Bittersüße Küsse auf dem Weihnachtsball

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In der schönen Barbara erwacht bittersüße Leidenschaft, als der Fabrikbesitzer Joseph Stratford ihr auf dem Weihnachtball heimlich einen Kuss stiehlt. Aber sie darf sich nicht in ihn verlieben! Denn er wird schon bald eine andere heiraten ...


  • Erscheinungstag 13.12.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733743734
  • Seitenanzahl 106
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Dezember 1811

Barbara Lampett lief den Weg am Dorfrand von Fiddleton entlang. Der Schlamm unter ihren Füßen war gefroren, und von der eiskalten Luft in ihren Lungen bekam sie Seitenstechen. In letzter Zeit hatte sie oft das Gefühl, ständig irgendetwas hinterherzuhetzen. Sie fragte sich, ob dieses wenig damenhafte Benehmen erstes Anzeichen dafür sein könne, dass ihr Leben außer Kontrolle geraten war.

Sie konnte wirklich nichts dafür. Wenn sie es sich hätte aussuchen können, hätte sie lieber im Salon am Kamin gesessen, hinaus auf das wechselhafte Wetter geblickt und all diejenigen bedauert, die gezwungen waren, auszugehen. Doch ihr Vater achtete kaum auf sein eigenes Wohlbefinden, wenn er in einer seiner Stimmungen war, geschweige denn auf das Wohlbefinden anderer.

Und von ihrer Mutter konnte sie ja wohl kaum erwarten, dass sie an ihrer Stelle ging.

Die neue Fabrik lag beinahe zwei Meilen von der Ortsmitte entfernt. Die Entfernung war zu gering, um extra anspannen zu lassen, doch für einen angenehmen Spaziergang war es zu weit – vor allem an einem so kalten Dezembertag. Wenigstens war der Boden gefroren. Um schneller laufen zu können, hatte sie auf die Überschuhe verzichtet, aber sie hätte ihre Stiefel nicht gern im Straßenschlamm ruiniert.

Und wenn es nicht so kalt gewesen wäre, wäre es überaus schlammig gewesen. Früher einmal war hier üppig grünes Gras gewachsen, doch nun war der Boden nackt und kahl, zerstört von den Karren, welche die Waren anlieferten und abholten, und dem Getrampel all der Menschen, die sich vor den Toren von Mr Joseph Stratfords neuen Fabrikgebäuden zum Protest zusammenfanden.

Auch jetzt hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Wieder eine dieser Demonstrationen, die dank der Reden ihres Vaters nun beinahe täglich stattfanden. Unter den zornigen Webern fanden sich auch neugierige Leute aus der Stadt ein. Die Not der Arbeiter weckte nicht ihr Interesse, es machte ihnen vielmehr Spaß, einem ordentlichen Streit beizuwohnen. Das Ganze schien für sie eher eine Belustigung zu sein.

Ein Windstoß erfasste sie, und Barbara packte ihr Umschlagtuch fester, unfähig, das ungute Gefühl zu unterdrücken, das in ihr aufstieg. Zwar freute sie sich darüber, dass die Worte ihres Vaters so großen Anklang fanden, doch damit führte er sie auf gefährliches Gelände. Sein Verhalten war wirklich unklug. Mit jedem Tag wirkte er verwegener, schien sich in seinen Äußerungen immer weniger vom Verstand und immer mehr von seinem Gefühl leiten zu lassen. Anscheinend war er gar nicht in der Lage zu begreifen, welche Wirkung seine Brandreden auf die örtliche Bevölkerung haben konnte.

Aber sie spürte es, als sie in der Menschenmenge feststeckte und von zornigen oder verängstigten Männern herumgestoßen wurde, sie spürte die wachsende Energie der Menge. Eines Tages würde irgendeine zufällige Bemerkung oder eine besonders aufstachelnde Ansprache die Volksseele zum Überkochen bringen. Und dann würde es wirklich zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen.

Wenn der Wind aus östlicher Richtung wehte, konnte man das verkohlte Gerippe der alten Fabrik, wo so viele dieser Männer gearbeitet hatten, immer noch riechen. Der Besitzer hatte seine Erneuerungspläne teuer bezahlen müssen, hatte zusehen müssen, wie seine Lebensgrundlage zerstört und seine Familie bedroht worden war. Schließlich hatte er aufgegeben und war weggezogen. Die Protestler hatten daraufhin gar keine Arbeit mehr und wurden zorniger als je zuvor.

Der jetzige Herr schien raffinierter. Beim Bau der neuen Fabrik hatte er Ziegelsteine verwendet. Sie ragte vor ihr auf, ein Schandfleck am Horizont. Jedes Detail war eine einzige Beleidigung für die Dorfgemeinschaft und bewies, dass der Bauherr keinerlei Einfühlungsvermögen besaß. Die Fabrik war groß und eckig und einfach viel zu neu. Er hatte sie nicht am Standort von Mackays zerstörter Fabrik errichtet, was den Leuten vielleicht Hoffnung gemacht hätte, dass sie nun zur Normalität zurückkehren könnten. Stattdessen hatte er die Fabrik näher an das schöne alte Herrenhaus gerückt, in dem er zurzeit wohnte. Die Fabrik stand nicht direkt im Park des Herrenhauses, aber doch auf dem dazugehörigen Landgut, und zwar auf einer Wiese am Fluss, welche die Clairemonts dem Dorf als Weideland überlassen hatten, als sie noch hier wohnten. Doch Mr Stratford hatte bei der Wahl des Baugrundstücks offenbar nichts als seinen eigenen Vorteil im Blick gehabt.

Obwohl er durch nichts vermuten ließ, dass ihm bewusst war, wie unpassend sein Bauplatz war, hatte er einen Zaun um den Ort errichtet, an dem früher einmal Picknicks und Dorffeste stattgefunden hatten, und das frische Grün niederwalzen lassen. Barbara war überzeugt, dass der feine Herr ganz genau wusste, dass er im Unrecht war, und insgeheim mit Schwierigkeiten rechnete. Die schmiedeeiserne Umzäunung des Hofs trennte den Platz von den Leuten, mit deren Zorn zu rechnen war: jenen Leuten, deren Arbeit von den mechanischen Webstühlen übernommen worden war.

Sie kämpfte sich vor zu dem steinernen Torpfosten, an dem ihr Vater stand und die Männer zum Handeln aufstachelte. Die Missgeschicke der letzten Zeit mochten ihm den Verstand verwirrt haben, doch sein Blick loderte immer noch so leidenschaftlich wie ehedem, und seine Stimme war klar. Sein Benehmen mochte unklug sein, doch seine Rede hatte nichts Wirres an sich.

„Die britischen Verordnungen behindern den Handel so sehr, dass man sich auf anständige Weise nicht mal mehr seinen Lebensunterhalt damit verdienen kann – man kann sein Tuch ja nicht mehr nach Amerika oder an andere Verbündete der Franzosen verkaufen.“

„Aye!“

Zustimmende Rufe und Gebrumm waren zu hören, und die Menge schwenkte Fackeln und Äxte. Barbara bekam Herzklopfen bei dem Gedanken, was passieren könnte, falls irgendjemand in dieser ohnehin schon brenzligen Lage eine Schusswaffe zog. Der Fabrikbesitzer, gegen den sich all der Zorn richtete, saß bestimmt in der geschlossenen schwarzen Kutsche, die direkt hinter dem Tor stand. Von dort aus hörte er jedes Wort. Vielleicht notierte er bereits den Namen des Redners und derjenigen Männer, die bereit schienen, sich gegen ihn zu erheben.

Doch ihrem Vater war das alles einerlei, er fuhr fort, die Menge aufzustacheln: „Durch die neuen Webstühle habt ihr noch weniger Arbeit, die Arbeit wird nun von unerfahrenen jungen Mädchen getan, während ihre Väter und Brüder untätig dasitzen und den vergangenen Tagen nachtrauern, als man in diesem Land noch auf ehrbare Weise sein Handwerk betreiben konnte.“

Das Gemurmel wurde lauter, hin und wieder wurden Rufe laut, und die Menge drängte in Wellen zum Tor.

„Wollt ihr den Wandel, der euren Kindern das Brot aus der Hand reißt? Oder werdet ihr euch dagegen erheben?“

Barbara winkte ihrem Vater heftig zu, um das Bevorstehende noch im letzten Moment zu verhindern. Kleinere Aufstände hatte die Regierung bereits mit Waffengewalt unterdrückt, hatte Truppen gegen das eigene Volk marschieren lassen, als gehörte es zu Napoleons Armee. Wenn ihr Vater die Männer zu Gewalt und Maschinenstürmerei aufstachelte, würden sie dafür nichts als Gewalt ernten. Möglich, dass Mr Stratford genauso schlimm war, wie ihr Vater behauptete, aber er war auch von einem ganz anderen Schlag als der zögerliche Mackay. Er würde nicht zögern, Gewalt mit Gewalt zu vergelten, und nach einem Armeebataillon schicken, das die Aufrührer erschoss.

„Vater!“, schrie sie, verzweifelt bemüht, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch ringsum überragten sie die Arbeiter, und ihre Stimme ging im allgemeinen Lärm unter. Bevor sie noch etwas sagen konnte, um die Wogen zu glätten, ertönte der erste Schuss – nicht aus der Menge, sondern aus der Kutsche vor ihnen. Obwohl der Schuss in die Luft abgefeuert worden war, zog sich die Menge einen Schritt zurück. Barbara wurde mitgerissen, erleichtert zwar, dass niemandem etwas geschehen war, doch nun noch weiter von ihrem Ziel entfernt.

Der Schlag der Kutsche wurde geöffnet, und Stratford sprang heraus, ehe sein besorgter Lakai ihm helfen konnte, und lief zu dem Pfosten, an dem ihr Vater stand. Geschickt kletterte Stratford an der Rückseite hinauf, bis er oben stand, weit über ihrem Vater und den anderen Männern. In der rechten Hand hielt er etwas, das allem Anschein nach eine Duellpistole war. Mit der Linken schob er den Rock zurück, um allen zu zeigen, dass er die andere Pistole im Hosenbund stecken hatte. Er sah aus wie ein Pirat – furchtlos und bereit zum Kampf. Barbara sah ihn förmlich vor sich, wie er auf die Menge zustürmte, ein Messer zwischen den Zähnen.

Dabei war sie sich sicher, dass er nicht zu denen gehörte, die Gefangene machten. Auf seine düstere, hungrige Art mochte er ja ein attraktiver Mann sein, aber nichts an seinen scharfen Zügen ließ Barmherzigkeit vermuten. Seine grauen Augen blickten hart und aufmerksam. Sein Mund, der möglicherweise sinnlich lächeln konnte, war höhnisch verzerrt. Ihr Vater hielt ihn für den Teufel höchstpersönlich, der nichts anderes im Sinn hatte, als allen ringsum Tod und Verderben zu bringen.

Falls er tatsächlich ein Teufel sein sollte, dann zumindest ein gut aussehender. Obwohl ihr ungefähr hundert Gründe einfielen, warum sie es nicht hätte bemerken sollen, fand sie ihn höchst attraktiv. Barbara bemühte sich, nicht bewundernd zu ihm aufzublicken, wie sie es schon einige Male getan hatte, als sie ihn im Dorf gesehen hatte.

Vielleicht hätte er sie nicht so beeindrucken dürfen, da das höhnische Grinsen in seinem Gesicht die Ebenmäßigkeit seiner Züge völlig verdarb. Sein Platz auf dem Pfeiler ließ ihn größer wirken, doch eigentlich hätte es dieses Vorteils gar nicht bedurft: Er maß über einen Meter achtzig. Heute wirkte er vor allem bedrohlich, kein geeignetes Objekt für die Neugier einer jungen Dame.

Passend zu seinem äußeren Erscheinungsbild verfügte er über eine mächtige Persönlichkeit, die in Freund und Feind gleichermaßen heftige Gefühle hervorrufen konnte. Und so Furcht einflößend er auch sein mag, dachte Barbara, wenn ich ihn erst einmal richtig ansehe, werde ich den Blick nicht von ihm wenden können.

„Wer will als Erster über den Zaun?“, rief Stratford der Menge entgegen. „Verlasst euch darauf, der Mann verliert nicht nur seinen Lebensunterhalt, sondern auch sein Leben.“

Die Arbeiter wichen noch einen Schritt zurück, suchten die Nähe der anderen, als wollten sie sich in der Kälte wärmen.

Der Mann auf dem Pfeiler lachte auf sie herab. „Dachte ich es mir doch. Nichts als Prahlerei und Gebrüll, solange ihr dabei nichts riskiert, und wenn es gefährlich wird, kneift ihr.“

Ihr Vater wandte sich um und rief zu Stratford hinauf: „Sie sind es hier, der feige ist, Sir. Und eitel und stolz. Sie verstecken sich hinter Ihrem Tor mit Ihren leeren Drohungen, nicht willens, sich unter einfache Leute zu begeben und ihren Schmerz zu fühlen, ihren Hunger, ihre Verzweiflung.“

Stratford funkelte ihn an. „Ich muss mich nicht unter euch begeben, um euch kennenzulernen. Ich kann auch zu den Ruinen von Mackays Fabrik gehen – die ihr zerstört habt –, um mir den Grund für eure Armut anzusehen. Wenn ihr könntet, würdet ihr meine Fabrik auch abbrennen – noch bevor ich sie überhaupt eröffnen kann. Und dann würdet ihr euch beschweren, dass ich euch ungerecht behandelt hätte. Ich sage euch hier und jetzt, wo ihr an einem Ort versammelt seid, dass ich mir eure Vorwürfe nicht anhören werde, solange sie keinen Sinn ergeben.“

Es war ungerecht von ihm, diese Zusammenkunft mit dem Anschlag auf Mackays Fabrik zu vergleichen. Die Anwesenden hatten damit größtenteils nichts zu tun, waren im Gegenteil herbeigeeilt, um ihren Arbeitsplatz zu retten, statt ihn zu zerstören. Die Angelegenheit war weitaus komplexer, als Stratford sie hier darstellte. Er war zu neu in der Gegend und von vornherein nicht bereit, ihnen zuzuhören, genau, wie ihr Vater gesagt hatte. Barbara versuchte, sich durch die Menge nach vorn zu drängen, um sich Gehör zu verschaffen.

Gerade als sie dachte, sie hätte ihr Ziel erreicht, verfing sich ein Mann mit dem Stiefelabsatz in ihrem Rocksaum und brachte sie ins Wanken. Panik überkam sie, als ihr klar wurde, dass niemand bemerkte, wie sie fiel. Die Männer hatten ihre Angst vor den Pistolen überwunden und rückten vor, um Stratfords Vorwurf der Feigheit zu entkräften.

Sie rief noch einmal, hoffte, dass ihr Vater sie hörte und ihr zu Hilfe eilte. Doch er hatte ihr den Rücken zugewandt und drohte Stratford mit der Faust. Er war viel zu sehr mit sich beschäftigt, um den Vorfall zu bemerken. Im nächsten Moment würde sie in die Knie gehen und dann von der Menge überrollt werden wie von einer menschlichen Woge und von den genagelten Stiefeln in den Schlamm getrampelt werden.

„Heda!“ Plötzlich änderte sich die Stimmung, und die Menschenmenge um sie teilte sich. Eine Hand packte sie bei der Schulter, und dann wurde sie auf die Füße gerissen. Ein Schrei ertönte, der ebenso laut war wie der ihres Vaters. Aber er war von jemandem neben ihr ausgestoßen worden und übertönte den Lärm der Menschenmenge. „Passt doch auf, ihr Riesentrampel. Zu mir könnt ihr ja sagen, was ihr wollt, aber doch nicht in Anwesenheit einer Dame. Nehmt wenigstens auf sie Rücksicht. Vielleicht will ich euch ja deswegen nicht einstellen, weil ihr euch wie Tiere benehmt.“

Dann stand sie wieder auf den Füßen, und die Hand, die sie gestützt hatte, wurde zurückgezogen. Sie spürte die Menge ringsum zurückbranden, nachdem ihr Retter gegangen war. Doch einen Augenblick schien die Stimmung der Leute gedämpft, als hätte die Scham über ihr Verhalten den allgemeinen Wahn abgemildert.

Und der Mann, der sie gerettet hatte, stand wieder ganz vorn, schob sich an ihrem Vater vorbei und kletterte auf den Pfeiler am Tor zurück. Schon als er noch hinter den Toren gestanden hatte, hatte sie Mr Stratford für eine eindrucksvolle Gestalt gehalten. Doch noch aufregender war es, ihm so nahe zu sein, und wenn es nur einen Moment gewesen war. Er hatte seine Kraft benutzt, die anderen aus dem Weg zu drängen, und seine Wendigkeit, herunter- und wieder hinaufzuklettern, ehe den zornigen Arbeitern überhaupt klar geworden war, dass er sich in ihre Hand begeben hatte. Doch er sah schon wieder auf sie herab, eher angewidert als zornig, als hätten sie ihm eben bewiesen, dass er mit seiner Verachtung ganz richtiggelegen hatte.

„Geht heim zu euren Familien, wenn euch so viel an ihnen liegt. Das neue Jahr ist nahe, und mit ihm ein neues Zeitalter. Am besten, ihr gewöhnt euch daran. Wenn meine Fabrik in einem Monat eröffnet wird, gibt es Arbeit für diejenigen unter euch, die bereit sind, all diesen Unsinn hier zu vergessen und sich wieder ihrem Weberschiffchen zu widmen. Aber wenn ihr euch gegen mich erhebt, sorge ich dafür, dass ihr alle deportiert werdet, und stelle eure Töchter ein. Die kommen mich billiger, und außerdem werden sie so vernünftig sein, den Mund zu halten.“ Er streckte die Hand zu seinem Hosenbund aus, und die Menschen vor ihm keuchten erschrocken auf. Statt der Pistole zog er jedoch eine Börse hervor und ließ Geldstücke auf die Menge regnen.

„Frohe Weihnachten euch allen“, rief er und lachte ebenso triumphierend wie bitter auf, als die Menschen ihren Zorn vergaßen und eifrig nach den Geldstücken haschten. „Kommt bloß nicht mehr her. Wenn ihr meine Maschinen zerstört, kaufe ich neue, bis ihr genug davon habt, sie mir kaputt zu machen. Nehmt mein Geld und geht nach Hause. Ich habe die Konstabler gerufen. Wenn sie kommen und ihr seid noch da, verbringt ihr Weihnachten in der Zelle und könnt von eurer Familie nur träumen. Also trollt euch.“

Barbara schämte sich für die Dorfbewohner, die diese neuerliche Drohung gar nicht hörten, weil sie viel zu sehr damit beschäftigt waren, das Geld aufzuklauben. In besseren Zeiten hätten sie dem Fremden in ihrer Mitte das Geld vor die Füße geworfen, statt sich sein Almosen und seine Verachtung zu eigen zu machen. Aber die wirtschaftlichen Probleme der letzten Zeit hatten dazu geführt, dass die meisten Leute im Dorf keine Arbeit hatten und alles Geld nehmen mussten, das sie kriegen konnten, um Weihnachten feiern zu können.

Die aufstachelnden Worte ihres Vaters gingen in der allgemeinen Unruhe unter, als die Leute sich nach den Münzen bückten. Diesmal konnte Barbara sich mühelos durch die Menge schieben, bis sie schließlich ihrem Vater die Hand auf den Arm legen konnte. „Komm mit“, wisperte sie. „Jetzt gleich. Bevor das hier weiter eskaliert. Du kannst deine Ansprache an einem anderen Tag halten.“

Anscheinend war er auch nicht mehr in der Stimmung dazu; eben noch war er förmlich besessen vom Kampfeswillen gewesen, doch nun war er ganz friedlich und ein wenig verwirrt, als wüsste er nicht, wieso er hier vor so vielen Leuten stand. Er würde sich widerstandslos wegführen lassen; sie könnten zu Hause sein, ehe die Hüter des Gesetzes erschienen. Alles würde gut werden. Bis zum nächsten Mal.

Direkt über ihr, abgehoben vom allgemeinen Chaos, sah Joseph Stratford zu – distanziert und leidenschaftslos, als interessierte er sich gar nicht für den Schmerz, den er verursachte. Als Barbara ihn ansah, schienen all der Zorn und die Enttäuschung ihres Vaters in sie zu fahren. Wenn Gott der Herr ihr Verstand verliehen hatte, warum hatte er nicht einen Mann aus ihr machen können, damit sie bei anderen Männern Gehör fände?

Sie wandte sich um und rief zu dem dunklen Mann hinauf, der sich über seine Mitmenschen so erhaben dünkte: „Sie geben den Männern hier die Schuld. Aber Sie sollten sich ebenfalls schämen. Sie erheben sich über uns und halten sich für einen Gott. Sie machen sich über Not und Elend lustig, deren Ausmaße sie überhaupt nicht erfassen können. Sie handeln, als wären Sie aus demselben rauen Holz, demselben kalten Metall der Maschinen gemacht, die Ihre Fabrik füllen. Wenn ich in Ihr Herz sehen könnte, würde ich dort nichts als ein Uhrwerk finden, angetrieben von dem Kohlenfeuer in Ihren Adern.“

Einen Augenblick glaubte sie fast, dass sich seine Miene veränderte, seine Augen schienen sich eine Spur zu weiten, als hätten ihre Worte ihn getroffen. Doch dann stieß er ein freudloses kleines Lachen aus, begleitet von einem Schulterzucken. „Ich wünsche Ihnen ebenfalls frohe Weihnachten, meine Liebe.“ Darauf drehte er sich um und sprang geschickt von dem Pfeiler, obwohl es dabei fast acht Fuß nach unten ging. Dann schlenderte er zu seiner Kutsche und den nervösen Lakaien zurück. Diese traten vorsichtig vor, um das Tor zu öffnen, damit die Kutsche durchfahren konnte. Sie hätten sich keine Sorgen zu machen brauchen, denn die Männer, die ihnen bis dahin den Weg versperrt hatten, hatten sich in verlegenem Schweigen nach Hause gewandt, sobald sie das Geld vom Boden geklaubt hatten.

Barbara zog ihren Vater an den Straßenrand, um die Pferde vorbeizulassen. Doch als die Kutsche bei ihnen angelangt war, hörte sie, wie innen mit dem Stock an die Wand geklopft wurde, um den Fahrer zum Halten aufzufordern. Der Kutscher brachte die Pferde zum Stehen, und dann beugte Stratford sich aus dem Fenster und sah sie an.

„Wir sind noch nicht am Ende, Stratford“, sagte ihr Vater mit ruhigerer Stimme. Jetzt, wo die Menge weg war, klang er durchaus vernünftig und fast wieder wie er selbst.

„Das habe ich auch nicht geglaubt, Lampett“, erwiderte Stratford und lächelte kalt. Dabei blickte er ihrem Vater prüfend in die Augen, wie ein Boxer, der die Reichweite seines Gegners abzuschätzen versucht, ehe er zum Schlag ausholt.

„Ich lasse nicht zu, dass Sie diese Leute – meine Leute – behandeln, als wären sie nichts als ein Anhängsel Ihrer Webstühle. Es sind Menschen, keine Waren. Als solche sollten Sie sie respektieren.“

„Wenn sie sich wie Menschen benehmen, werde ich Ihnen den entsprechenden Respekt entgegenbringen. Vorher nicht. Und jetzt gehen Sie. Ihr Publikum hat sich davongemacht, und Ihr Kind zittert vor Kälte.“

Ich bin kein Kind. Sie war vierundzwanzig. Nicht dass das eine Rolle gespielt hätte. Aber sie zitterte tatsächlich – vor Angst und vor Kälte. Auf die kränkende Bemerkung hin richtete sie sich ein bisschen gerader auf und versuchte, das Zittern zu unterdrücken, damit sie so gesammelt und unbewegt wirken konnte wie ihr Gegner.

Es schien Joseph Stratford nicht im Mindesten zu kümmern, dass die ganze Stadt gegen ihn war. Einmal hatten sie seine Webstühle schon zerstört, und sie sabotierten die Bauarbeiten an der Fabrik, wo sie nur konnten. Und doch gab Stratford nicht auf. Barbara hätte gern ebenfalls mit dieser lässigen, unerreichbaren Gleichgültigkeit reagiert.

Dieser Neid störte sie. Vielleicht bewunderte sie die Zielstrebigkeit dieses Mannes doch ein wenig. So fehlgeleitet sie auch sein mochte. Wenn sie ihn ansah, zweifelte sie nicht daran, dass er sich am Ende durchsetzen würde. Ihr Vater war wie Feuer, doch oft genug erwies es sich als Strohfeuer, das schnell wieder erlosch. Stratford hingegen war wie Stein, unwandelbar und unbeweglich. Durch ein kurzes Aufflackern von Zorn würde sich ein Mann wie er nie von einem einmal anvisierten Ziel abbringen lassen.

Sie sah ihn wieder an und sagte sich, dass er auch stolz war. Diese Sünde würde sich am Ende vielleicht als sein Untergang erweisen. Wenn er alle Männer als Feind und sie selbst als gesichtsloses, wertloses Kind betrachtete, würde er keinen Erfolg haben.

Während sie die beiden Männer beobachtete, die sich gegenseitig niederzustarren versuchten, war sie froh, dass ihr Vater keine Schusswaffe besaß. Selbst wenn sie sich, so vermutete sie zumindest – bei Mr Stratford darauf verlassen konnte, dass er das Feuer nicht ohne Provokation eröffnen würde, konnte man bei ihrem Vater nicht sagen, wozu er imstande wäre, wenn die Leidenschaft in ihm hochkochte und seinen Verstand noch mehr als sonst trübte. Sie fasste ihren Vater noch einmal am Arm, bereit, ihn nach Hause zu bringen. „Komm. Gehen wir heim. Heute kannst du nichts mehr tun. Wenn er wirklich die Konstabler gerufen hat, wäre es mir lieber, du würdest darin nicht hineinverwickelt.“

Er schüttelte sie unwillig ab, trat einen Schritt zurück und zuckte zornig mit den Schultern, als sich die Kutsche in Bewegung setzte. „Würde ihm recht geschehen, wenn ich verhaftet werden würde. Dann würde alle Welt sehen, wes Geistes Kind er ist: ein Mensch, der einen alten Mann ins Gefängnis werfen lässt, um zu beweisen, dass er im Recht ist.“

Es war sinnlos, ihm erklären zu wollen, dass alle Welt höchstens sehen würde, dass Stratford bei einem üppigen Mahl in seinem Herrenhaus sitzen würde, während Lampett in einer Zelle hungern müsste. „Aber es würde mich sehr unglücklich machen, Vater“, sagte sie, so freundlich sie konnte. „Und Mutter auch. Wenn wir schon sonst nichts zu Weihnachten bekommen, können wir nicht wenigstens ein paar Tage Frieden haben?“

„Ich werde friedlich sein, wenn ich Grund dazu habe“, gestand ihr Vater ihr zu. „Doch solange dieser Mann unter uns weilt, werden wir diesen Zustand wohl kaum erleben.“

2. KAPITEL

Joseph Stratford fuhr in behaglichem, wenn auch etwas nachdenklichem Schweigen allein nach Hause. Der Ausgang der Demonstration hatte sich befriedigend gestaltet, zumindest für den Moment. Die Menge hatte sich zerstreut, ohne dass es zu echter Gewalt gekommen wäre. Aber wenn Bernard Lampett die Leute weiter aufstachelt, wird sich wohl der gesamte Ort gegen mich erheben, überlegte Joseph. Bevor das geschah, würde er zu strengeren Maßnahmen greifen müssen.

In Gedanken setzte er einen Brief auf, den er an den Kommandanten der in York stationierten Garnison schicken wollte. Das wäre drastisch, aber notwendig. Wenn ein, zwei Aufrührer in Ketten abgeführt werden würden, würde es die übrigen wohl zur Einsicht bringen.

Auf der bogenförmigen Auffahrt zu Clairemont Manor kam die Kutsche zum Stehen und hielt vor dem Eingang – so nahe, dass er das kalte Winterwetter auf dem Weg ins Haus kaum zu spüren bekam. Er lächelte. Wie sehr sich das doch von früher unterschied. Bis zum vergangenen Jahr hatte er seine Wege zu Fuß zurücklegen müssen. Doch in den letzten zwölf Monaten hatten seine Investitionen Früchte getragen. Selbst nachdem er das Geld für die neue Fabrik ausgegeben hatte, lebte er in einem Luxus, den er sich in seinen wildesten Weihnachtswünschen nicht hätte träumen lassen.

Joseph übergab Hut, Handschuhe und Überrock einem Lakaien und betrat den Salon, um dort den Tee zu sich zu nehmen, der auf dem Tischchen neben dem zweitbesten Sessel vor dem Kamin auf ihn wartete. Als er am Sessel daneben vorbeikam, trat er dem Mann, der darin saß, sanft gegen den Stiefel, damit er seine Füße aus dem Weg hob.

Schläfrig öffnete Robert Breton ein Auge und setzte sich auf. „Probleme in der Fabrik?“

Joseph setzte sich und hob die Teetasse. „Wann gäbe es die nicht?“ Er prostete Breton spöttisch mit der Tasse zu, und Breton nahm den Gruß entgegen, als wäre er der Hausherr und beanspruchte seinen Sessel mit vollem Recht. Auch wenn ich mir alle Mühe gebe, meine rauen Kanten zu glätten, die lässige Haltung übernehme und den Londoner Akzent und die affektierten Gesten kopiere, werde ich, verglichen mit diesem zweiten Sohn eines Earls, nie etwas anderes als eine billige Imitation sein, dachte Joseph. Robert war zum Herrn geboren, genau, wie er selbst, Joseph, zum Arbeiten geboren war. Auch wenn das Herrenhaus inzwischen ihm gehörte, war es Roberts Geburtsrecht, sich hier wohlzufühlen.

Und genau das machte ihn auch so verdammt nützlich – sowohl als Freund als auch als Investor. Der ehrenwerte Robert Breton öffnete ihm Türen, die ihm selbst verschlossen blieben, und wenn Robert den Verhandlungen beiwohnte, in denen er seinen reichen, müßigen Freunden Kapital abzuringen versuchte, milderte das den Ruch der Geschäftemacherei.

Joseph nahm noch einen Schluck Tee. „Lampett hat wieder seine verrückten Reden gehalten – und die Leute zur Gewalt aufgestachelt. Weiß der Himmel, warum Mackay ihn nicht losgeworden ist, statt selbst vor ihm davonzulaufen. Er hätte den Aufstand im Keim ersticken sollen, dann würde seine Fabrik noch stehen.“

Robert zuckte mit den Schultern. „Anne erzählte mir, dass Lampett nicht immer so gewesen ist. Als die Männer das Feuer in der Fabrik bekämpften, hat es einen Unfall gegeben. Seither ist er nicht mehr ganz richtig im Kopf.“

„Das ist für ihn und seine Familie natürlich bedauerlich“, erwiderte Joseph. „Wenn er jedoch nicht aufhört, mich zu belästigen, ist er im Frühling der verrückteste Einwohner der australischen Strafkolonie.“

„Anne mag ihn anscheinend recht gern“, erklärte Breton. „Bevor die Schule geschlossen wurde, war er der Lehrer im Ort und ein hoch geachtetes Mitglied der Gemeinde.“

Joseph prägte sich ein, selbst mit Anne über das Thema zu reden, und wenn es nur aus dem Grund war, damit er hinterher sagen könnte, er habe es getan. Er fand es nicht richtig, dass sein bester Freund besser mit seiner Verlobten in spe auskam als er selbst. Aber Robert und Anne waren gern zusammen – vielleicht, weil Robert sich auch in anderen Themen zu Hause fühlte als den Stoffpreisen und wie viel Arbeitszeit für die Produktion vonnöten war.

„Wenn Anne ihn so schätzt, hat sie ihn bestimmt schon länger nicht mehr gesehen. Nach dem, was ich beobachtet habe, ist er keine geeignete Gesellschaft für eine Dame. Bei dem Aufruhr heute war eine junge Frau dabei, vermutlich seine Tochter. Sie hat versucht, ihn nach Hause zu holen und vor Schwierigkeiten zu bewahren. Dabei wäre sie von der Menge beinahe niedergetrampelt worden, und Lampett hat es nicht einmal bemerkt. Ich habe sie höchstpersönlich gerettet und dafür nicht einmal ein Dankeschön bekommen, von keinem von beiden.“

„War das bevor oder nachdem du gedroht hast, ihren Vater verhaften zu lassen?“, erkundigte sich Robert trocken.

„Zwischen zwei Drohungen, glaube ich“, versetzte Stratford grinsend.

Robert schüttelte den Kopf. „Und du wunderst dich, dass du nirgends beliebt bist.“

„Wenn erst einmal die Fabrik eröffnet ist und sie alle wieder Arbeit haben, werde ich schon beliebt genug sein.“

„Wenn es Arbeit gibt“, erwiderte Robert. „Die britischen Verordnungen schränken die Möglichkeiten erheblich ein, deine Waren zu verkaufen. Solange Amerika ein Verbündeter Frankreichs ist, kannst du nicht viel machen.“

„Die Verordnungen werden zurückgenommen werden“, sagte Joseph entschieden.

„Und wenn nicht?“

„Sie werden zurückgenommen. Anders geht es nicht. Die Kaufleute stehen kurz vor dem Ruin. Das Gesetz muss geändert werden, sonst gehen wir alle bankrott.“ Joseph lächelte beruhigend, versuchte, seinem kleinmütigen Freund Zuversicht zu schenken. „Wir dürfen jetzt nicht zögern. In diesen düsteren Zeiten können wir es uns nicht leisten, übervorsichtig zu sein. Wenn wir Profit machen wollen, müssen wir selbstsicherer sein, wagemutiger, aktiver als andere. Der Weg zum Erfolg führt über eine ausgelastete Fabrik und volle Lagerhäuser. Der richtige Augenblick wird ganz plötzlich da sein. Dann müssen wir bereit sein, wie die klugen Jungfrauen auf der Hochzeit von Kanaan, die genug Öl für ihre Lampen hatten.“

Staunend schüttelte Breton den Kopf. „Wenn du es so ausdrückst, habe ich keine Probleme, an dich zu glauben.“

„Dann nimm dir die Botschaft zu Herzen und gib sie an deine Freunde weiter.“ Joseph blickte aus dem Fenster, um nach dem Wetter zu sehen. Der Himmel war schiefergrau, doch anders als erhofft schneite es nicht. „Wenn sie alle an Weihnachten herkommen, umgarne ich sie mit gutem Wein und guter Stimmung. Du legst ihnen dann die Situation dar, genau wie ich sie dir erklärt habe. Sobald sie überzeugt sind, stecke ich ihnen die Hand in die Tasche und nehme mir das Geld, das ich für die Erweiterung brauche.“

Robert lachte. „Ich komme mir vor wie eine Spinne, die auf die fetten Fliegen aus London wartet.“

„Aber mein Lieber, die Sache liegt doch ganz anders. Die Spinne bin ich. Du bist der Köder – falls Spinnen dergleichen verwenden. Ohne dich würden sie gar nicht kommen.“

„Wir dürfen uns glücklich schätzen, wenn sie kommen. Hier in Yorkshire sind wir ziemlich weit ab vom Schuss.“

„Und du bist der Sohn des Earl of Lepford. In London muss es doch einige Leute geben, die erpicht darauf sind, die Feiertage in deiner erhabenen Gesellschaft zu verbringen, vor allem, wenn sie heiratsfähige Töchter haben.“

„Nur der zweite Sohn“, korrigierte Robert ihn. „Einen Titel habe ich nicht zu bieten. Aber wenigstens bin ich reich. Das habe ich größtenteils dir zu verdanken.“

„Dann sag das unseren Gästen, falls sich dazu eine Gelegenheit ergeben sollte.“

Robert verzog das Gesicht. „Bei einer Weihnachtsgesellschaft über Geld zu reden, schickt sich nicht. Es wird ihnen nicht gefallen, wenn sie Wind von deinen Plänen bekommen, Joseph.“

„Deswegen wirst du es Ihnen ganz dezent vermitteln – wie immer, Robert. Sie werden kaum erfassen, was passiert ist. Du kannst dich bei ihnen für meinen Mangel an Manieren entschuldigen und sie meinen Weinkeller bis zur letzten Flasche plündern lassen. Sprecht von mir aus hinter meinem Rücken über mich. Tanz du mit den hübschen Mädchen durch den Salon, ich kümmere mich schon um die Väter. Aber wenn ich das Zimmer verlassen, habe ich ihren Scheck in der Tasche. Für einen Geschäftsmann ist Weihnachten wie jeder andere Tag. Wenn deine Freunde in mein neues Projekt investieren, dürfen sie mit einem stattlichen Gewinn rechnen, der ihnen das nächste Weihnachtsfest versüßen wird.“

Die Tür ging auf, und Mrs Davy, die Haushälterin, erschien, begleitet von einem Lakaien, der einen Armvoll Grünzeug hereinschleppte. Während er begann, am Kamin grüne Girlanden zu befestigen, erhob Joseph sich und befragte die Haushälterin, ob auch alle Punkte zu seiner Zufriedenheit erledigt waren.

„Alles muss genau richtig sein“, sagte er entschieden. „Zwar hat fast jeder Fabrikbesitzer in der Gegend Probleme mit Maschinenstürmern und Ludditen erlebt, aber es würde mich in ein schlechtes Licht rücken, wenn ich bei meinen Gästen den Anschein erwecke, meinen Haushalt nicht im Griff zu haben. An der Sauberkeit habe ich schon mal nichts auszusetzen – alles glänzt, als hätten Sie das Haus mit Diamanten geschrubbt.“

Die Haushälterin neigte dankend den Kopf und errötete ein wenig. Aber das Lob war wohlverdient. Überall roch es nach der Bienenwachspolitur, mit dem die Eichentäfelung bearbeitet worden war, bis sich das Licht der Kerzen und der Kaminfeuer golden im Holz spiegelte.

„Und die Speisekammer ist ebenfalls gut bestückt, hoffe ich?“

„Das war schwierig“, erwiderte Mrs Davy bescheiden. „In den Läden gab es nicht viel zu kaufen.“

„Dann haben Sie in London bestellt, wie ich Sie gebeten habe?“

Sie nickte.

„In der Stadt ist das Essen nicht knapp, genauso wenig, wie es an Leuten mangelt, die über genügend Geld verfügen, um das Essen zu kaufen. Meine Freunde aus dem Süden werden unsere Probleme hier nicht verstehen, und sie haben auch kein Interesse daran, darüber aufgeklärt zu werden. Da sie die weite Reise auf sich nehmen, möchte ich, dass ihre Mägen wohl gefüllt und ihre Herzen leicht sind.“ Er grinste vor Vorfreude. „Und ihre Börsen bei der Abreise leer.“

Die Haushälterin lächelte, wenn auch eine Spur tadelnd. „Sie werden speisen wie Könige.“ Sie reichte ihm eine Liste mit ihren Vorschlägen. „Sie brauchen nur noch die Mahlzeiten auszuwählen, Mr Stratford.“

Angesichts der dargebotenen Fülle fiel ihm die Auswahl schwer. Er runzelte die Stirn. „Gans muss natürlich sein, für diejenigen, die das an Weihnachten wünschen. Ich ziehe Roastbeef vor. Und Yorkshire Pudding, um die Soße aufzustippen. Dazu Kohlrübchen, Erbsen und Rosenkohl.“ Er deutete von einem Blatt Papier zum anderen. „Bratkartoffeln. Kastanien, die neben dem Julklotz geröstet werden können. Und Plumpudding, Früchtekuchen, Käse …“

„Aber welchen, Sir?“, fragte die Haushälterin.

„Alle Sorten, würde ich sagen. Damit jeder das bekommt, was ihm am besten schmeckt, was es auch sein mag. Besser zu viel als zu wenig, oder nicht?“

„Wenn wir zu viel auftragen, Sir, verderben die Sachen am Ende nur.“ Von der Art, wie sie die Lippen spitzte, sah er, dass er sie mitten in ihr genügsames nordenglisches Herz getroffen hatte.

„Und wenn schon, ich kann es mir leisten. Wenn ich mich vor meinen zukünftigen Investoren sparsam zeige, werden sie mir das als mangelnde Zuversicht ankreiden. Und das ist etwas, das ich mir wirklich nicht vorwerfen lassen will.“ Er ging an ihr vorbei durch die Halle, sah den Dienstboten beim Saubermachen zu, beäugte kritischen Auges Holzdecke und Bilderrahmen und nickte beifällig, als er keine Spur von Staub entdecken konnte. „Alles ist wunderbar in Ordnung. Und wie ich sehe, haben Sie sich auch des Immergrüns angenommen.“

„Einige Zimmer müssen noch geschmückt werden“, räumte Mrs Davy ein. „Für die Mistelsträuße brauchen wir aber auch noch Grünzeug.“

„Lassen Sie etwas Efeu von der Südwand herunterreißen. Die Fenster sind teilweise so überwuchert, dass man selbst zur Mittagszeit Kerzen braucht, um etwas zu sehen. Die Ausbeute sollte so groß sein, dass Sie damit das gesamte Haus herausputzen können.“ Er wedelte mit der Hand. „Und lassen Sie im ganzen Wald nach Misteln suchen. Ich will alles. Im Haus soll es überall nach Immergrün und frischer Luft duften. Morgen kommen die ersten Gäste an, bis dahin muss alles bereit sein.“

„Ja, Sir.“

Hinter ihm ertönte Roberts Lachen. „Du bist ja ein strenger Zuchtmeister. Der Himmel sei den Arbeitern in deiner Fabrik gnädig, wenn du dich ihnen gegenüber genauso verhältst.“

„Dir werde ich auch noch Zucht und Ordnung beibringen, Robert. Ich erwarte, dass du dich von deinem Sessel erhebst und die Gesellschaftsspiele anleitest.“

Breton sah ihn entsetzt an. „Ich?“

„Natürlich. Die Leute sind deine Freunde. Du wirst schon wissen, womit du sie am besten unterhältst.“

„Das halte ich nicht für angemessen.“ Robert wich buchstäblich vor dieser Aufgabe zurück. „Der Gastgeber bist schließlich du.“

„Aber nur dem Namen nach“, beharrte Joseph. „Natürlich werde ich die Zeche bezahlen, aber erwarte um Gottes willen nicht, dass ich mich am Spiel beteilige. Für dergleichen hat es in meinem Leben bisher nicht viel Platz gegeben, und ich bin darin nicht gut. Ich befürchte, dass ich mich mit Maschinen sehr viel besser auskenne als mit Menschen.“

„Aber ich …“ Breton schüttelte den Kopf. „Ich eigne mich nicht sonderlich dazu, an deiner Stelle die Leitung zu übernehmen.“

„Im besten Fall wollen sie von mir nicht mehr als ein üppiges Festmahl und dass der Punsch in Strömen fließt. Schlimmstenfalls kommen sie, um sich anzusehen, was ich in diesem schönen alten Haus alles falsch mache. Wenn sie könnten, würden sie lieber ohne mich auskommen. Denn ich bin ja …“, fromm schlug er die Augen auf, „… ein Kaufmann. Also kein Umgang für den Adel. Doch das Geld zieht sie an wie die Fliegen. Jeder will sein Stückchen Zucker, Robert. Das geben wir ihnen. Sie mögen verächtlich in die Gläser grinsen, wenn sie meinen Wein trinken, aber sie werden nicht zu stolz sein, ihn zu schlucken.“

„Aber muss ich denn mitmachen? Wenn sie dich nicht akzeptieren wollen, wirst du doch sicher …“

„Du bist einer von ihnen“, unterbrach Joseph ihn entschieden. „Ich werde nie dazugehören. Ich kann von Glück sagen, dass ich Clairemont für mich gewinnen konnte, und werde natürlich mit seiner Tochter tanzen können. Wenn sie vorhat, meinen Antrag anzunehmen, sollte sie sich am besten daran gewöhnen, sich mit mir zu zeigen. Die übrigen Damen überlasse ich dir.“

„Was solle ich denn mit ihnen anfangen?“ Trotz all seiner Welterfahrenheit konnte Robert recht begriffsstutzig sein, wenn er wollte.

„Lächle sie an. Schmeichle ihnen. Sorg dafür, dass ihre Gläser immer voll sind. Vielleicht wäre es gar nicht schlecht, wenn du dir ein Beispiel an mir nehmen und dir auch eine Frau suchen würdest. Oaksley hat drei Töchter, habe ich gehört. Vielleicht käme eine davon für dich infrage.“

Dann gab es da auch noch die Tochter des Hitzkopfs aus dem Dorf. Zur Weihnachtsfeier war sie nicht geladen. Es wäre auch nicht sehr weise, den Mann und seine Familie hier ins Haus zu bringen, er würde nur seinen Erfolg gefährden. Aber das Mädchen wäre für Robert genau das Richtige. Sie war sowohl hübsch als auch intelligent und die Tochter eines Gentleman. Vor wenigen Jahren noch wäre sie angesehener gewesen, als er es jemals für sich selbst erträumt hätte. Miss Lampett wäre für seinen Freund in jeder Hinsicht perfekt. Doch obwohl er jetzt Gelegenheit gehabt hätte, ein Treffen vorzuschlagen, widerstrebte es ihm plötzlich, seiner Idee Ausdruck zu verleihen.

„Ich habe nicht die Absicht, je zu heiraten“, erklärte Robert vehement. „Nicht jetzt und später auch nicht. Niemals.“

„Dann nutze die irdischeren Freuden“, meinte Joseph merkwürdig erleichtert. „Dazu wird es bestimmt mehr als genug Gelegenheit geben. Ich habe gehört, dass Lindhursts Gattin nach einem feuchtfröhlichen Abend selten in ihr eigenes Zimmer findet. Ich hoffe, dass ich dir den Rest nicht weiter zu erklären brauche. Nutze auch du meine Gastfreundschaft. Der Mensch hat nichts Besseres unter der Sonne, als zu essen, zu trinken und fröhlich zu sein.“

Denn wir sterben noch morgen.

Joseph schauderte. Er war sich sicher, dass er den Spruch nicht laut zu Ende gesprochen hatte. Aber er hatte die Worte so deutlich in seinem Kopf gehört, dass er hätte schwören mögen, dass sie laut gesagt worden waren, mit einer Stimme, die nicht die seine war.

„Joseph?“ Robert starrte ihn etwas besorgt an.

„Nichts. Nur eine komische Anwandlung.“ Er lächelte beruhigend. Auch wenn ihm die Vorstellung, mit fremden Leuten zu feiern, ebenso wenig behagte wie Robert, durfte er nicht zulassen, dass die Nerven mit ihm durchgingen. „Wie gesagt, ich erwarte von dir, dass du kommst und die ganze Woche bleibst. Ich werde natürlich weiterarbeiten. Aber wir haben Erfolg mit unserem Vorhaben, da solltest du dir ein wenig Spaß gönnen dürfen. Im neuen Jahr ist Schluss damit. Jetzt ist die Zeit, sich zu vergnügen.“

3. KAPITEL

Wie immer war der Weg ins Schlafzimmer für Joseph auch an jenem Abend ein wenig beunruhigend. Er wusste zwar, dass ihm das Haus gehörte, aber er hatte nicht das Gefühl, dass es richtig zu ihm passte. Natürlich war es schön. Doch nachts, wenn die Dienstboten sich in ihre Quartiere zurückgezogen hatten und er meist mit sich allein war, ging er durch die breiten Korridore, um sich zu vergewissern, dass das Haus wirklich existierte und nicht nur Teil seiner Kindheitsträume vom Erfolg war.

Das Haus war zu groß, zu merkwürdig und zu geschichtsträchtig. Doch es ginge nicht an, irgendwem – nicht einmal Robert Breton – anzuvertrauen, wie unwohl er sich fühlte oder dass sein spätabendlicher Spaziergang ihn ständig daran erinnerte, wie weit er sich von seiner Herkunft und seinem wahren Stand entfernt hatte.

Es war nicht so, als könnte das alte Gemäuer zum Leben erwachen und ihn hinauswerfen. Das Haus gehörte ihm, vom Keller bis zum Dachboden. Er hatte es gekauft, zu einem guten Preis. Doch wenn es dunkel und still wurde, so wie jetzt, fühlte sich Clairemont Manor fast an wie ein – anders wusste er es nicht auszudrücken – Geisterhaus. Nicht dass er an solche Sachen glaubte. Im Maschinenzeitalter war kein Platz für Gespenster. An kindischen Vorstellungen und gemeinem Aberglauben festzuhalten, verriet einen Mangel an Selbstvertrauen, den er sich nicht würde durchgehen lassen.

Wenn erst einmal Frau und Kinder da wären, würde Leben ins Haus kommen, und er hätte keine Zeit mehr für alberne Fantasien. Aber da die Frau, die er umwerben wollte, rechtmäßig hier in dieses Haus gehörte, fühlte es sich manchmal eher so an, als versuchte er, diese Fantasien zu beschwichtigen, statt sie zu vertreiben. Wenn erst einmal Anna Clairemont wieder am Fußende der Tafel saß, wäre das verlorene Gleichgewicht wiederhergestellt. Es war das Haus ihres Vaters gewesen, ob er sich den Unterhalt nun hatte leisten können oder nicht. Ein Familienmitglied zurückzuholen, selbst wenn es nur eine Frau war, würde den Groll, den er in der Gegend verursacht hatte, vielleicht ein wenig beschwichtigen. Und zu seinen geschäftlichen Plänen passte es auch. Mit Aberglauben hatte das alles nichts zu tun.

Schade nur, dass das Mädchen so blass und ohne Temperament war. Wenn er eine Frau nur nach seinem Geschmack hätte wählen können, hätte er sie sich bestimmt nicht ausgesucht. Er hätte eine lebhaftere Frau genommen, nicht irgendein hirnloses kleines Ding, das bereit war, sich an den Meistbietenden zu verkaufen, nur um es dem Vater recht zu machen.

Er hätte sich gewünscht …

Abrupt blieb er stehen und lächelte dann in sich hinein. Er hätte lieber eine Frau haben wollen wie die, die er heute in der Menge gesehen hatte. Die hatte keine Angst. Sie war genau wie ihr Vater, dieser verrückte Bernard Lampett, der die anderen gegen ihn aufstachelte. Wie hieß das Mädchen noch mal? Barbara, glaubte er, wollte sich aber noch einmal genau erkundigen. Sie schien mit ihrem Vater nicht ganz einverstanden, zumindest wenn man nach ihren Bemühungen ging, ihren Vater wegzulotsen. Aber auf seine Seite hatte sie sich auch nicht gestellt; sie hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass sie sein Tun missbilligte. Barbara Lampett wusste, was sie wollte, so viel stand fest. Und sie hatte keine Angst, der Welt zu zeigen, was sie dachte.

Autor

Christine Merrill

Christine Merril lebt zusammen mit ihrer High School-Liebe, zwei Söhnen, einem großen Golden Retriever und zwei Katzen im ländlichen Wisconsin. Häufig spricht sie davon, sich ein paar Schafe oder auch ein Lama anzuschaffen. Jeder seufzt vor Erleichterung, wenn sie aufhört davon zu reden. Seit sie sich erinnern kann, wollte sie...

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