Geschieht ein Wunder in dieser Nacht?

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Ausgerechnet Chloe Carmichael ist seine neue Patientin! Bei dem gefragten Mediziner Dr. Reid Walker brechen alte Wunden auf, denn noch immer schmerzt es heftig, dass die zauberhafte Chloe ihn vor Jahren zurückwies. Trotzdem brennt auch jetzt sein Herz wieder lichterloh …


  • Erscheinungstag 23.11.2018
  • Bandnummer 0003
  • ISBN / Artikelnummer 9783733735890
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Okay, einen Patienten schaue ich mir noch an, dann bin ich erst mal eine Woche weg“, sagte Dr. Reid Walker zu der Krankenschwester, die mit ihm in der Notaufnahme Dienst hatte. „Ab Mitternacht habe ich nämlich Urlaub.“

„Es ist sowieso nur noch eine einzige Patientin reingekommen“, erwiderte die Schwester. „Sie wurde vom Schneesturm überrascht, der Wagen ist auf der vereisten Fahrbahn ins Schleudern geraten und hat dann einen Telefonmast gerammt. Kurz vor Northbridge ist das passiert. Sie meint zwar, sie wäre nicht verletzt, aber der Airbag ist aufgegangen, und du kennst ja die polizeilichen Vorschriften: In so einem Fall ist eine gründliche Untersuchung erforderlich. Sicherheitshalber. Die Patientin heißt übrigens Chloe Carmichael.“

Reid stutzte. „Wie war der Name?“

„Chloe Carmichael“, wiederholte die Schwester, der Reids Reaktion gar nicht aufgefallen war. „Ich entlasse dann mal unsere Grippepatientin, die Sache mit dem Autounfall lässt sich hoffentlich auch fix abwickeln. Danach ist Schichtwechsel und wir können endlich nach Hause.“

Die Schwester verschwand, und Reid blieb wie angewurzelt neben dem Tresen stehen. Der Tresen umgab einen Bereich, den das Krankenhauspersonal scherzhaft als „die Manege“, bezeichnete. Hier tauschten sich die Mitarbeiter untereinander aus und erledigten Papierkram, auch die Krankenakten wurden hier aufbewahrt.

Die Kleinstadt Northbridge verfügte nur über eine einzige medizinische Einrichtung, und die Notaufnahme bestand bloß aus vier Zimmern, die alle von der „Manege“ abgingen. Zwei davon waren dunkel und leer, im Dritten hatte Reid gerade einer Collegestudentin zu ihrer großen Erleichterung mitgeteilt, dass sie nicht etwa schwanger sei, sondern bloß einen Grippevirus erwischt habe. Also konnte Reids nächste Patientin sich nur im vierten Krankenzimmer befinden.

Chloe Carmichael.

Es war Sonntagnacht, Viertel vor zwölf. Nie hätte Reid sich träumen lassen, dass das Wochenende so ausklingen würde … dass sein Urlaub auf diese Weise eingeläutet werden sollte.

Noch immer hatte er sich keinen Zentimeter von der Stelle gerührt, stattdessen schaute er zum Zimmer Nummer vier hinüber.

Im Zimmer brannte Licht. Die Wände zwischen „Manege“ und Krankenzimmern waren aus Glas, zumindest oberhalb der Schubladenschränke, in denen sich die Kittel und der sonstige Klinikbedarf befanden. Der Vorhang am Bett war nicht komplett zugezogen, sodass Reid durch einen schmalen Spalt die Patientin sehen konnte … zumindest zum Teil.

Aber das reichte auch schon.

Die Frau, die da aufrecht im Bett saß, trug einen Krankenhauskittel und wirkte kein bisschen mitgenommen. Tatsächlich sah sie sogar noch besser aus, als Reid sie in Erinnerung hatte. Vor vierzehn Jahren hatten sie sich zuletzt gesehen – sie war damals siebzehn, er achtzehn Jahre alt gewesen. Es kam ihm vor, als wäre es erst gestern gewesen.

Chloe Carmichael.

Sie war im Grundschulalter gewesen, als ihre Eltern mit ihr nach Northbridge gezogen waren. Reid und seine Familie hatten bloß ein paar Häuser weiter gewohnt, und seine Mutter lebte heute noch in dem Haus von damals. Die Carmichaels allerdings nicht. Vor vierzehn Jahren hatten sie plötzlich die Stadt verlassen und ihr Haus zunächst vermietet.

Als es vor ein paar Monaten zum Verkauf stand, hatten Reid und sein Bruder Luke ein Gebot dafür abgegeben. Sie wollten es auf Vordermann bringen und ebenfalls vermieten – in einer Collegestadt wie Northbridge gar keine schlechte Geldanlage. Allerdings war das Haus für Reid mit schmerzlichen Erinnerungen verbunden. Erinnerungen an Chloe Carmichael.

Inzwischen standen Reid und Luke kurz vor Vertragsabschluss. Chloe hatte das Haus nach dem Tod ihrer Eltern geerbt, allerdings hatte man Reid gesagt, dass die Maklerin die Verkaufsabwicklung übernehmen würde, weil Chloe deswegen nicht extra nach Northbridge kommen wollte.

Was machte sie also hier?

„Oh, gut, dass ich dich noch erwische.“ Die Stimme der Krankenschwester riss Reid aus seinen Gedanken. Er hatte sie gar nicht kommen hören.

„Du wolltest doch noch ein Antibabypillen-Rezept ausstellen, damit unsere Collegestudentin keine Angst mehr vor einer ungewollten Schwangerschaft zu haben braucht“, erinnerte ihn die Schwester.

Endlich wandte sich Reid seiner Mitarbeiterin zu. „Ach ja, die Antibabypille. Das ist schon eine gute Erfindung.“

„Auf jeden Fall“, stimmte die Schwester ihm zu und musterte ihn dabei ein wenig verwirrt.

Reid sagte jedoch nichts weiter dazu, sondern stellte schnell ein Rezept aus. Selbst als die Schwester wieder gegangen war, verharrte er reglos an Ort und Stelle und betrachtete weiter das Zimmer, das er gleich betreten würde.

Das Zimmer, in dem Chloe Carmichael auf ihn wartete.

Ihr Haar war immer noch rabenschwarz und umrahmte ihr Gesicht in sanften Wellen. Bloß trug sie es nun offenbar kürzer als früher, soweit Reid das von seinem Standort aus feststellen konnte: Jetzt schien es ihr bloß bis knapp über die Schultern zu reichen, während es früher taillenlang gewesen war.

Dazu hatte sie wunderbar ebenmäßige Gesichtszüge, eine gerade Nase und volle rosige Lippen. Und obwohl sie den Blick gerade gesenkt hielt und ihre Augen deswegen vor Reid verborgen waren, wusste er, dass sie immer noch so tiefblau und groß waren wie damals …

Nein, Chloe hatte sich in den letzten vierzehn Jahren ganz bestimmt nicht zu ihrem Nachteil verändert – im Gegenteil.

Verflucht!

Auf einmal stand Reid im Geiste wieder mit ihr vor dem Haus, das bald ihm und seinem Bruder Luke gehören würde. Das Haus, aus dem Chloe Carmichael sich heimlich hatte herausschleichen müssen, um sich mit ihm zu treffen. Es war eine ihrer letzten Begegnungen gewesen, der Anfang vom Ende …

Reid spürte ihre zarte Haut, als er ihr schönes Gesicht mit den Händen umfing, küsste ihre warmen Lippen, die nach dem Salz ihrer Tränen schmeckten.

„Chloe, es ist mir völlig egal, was die Leute reden. Das ist nicht das Ende, im Gegenteil, für uns hat es gerade erst angefangen. Ich kümmere mich schon um alles, mach dir keine Sorgen.“ Das waren die Worte, die er in jener Nacht zu ihr gesagt hatte.

Ganz schön voll hatte er seinen Mund damals genommen. Und gebracht hatte es rein gar nichts. Nur Unglück.

„Was ist denn mit dir los?“ Die Stimme der Krankenschwester durchdrang seine Gedanken. „Du bist ja immer noch da. Ich dachte, du wolltest nur noch schnell die letzte Patientin abwickeln, damit wir nach Hause können. Bist du etwa zur Salzsäule erstarrt?“

Reid reagierte nicht, sondern sah weiterhin wie gebannt zu dem Zimmer hinüber, in dem Chloe Carmichael auf ihn wartete.

Seltsam irgendwie. Er brauchte bloß ihren Namen zu hören, einen kurzen Blick auf sie zu werfen, zu wissen, dass er ihr gleich gegenüberstehen würde … und schon waren die alten Gefühle wieder da.

Hässliche Gefühle waren es, die da in ihm aufstiegen. Eine blinde Wut, die alles andere auslöschte. Selbst nach so vielen Jahren …

„Dr. Walker ist sofort bei Ihnen.“

Chloe Carmichael hatte die Worte der Krankenschwester noch immer im Ohr. Nervös zupfte sie an der Bettdecke.

Dr. Walker …

Sie hoffte, dass der Dr. Walker, der sie gleich untersuchen würde, nicht derselben Familie angehörte, die sie als Kind gekannt hatte. Ihre Nachbarn … und Freunde. Einer von ihnen war für sie sogar noch mehr als ein Freund gewesen.

Zugegeben: Die Wahrscheinlichkeit war in einer Kleinstadt wie Northbridge nicht gerade gering, aber immerhin waren die Walkers eine große Familie gewesen. Fünf Kinder hatte es gegeben: Reid, Luke, Ad, Ben und Cassie, das einzige Mädchen.

Vielleicht habe ich ja Glück, und Dr. Walker ist Cassie, dachte Chloe. Ihr wäre es sowieso am liebsten, wenn sie von einer Ärztin untersucht würde. Notfalls könnte sie sich auch noch mit Luke, Ad oder Ben arrangieren. Nur nicht mit Reid. Bitte, bitte, lass es nicht Reid sein! flehte sie wortlos.

Es war ja schon schlimm genug für Chloe, dass sie nun wieder in Northbridge war. Eigentlich hatte sie nie wieder herkommen wollen, sosehr schämte sie sich für das, was damals passiert war. Und eigentlich war sie auch davon ausgegangen, dass ihr eine solche Reise für den Rest ihres Lebens erspart bleiben würde.

Doch dann waren ihre Eltern vor elf Monaten durch einen Bootsunfall ums Leben gekommen und hatten ihr das Haus in Northbridge vererbt, in dem sie früher alle zusammengelebt hatten.

Chloe hatte sich nun doch entschieden, das Haus zu verkaufen, um sich endlich ganz von ihrer unheilvollen Vergangenheit in dieser Kleinstadt zu lösen. Zunächst wollte die Maklerin, die sich seit vierzehn Jahren um die Vermietung des Hauses kümmerte, alles ohne Chloes Zutun über die Bühne bringen. Aber dann wandte sie sich doch an Chloe: Offenbar standen auf dem Dachboden noch Möbel und Kartons mit Kleidungsstücken und sonstigen Habseligkeiten der Carmichaels herum, also erkundigte sich die Maklerin, ob sie Chloe einfach alles per Spedition nach Arizona schicken sollte – das wäre allerdings ziemlich teuer geworden.

Weil Chloe nicht wusste, was sie überhaupt behalten wollte, beschloss sie, sich die Sachen doch erst mal vor Ort anzuschauen. Und genau deswegen war sie jetzt hier. Eigentlich hatte sie nur schnell und möglichst unauffällig im Haus vorbeischauen wollen, ohne dass ganz Northbridge davon Wind bekam. Das hatte bloß leider nicht ganz funktioniert.

Stattdessen hatte ein Polizist sie ins Krankenhaus begleitet, während ihrem Mietwagen nach dem Zusammenstoß mit dem Pfahl nur noch der Abschleppdienst geblieben war. Darüber würden sich die Leute am nächsten Tag bestimmt die Mäuler zerreißen …

Von wegen schnell und unauffällig!

In diesem Moment schob jemand den Vorhang zurück, und Chloe hob den Blick von der Bettdecke.

Sie brauchte nicht erst das Namensschild am Arztkittel zu lesen, um zu wissen, wen sie da vor sich hatte – obwohl er sich seit ihrem letzten Zusammentreffen deutlich verändert hatte. Diese markanten Gesichtszüge hätte sie immer wiedererkannt, egal, wie lange sie sich nicht mehr gesehen hatten. In den letzten vierzehn Jahren hatte sein Bild sie nie losgelassen. Das Bild von ihm als jungem Mann …

„Reid“, sagte sie leise – mehr zu sich selbst als zu ihm.

Trotzdem nahm er es als Begrüßung hin und reagierte entsprechend: „Chloe.“

Allerdings sprach er ihren Namen alles andere als freundlich aus. Ganz offensichtlich war Reid Walker von dem Wiedersehen ebenso wenig angetan wie sie selbst. Vielleicht sogar noch weniger, dachte sie, als sie seinen grimmigen Gesichtsausdruck betrachtete. Reid wirkte angewidert, sogar wütend.

Damit hätte sie eigentlich rechnen müssen.

Chloe holte tief Luft und nahm sich vor, das Beste aus der Situation zu machen. „Aha, du bist das. Als die Schwester eben zu mir meinte, Dr. Walker würde gleich bei mir sein, habe ich überlegt, ob ich hier wohl auf Cassie oder einen deiner Brüder treffen würde … oder eben auf dich. Dann hast du also Medizin studiert.“

„Ja, das habe ich dann wohl.“

So, wie er das sagte, klang es abfällig, sarkastisch, geradezu gemein. Die nächsten Minuten würden nicht gerade angenehm für sie werden.

Reid schien nun die Krankenakte in seinen Händen zu betrachten, doch Chloe hatte vielmehr den Eindruck, dass er es nicht ertragen konnte, sie anzuschauen.

„Verheiratet bist du nicht, wie ich sehe“, bemerkte er schließlich. Offenbar hatte er diese Information dem Patientenbogen entnommen, den sie vorhin ausgefüllt hatte. „Sollen wir irgendjemanden benachrichtigen? Ich habe schon gehört, dass deine Eltern nicht mehr leben …“

„Es war sehr nett von deiner Mutter, Blumen und eine Beileidskarte zu schicken. Ich habe mich nur gefragt, woher sie wusste …“

„In der Zeitung stand ein kurzer Artikel darüber“, erklärte Reid knapp. Noch immer sah er auf den Patientenbogen. „Möchtest du denn nun, dass wir jemanden von dem Unfall in Kenntnis setzen? Freunde vielleicht? Verwandte? Einen Lebensgefährten oder Verlobten?“

War er wohl aus Prinzip so hartnäckig, oder wollte er herausfinden, ob sie ungebunden war? Sein Verhalten ließ eigentlich nur die erste Möglichkeit zu …

„Nein, es gibt weder einen Lebensgefährten noch einen Verlobten oder sonst jemanden, der benachrichtigt werden sollte.“

Reid reagierte überhaupt nicht auf diese Aussage, stattdessen nahm er Chloe weiter ins Verhör: „Dann erzähl mir doch bitte mal, was genau passiert ist.“

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie das Gefühl, er meinte damit ihre Abreise vor vierzehn Jahren, aber darum ging es natürlich ganz und gar nicht. Schließlich war sie hier in der Notaufnahme, und Reid war ihr Arzt.

„Als ich vom Flughafen in Billings losfuhr, war das Wetter noch gut“, setzte sie also an. „Aber dann hat es auf halbem Weg hierher angefangen zu schneien, und zwar ganz schön heftig. In null Komma nichts war die Straße vereist. Ich bin im Schneckentempo weitergefahren, aber der Mietwagen ist trotzdem ins Schleudern gekommen und hat einen Telefonmast gerammt. Der Motor hat ausgesetzt, und die Türen ließen sich auch nicht mehr öffnen, außerdem steckte ich hinter dem Airbag fest. Ich habe es gerade noch hinbekommen, mit meinem Handy den Notruf zu wählen, sonst ging gar nichts mehr.“

„Hast du zu irgendeinem Zeitpunkt das Bewusstsein verloren?“

„Nein. Aber der Polizist, der mir zur Hilfe gekommen ist, musste erst mal eine Autotür aufbrechen, um mich aus dem Wagen zu bekommen. Als ich dann aber draußen war, schien alles in bester Ordnung zu sein, trotzdem hat er darauf bestanden, mich herzubringen.“

Oje, rede ich etwa gerade lauter überflüssiges Zeug? fragte Chloe sich. Wahrscheinlich schon. Aber sie war noch so durcheinander von dem Unfall und dem unerwarteten Zusammentreffen mit Reid, dass sie nicht mehr vernünftig denken konnte.

„Tut dir etwas weh?“, wollte er jetzt wissen und ließ sich sogar dazu herab, sie dabei anzusehen – allerdings so verächtlich, dass sie lieber darauf verzichtet hätte.

„Eigentlich nicht. Ich hatte zwar einen gehörigen Schreck bekommen, aber wie ich schon sagte … ich habe mich wohl nicht verletzt. Der Airbag hat den Aufprall ziemlich gut abgefangen. Ich habe zwar ein paar Kratzer an den Armen und einen großen blauen Fleck am Knie, aber sonst geht es mir gut.“

„Ich muss dich trotzdem untersuchen.“ Das klang so, als wäre Reid lieber über glühende Kohlen gelaufen. Höflichkeit schien nicht gerade seine Stärke zu sein.

„Gibt es hier keinen anderen Arzt?“, erkundigte Chloe sich vorsichtig.

Reid wandte sich ab. „Molly, kommst du mal kurz her?“, brüllte er in Richtung „Manege“, statt auf Chloes Frage einzugehen.

Kurz darauf tauchte die Krankenschwester auf, die Chloe aufgenommen hatte.

„Ist die nächste Schicht schon da?“, wollte er wissen.

„Nein“, gab die Schwester zurück. „Und es dauert wohl noch eine Weile, bis sie hier eintreffen. Der Schneesturm hat alle überrumpelt. Gerade hat J. T. durchgeklingelt. Sein Auto will nicht anspringen, also kommt er zu Fuß. Gleich danach hatte ich einen Anruf von Shauna. Ihr Mann ist unterwegs, weil eine Hauptwasserleitung eingefroren ist, also muss sie erst mal jemanden finden, der auf die Kinder aufpasst, bevor sie auch das Haus verlässt.“

Erneut durchbohrte Reid seine Patientin mit einem finsteren Blick. „Du kannst gern auf die beiden warten, allerdings sind das keine Ärzte. Shauna ist Krankenschwester und J. T. eine speziell ausgebildete Pflegefachkraft. Die beiden übernehmen hier die Nachtschicht und holen Hilfe, wenn ein schwerer Fall reinkommt. Oder aber du lässt dich von mir untersuchen, während Molly dabei ist, falls du die Dinge dann gelassener angehen kannst. Es liegt ganz bei dir.“

Im Moment gab es rein gar nichts, was Chloe dazu bewegen könnte, die Dinge gelassener zu sehen. Sie wollte bloß alles so schnell wie möglich hinter sich bringen und verschwinden. Und bis die nächste Schicht durch den Schneesturm zu ihnen vordrang, konnte es noch lange dauern.

„Wie sieht denn so eine Untersuchung genau aus?“, hakte sie nach, bevor sie eine endgültige Entscheidung traf.

„Na ja, ich schaue erst mal, ob Verletzungen am Kopf, am Hals oder an der Wirbelsäule vorliegen. Dann untersuche ich Arme und Beine. Als Nächstes taste ich deinen Unterleib auf Druckempfindlichkeiten ab und horche mit dem Stethoskop nach, höre mir auch Herz und Lunge an. Dafür brauchst du deinen Kittel nicht auszuziehen, und ich werde dich dabei nur berühren, wenn es gar nicht anders geht. Das kannst du mir glauben.“

Weil er sie nämlich nicht berühren wollte. Und sie wollte auch nicht, dass er sie berührte … oder etwa doch?

Natürlich nicht.

Aber warum fand sie seine Bemerkung dann eigentlich so verletzend?

Egal, sie musste jetzt zusehen, dass sie die Klinik verlassen konnte. „Und diese Untersuchung dauert auch nicht lang?“

„Jedenfalls nicht länger als unbedingt nötig.“

Das war deutlich: Offenbar wollte auch er ihre Begegnung so kurz wie möglich halten.

„Also gut“, gab Chloe sich einverstanden – wenn auch widerwillig.

„Soll ich denn nun hierbleiben?“, hakte die Krankenschwester nach.

„Ja!“, riefen Chloe und Reid wie aus einem Munde.

„Auf jeden Fall“, fügte Reid hinzu. Dann ging er zum Waschbecken, um sich die Hände zu waschen, während Molly sich zu Chloe ans Krankenbett stellte. Die Schwester lächelte ihr beruhigend zu, sah aber immer noch so aus, als würde sie sich fragen, was hier eigentlich vor sich ging. Allerdings hatte sie Chloe vorhin schon erzählt, dass sie noch nicht lange in Northbridge wohnte. Und das bedeutete, dass sie höchstwahrscheinlich gar nicht wusste, dass Chloe und Reid als Teenager bis über beide Ohren ineinander verliebt gewesen waren.

Bis zu dem Tag, an dem Chloe festgestellt hatte, dass sie schwanger war. Da hatte das Unheil seinen Lauf genommen.

2. KAPITEL

Der Montagmorgen begrüßte Reid mit strahlend blauem Himmel und Sonnenschein, der ungehindert auf eine dicke Schicht unberührten Neuschnee fiel. Vom Wohnzimmerfenster aus betrachtete er das Haus der Carmichaels, das er und sein Bruder Luke kaufen wollten und das genau gegenüberlag.

Da stand er nun, betrachtete den Sonnenaufgang und die schneebedeckten Vorgärten, aber in Wahrheit waren seine Gedanken ganz woanders. In Wahrheit dachte er über sich und Chloe Carmichael nach, über ihre gemeinsame Vergangenheit und das, was gerade passiert war. Dabei kam er nicht von dem Gedanken los, dass er sich am Vortag unmöglich benommen hatte und dafür einen gehörigen Tritt in den Hintern verdiente.

Es mochte ja durchaus sein, dass Chloe Carmichael und ihre Eltern ihm vor vierzehn Jahren eine herbe Lektion erteilt hatten … aber das war inzwischen eben ganze vierzehn Jahre her. Und jetzt, am frühen Morgen, war er längst nicht mehr so wütend wie gestern, sodass er mittlerweile alles andere als stolz auf sein Benehmen in der Notaufnahme war. Er hatte sich Chloe gegenüber unhöflich und dazu äußerst unprofessionell verhalten. Gerade, dass er seinen Pflichten als Arzt nicht nachgekommen war und Chloe nicht gründlich genug untersucht hatte, war für ihn unentschuldbar.

Immerhin war es höchst unwahrscheinlich, dass ihm etwas entgangen war und Chloe tatsächlich ernsthafte Verletzungen davongetragen hatte. Reid hatte schon genug Unfallopfer behandelt, also hatte er einen Blick für so etwas.

Trotzdem hatte er sich bei der Untersuchung erschreckend ungeschickt angestellt, hatte um jeden Preis vermeiden wollen, Chloe zu berühren – wie ein Medizinstudent im ersten Semester. Jetzt musste er zusehen, wie er die Sache wieder ins Lot brachte.

Dabei hatte er nicht etwa vor, besonders freundlich zu Chloe Carmichael zu sein, und schon gar nicht wollte er versuchen, ihre Beziehung von damals wiederaufleben zu lassen. Immerhin hatte er sich vor vierzehn Jahren fast ein Bein für sie ausgerissen, aber es war alles nach hinten losgegangen. Nein, mit Chloe wollte er sich nicht noch einmal einlassen.

Während der kurzen Zeit, die sie nun in Northbridge war, wollte er zusehen, dass sie zivil miteinander umgingen. Dafür würde er sich allerdings zusammennehmen und seine alten Wunden vergessen müssen.

„Hey, warum bist du denn schon so früh wach?“

Reid drehte sich um und erblickte seinen Bruder Luke, mit dem er zusammenwohnte. Offenbar war er gerade erst aufgestanden, er kam barfuß den Flur entlang.

„Du glaubst nicht, was gestern Nacht passiert ist“, sagte Reid.

„Meinst du damit den Schneesturm? Der hat doch schon losgetobt, bevor ich ins Bett gegangen bin“, erwiderte Luke und wies mit dem Kopf zum Fenster.

„Nein, ich meine etwas anderes. Der Schneesturm hat uns sozusagen eine Überraschung zur Tür hereingeweht.“

„Aha. Und was soll das sein?“

„Chloe Carmichael“, verkündete Reid.

Schlagartig war Luke hellwach. Er hob die Brauen und starrte seinen Bruder mit großen Augen an. Einen Moment lang blieb er sprachlos, dann sagte er: „Chloe Carmichael ist hier? In Northbridge?“

Reid wies ebenfalls mit dem Kopf zum Fenster. „Nicht nur das, sie wohnt auch noch genau gegenüber.“

Luke zog eine Grimasse und fluchte leise, dann stellte er sich neben Reid, um das Haus in Augenschein zu nehmen, das sie erst kaufen und dann vermieten wollten. Von Chloe Carmichael war allerdings weit und breit nichts zu sehen. „Woher weißt du das?“, hakte Luke nach.

„Sie war gestern gegen Mitternacht in der Notaufnahme, weil sie mit dem Wagen einen Telefonmast gerammt hat.“

„Ist sie verletzt?“

„Nein“, antwortete Reid. „Sie hat bloß ein paar Kratzer abbekommen. Zumindest hoffe ich, dass das wirklich alles ist. Ich habe sie nämlich nicht so gründlich untersucht, wie ich es sonst tue.“

„Ich brauche jetzt erst mal einen Kaffee“, sagte Luke und ging in die Küche, als könnte er es keine Sekunde länger aushalten.

Nun löste sich auch Reid endlich vom Fenster und folgte seinem Bruder, um seine eigene Kaffeetasse aufzufüllen. Schließlich saßen beide auf Plastikstühlen am Resopaltisch, der jahrzehntelang bei ihrer Mutter im Keller gestanden hatte, bevor Luke und Reid ihn zu ihrem neuen Küchentisch erklärt hatten.

„Dann ist sie jetzt also drüben im Haus“, vergewisserte sich Luke.

„Ja. Ein schöner Schreck in der Morgenstunde, was?“

„Kann man wohl sagen. Weiß sie, dass wir schon renovieren?“

Betty, die Immobilienmaklerin, hatte den Brüdern schon mal einen Schlüssel überlassen, weil sie von Chloe das Einverständnis hatte, die nötigen Reparaturen und Renovierungsarbeiten von Handwerkern durchführen zu lassen. Reid und Luke hatten angeboten, die Arbeiten selbst zu erledigen. Das war erstens günstiger, und zweitens konnten sie sich auf diese Weise alles so herrichten, wie sie es selbst gern hätten. Es stand zwar noch nicht hundertprozentig fest, ob der Verkauf überhaupt zustande kommen würde, aber im Grunde zweifelte niemand daran, und Reid und Luke waren bereit, das Risiko einzugehen.

„Um ehrlich zu sein, habe ich ihr noch gar nichts von der Sache mit dem Haus erzählt“, informierte Reid seinen Bruder. „Das war wohl nicht so … nett von mir.“

Luke runzelte die Stirn. „Wie unnett warst du denn zu ihr? So unnett, dass Chloe sich die Sache mit dem Hausverkauf noch mal anders überlegen könnte?“

„Nein, verkaufen will sie auf jeden Fall. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie das Ganze nur deswegen platzen lässt, weil ich ein bisschen unfreundlich zu ihr war.“ Tatsächlich war Reid nicht nur ein bisschen, sondern extrem unfreundlich gewesen … allerdings verschwieg er das seinem Bruder lieber.

„Sagen wir einfach, ich habe mich nicht gerade wie ein guter Nachbar verhalten“, fuhr Reid fort. „Wahrscheinlich hätte ich mich erkundigen sollen, wo sie wohnt, und sie dann mitnehmen sollen. Wo sie doch wegen des Unfalls keinen Wagen mehr hatte, aber …“

„Was, du hast ihr das nicht angeboten?“

„Nein, aber Molly ist für mich eingesprungen. Wir sind dann als eine Art Minikolonne hintereinander hergefahren, Molly und Chloe im ersten Wagen und ich im Zweiten. Dann bin ich hier die Auffahrt hochgefahren, und Molly hat Chloe gegenüber rausgelassen.“

Autor

Victoria Pade

Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...

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