1. KAPITEL
„Hi, Lily, hier ist Janice.“
Als ob Lily die Stimme ihrer Schwester nicht auf Anhieb erkennen würde. „Hör mal, Hailey, da ist deine Mommy – endlich!“, sagte sie zu dem gurgelnden Baby auf ihrer Hüfte.
„Dada“, blubberte Hailey.
Mit sieben Monaten konnte sie noch lange nicht sprechen, aber Lily glaubte zu verstehen, was sie meinte. „Hailey sagt Hallo und dass sie sich darüber freut, deine Stimme zu hören.“
Lily ging mit dem Telefon ins Wohnzimmer und quetschte sich zwischen dem Stuhl und dem kleinen Schreibtisch hindurch, die ihr als Büro dienten. „Sie ist ein Schatz, aber ich bin gleich zum Mittagessen mit meinen Freundinnen verabredet. Heute ist nämlich mein Geburtstag.“
„Oh mein Gott, ist heute etwa der dreißigste April? Das habe ich ja total vergessen! Dreißig am Dreißigsten. Happy Birthday, Lily. Oder sollte ich sagen, alte Dame?“
Lily verzog das Gesicht. „Sehr witzig! Du bist auch nicht viel jünger als ich.“
Hailey wurde allmählich schwer, sodass Lily über den mit Babysachen übersäten Couchtisch kletterte und sich mit Hailey aufs Sofa fallen ließ. Sie schlang einen Arm um den kleinen Körper des Babys. „In nur zwei Jahren bist du fällig.“
„Darüber will ich noch gar nicht nachdenken.“
Diese Antwort war typisch für Janice. Manchmal wirkte sie wirklich so verantwortungslos wie ein Teenager. „Zurück zu Hailey“, sagte Lily. „Du solltest sie in diesem Augenblick abholen. Das hast du doch hoffentlich nicht auch vergessen, oder?“ Lily lachte nervös. „Unsinn, als ob du deine eigene Tochter vergessen könntest.“
Doch so abwegig war das gar nicht. Wenn Janice frisch verliebt war, hatte sie nämlich nur noch ihren Typen im Kopf – genauso wie ihre Mutter. Zurzeit war sie mit dem Bassisten einer Rockband zusammen und hatte mit ihm gerade ein romantisches Wochenende in San Francisco verbracht.
Janice gab keine Antwort.
„Dein Flugzeug war pünktlich“, fuhr Lily fort. „Ich habe extra im Internet nachgesehen. Wo bleibst du?“
„Na ja …“
Janices Zögern ließ bei Lily sämtliche Alarmglocken schrillen. Da Hailey allmählich unruhig wurde, legte sie sie auf den Rücken. Das Baby ruderte mit den rundlichen Armen und Beinchen und schenkte Lily ein zahnloses Lächeln.
„Hast du etwa die Fähre verpasst?“ Man konnte Halo Island nämlich nur per Wasserflugzeug oder mit der Fähre erreichen. Letzteres war billiger.
„Nicht wirklich. Oh Lily, du wirst nicht glauben, was passiert ist! Bobby hat mich eingeladen, mit seiner Band auf Tournee zu gehen! Vielleicht lassen sie mich sogar Background singen! Das könnte mein Durchbruch werden. Ich bin ja so aufgeregt!“
Janice klang überglücklich. Lily freute sich natürlich für sie – ihre Schwester hatte schon immer davon geträumt, Sängerin zu werden – nur, was war mit Hailey? „Super, aber wird das viele Reisen nicht zu anstrengend für das Baby? Denk doch bloß an unsere chaotische Kindheit. Haben wir uns nicht immer geschworen, unseren Kindern nie ein solches Leben zuzumuten?“
Nicht, dass Janice je hatte Kinder haben wollen. Doch dann war Hailey gekommen und der Vater des Babys verschwunden.
„Natürlich nicht!“
Lily nahm Haileys Rassel vom Couchtisch und drückte sie ihrer Nichte ins Händchen. Durch das Telefon konnte sie eine Lautsprecherdurchsage hören. „Bist du etwa noch am Flughafen in Seattle?“, fragte sie irritiert.
Warum hatte Janice ihr das nicht gleich gesagt? Typisch! Herumzudrucksen und Fehler nicht zuzugeben war noch so ein nerviger Charakterzug, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte. „Warum erfahre ich das erst jetzt? Hätte ich rechtzeitig davon gewusst, hätte ich meine Pläne noch ändern können.“ Wofür es jetzt eindeutig zu spät war.
„Ehrlich gesagt bin ich gerade mit Bobby und der Band in Los Angeles gelandet. Kannst du auf Hailey aufpassen, solange ich unterwegs bin?“
Los Angeles?! „Aber ich …“ Lily verstummte, da das Baby gerade die Rassel fallen ließ und sich stattdessen eine Haarsträhne von Lily in den Mund steckte. Sanft löste sie ihre Haare aus dem rundlichen Fäustchen und wischte Spucke vom Kinn des Babys. „Du weißt doch, dass in zwei Wochen die Touristensaison losgeht. Ich habe alle Hände voll damit zu tun, Schmuck für die Eröffnung anzufertigen.“
„Du hast immer viel zu tun. Es handelt sich ja nur noch um zwei Wochen – höchstens drei.“
Sich um ein Baby zu kümmern war sehr anstrengend, wie Lily nach nur zweieinhalb Tagen mit ihrer Nichte wusste. „Du weißt, wie süß ich Hailey finde“, sagte sie und küsste den Fuß des Babys. „Und du weißt auch, wie klein dieses Hausboot ist. Hier ist kaum genug Platz für mich und meine Arbeitsmaterialien …“
Sie warf einen Blick zum Küchentresen, der wie die beiden Hocker davor mit Schachteln voller Perlen, Verschlüssen, Draht, Pinzetten und anderen Utensilien übersät war. Lily schauderte bei der Vorstellung, Hailey könnte die Sachen in die kleinen Finger bekommen.
„Gib dir einen Ruck, Lily“, drängte Janice. „Du liebst Kinder. Mann, du hast mich praktisch großgezogen. Du kommst super mit Hailey zurecht – viel besser als ich. Sie betet dich an.“
Wie immer wusste Janice genau, welchen Knopf sie drücken musste, um ihren Willen durchzusetzen. Klar konnte Lily gut mit Kindern umgehen. Deshalb wollte sie ja eines Tages auch selbst welche haben. Sie sehnte sich nach dem, was sie und Janice nie kennengelernt hatten – einer großen intakten Familie, in der Ehrlichkeit eine Selbstverständlichkeit war. Mit einem verlässlichen Mann, der Kinder mochte.
Okay, mit Jerome hatte das nicht geklappt. Nachdem er sich den Weg in ihr Herz und Bett gebahnt hatte, hatte sie nämlich herausgefunden, dass er verheiratet war, was eine schmerzliche Trennung zur Folge hatte. Doch das lag inzwischen ein Jahr zurück, und sie war bereit für eine neue Beziehung.
Dummerweise hatte sie gerade nicht viel Zeit für Männer, ganz zu schweigen von Babys. Sie musste nämlich dringend genügend Geld zusammenbekommen, um Mr Creechs Haus in der Main Street kaufen zu können – im September wurde die erste Anzahlung fällig.
„Lily? Bist du noch dran?“
„Hör mal, Janice, selbst wenn man den Platzmangel und die Tatsache außer Acht lässt, dass ich zwölf Stunden am Tag arbeiten muss, bin ich einfach nicht bereit für diese Art von Verantwortung. Noch nicht mal für ein paar Wochen.“
„Das kann ich gut verstehen! Aber das hier ist meine große Chance, und du hast selbst gerade gesagt, dass das viele Reisen für Hailey nicht gut wäre. Wen soll ich denn sonst fragen? Würdest du das Baby etwa bei unserer Mutter lassen?“
„Niemals!“, antwortete Lily wie aus der Pistole geschossen. Sie stieß einen resignierten Seufzer aus. „Also schön, ich mach’s. Unter der Bedingung, dass du Hailey unbedingt vor Beginn der Touristensaison abholst – spätestens am vierzehnten Mai.“ Die Saison begann offiziell am Siebzehnten.
„Danke, Lily, ich weiß deine Hilfe wirklich zu schätzen! Wir bleiben in Kontakt. Wenn du mich erreichen willst, versuch’s am besten über das Handy.“
Im Salty Dog, dem erklärten Lieblingsrestaurant der Bewohner und Touristen von Halo Island, erzählte Lily ihren drei Freundinnen die Neuigkeiten von ihrer Schwester, während Hailey auf ihrem Schoß an einem Brötchen lutschte. „Das heißt, dass ich mich in den nächsten zwei Wochen um meine Nichte kümmern muss“, schloss sie.
Joyce und Cindy, die beide für Lily arbeiteten, hörten abrupt auf, mit dem Baby zu schäkern.
„Deine Schwester hat vielleicht Nerven!“, empörte sich Charity, Lilys älteste Freundin. „Und das ausgerechnet so kurz vor der Touristensaison? Der würde ich ja gern mal die Meinung sagen. Dir einfach so die Kleine aufzuhalsen …“
„Pst!“ Mit einem besorgten Blick auf das Baby legte Lily den Zeigefinger auf die Lippen. „Nicht in Haileys Beisein. Wir reden später darüber. Außerdem werde ich nicht jeden Tag von meinen Freundinnen zum Mittagessen eingeladen. Dass will ich mir nicht vermiesen lassen.“
„Ich finde es gut, dass du deiner Schwester diesen Gefallen tust“, warf Joyce ein. „Ein Baby allein großzuziehen ist nicht leicht.“ Als geschiedene dreiunddreißigjährige Mutter wusste sie, wovon sie sprach. „Ohne den Job bei dir wäre ich wirklich aufgeschmissen“, fügte sie hinzu. Sie fertigte zu Hause Schmuck nach Lilys Entwürfen an. „Ich bin froh, mich mit dieser Einladung endlich mal bei dir revanchieren zu können.“
„Da kann ich mich nur anschließen“, erklärte die siebenunddreißigjährige Cindy. Ihr Mann, ein Fährkapitän, war seit einem schlimmen Unfall arbeitsunfähig, und seine Rente reichte nicht aus, um die vierköpfige Familie zu ernähren. Cindy stockte das Familieneinkommen auf, indem sie Lily sowohl von zu Hause aus als auch am Verkaufsstand unterstützte.
„Dein Geburtstag war die perfekte Gelegenheit, uns endlich mal alle vier zu treffen“, ergänzte Charity lächelnd. „Auf das nächste Jahrzehnt. Es wird bestimmt ganz toll.“
Joyce und Cindy nickten beifällig.
„Ich werde mein Bestes tun.“ Lily zupfte Haileys Lätzchen zurecht, bevor sie nach der Speisekarte griff. „Ich nehme den gegrillten Krebs mit gebackenem Käse. Klingt lecker.“
„Den nehme ich auch.“ Joyce klappte ihre Speisekarte zu. „Ich habe übrigens noch Kaylas Kinderwagen im Keller stehen. Und eine Tonne Babykleidung. Du kannst dir die Sachen gern ausleihen, wenn du willst.“
„Danke, die kann ich bestimmt gut gebrauchen.“
Die Kellnerin Wanda, die schon seit einer Ewigkeit im Salty Dog arbeitete, nahm ihre Bestellungen auf. Währenddessen warf Lily einen Blick aus dem Fenster. Draußen war es bewölkt und regnete – Ende April nicht ungewöhnlich für die nordwestliche Pazifikküste.
Während sie auf das Essen warteten, las Lily sich lachend die lustigen Geburtstagskarten ihrer Freundinnen durch. Hailey krähte ebenfalls vor Vergnügen – offensichtlich war sie gern unter Menschen.
Kurz darauf kehrte Wanda mit ihren Gerichten und einem frischen Brötchen für Hailey zurück. „Du bist ja so süß“, gurrte sie, und das Baby quietschte entzückt. „Guten Appetit.“
Für eine Weile verstummte das Tischgespräch bis auf gelegentliche genüssliche Seufzer. Charity war die Erste, die wieder das Wort ergriff. „Die Touristensaison wird total anstrengend“, sagte sie. Als Lilys Kollegin – sie verkaufte ihre selbst hergestellten Windspiele an einem Nachbarstand – wusste sie, wovon sie sprach. „Wie willst du dich darauf vorbereiten, wenn du dich gleichzeitig um Hailey kümmern musst?“
Diese Frage hatte Lily sich auch schon gestellt. „Janice hat versprochen, sie vor Beginn der Saison wieder abzuholen“, antwortete sie und versuchte, positiv zu denken. „Bis dahin werde ich mir wahrscheinlich eine Babysitterin suchen müssen. Kennt ihr zufällig jemanden?“
Cindy schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich höre mich gern mal für dich um.“ Charity und Joyce fiel auch niemand ein.
Als Wanda kurz darauf mit einer Geburtstagstorte auf Lily zukam und sämtliche Gäste lauthals „Happy Birthday to You“ zu singen begann, schossen Lily vor Rührung die Tränen in die Augen.
Sie wohnte erst seit sieben Jahren auf der Insel. Die Menschen hier waren so herzlich und offen, dass sie das Gefühl hatte, schon ihr ganzes Leben hier verbracht zu haben. Nachdem der Gesang verstummt war, wischte sie sich die Tränen aus den Augen. „Danke“, sagte sie. „Das war wirklich lieb von euch.“
„Ach, keine Ursache.“ Charity lächelte sie liebevoll an und zeigte dann auf die Torte. „Wünsch dir was.“
„Okay.“ Lily brauchte nicht lange zu überlegen. Sie hatte einen interessanten Job, tolle Freundinnen. Darüber hinaus ein gemütliches kleines Hausboot und ein zwar altes, jedoch zuverlässiges Auto – beides abgezahlt wohlgemerkt. Ihr Leben war fast perfekt. Fehlte nur noch eins: ein Mann, mit dem sie es teilen konnte.
Jetzt, wo sie über Jerome hinweg war, sprach eigentlich nichts mehr dagegen, sich nach einem ehrlichen, vertrauenswürdigen und kinderlieben Mann umzusehen. Lily schloss die Augen. Bitte lass mich meinen Mr Right finden, flehte sie stumm.
Nachdem sie die Augen wieder aufgeschlagen hatte, blies sie mit einem Atemzug sämtliche dreißig Kerzen aus. Dann schnitt sie die Torte in Stücke und verteilte sie.
„Ich kann mir schon denken, was du dir gewünscht hast“, sagte Charity. „Genug Geld, um dir das Haus in der Main Street leisten zu können. Für einen Laden in der Lage würde ich glatt töten.“ Lilys Kunsthandwerker-Kollegen waren allesamt grün vor Neid wegen des niedrigen Preises, den Mr Creech von ihr verlangte.
Lily lächelte. „Wäre er dein Nachbar und du hättest nach seiner Knie-OP für ihn eingekauft und ihm Essen gebracht, wärst du jetzt bestimmt diejenige, die für das Haus spart. Aber du irrst dich, was meinen Wunsch angeht. Ich habe das Geld für die erste Anzahlung nämlich schon fast zusammen. Wenn diese Saison genauso gut läuft wie die letzten beiden, schaffe ich den Rest bis September locker.“
„Was hast du dir dann gewünscht?“, fragte Charity neugierig.
Cindy hob warnend den Zeigefinger. „Geht der Wunsch noch in Erfüllung, wenn sie ihn verrät?“
„Na klar!“ Joyce beugte sich vor und senkte verschwörerisch die Stimme. „Nun sag schon, Lily.“
Die sah keinen Grund, ihren Freundinnen ihren Wunsch zu verheimlichen. „Na ja, ich werde nicht jünger und will Kinder, also … wünsche ich mir einen tollen Mann.“
„So einen suche ich auch schon seit meiner Scheidung“, murmelte Joyce. „Viel Glück.“
„Das hatte bisher noch keine von uns in dieser Hinsicht.“ Seufzend stützte Charity das Kinn in die Hand. „Ich hätte auch nichts dagegen, zu heiraten und ein Baby zu bekommen. Obwohl mir vorerst auch ein anständiges Date reichen würde.“
Die vier Freundinnen schwiegen. Lily fragte sich unwillkürlich, wie sie auf Halo Island je einen passenden Kandidaten kennenlernen sollten. Es wimmelte hier nämlich nicht gerade von Single-Männern.
Ach, was soll’s. Sie hatte keine Lust, sich ihren Geburtstag mit deprimierenden Gedanken zu verderben. „Ist das nicht die beste Torte, die ihr je gegessen habt?“, fragte sie strahlend in die Runde.
„Schmeckt wie selbst gebacken.“ Charity leckte ihre Gabel ab. „Also, Geburtstagskind, was hast du für den Rest des Tages geplant?“
„Wir brauchen dringend mehr Schmuck auf Lager, daher wollte ich eigentlich arbeiten. Aber jetzt …“ Lily warf einen Blick auf Hailey. „Na ja, vielleicht sobald sie schläft.“
„Ich kann gern mehr Arbeit übernehmen, wenn du willst“, bot Cindy an. „Max braucht nämlich ein neues Baseball-Trikot, und etwas Extrageld tut unserer Haushaltskasse gut.“
Joyce nickte. „Mir geht’s genauso.“
„Toll! Das wäre mir wirklich eine Riesenhilfe.“
Als Hailey kurz darauf müde wurde und zu quengeln begann, stand Lily auf. „Ich fahre am besten nach Hause und lege die Kleine hin“, erklärte sie in der Hoffnung auf ein paar Stunden ungestörte Arbeitszeit. „Wie gesagt, wenn euch eine zuverlässige Babysitterin einfällt, sagt mir Bescheid. Ich bezahle sie auch anständig.“
Zu Hause angekommen legte Lily die Kleine in das Reisebettchen, das Janice in Lilys Schlafzimmer gequetscht hatte, und sah ihre Post durch. Keine Geburtstagskarte von ihrer Mutter, was nicht weiter überraschend war. Irgendwann würde es ihr schon noch einfallen.
Neben vier dicken Katalogen von ihren Lieferanten entdeckte Lily einen dünnen Umschlag. Als Absender war das Finanzamt angegeben. Seltsam, sie hatte ihre Steuern doch pünktlich bezahlt. Was konnten sie nur von ihr wollen? Ratlos riss sie den Umschlag auf.
Als sie den Brief durchlas, wurde ihr schlecht. Sie wollten Geld, viel Geld. Und kündigten eine Steuerprüfung an – ausgerechnet Mitte Juni, dem Höhepunkt der Touristensaison!
Lily massierte sich die Schläfen. „Alles Gute zum Geburtstag“, murmelte sie.
Carter Boyle dehnte die verspannten Schultern und reichte seinem Mandanten Pete Downs dessen Einkommensteuererklärung. „Da Sie etwas spät dran sind, müssen Sie mit einem Bußgeld rechnen.“
„Ich weiß“, antwortete Pete reumütig. „Aber die Scheidung und das alles …“ Hilflos zuckte er die Achseln. „Na ja, zumindest ist das jetzt überstanden. Danke, dass Sie sich so schnell um alles gekümmert haben.“
„Kein Problem, aber kommen Sie nächstes Jahr lieber früher. Bitten Sie am besten meine Sekretärin Linda, Ihnen eine Erinnerung zu schicken.“
Als Carter seinen Mandanten zur Tür begleitete, ging er im Kopf die noch vor ihm liegenden Steuererklärungen durch. Die hielten sich zum Glück in Grenzen. Daher waren im August sogar ein paar Wochen Urlaub drin – Mann, er freute sich schon darauf, angeln zu gehen und Golf zu spielen. Und sich endlich mal wieder mit einer Frau zu verabreden.
Seine letzte Beziehung lag schon eine ganze Weile zurück. Er konnte weibliche Gesellschaft daher gut gebrauchen – und nicht nur das. Ein gesunder vierunddreißigjähriger Mann konnte schließlich nicht ewig ohne Sex leben.
An der Tür schüttelte er Pete die Hand. „Passen Sie auf sich auf.“
„Mach ich.“ Pete warf einen letzten neiderfüllten Blick in Carters Kanzlei. „Man sieht, dass Sie Erfolg haben. Die Frauen stehen bei Ihnen bestimmt Schlange, was? Ich wünschte, ich selbst wäre Single geblieben. Diese Scheidung hat mich fast umgebracht.“
Das war nicht übertrieben. Seit der Trennung von seiner Frau hatte Pete stark abgenommen und sah zehn Jahre älter aus.
„Ehrlich gesagt würde ich inzwischen sehr gern heiraten“, sagte Carter. All seine Freunde waren nämlich glücklich liiert, und er hatte keine Lust mehr auf Affären. Es wurde allmählich Zeit, eine Familie zu gründen. Mit einer Frau, die bei ihm blieb und ihm die Chance gab, seine Kinder auch wirklich kennenzulernen … jetzt musste er nur noch die Richtige finden.
„Sie? Wow, wer hätte das gedacht? Na, dann viel Glück.“ Pete kratzte sich im Nacken. „Wer ist denn die Glückliche?“
Carter beschränkte sich auf ein geheimnisvolles Lächeln. „Verrat ich nicht.“
„Wahrscheinlich haben Sie die Betreffende noch gar nicht gefragt, oder? Na ja, ich werde es schon erfahren, wenn es so weit ist.“
Stark anzunehmen auf einer so kleinen Insel wie Halo Island. Nachdem Carter hinter Pete die Tür geschlossen hatte, kehrte er an seinen Schreibtisch zurück und warf einen Blick in die Quartalssteuer-Akte seines nächsten Mandanten. Immer wieder ertappte er sich dabei, wie seine Gedanken zu einem Aspekt seiner Vergangenheit abschweiften, den er inzwischen meistens verdrängte: seine Tochter. Vermutlich, weil heute ihr siebzehnter Geburtstag war.
Happy Birthday, dachte er bitter. Er kannte noch nicht einmal ihren Namen und hatte keine Ahnung, wo sie steckte. Nicht dass er nicht versucht hätte, sie zu finden. Er und seine Eltern hatten Unsummen von Geld und viel Zeit in die Suche nach ihr investiert. Erst nach dem plötzlichen Herztod seines Vaters vor zehn Jahren – vermutlich eine Folge von emotionalem Stress – hatten er und seine Mutter die Suche aufgegeben. Der Preis war einfach zu hoch gewesen.
Carters Mutter hatte danach beschlossen, Seattle zu verlassen und auf den San-Juan-Inseln ein neues Leben anzufangen. Carter war ihr gefolgt, nachdem er die Universität abgeschlossen und ein paar Jahre in einer der vier bedeutendsten Kanzleien von Seattle gearbeitet hatte.
Da sie die Hoffnung, seine Tochter wiederzufinden, endgültig begraben hatten, wusste niemand auf der Insel von ihr. Inzwischen vermieden sie das Thema sogar untereinander.
Um sich von seinen deprimierenden Erinnerungen abzulenken, griff Carter nach seinem BlackBerry, um die Liste seiner weiblichen Bekannten durchzusehen. Miriam Adams war nett und witzig, aber abgesehen von einem gewissen Kribbeln hatten sie nichts gemeinsam. Sarah Baker hingegen hatte ein kleines Problem mit Promiskuität … Namen für Namen ging Carter die Liste durch, konnte sich jedoch bei keiner Frau vorstellen, sein Leben mit ihr zu verbringen. Am besten fing er noch mal ganz von vorne an.
Das Summen der Gegensprechanlage riss ihn aus seinen Gedanken. „Heather Larkspur ist am Apparat“, sagte Carters Sekretärin Linda.
Heather stand ebenfalls auf seiner Liste, doch da er sie seit einem Jahr nicht mehr gesehen hatte, hatte er ihren Namen einfach übersprungen. Wer weiß, vielleicht war ihr Anruf ja ein Wink des Schicksals?
„Stellen Sie sie durch“, bat Carter seine Sekretärin. „Hallo, Heather.“
„Hi, Carter. Lange nichts voneinander gehört.“
Beim Klang ihrer melodiösen Stimme musste Carter an ihren tollen Körper denken. Außerdem war sie fantastisch im Bett, und man konnte sich gut mit ihr unterhalten. Im Grunde genommen war sie perfekt.
„Ich musste gerade an dich denken“, bekannte er. Was sogar halbwegs stimmte. Immerhin hatte er einen Blick auf ihren Namen geworfen.
„Dann bin ich ja froh, dass ich angerufen habe. Ich würde gern mal mit dir zu Abend essen. Hast du diese Woche irgendwann Zeit?“
Klar, warum nicht? Vielleicht würde eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht ja sein Interesse an ihr wiederbeleben. „Wie wär’s mit Donnerstag – ich lade dich ein“, schlug er vor. „Wann soll ich dich abholen?“
Am Abend nach ihrem Geburtstag – Hailey schlief bereits – saß Lily auf dem Sofa und arbeitete an einer Kette. Sie hatte eigentlich ein ganzes Dutzend machen wollen, aber ihr fehlte die Energie. Sich um Hailey zu kümmern und nebenbei zu arbeiten war einfach zu anstrengend. Am liebsten wäre sie früh ins Bett gegangen, doch die Sorge wegen des Briefs vom Finanzamt ließ ihr sowieso keine Ruhe.
Sie verlangten eine riesige Steuernachzahlung einschließlich Strafgebühren und Zinsen. Die Summe war groß genug, um sie zu ruinieren.
Schon bei der bloßen Vorstellung bekam Lily Bauchschmerzen. Würde sie wirklich ihr Zuhause und die Firma verlieren, die sie so mühsam aufgebaut hatte? Das würde auch bedeuten, dass sie ihre Freundinnen im Stich lassen und auf Mr Creechs Haus verzichten musste. Dieser Gedanke war so unerträglich, dass ihr die Hände zitterten und sie die Kette hinlegen musste.
Sie brauchte dringend einen Steuerberater. Ryan Chase, der Eigentümer der Halo Island Bank, kannte sich gut in Gelddingen aus. Er wusste bestimmt, was zu tun war. Sie hatte ihn zwar erst einmal getroffen, hatte jedoch keine Bedenken, ihn zu Hause anzurufen, da sie seine Frau vom monatlichen Bunco-Spiel, einem beliebten Würfelspiel, im Gemeindezentrum kannte.
„Hallo, Tina. Hier ist Lily Gleason“, sagte sie, als sie Tina am Apparat hatte.
„Ach, hallo!“, antwortete Tina freudig überrascht.
„Gehst du Samstagabend auch zum Bunco-Spiel?“
„Ryan spielt Poker, und Maggie verbringt die Nacht bei G. G., also ja.“ Maggie war Tinas Stieftochter und G. G. die pensionierte Kindergärtnerin, die Tina nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters großgezogen hatte. „Kommst du auch?“
„Nur, wenn ich einen Babysitter finde.“ Lily erklärte ihr die Situation mit Hailey.
„Bring die Kleine doch einfach mit. Vielleicht findest du ja im Gemeindezentrum eine ältere Dame, die sich nach einem Ersatzenkel sehnt.“
Da Lily auf Anhieb mehrere Frauen einfielen, auf die diese Beschreibung zutraf, hellte ihre Stimmung sich sofort auf. „Tolle Idee! Hailey ist so lieb und pflegeleicht, dass sich bestimmt alle um sie reißen werden.“