Entscheidung am Valentinstag

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Als der erfolgreiche Geschäftsmann J.D. in ihrem Krankenhaus auftaucht, fühlt sich die schüchterne Ärztin Ella sofort zu ihm hingezogen. Doch er arbeitet für einen Konzern, der aus ihrem kleinen Hospital eine hochmoderne Klinik machen will, in der Profit an erster Stelle steht und nicht das Mitgefühl und Verständnis für die Patienten. Verzweifelt kämpft Ella gegen J.D.s Pläne, aber sie kann nicht verhindern, dass ihre Gefühle für ihn intensiver werden. Am Valentinstag muss er sich entscheiden: Wird J.D. erkennen, dass wahre Gefühle viel mehr wert sind als alles Geld der Welt?


  • Erscheinungstag 28.12.2008
  • Bandnummer 1661
  • ISBN / Artikelnummer 9783862953400
  • Seitenanzahl 160
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

J. D. schlug die Augen auf und blinzelte in das Grau des anbrechenden Tages.

Einen Moment lang wusste er nicht, wo er sich befand. Dann fiel es ihm wieder ein. Er war in Walnut River, Massachusetts, seinem Geburtsort – und in dem Krankenhaus, in dem er zur Welt gekommen war.

Er stöhnte auf, als er sich an die Nacht erinnerte, die hinter ihm lag. Nichts als Schmerzen und unruhige Träume. Er lag im Bett, war an einen Tropf angeschlossen, und sein rechtes Knie …

Nein, daran wollte er jetzt nicht denken.

Draußen auf dem Korridor erwachte die Klinik. In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Die Verwaltungsratssitzung des Walnut River General Hospital am Vorabend. Der Schneesturm. Sein Knie, das ein knackendes Geräusch von sich gegeben hatte, als er auf diesen verdammten vereisten Stufen ausgerutscht war. Und dann … oh, Mann … der stechende Schmerz.

War er ohnmächtig geworden? Er wusste es nicht. Er wusste nur noch, dass er wahnsinnige Schmerzen gehabt hatte.

Er hätte das Knie schon vor Jahren in Ordnung bringen lassen sollen. Hatte er denn nicht schon in der Schule beim Basketball gemerkt, dass damit etwas nicht stimmte? Als der Arzt ihm etwas von einem „Springerknie“ erzählte? Hatte er auf den Mann gehört? Nein. Stattdessen hatte er jahrelang rezeptfreie Schmerzmittel geschluckt. Und vor sieben Jahren hatte er auch noch das Schicksal herausgefordert, indem er sich sofort nach der Einstellung bei Northeastern Healthcare dem Basketballteam der Firma angeschlossen hatte.

Was warst du doch für ein arroganter Esel!

J. D. stöhnte erneut. Er verfluchte das Februarwetter. Er verfluchte Eis und Schnee und sich selbst, weil er in diesen winzigen Fleck auf der Landkarte von Massachusetts zurückgekehrt war. Und er verfluchte die Tatsache, dass er jetzt darauf warten musste, operiert zu werden – ausgerechnet von der allseits respektierten Dr. Ella Wilder. Dabei hatte er sich ausgerechnet mit der Familie Wilder gerade erst angelegt! Na ja, angelegt war vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Sein Auftrag bestand darin, sie – notfalls bei gutem Essen und edlem Wein – davon zu überzeugen, dass ihre Zukunft bei Northeastern Healthcare lag. Dass nur ein großer Klinikkonzern eine effiziente medizinische Versorgung garantierte, wie sie sich ein altmodisches kleines Krankenhaus wie dieses auf keinen Fall leisten konnte.

Wenn er seinen Job richtig machte, würde das Walnut River General in wenigen Monaten zu NHC gehören – wovon sowohl die Patienten als auch die Ärzte profitieren würden. Auch in Walnut River würden endlich moderne Zeiten anbrechen.

Aber erst musste er gesund werden. Und zwar schnell.

Sechs Stunden später wartete J. D. noch immer auf seine Operation. Ganz offenbar zeichnete sich dieses Provinzkrankenhaus nicht gerade durch Schnelligkeit aus. Aus seiner Nervosität wurde Besorgnis. Sicher, sie hatten ihm erklärt, dass die Notaufnahme überlastet war. Aber seit er hier war, hatte er noch keinen Arzt zu Gesicht bekommen.

Hör auf, dich verrückt zu machen, J. D. Dein Rollbett ist das dritte in der Warteschlange für den OP. Es wird nicht mehr lange dauern. Was ihn kein bisschen ruhiger machte.

Verdammt noch mal. Wussten diese Leute denn nicht, wie sehr er das Walnut River General hasste? Seine Mutter Grace Sumner war hier gestorben. An einem Blutgerinnsel im Gehirn, als Folge des Kaiserschnitts bei seiner Geburt. Das hatte jedenfalls sein Vater behauptet.

Man geht ins Krankenhaus, um zu sterben. Basta. So lange J. D. denken konnte, waren die Worte seines alten Herrn das Motto der Familie.

Ja, Grace war der Grund dafür, dass J. D. sein Knie nicht schon vor Jahren hatte behandeln lassen. Niemand würde ihn aufschneiden und tödliche Blutgerinnsel verursachen. Aber seit gestern Abend war ihm klar, dass er operiert werden musste. Es sei denn, er wollte für den Rest seines Lebens am Stock gehen und auch noch Arthritis bekommen, bevor er vierzig war.

Wo zum Teufel blieb diese Wilder? Er gab es nur ungern zu, aber wie sie ihn gestern Abend in der Notaufnahme berührt, mit ihm gesprochen, ihn angelächelt hatte …

„Mr. Sumner“, hatte sie ihn begrüßt. „Ich bin Dr. Ella Wilder. Wie ich höre, sind Sie auf einer Treppe gestürzt und haben sich das Knie verletzt.“ Am Kragen ihres weißen Kittels hing ein pinkfarbenes Stethoskop.

„Ich sollte das Krankenhaus verklagen“, knurrte er und funkelte sie mit halb geschlossenen Augen an. Mit einer Ärztin hatte er nicht gerechnet. Und schon gar nicht mit einer, die aussah wie ein französisches Topmodel.

„Das macht Ihr Knie auch nicht wieder gesund“, erwiderte sie und untersuchte sein Bein.

Der Sanitäter – hieß er nicht Mike O’Rourke? – hatte J. D. auf der verschneiten Treppe zum Parkplatz gefunden. In der Notaufnahme hatte der Mann die teure Hose aufgeschnitten, damit das Bein geröntgt werden konnte.

Ella Wilder streifte Latexhandschuhe über und tastete behutsam über die Schwellung. „Sagen Sie mir, wenn es wehtut.“

Er zuckte zusammen, und sie nickte. „Das müssen wir uns mit einer Magnetresonanztomografie genauer ansehen.“

„Glauben Sie, ich habe mir etwas gebrochen?“ Er versuchte, den Oberkörper aufzurichten.

„Nach den Röntgenbildern nicht. Aber ich brauche mehr Informationen über das Gewebe um und unter der Kniescheibe. Außerdem müssen wir ein Blutbild machen, um festzustellen, ob es Anzeichen für eine Arthritis gibt.“

„Arthritis?“ Er biss sich auf die Unterlippe, als sie das Gelenk bewegte. „Soll das heißen … ich werde alt?“

„Überhaupt nicht.“ Ihr schwarzes Haar streifte ihr Kinn, als sie die Handschuhe auszog. „Arthritis kann man in jedem Alter bekommen.“

„Großartig.“

„Warten wir ab, was die Tomografie ergibt. Wenn es das ist, was ich vermute, operieren wir Sie morgen, sobald die Schwellung abklingt.“ Ihr Lächeln war wie ein Sonnenstrahl, und eine Sekunde lang vergaß er die Schmerzen. „Bis dahin legen wir Sie ins Bett und geben Ihnen ein paar Tabletten.“

„Ich brauche keine Tabletten“, murmelte er. „Ich will nicht hierbleiben.“

Sie tätschelte seine Hand. „Glauben Sie mir, die Tabletten helfen Ihnen, das Pochen loszuwerden.“

Trotz der Schmerzen zog er einen Mundwinkel hoch. „Werden Sie mich behandeln?“

„Wenn es das ist, was ich vermute, ja.“

Er schloss die Augen. „Gut. Für Sie poche ich gern.“

Du meine Güte. Warst du gestern Abend nicht bei Sinnen, oder bist du einfach nur ein kompletter Idiot? J. D. konnte nicht fassen, dass er das tatsächlich gesagt hatte. Noch dazu zu einer Ärztin. Er musste sich bei ihr entschuldigen, möglichst noch vor der Operation. Dass jemand, der sauer auf ihn war, an ihm herumschnippelte, war das Letzte, was er brauchte.

Auf der anderen Seite des Warteraums für den OP hustete ein alter Mann rasselnd. Es klang beinahe, als wäre seine Lunge voller Kies. Wie aus dem Nichts erschien eine Krankenschwester, hob seinen Kopf an und fragte ihn, ob er Schmerzen hätte, ob jemand bei seiner Frau sei und ob sein Sohn noch bei der Zeitung arbeitete. J. D. stöhnte auf. Diese Art von Gespräch fehlte ihm gerade noch.

Er sah auf die Wanduhr. 12.33 Uhr. Vor achtzehn Stunden war er auf der Treppe zum Parkplatz ausgerutscht.

Noch nie in seinem Leben hatte er so untätig herumgelegen. Zugegeben, bisher kümmerten sie sich gut um ihn. Schwestern, Ärzte und Techniker waren freundlich und brachten ihm prompt, worum er bat. Zeitschriften, Wasser, Saft … alles bis auf einen frühen OP-Termin.

New York. Dort sollte er jetzt sein, in seinem eleganten Büro mit dem Kirschholzschreibtisch und der tüchtigen Sekretärin. Verdammt, er hatte sich doch nicht auf der Karriereleiter von NHC nach oben gekämpft, indem er auf der faulen Haut gelegen hatte!

„Hallo, Mr. Sumner“, sagte eine sanfte Stimme, bevor ein blauer Kittel und ihr Gesicht vor ihm auftauchten.

Was für eine attraktive Frau, dachte er. Und dann diese dunklen Augen … Ein Braun, das er nicht recht beschreiben konnte – bis ihm die Haselnüsse einfielen, die seine Sekretärin ihm zu Weihnachten geschenkt hatte.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte Ella Wilder. Natürlich ahnte sie nicht, was ihm gerade durch den Kopf ging. Heute Nachmittag steckte das pinkfarbene Stethoskop in einer Brusttasche.

„Ich langweile mich zu Tode“, knurrte er.

Sie lächelte. „Sie sind bald an der Reihe. Die Operation vor Ihrer dauert etwa eine halbe Stunde.“ Sie betrachtete sein mit Eis gekühltes Knie und markierte die Stelle, an der sie den Eingriff vornehmen würde. „Die Schwellung ist zurückgegangen. Das ist gut.“

Ihr Haar war dunkelbraun, und sie hatte sich die Locken hinter die Ohren gestrichen.

Sie stellte ihm noch einige Fragen. Nach der Verletzung, ob sein Name Jared Devlin Sumner war und ob er seine Medikamente genommen hatte.

„Das habe ich doch alles schon der Schwester gesagt“, knurrte er. Es ärgerte ihn, dass er noch nicht einmal in dieser Situation aufhören konnte, ihren hinreißenden Körper zu betrachten.

„Wir fragen lieber noch mal nach. Das ist Vorschrift“, erklärte sie und notierte etwas auf seinem Patientenblatt. „Haben Sie in Walnut River Angehörige, Mr. Sumner?“

„Nein.“ Nun ja, er hatte einen. Aber sein alter Herr ging niemanden etwas an. „Das hier ist doch keine große Sache, oder?“ Natürlich würde er es niemals zugeben, aber die Vorstellung, dass ein Messer in sein Fleisch eindrang, bereitete ihm höllische Angst.

Ihre Blicke trafen sich. „Es müsste alles gut gehen.“

„Müsste? Das klingt nicht sehr ermutigend.“ J. D. schluckte schwer.

Wieder das Lächeln. Er mochte ihren Mund. Den süßen kleinen Körper, die Augen … den tollen Mund … Verdammt, er mochte alles an ihr.

„Sie werden wieder gesund, Mr. Sumner.“

„Vielleicht verklage ich das Krankenhaus. Die Treppe hätte nicht vereist sein dürfen.“ Er klang wie eine der zerkratzten Schallplatten seines Vaters, bei denen dauernd die Nadel hängen blieb.

Sie zog eine dunkle Braue hoch. „Haben Sie Winterstiefel getragen?“

„Ich hatte festes Schuhwerk an.“

Die Braue blieb oben. „Nicht, soweit ich gestern Abend sehen konnte.“

In der Notaufnahme hatten sie ihm die fünfhundert Dollar teuren Gucci-Slipper ausgezogen. „Schon gut. Ich hab’s kapiert.“

Wieder tätschelte sie seine Hand. „Sie sind nicht der Erste, der unser Wetter unterschätzt hat.“

„Ich bin hier aufgewachsen.“ Warum erzählte er ihr das?

Dieses Mal zuckten beide Brauen hoch. „So?“

„Es ist lange her.“

„Vor meiner Zeit, was?“

Er lächelte. „Ich bin nicht viel älter als Sie, Doc.“ Er schätzte sie auf Anfang dreißig.

„Laut Ihrem Patientenblatt sind Sie sieben Jahre älter.“ Ihre Wangen verfärbten sich ein wenig, und sie schaute hastig zur Seite. „Wir sehen uns im OP.“

„Augenblick mal. Sie sind neunundzwanzig? Sind Sie eine richtige Ärztin?“

Sie schnaubte. „Ich habe meine Assistenzzeit im letzten Jahr abgeschlossen.“

„Kann ich Ihnen mein Knie anvertrauen?“

„Sie können mir vertrauen.“

„Wo habe ich das nur schon mal gehört?“

„Bis gleich, Mr. Sumner“, sagte sie und ging davon.

J. D. schluckte. In weniger als vierundzwanzig Stunden hatte er sie zwei Mal gekränkt, und jetzt sollte er sich unters Messer legen. Unter ihr Messer.

Und er hatte vergessen, sich bei ihr zu entschuldigen.

Kann ich Ihnen mein Knie anvertrauen? Die Worte gingen Ella nicht aus dem Kopf, während sie sich auf die Operation vorbereitete.

Du meine Güte, dachte sie, wenn der Mann wüsste, wie nahe mir seine Frage geht. Sie atmete tief durch und überprüfte die Instrumente, die die OP-Schwester bereitgelegt hatte. Du bist keine Assistenzärztin mehr. Du bist ausgebildete Chirurgin. Eine begabte Operateurin. Du weißt, was du tust.

Die Worte ihrer Therapeutin beruhigten ihr klopfendes Herz und die zitternden Finger. Noch mal tief Luft holen …

Sumner wurde hereingefahren, und sie sah ihm an, dass das Beruhigungsmittel wirkte.

Shelly, die zweite Schwester, ging noch einmal die Checkliste durch. Sie vergewisserte sich, dass es sich um den richtigen Patienten handelte, indem sie sein Armband, die Röntgenbilder, Einwilligungserklärungen und Laborergebnisse überprüfte. Dann stellte sich der Narkosearzt Brad dem Patienten vor.

Ella schaute sich auf dem Monitor seine Werte an.

„Wir können“, verkündete Brad. Sumner war in Vollnarkose.

„Dann lasst uns anfangen.“

Eine Stunde später streifte sie die Handschuhe ab und warf sie in den Abfalleimer. Sie hatte den beschädigten Knorpel repariert. Der Mann hatte Glück gehabt – die Kniescheibe hatte sich nicht verschoben, und das Gewebe war nicht ernsthaft verletzt. Aber der Sturz hatte den rechten Meniskus lädiert, und nachdem Ella gestern Abend die Röntgenaufnahmen und am Morgen die Tomografie-Aufnahmen studiert hatte, war klar gewesen, dass sich dieser Eingriff nicht vermeiden ließ.

Jetzt wurde der Patient aus dem OP gerollt. In einer Viertelstunde würde sie nach ihm sehen, aber erst mal brauchte sie einen Schluck Wasser. Der Stress der Operationen und das grelle Licht im Saal machten sie immer durstig. In dem kleinen Aufenthaltsraum der Ärzte saß ihr Bruder Peter mit einem Kaffee an einem der beiden Tische und las ein mehrere Seiten langes Schreiben.

„Hallo Peter.“ Sie holte die Flasche Wasser, die sie von zu Hause mitgebracht hatte, aus dem Kühlschrank.

Er warf ihr einen Blick zu. „Hi Ella.“

Sie setzte sich zu ihm, trank einen kräftigen Schluck und zeigte auf den Brief. „Was ist das?“

„Mal wieder die Gesundheitsbehörde. Sie behaupten, dass wir uns zu sehr auf die kostenintensive Betreuung, wie sie es nennen, konzentrieren. Und nicht genug auf die schnelle, effiziente Behandlung der Patienten.“ Er schob das Schreiben in die große braune Mappe mit der Aufschrift Dr. P. Wilder, Chefarzt. Darüber stand vertraulich.

„Darfst du mir das überhaupt erzählen?“, fragte sie und hoffte, er würde es verneinen. Sie hatte weder Zeit noch Lust, sich mit unsinnigen Anschuldigungen zu befassen. Sie kannte alle Gerüchte und Verdächtigungen und versuchte ganz einfach, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

Zu den Gerüchten hatte zweifellos auch die Auseinandersetzung zwischen Peter und seiner jetzigen Verlobten Bethany Holloway beigetragen – bevor die beiden sich ineinander verliebt hatten. Als Neuling am Walnut River General und im Verwaltungsrat hatte Bethany sich anfänglich für die Übernahme durch Northeastern Healthcare eingesetzt – bis Peter sie davon überzeugt hatte, dass NHCs finanzielle „Unterstützung“ dem alteingesessenen Krankenhaus die Seele nehmen würde.

Jetzt zuckte er mit den breiten Schultern. „Das Meiste weißt du ohnehin schon“, sagte er.

„Obwohl ich es nicht will“, erwiderte Ella ehrlich. „Politik war noch nie meine Stärke.“

Er lächelte nachsichtig. „Ella, du warst immer die Schlaueste von uns. Das wissen wir spätestens, seit du mit zwei Jahren Moms Kekse nachgezählt hast, um sicher zu sein, dass Anna auch einen abbekam.“

Anna war die Schwester, die vor etwa zehn Jahren auf Distanz zur Familie gegangen war. Ella rieb sich die Stirn. „Ich wünschte …“

„Was?“

„Ich wünschte, Anna würde uns endlich glauben, dass wir sie wirklich lieben.“

„Das muss sie ganz allein schaffen, Ella.“

Sie schwiegen einen Moment lang, und die alltäglichen Geräusche des Krankenhauses drangen herein. Auf dem Korridor quietschten die Reifen eines Medikamentenwagens, ein Rufgerät meldete sich, jemand von der Haustechnik klapperte mit seinen Schlüsseln. All das hatte eine beruhigende Wirkung auf Ella, seit sie als Kleinkind zum ersten Mal mit ihrem Daddy Dr. James Wilder die Klinik betreten hatte.

Manchmal vermisste sie ihn so sehr, dass es wehtat und sie nach Luft ringen musste.

Unwillkürlich dachte sie an den Mann, dessen Knie sie operiert hatte. J. D. Sumner, Manager von Northeastern Healthcare, war vor zwei Tagen aus New York gekommen, um den Verwaltungsrat für die Übernahme zu gewinnen. Ein Mann, der hier war, um das Lebenswerk ihres Vaters zu zerstören. So sah es jedenfalls Peter.

Ein Mann, der die grünsten Augen besaß, die sie je gesehen hatte – wie Moos an einem Baum im Wald.

Moos an einem Baum? Du meine Güte, Ella. Hast du den Verstand verloren?

Hastig verdrängte sie den albernen Vergleich. „Sumners OP ist gut verlaufen, aber er muss noch ein paar Tage an Krücken gehen.“ Ihre Lippen zuckten. „Allerdings traue ich ihm sogar zu, noch im Krankenhaushemd im Verwaltungsrat aufzutauchen.“

Peter grinste. „Das werde ich Beth sagen. Sie sammelt Informationen über ihn, um auf alles vorbereitet zu sein.“ Er tippte auf die Mappe.

„Ich muss nach ihm sehen“, sagte Ella.

Nach einem letzten Schluck Wasser stellte sie die leere Flasche in die Kiste neben dem Kühlschrank und ging hinaus. Sie konnte noch immer nicht glauben, dass sie ausgerechnet mit Sumner über ihr Alter und ihre Berufserfahrung gesprochen hatte. Zum Glück hatte sie ihm nicht noch etwas verraten – ich fühle mich im OP unsicher und gehe deshalb zu einer Psychotherapeutin in Springfield.

Gott bewahre.

Als Ella den Aufwachraum betrat, sah sie, dass ihr Patient langsam zu sich kam.

„Hey Doc“, murmelte er blinzelnd und mit schwerer Zunge, bevor ihm die Augenlider wieder zufielen.

Egal, welchen Auftrag der Mann hatte, wichtig war jetzt nur, dass sein Knie wieder gesund wurde. Sie lächelte mitfühlend und legte ihre kühlen Finger auf seine Stirn, während sie an seinem mit Sommersprossen übersäten Handgelenk nach dem Puls tastete. Sehr gut – er ging kräftig und gleichmäßig. Die Haut war etwas zu warm, aber das war so kurz nach einer Operation normal.

Gott sei Dank. Das war gut gegangen.

Hör auf, wie eine Assistenzärztin zu denken! Konzentrier dich auf deinen Patienten.

Genau das tat Ella. Er war groß, schlank und muskulös. Sie kannte die menschliche Anatomie in- und auswendig. Elf Jahre Schule, das lange Studium und die Assistenzzeit hatten ihr ein profundes Wissen verschafft. Abgesehen von dem lädierten Knie war Sumner kerngesund.

„Die Operation ist erfolgreich verlaufen“, sagte sie leise, und wie von selbst strich ihre Hand ihm das Haar aus dem Gesicht.

Es war dunkelbraun und dicht und fühlte sich herrlich an. Die Farbe erinnerte sie an einen Eichenwald im Herbst.

Schon wieder der Wald. Was war los mit ihr? Sie gehörte doch gar nicht zu den Leuten, die ständig in der Natur herumrannten!

„Fühlt sich gut an, Doc.“ Seine Stimme klang schon deutlicher. Langsam richtete er den Blick auf ihr Gesicht. „Ihre Finger sind schön kühl.“

Um Himmels willen, was fiel ihr ein? Rasch zog sie die Hand zurück, aber nicht bevor er matt lächelte und sie es tief im Bauch spürte. „Die Schwestern bringen Sie gleich in Ihr Zimmer zurück“, sagte sie. „Sie müssen die Kniestütze noch ein paar Tage tragen, um das Bein gerade zu halten. Außerdem möchte ich, dass Sie an Krücken gehen, bis Sie das Bein ohne Schmerzen belasten können.“

Er hatte Mühe, die Augen offen zu halten. „Kann ich einen Schluck Wasser bekommen? Mein Mund ist so trocken wie die Wüste von Arizona.“

„Die Schwester wird Ihnen etwas geben.“ Bei jedem anderen hätte Ella es selbst getan. Aber J. D. Sumner hatte etwas an sich, das sie verwirrte und ihren Bauch kribbeln ließ, sobald sie den Mann berührte. Gleich als er in die Notaufnahme gekommen war, schneebedeckt und mit schmerzverzerrtem Gesicht, hatte sie es gespürt. Glücklicherweise hatte sie es bei der Operation ignorieren können.

„Nein, Sie“, bat er. „Ich möchte, dass Sie …“

„Yolanda kann …“

„Bitte.“ Er griff nach ihrer Hand, und sie zuckte zusammen. „Sie.“

„Mr. Sumner, ich habe noch andere Patienten.“

„J. D. Ich heiße … J. D.“

In seinen Augen nahm sie die gleiche Nervosität wahr wie vor der Operation. Aus irgendeinem Grund hatte NHCs Spitzenmann Angst. Aber wovor? Vor Krankenhäusern im Allgemeinen? Hatte er sein Knie deshalb nicht schon vor Jahren behandeln lassen? Warum hatte er sein „Springerknie“ so lange ignoriert?

Wieder wurde ihr warm ums Herz. Ella wusste, wie ängstlich viele Patienten und ihre Angehörigen waren, und normalerweise gab sie sich alle Mühe, sie zu beruhigen. J. D. Sumner war keine Ausnahme.

„Na gut“, gab sie nach und nickte der Schwester zu, die gerade seine Füße zudeckte. Sekunden später reichte Yolanda ihr eine Plastikflasche Wasser, in der ein Strohhalm steckte.

Behutsam schob Ella eine Hand unter seinen Kopf und genoss es, erneut sein dichtes Haar zu spüren. Sie hob den Kopf etwas an, damit er den biegsamen Strohhalm in den Mund nehmen konnte. Die Lippen waren perfekt geformt, wenn auch trocken von der Narkose. Dunkle Stoppeln bedeckten das energische Kinn.

Als Kind musste er Sommersprossen gehabt haben.

Er trank vorsichtig und betrachtete sie dabei. Ihre Blicke trafen sich, und sofort fühlte sie wieder das Kribbeln im Bauch. Im Grün seiner Augen glitzerte es wie Goldstaub. Aber das Überraschendste waren die Wimpern – schwarz und lang, ein wenig geschwungen. Um das gleiche Ergebnis zu erzielen, müsste sie selbst eine spezielle Mascara verwenden.

„Danke“, sagte er heiser.

Sie nahm die Hand von seinem Hinterkopf und stellte die Flasche ab. „Gern geschehen. Yolanda wird sich jetzt um Sie kümmern.“

„Sehe ich Sie wieder?“

„In etwa einer Stunde. Bis dahin sollten Sie schlafen.“ Sie lächelte aufmunternd. Jedenfalls hoffte sie, dass es so wirkte. „Sie sind bald wieder auf den Beinen“, versprach sie und wandte sich ab.

„Doc? Das mit gestern Abend tut mir leid. Was ich gesagt habe, meine ich. Das mit dem Pochen.“

„Schon vergessen. Der Schmerz lässt einen manchmal die seltsamsten Dinge sagen.“ Das stimmte.

„Sie sind Peter Wilders Schwester.“

„Ja.“

Er lächelte schwach. „Sie sind viel hübscher als er. Aber … das wird mich nicht davon abhalten, die Interessen von NHC zu vertreten.“

Natürlich nicht. „Mr. Sumner, ich habe Wichtigeres zu tun, als mir den Kopf darüber zu zerbrechen, welche Asse Sie im Ärmel haben.“

„In Ihrem steckt ein süßer Arm.“

„Ich muss gehen“, sagte sie nur, aber sein Blick kam ihr vor wie eine körperliche Berührung.

„Die hübsche Lady errötet.“

Kopfschüttelnd verließ sie den Aufwachraum. Wie schaffte der Mann es bloß, ihr mit ein paar beiläufigen Worten die Sprache zu rauben? Mit einem einzigen Blick? Reiß dich zusammen, Ella. Du bist Ärztin, und er … er ist Patient!

Und der männlichste Mann, der ihr seit Jahren begegnet war.

Du meine Güte, allein die Länge seiner Wimpern bewirkte bei ihr Herzrhythmusstörungen. Ein Blick von ihm, und ihre Handflächen wurden feucht, als säße sie im neunten Schuljahr direkt hinter dem heißesten Jungen der Klasse! Dabei war sie dreißig und eine erfolgreiche Ärztin.

Und nicht zu vergessen, noch immer Jungfrau.

Der Gedanke, dass sich daran unter Umständen auch bis zu ihrem nächsten Geburtstag nichts ändern würde, war schrecklich.

Verdammt. Sie hätte sich vor vier Jahren mehr Mühe geben müssen, Tyler seine angebliche Impotenz auszureden. Und die Idee, dass er kein „ganzer“ Mann war, nur weil er im Rollstuhl saß. Aber als junge Assistenzärztin war sie viel zu beschäftigt gewesen, um zu verhindern, dass ihre Beziehung platonisch wurde. Erst später war ihr bewusst geworden, dass sie Tyler nicht so geliebt hatte, wie eine Frau einen Mann lieben sollte. Sie hatte ihn nur wie einen guten Freund geliebt.

Vielleicht, wenn sie Sex gehabt hätten … Nein, sie wollte sich nichts vormachen. Er war für sie nur ein Sicherheitsnetz gewesen. Sie war eine gute Ärztin geworden und hatte darüber die Frau in ihr vernachlässigt.

Trotzdem, hätten sie miteinander geschlafen oder wären sie auch nur auf andere Weise intim gewesen, dann wäre sie heute gelassener und selbstsicherer im Umgang mit den J. D.s dieser Welt.

Hübsch. Sein Wort ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie hatte sich nie für hübsch gehalten. Ihre Schwester war die Hübsche. Nein, mit ihrem hellblonden Haar und den strahlend blauen Augen war Anna sogar die Schöne.

Wenn J. D. Sumner erst Anna sähe, würde er Ella keines Blicks mehr würdigen. Ella mit ihren schlichten braunen Augen und dem glatten dunklen Haar, das sie kürzte, sobald es auf den Kragen ihres Kittels fiel.

Sei dankbar für das, was du hast, Ella.

Und sie war dankbar. Für vieles. Ihre Geschwister. Dieses Krankenhaus, das Lebenswerk ihres verstorbenen Vaters. Das Geld ihrer Familie, das ihr ein Studium ermöglicht hatte. Ihre Intelligenz.

Warum konnte sie nicht dankbar und hübsch sein?

Ella gab sich einen Ruck. Sie hatte keine Zeit für das hier – diese alberne Eitelkeit. Sie hatte das Genfer Gelöbnis abgelegt. Wichtig waren nur ihre ärztlichen Fähigkeiten. Sie konnte es sich nicht leisten, über J. D. und seine Erfahrungen mit schönen Frauen nachzudenken.

Das sagte sie sich zumindest … und zwar in jeder freien Sekunde ihres Dienstes.

2. KAPITEL

Um acht Uhr abends fuhr Ella ihren Toyota in die Garage und stellte den Motor aus. Hundemüde saß sie da und lauschte dem Ticken unter der Haube. Der Wagen war das letzte Geburtstagsgeschenk ihres Vaters gewesen, einen Monat vor seiner Pensionierung – und seinem viel zu frühen Tod.

Sie erinnerte sich an die große rote Schleife und die riesige Karte auf dem Fahrersitz. Alles Gute zum 29., Ella! In immerwährender Liebe, Dad.

Ihre Augen brannten. Nie wieder würde sie sich an seine breite Brust schmiegen, seine freundliche Stimme hören, die kräftigen Hände in ihrem Haar oder seine Arme um ihre Schultern fühlen.

Es war ihr schönster Geburtstag gewesen. Irgendwann in der Nacht hatte er ihren alten Chevy abholen lassen und den neuen Wagen in die Garage gefahren. Um fünf Uhr morgens, eine Stunde vor ihrem Dienstbeginn im Krankenhaus, hatte er an ihrer Haustür geläutet.

Ella sah noch, wie er auf der schmalen Veranda stand, einen Becher Kaffee in der einen Hand, eine Tageszeitung in der anderen. Und mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht.

Die aufgehende Sonne schien auf sein graues Haar, als er sie durch den kleinen Garten mit den großen alten Ahornbäumen zur Garage führte und sie bat, ihn zur Klinik zu fahren, weil er ein Taxi genommen hätte, um ihr zu gratulieren.

Und dann sah sie den kleinen blauen Toyota.

Oh, Daddy, ich hoffe, du weißt, dass ich dich wahnsinnig vermisse.

Seufzend drückte sie auf die Fernbedienung des Garagentors, bevor sie nach dem Behältnis mit der Muschelsuppe aus ihrem Lieblingsrestaurant griff und ausstieg. Wie immer, wenn sie Überstunden machte, war sie noch bei Prudy’s Menu vorbeigefahren.

Autor

Mary J Forbes
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