Lächeln zu, das Freya erwiderte.

Wow.

Obwohl Freyas Gesicht halb hinter der Sonnenbrille versteckt war, veränderte dieses Lächeln ihr Gesicht völlig. Sie war wieder das lachende Mädchen von früher, und plötzlich hüpfte und wogte sein Herz wie die Wellen am Strand.

Aus einem plötzlichen Impuls heraus legte er ihr den Arm um die Schulter und hätte beinahe ihren lächelnden Mund geküsst. Doch dann besann er sich, dass sie ihm ja seinen Sohn vorenthalten hatte.

Außerdem hätte Freya das sicher nicht gut gefunden. Selbst seine lockere Umarmung schien sie durcheinanderzubringen. Sie machte sich so schnell von ihm los, dass sein Arm in der Luft hängen blieb.

Idiot. Gus steckte die Hände in die Hosentaschen. Er war hier, um seinen Sohn zu treffen, um ihm zu helfen. Stattdessen flirtete er mit der Mutter des Jungen. Es brachte doch nichts, die alten Gefühle wieder aufzuwärmen.

Freya war schon vorgelaufen und stellte sich an die Barriere. Einige der Umstehenden grüßten sie und winkten ihr zu. Als er neben sie trat, bedachten die Leute ihn mit neugierigen Blicken, aber er achtete nicht darauf. Sein Interesse galt dem Team in den blau-goldenen Sugar-Bay-Trikots.

Einer von diesen Jungen war sein Sohn.

Gerade versuchten die Jungs aus der Sugar-Bay-Mannschaft, einen gegnerischen Spieler daran zu hindern, den Ball ins Tor zu kicken. Vergeblich. Der Schiedsrichter blies in seine Trillerpfeife, das Team aus Dirranvale rückte um zwei weitere Punkte hoch, und dann formten sich die beiden Mannschaften erneut zum Spiel.

Vor Aufregung stellten sich Gus die Nackenhaare auf. „Wo ist Nick denn?“, murmelte er.

„Ich wette, du erkennst ihn gleich.“

Gus wurde von Panik ergriffen. Erwartete man etwa von ihm, dass er sofort seinen Sohn erkannte? War das eine Art Test?

Freyas Sonnenbrille verdeckte ihre Blickrichtung. Mit klopfendem Herzen ging er die Reihe der Jungen durch. Dreizehn trugen die Sugar-Bay-Trikots. Er hatte keine Ahnung, ob Nick groß oder klein, dick oder dünn, dunkelhaarig oder blond war.

Sah er wegen seiner Krankheit vielleicht zarter aus als die anderen? Oder war sein Sohn etwa der dicke, rotwangige Junge, der hinter dem Ball herhechelte?

Die Mannschaft aus Sugar Bay war gerade im Besitz des Balls, und ihre Anhänger feuerten sie mit Zurufen an. Soweit Gus erkennen konnte, waren die Spieler alle gesund und voller Energie. Schwer zu glauben, dass einer von ihnen schwer krank war.

Plötzlich scherte der Junge mit der Nummer 7 aus der Gruppe aus. Er hatte kurzes schwarzes Haar und graue Augen, und in seinem Gesicht war etwas … Gus spürte einen Ruck, eine blitzartige Eingebung. Ein Erkennen.

Autor

Marie Ferrarella

Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...

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