Kein Weg zu weit - kein Land zu fern

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Chase weiß seit gestern: Er will nur eine, Leslie. Doch alles könnte vorbei sein, wenn sie das Interview sieht! Der Junggeselle, der mittels Plakat eine Ehefrau sucht und über den Leslie sich so abschätzig geäußert hat - ist nämlich Chase. Noch weiß sie es nicht …


  • Erscheinungstag 07.05.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733736040
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

„Lassen Sie mal sehen, ob ich Sie richtig verstanden habe“, sagte der Mann, der hinter dem Schreibtisch saß und eine Zigarre rauchte, zu Chase Goodman. „Sie wollen eine Plakatwand zu dem Zweck mieten, sich eine Frau zu suchen?“

Chase war nicht bereit, sich von einem schmerbäuchigen Zyniker seine Idee ausreden zu lassen. Er hatte genau drei Wochen Zeit, eine Frau zu finden, da blieb nicht viel Zeit für Romantik. Die Zeit, die er außerhalb Alaskas verbrachte, war begrenzt, und das war der direkteste Weg, um zu einer Ehefrau zu kommen. Er war dreiunddreißig Jahre alt, gut aussehend und einsam. Bereits den letzten Winter hatte er allein verbracht.

Er war zwar bereit zuzugeben, dass seine Idee sehr außergewöhnlich war, aber schließlich waren es auch außergewöhnliche Umstände, in denen er sich befand. Schließlich musste er die richtige Frau, um die er werben konnte, erst einmal treffen. Seattle war zwar sicherlich voller geeigneter Frauen, aber ihm war durchaus klar, dass nur wenige bereit wären, die Großstadt für den kalten, einsamen Norden aufzugeben. Chase hielt es für das Beste, die Karten auf den Tisch zu legen, zu warten und dann zu sehen, welche Antwort er erhielt.

„Sie haben mich richtig verstanden“, erklärte Chase.

„Auf der Reklametafel soll stehen: ‚Frau zum Heiraten gesucht‘?“ Die dicke Zigarre im Mund des ebenfalls dicken Mannes bewegte sich wie durch Zauber von einem Mundwinkel zum anderen.

„Ja, zusammen mit der Telefonnummer, die ich Ihnen gegeben habe. Der Telefonservice wird die Anrufe entgegennehmen.“

„Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was für ein Typ Frau auf diese Werbung antworten wird?“

Chase nickte nur. Genau darüber hatte er lange und gründlich nachgedacht. Er wusste, was er erwarten durfte. Aber es musste doch eine darunter sein, die ihm vom ersten Augenblick an gefallen würde, und die – wenn alles gut lief – auf ihn ebenso reagieren würde. Auf diesen Zufall hoffte er, auch wenn die Chancen eins zu tausend standen.

Er wusste, dass der Weg, den er einschlug, nicht der Beste war. Wenn er mehr Zeit zur Verfügung gehabt hätte, eine Frau für sich zu gewinnen, dann hätte er beweisen können, dass er dazu befähigt war, ein guter Ehemann und – wenn die Zeit kommen würde – auch ein vorbildlicher Vater zu sein. Aber er gehörte sowieso nicht zu jenen Männern, die stets die richtigen Worte fanden, die Frauen hören wollten. Er brauchte Hilfe, und die Plakatwand würde von Anfang an alles klarstellen.

„Meine Männer werden das gleich morgen früh erledigen.“

„Gut“, sagte Chase und grinste.

Jetzt gab es kein Zurück mehr. Alles, was er jetzt noch tun musste, war, sich zu entspannen und darauf zu warten, dass seine Braut zu ihm kommen würde.

1. KAPITEL

Lesley Campbell starrte anklagend auf den Kalender. Der 15. Juni hätte ihr Hochzeitstag werden sollen. Aber sie würde keine Braut sein. Das Hochzeitskleid, das irgendwo im hintersten Teil ihres Kleiderschrankes hing, würde mit der Zeit wahrscheinlich gelbstichig werden. Und wenn man Seattles feuchtes Klima berücksichtigte, würde das wunderschöne Seiden- und Spitzenkleid sogar Stockflecken bekommen.

Also gut, dachte Leslie und straffte die Schultern, ich werde mich nicht von einer aufgelösten Verlobung unterkriegen lassen. Sie hatte ein ausgefülltes Leben, gute Freunde und Freundinnen. Sicherlich würde eine von ihnen sich an die Bedeutung des heutigen Tages erinnern und sie anrufen. Sicherlich hatten weder Jo Ann noch Lori vergessen, welche Bedeutung der heutige Tag für sie besaß. Lesley hätte sich keine besseren Freundinnen wünschen können als ihre Lehrerkolleginnen Jo Ann und Lori. Beide wären Brautjungfern gewesen, wenn es zur Hochzeit gekommen wäre. Bestimmt erinnerten die beiden sich daran und planten etwas Besonderes, um sie aufzumuntern. Irgendeine Überraschung. Irgendetwas, das ihre Traurigkeit verfliegen lassen und sie wieder zum Lachen bringen würde.

Das flaue Gefühl in ihrer Magengegend verstärkte sich noch, und sie schloss die Augen und atmete so lange tief ein und aus, bis es ihr wieder besser ging. Sie weigerte sich, Tony die Macht zu überlassen, sie zu verletzen. Es war schlimm genug, dass sie zusammenarbeiten mussten. Dem Himmel sei Dank war die Schule für diesen Sommer zu Ende, und sie hatte drei Monate Ferien, um sich zu erholen und neue Kraft zu schöpfen.

Lesley öffnete den Kühlschrank und hoffte, darin irgendetwas Appetitanregendes zu entdecken. Aber darin lagen noch immer derselbe leicht welke Salatkopf, zwei überreife Tomaten und eine schrumpelige Zucchini. Nun, eigentlich war ihr das auch gleichgültig. Sie hatte sowieso keinen Appetit.

Männer … wer braucht die schon, fragte sich Lesley, während sie die Kühlschranktür wieder schloss. Nicht sie. Nie wieder.

Einige ihrer männlichen Bekannten und Freunde hatten in der letzten Zeit versucht, eine Beziehung über das freundschaftliche Maß hinaus mit ihr einzugehen. Aber Lesley stand allen Bemühungen nur gelangweilt gegenüber.

Der Mann, den sie geliebt hatte, der Mann, dem sie drei Jahre ihres Lebens geschenkt hatte, hatte sechs Monate vor ihrer Hochzeit verkündet, dass er noch nicht so weit sei, um sich endgültig zu binden. Leslie hatte es nicht fassen können. Sie waren bereits in den letzten zwei Jahren am College zusammen gewesen und hatten zur gleichen Zeit ihre Lehrerausbildung gemacht. Sie hatten sogar an der gleichen Grundschule gearbeitet, sich jeden Tag gesehen, und dann – wie ein Blitz aus heiterem Himmel – hatte Tony behauptet, dass er mehr Zeit brauche.

Nur eine Woche später hatte Lesley feststellen müssen, was mehr Zeit bedeutete. Tony hatte sich Hals über Kopf in eine Kollegin verliebt. Nachdem er drei Wochen lang mit April Packard ausgegangen war, hatte Tony die Verlobung mit Lesley gelöst. Als wenn das noch nicht schlimm genug gewesen wäre, heirateten Tony und April bereits einen Monat später. Da Lesley einen Arbeitsvertrag und nur wenig Gespartes hatte, konnte sie die Schule nicht ohne weiteres verlassen und war gezwungen, sich jeden Tag das Glück des frisch vermählten Paares mit anzusehen.

Sie gab sich große Mühe, nicht zu verbittern und so zu tun, als wenn alles nur zu ihrem Besten wäre. Wenn Tony sich schon in eine andere Frau verliebte, dann war es tatsächlich besser, wenn er es vor statt nach der Hochzeit getan hatte, redete sie sich ein und bekam es auch ständig von den anderen zu hören.

Nur, es funktionierte nicht.

Es tat so weh, ihn verloren zu haben. In manchen Nächten kämpfte sie bis zum Morgengrauen mit ihrer Einsamkeit. Das Gefühl der Verlassenheit schien sie manchmal zu ersticken. Und ständig mit ansehen zu müssen, wie glücklich Tony und April waren, war nicht gerade hilfreich.

Das letzte Mal hatte sie sich als sechsjähriges Mädchen so einsam gefühlt. Ihre Familie hatte damals einen Urlaub in Disneyland geplant. Lesley war hellauf begeistert gewesen und hatte es gar nicht erwarten können, dahinzukommen. Es wäre ihr erster Flug gewesen, ihr erster Aufenthalt außerhalb von Washington. Dann, drei Tage bevor die Ferien beginnen sollten, hatte ihr Vater seine Sachen gepackt und hatte die Familie ohne Vorwarnung, ohne ein Wort zu sagen und offensichtlich ohne Bedauern verlassen. Das Geld, das die Familie für den Urlaub gespart hatte, nahm er mit.

Ihre Mutter war so bestürzt und unglücklich gewesen, dass sie noch nicht einmal in der Lage gewesen war, Leslie zu trösten, die sich schuldig fühlte und nicht wusste, warum.

Als weder Jo Ann noch Lori sie bis Mittag angerufen hatten, sank Lesleys Stimmung sogar noch mehr. Vielleicht hat es einen Grund, warum die beiden mich nicht anrufen, dachte sie. Vielleicht nehmen sie an, ich habe vergessen, was für ein Tag heute ist, und wollen die ganze unglückselige Angelegenheit ruhen lassen, um zu vermeiden, dass kaum verheilte Wunden wieder aufbrechen. Dabei war alles, was Lesley wollte, ein wenig Spaß … irgendetwas, das sie vergessen ließ, wie einsam sie sich fühlte.

Jo Ann war nicht zu Hause, also hinterließ Lesley eine Nachricht auf ihrem Anrufbeantworter. Die Bedeutung dieses Tages schien auch Lori entgangen zu sein, die sich in einen Mann verliebt hatte, den sie erst vor kurzem kennen gelernt hatte.

„Hättest du Lust und Zeit, mit mir heute Abend ins Kino zu gehen?“, fragte Lesley.

Lori zögerte. „Nicht heute Abend. Larry war in den letzten Tagen nicht in der Stadt und wird heute Abend wieder zurückkommen. Könnten wir an einem anderen Tag zusammen ausgehen?“

„Sicher“, antwortete Lesley so lässig, als hätte sie nicht den geringsten Kummer. Niemals würde sie auf den Gedanken kommen, ihren besten Freundinnen vorzujammern, wie sehr sie litt. „Ich wünsche dir viel Spaß.“

Irgendetwas musste Lori an Lesleys Stimme aufgefallen sein. „Lesley, geht es dir gut?“, fragte sie besorgt.

„Natürlich“, beruhigte Lesley rasch ihre Freundin. „Wir sehen uns dann in den nächsten Tagen.“

Nachdem sie aufgelegt hatte, war ihr klar geworden, dass sie ganz allein auf sich gestellt war. Auf ihre Freunde konnte und wollte sie heute nicht zählen. Sie seufzte und biss sich auf die Unterlippe. Sie war es so sehr leid vorzugeben, dass es nicht wehtat, und so müde, die Unbekümmerte vorzuspielen, wenn ihr Herz in Wirklichkeit fast zerbrach.

Ein Tag wie dieser rief nach drastischen Maßnahmen. Und nichts konnte drastischer sein als eine große Packung extra sahnige Schokoladensplittereiscreme, die man gemütlich vor dem Fernseher verspeiste. Am besten, während man sich einen jener schönen alten Filme ansah, in denen Herz sich zwar ebenfalls auf Schmerz reimte, aber bei denen es eine Garantie auf ein Happy End gab.

Lesleys Laune besserte sich bei dem Gedanken. Jawohl, sie würde sich selbst verwöhnen. Männer! Wer brauchte sie? Ich nicht, entschied Lesley. Sie nahm ihre Handtasche und lief bereits mit leichterem Herzen zur Tür hinaus.

Es war an einer Kreuzung, an der sie bei Rot anhalten musste, als sie die Plakatwand erblickte.

FRAU ZUM HEIRATEN GESUCHT.

TELEFON: 555–1213.

Zuerst war sie amüsiert. Ein Mann suchte auf diese Art und Weise eine Frau? In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie etwas so Lächerliches gesehen. Dieser Mann war entweder verrückt oder schwachsinnig. Allerdings musste sie sich eingestehen, dass sie in letzter Zeit nicht sehr gut auf das männliche Geschlecht zu sprechen war.

Immer noch amüsiert über die Plakatwand, parkte Lesley auf dem Parkplatz des Supermarktes und ging auf den Eingang zu. Kleine Rosensträucher, Rhododendren und Balkonblumen in allen Farben standen zum Verkauf vor dem Geschäft, und Leslie spielte mit dem Gedanken, ein paar rote Geranien zu kaufen, um sie in den Blumenkasten auf der Veranda zu pflanzen.

Ihr fiel ein Mann auf, der ungeduldig vor den automatischen Glastüren hin- und herlief und nervös auf seine Uhr blickte, aber sie vergaß ihn schnell wieder, während sie sich die Pflanzen ansah und sich ausmalte, wie wundervoll sich ein paar pinkfarbene Fuchsien auf ihrer Veranda ausmachen würden.

„Entschuldigen Sie“, sagte genau dieser Mann einige Minuten später, als sie die Eingangstür fast erreicht hatte. „Können Sie mir sagen, wie spät es ist?“

„Sicher“, antwortete sie und winkelte den Arm an, um auf ihre Uhr zu blicken.

In diesem Moment griff der Mann nach ihrer Handtasche und riss sie ihr so schnell vom Arm, dass Lesley für einen Herzschlag vor Schreck wie angewurzelt stehen blieb. Sie konnte es nicht fassen, man hatte sie bestohlen! Bis sie sich vom Schreck erholt hatte, war der Dieb bereits über den halben Parkplatz gelaufen.

„Hilfe! Ein Dieb“, schrie sie. Da sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, hier auf einen Retter zu warten, begann sie, so schnell sie konnte, hinter ihm herzulaufen, entschlossen, nicht sein neuestes Opfer zu werden.

Er war schnell, so viel stand fest, aber Lesley hatte nicht umsonst an unzähligen Aerobic-Kursen teilgenommen. Sie war vielleicht keine olympische Hoffnung, aber durchtrainiert und flink.

Der Handtaschenräuber hatte fast die Straße erreicht und war gerade dabei, um die nächste Ecke zu verschwinden, als ein anderer Mann an Lesley vorbeilief. Mehr als dass er groß und schlank war und ein kariertes Hemd und Jeans trug, hatte sie nicht von ihm gesehen.

„Er hat meine Handtasche“, rief sie hinter ihm her. Sie hatte begriffen, dass sie den Dieb niemals selbst stellen könnte, und ihren Lauf verlangsamt, um Luft zu holen.

Zu ihrer Erleichterung sah sie, dass der zweite Mann den Räuber bereits eingeholt und zu Boden geworfen hatte. Lesleys Herz setzte für einen Moment aus, als die beiden sich über den Boden rollten und zu kämpfen begannen. Aber ihr Retter hatte mit seiner Größe und Stärke den Dieb schnell überwältigt und ihm die Handtasche abgenommen.

„Die gehört sicher Ihnen“, sagte ihr Retter, als sie näher kam, und reichte ihr die Tasche, ohne den Dieb loszulassen. Der Dieb kickte mit den Füßen und begann aus Leibeskräften zu fluchen.

„Hey, ist das vielleicht eine Art, sich vor einer Lady zu benehmen“, erklärte ihr Held, drehte den Handtaschenräuber auf den Bauch und drückte ihm das Knie in den Rücken. Der Dieb stöhnte und hielt den Mund.

Im Hintergrund jaulte eine Polizeisirene.

Der Polizeiwagen bog in den Parkplatz ein und hielt neben ihnen an. Ein Polizist stieg aus.

„Kann einer von Ihnen mir erzählen, was hier vor sich geht?“, fragte er.

„Dieser Mann“, begann Lesley entrüstet und zeigte auf den am Boden liegenden Dieb, „riss mir die Handtasche vom Arm und wollte sich damit aus dem Staub machen. Und dieser Mann“, fügte sie hinzu und zeigte auf ihren Retter, „hat ihn eingeholt und festgehalten.“

„Chase Goodman“, stellte sich ihr Held vor.

Lesley presste die Handtasche an die Brust und dachte mit Schaudern daran, wie nahe sie daran gewesen war, alles zu verlieren. In ihrer Handtasche waren ihre Wagenschlüssel, ihr Hausschlüssel, Führerschein, ihr Scheckbuch, ihr Geld und ihre Kreditkarten. Es wäre ein Albtraum gewesen, das alles ersetzen zu müssen. Ganz abgesehen davon, dass jemand die Schlüssel zu ihrem Haus und ihrem Wagen zusammen mit ihrer Adresse gehabt hätte.

Es schien, als wenn sie dem Polizisten noch Hunderte von Fragen beantworten musste, bevor er den Dieb endlich in den Wagen setzte und mit ihm zum Polizeirevier fuhr.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar“, sagte Lesley zu dem Mann, der ihre Handtasche gerettet hatte. Er war sehr groß – mindestens einen Meter neunzig – breitschultrig und muskulös. Auf den ersten Blick hatte sie angenommen, dass er ein Bodybuilder sei, aber bei näherem Betrachten entschied sie, dass das kein Mann war, der seine Zeit in einem Fitness-Center verbrachte. Er wirkte wie ein Mann, der es gewohnt war, sich in der freien Natur aufzuhalten. Eine Aura von Freiheit und Abenteuer umgab ihn, was Lesley sehr anziehend fand. Er wirkte wie ein starker, sanfter Bär. Dieser Eindruck wurde noch durch die braunen Augen mit dem warmen Blick und sein freundliches Lächeln verstärkt.

„Gern geschehen, Miss …“

„Lesley Campbell. Woher wissen Sie, dass ich nicht verheiratet bin?“

„Sie tragen keinen Ring.“

Unwillkürlich strich sie mit dem Daumen über den Finger, an dem sie einst Tonys Verlobungsring getragen hatte, und nickte. Ihr war aufgefallen, dass der Mann ebenfalls keinen trug.

„Verdienen Sie damit Ihren Lebensunterhalt?“

„Wie meinen Sie das?“ Chase sah sie unsicher an.

„Dieben nachlaufen, meine ich“, erklärte Lesley. „Sind Sie Polizist oder so etwas Ähnliches?“

„Nein, ich arbeite an der Alaska-Pipeline. Ich bin nur für kurze Zeit in Seattle.“

„Das erklärt einiges“, sagte sie gedankenverloren.

„Erklärt was?“

„Ich dachte mir gleich, dass Sie sich viel im Freien aufhalten.“ Es überraschte sie, dass sie ihn so gut eingeschätzt hatte.

Er lächelte. „Soll ich Ihnen sagen, was ich über Sie denke?“

„Nur heraus damit.“

„Sie laufen so graziös wie eine Gazelle, und Sie sind seit langem die erste Frau, die nicht den Kopf in den Nacken legen muss, um mich anzusehen.“

„Das stimmt.“ Lesley wusste nur allzu gut, was es bedeutete, überdurchschnittlich groß zu sein. Sie war selbst einen Meter achtundsiebzig groß und das größte Mädchen in ihrer High-School-Klasse gewesen. Ihre Größe war ein Fluch und gleichzeitig ihr größter Besitz gewesen.

Ihre Lehrer hatten wegen ihrer Größe automatisch angenommen, dass sie auch reifer als die anderen sei, und hatten oft mehr von ihr gefordert und ihr mehr Verantwortung aufgeladen als den anderen. Es war schwer für sie gewesen, passende Kleidungsstücke zu finden, und sie hatte es auf ihre Größe geschoben, dass sie bei Jungen nur bescheidenen Erfolg gehabt hatte.

Erst als sie zwanzig wurde, hatte sie sich endlich akzeptieren und stolz auf sich sein können. Als sie es schließlich abgelehnt hatte, weiterhin ständig wegen ihrer Größe Komplexe zu haben, schien sie auf einmal das andere Geschlecht anzuziehen. Kurze Zeit darauf war Tony in ihr Leben getreten. Es hatte ihr nie etwas ausgemacht, dass er drei Zentimeter kleiner war als sie, noch schien es ihn gestört zu haben.

„Sind Sie Athletin?“, fragte Chase, während sie zusammen zum Supermarkt gingen.

„Oh nein“, antwortete Lesley, geschmeichelt durch seine Annahme.

Sie standen gerade unter den hängenden Fuchsientöpfen, als Lesley auf einmal bewusst wurde, dass es keinen Grund mehr gab, diese Unterhaltung fortzusetzen. „Ich würde mich gern für Ihre Hilfe erkenntlich zeigen“, erklärte sie, öffnete die Handtasche und holte ihr Portemonnaie heraus.

Er legte sanft, aber bestimmt seine Hand auf ihre. „Ich werde auf keinen Fall Geld von Ihnen annehmen.“

„Ich hätte den Dieb nie allein aufhalten können. Es ist das Mindeste, was ich tun kann.“

„Ich habe getan, was jeder andere auch getan hätte.“

„Kaum“, erwiderte Lesley. Vor dem Supermarkt und auf dem Parkplatz hatten sich viele Leute befunden, aber die meisten hatten geflissentlich weggeschaut oder ihr höchstens mitleidige Blicke zugeworfen. Nur Chase war bereit gewesen, ihr zu helfen.

„Wenn Sie schon darauf bestehen, mir zu danken, wie wäre es dann mit einer Tasse Kaffee?“

Lesleys Blick wanderte zu dem Café gleich neben dem Supermarkt hinüber. Man hatte gerade versucht, sie zu berauben, irgendwie erschien ihr deshalb das Vorhaben, mit einem Fremden Kaffee zu trinken, nicht gerade sonderlich klug.

„Ich kann ihr Zögern verstehen, aber ich versichere Ihnen, ich bin vollkommen harmlos.“

„In Ordnung“, stimmte Lesley schließlich zu. Chase lächelte, und seine braunen Augen sahen sie warm an. Nie zuvor hatte sie einen Mann mit so ausdrucksvollen Augen getroffen.

Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster, und die Kellnerin brachte ihnen die Menükarte und zählte die Spezialitäten des Tages auf.

„Ich nehme nur einen Kaffee“, sagte Lesley.

„Was für Kuchen haben Sie?“, wollte Chase wissen.

Die junge Kellnerin, ein Teenager mit Hautproblemen, rasselte monoton fünf verschiedene Sorten herunter, als würde sie das am Tag tausendmal tun.

„Bringen Sie mir bitte einen Apfelkuchen und eine Tasse Kaffee.“

„Ich werde ebenfalls ein Stück davon nehmen“, sagte Lesley. „Obwohl ich es eigentlich nicht sollte.“ Dieser Kuchen würde die Vorspeise zu ihrer Gourmeteiscreme sein, die sie sich bei einem alten Doris-Day-Film schmecken lassen würde, einem jener Filme, in dem es stets ein Happy End gab. Wenn es jemals eine Zeit gegeben hatte, in der sie an Märchen glauben wollte, dann war sie jetzt gekommen.

„Natürlich sollten Sie es“, sagte Chase mit Nachdruck.

„Ich weiß“, erwiderte Lesley und blickte schnell aus dem Fenster, weil sie sich daran erinnerte, warum sie sich so verwöhnte. Ihr war es peinlich, als ihr plötzlich Tränen in die Augen traten. Es gelang ihr zwar, sie zurückzublinzeln, aber nicht früh genug, um sie vor Chase zu verbergen.

„Stimmt etwas nicht?“

„Das ist wohl die Nachwirkung des Schocks“, antwortete sie und hoffte, dass er diese Antwort akzeptieren würde. Seltsam, sie konnte wochenlang den Schmerz unterdrücken, und ausgerechnet jetzt, wo die Schule für diesen Sommer vorbei war und sie April und Tony zu ihrem Glück nicht mehr jeden Tag sehen musste, begann sie zu weinen.

„Es ist nur, weil heute eigentlich mein Hochzeitstag sein sollte“, stieß sie plötzlich hervor, und sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären, warum sie das ausgerechnet einem wildfremden Menschen erzählte.

„Was ist passiert?“, fragte Chase sanft und ergriff ihre Hand. Es war eine tröstende, beruhigende Geste.

„Oh, was so normalerweise passiert. Tony traf eine andere Frau … na ja, das Übliche. Die beiden haben sich sofort ineinander verliebt und heirateten bereits nach einem Monat. Beide scheinen sehr glücklich zu sein. Es ist nur, dass …“ Ihre Stimme versagte, und sie ließ den Rest offen.

Die Kellnerin brachte Kuchen und Kaffee, und Lesley holte, erleichtert über die Unterbrechung, aus ihrer Handtasche ein Taschentuch heraus. „Meine besten Freundinnen haben vergessen, dass heute der Tag ist, an dem Tony und ich heiraten wollten. Ich hatte bis auf den Tischschmuck bereits alles geplant. Es sollte eine perfekte Feier werden. Ich nehme an, dass ich so viel mit dem Planen der Hochzeit zu tun hatte, dass ich nicht bemerkte, wie unglücklich Tony geworden war. Als er dann darum bat, noch einmal alles zu überdenken, war ich schockiert. Ich hätte merken müssen, dass ihn etwas bedrückte. Und wie sich dann kurze Zeit später herausstellte, war es sein Schuldgefühl. Er hatte April getroffen. Wir arbeiten alle zusammen an der gleichen Grundschule.“

„Lehrer?“

Lesley nickte. „Wie dem auch sei, er fühlte sich zu April hingezogen und sie zu ihm, und das Ganze geriet irgendwie außer Kontrolle. Ich nehme an, Sie verstehen, was ich meine …“

„Ja, und ich halte ihren Exverlobten für einen ausgesprochenen Narren.“

Lesley lachte humorlos. „Wir sind immer noch Freunde. Zumindest versucht er, mein Freund zu sein. Ich weiß nicht so genau, was ich empfinden soll. Es ist alles vor Monaten passiert, aber es tut immer noch weh, und ich scheine es einfach nicht hinter mir lassen zu können.“

„Es ist nur menschlich, dass Sie sich verraten und verletzt fühlen, besonders an diesem heutigen Tag.“

„Ja, ich weiß, aber es steckt noch mehr dahinter. Tony fühlte sich sehr schlecht wegen der ganzen Sache, und dass wir alle zusammenarbeiten müssen, macht es nicht leichter. Ich habe die Schulbehörde um meine Versetzung gebeten, aber als Tony davon hörte, kam er zu mir und sagte, dass er sich so schuldig fühle, weil ich wegen ihm wegziehen wolle.“

„Das sollte er auch.“

„Obwohl ich wusste, dass es ein Fehler war, habe ich den Antrag zurückgezogen.“ Lesley wusste nicht, was sie dazu veranlasst haben könnte, mit einem Fremden über die Details ihrer aufgelösten Verlobung zu sprechen. Aber es tat gut. Es nahm etwas von diesem Kummer, der ständig an ihr nagte.

Lesley senkte den Blick und holte tief Luft. „Hören Sie, es tut mir leid, dass ich Sie damit belästigt habe“, sagte sie dann.

„Aber nein, Sie mussten darüber reden. Und ich bin geschmeichelt, dass ich derjenige war, der Ihnen zuhören durfte. Sind Sie seitdem mit anderen Männern ausgegangen?“

„Nein.“ Lesley nahm ein Stückchen Apfelkuchen auf die Gabel. „Wenn es um Beziehungen geht, bin ich ziemlich zynisch geworden. Ich bin fast davon überzeugt, dass Liebe und Ehe keine Anstrengungen wert sind, obwohl ich zugegebenermaßen eines Tages gern Kinder hätte“, fügte sie gedankenvoll hinzu.

„Zynisch, hm? Heißt das, dass Sie nie mehr ausgehen wollen?“

„Ich habe es für eine Weile nicht getan und habe es auch in absehbarer Zeit nicht vor. Ich bin im Moment auf Männer nicht besonders gut zu sprechen. Auf dem Weg zum Supermarkt habe ich die lächerlichste Anzeige gesehen, die mir seit langem auf einer Plakatwand aufgefallen ist. Irgendein Mann versucht, auf diese Weise eine Frau zu finden. Statt Mitleid mit diesem Mann zu haben, musste ich nur lachen.“

„Mitleid mit diesem Mann?“, fragte Chase. Er hatte bereits seinen Apfelkuchen gegessen und trank nun einen Schluck von dem dampfenden Kaffee.

„Denken Sie doch einmal nach. Was für ein Mann würde auf diese Weise eine Frau suchen? Nur einer, der alt und hässlich und verzweifelt ist, stimmt’s?“

„Wieso glauben Sie das?“

„Wenn er keine Frau auf normalem Weg finden kann, muss etwas mit ihm nicht stimmen. Wenn das kein Grund für Mitleid ist, was denn sonst?“

„Glauben Sie, dass die Frauen, die darauf antworten, ebenfalls alt und hässlich sind?“, fragte Chase mit gerunzelter Stirn.

„Himmel, das weiß ich nicht, und ich verstehe auch nicht sehr viel von Männern. Tony war der einzige Mann, den ich je heiraten wollte, und nun … Sie wissen ja bereits, was dann geschehen ist.“

„Mit anderen Worten, Sie würden nie auf den Gedanken kommen, sich mit einem Mann verabreden zu wollen, der durch eine Anzeige eine Frau sucht.“

„Nie“, rief sie mit Nachdruck aus. „Aber ich nehme an, dass er viele Anrufe bekommen wird.“

„Der Mann ist wahrscheinlich einsam und sehnt sich nach ein bisschen weiblicher Gesellschaft“, bemerkte Chase.

„Genau“, stimmte sie zu. „Man sollte meinen, dass das mein Mitgefühl hätte wecken sollen, stattdessen habe ich gelacht.“

„Glauben Sie, dass andere Frauen auch darüber lachen werden?“

Lesley zuckte die Schultern. „Ich weiß es nicht. Vielleicht.“ Frauen wie sie selbst vielleicht, die von der Liebe und vom Leben enttäuscht worden waren.

„Wie lange werden Sie in der Stadt bleiben?“, fragte sie, um der Unterhaltung eine andere Richtung zu geben.

„Knapp drei Wochen. Länger halte ich das Stadtleben nicht aus. Der Lärm und die Hektik gehen mir auf die Nerven.“

„Waren Sie bereits einmal in Seattle?“

„Ich komme jedes Jahr um die gleiche Zeit hierher. Normalerweise fahre ich an den nordwestlichen Pazifik, aber ich war auch mal in San Franzisco. Am Ende meines Urlaubs freue ich mich stets darauf, wieder nach Alaska zurückkehren zu können.“

„Alaska soll wunderschön sein“, sagte Lesley.

„Über dem Land liegt ein solcher Frieden, eine so unberührte Schönheit, dass ich davon immer wieder tief ergriffen werde. Ich habe mein ganzes Leben dort verbracht, aber es berührt mich immer noch.“

Lesley war fasziniert von seinen Worten und der stillen Freude, die aus ihnen herausklang. „Aus welcher Stadt kommen Sie?“

„Twin Creeks, es ist eine kleine Stadt. Ich bezweifle, dass Sie jemals davon gehört haben. Die Winter sind eisig, und es gibt kaum Ablenkungen. Mitte Dezember kann man das Tageslicht in Minuten statt in Stunden zählen. Aber um diese Zeit des Jahres ist es fast die ganze Nacht hindurch hell.“

„Abgesehen von Ihrer Arbeit, womit beschäftigen Sie sich während der einsamen Winterzeit?“ Sie war erstaunt, dass jemand freiwillig unter so harten Bedingungen leben wollte.

„Mit Lesen und Studieren. Hin und wieder schreibe ich auch.“

Autor

Debbie Macomber

Debbie Macomber...

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