Cinderella kehrt zurück

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Er war der Schwarm aller Mädchen - und sie das Mauerblümchen: mit Zahnspange, Brille und roten Locken. Viele Jahre später traut Cam Pratt kaum seinen Augen, als Eden Perry nach Northbridge zurückkehrt: hinreißend charmant und so attraktiv, dass er schon beim ersten Blick weiche Knie bekommt. Schnell erkennt er, dass auch sie sich nach Liebe sehnt. Nur eins steht ihrem Glück im Weg: Cam ist Polizist, wie ihr erster Mann, der bei einem Einsatz ums Leben kam. Und Eden hat sich geschworen: Nie wieder in ständiger Angst schweben! Sie stellt Cam vor die Entscheidung …


  • Erscheinungstag 14.03.2016
  • Bandnummer 7
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773342
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Sie ist jetzt da …“ Luke Walker steckte seinen Kopf in den Pausenraum der Polizeiwache.

Cameron Pratt hatte seine Schicht beendet und wusch jetzt seinen Kaffeebecher ab. Er gab noch etwas Spülmittel hinein und warf seinem Kollegen einen kurzen Blick zu. „Wer?“ Luke grinste. „Na, Eden Perry.“

Cameron, der von seinen Kollegen Cam genannt wurde, verzog das Gesicht. „Was, ausgerechnet jetzt?“

„Ja. Sie ist gerade zur Tür reingekommen und möchte sich gleich die Ausstattung ansehen, mit der sie hier arbeitet.“

„Hör mal, es ist halb fünf, ich habe seit eben Feierabend, und du bist im Dienst. Warum zeigst du ihr nicht alles?“

„So läuft das nicht. Du weißt genau, dass du das spezielle Vergnügen mit der jungen Dame hast. Und ja, mir ist völlig klar, dass dir das nicht in den Kram passt, weil ihr früher in der Schule aus irgendwelchen rätselhaften Gründen aneinandergeraten seid. Jedenfalls fällt Eden Perry in deinen Bereich …“

Cam kniff die Lippen zusammen. „Ich komme sofort“, presste er hervor.

„Sie ist übrigens nicht wiederzuerkennen“, sagte Luke, dann schloss er die Tür zum Pausenraum.

Cam war das herzlich egal. Für ihn war Eden Perry ein kleines Miststück. Er brauchte bloß an sie zu denken, und schon bekam er schlechte Laune. Ausgerechnet er sollte sie bei ihrer Arbeit als Phantombildzeichnerin unterstützen. Kurz vor seinem Urlaub hatte er davon erfahren …

Der Fall, um den es ging, beschäftigte die Polizei von Northbridge schon seit mehreren Monaten, und Eden Perry sollte nun Licht ins Dunkel bringen. Immer wieder hatte Cam versucht, sich aus der Affäre zu ziehen – vergeblich.

Jetzt war er für Eden Perry zuständig, ob es ihm passte oder nicht.

Und diese Frau passte ihm ganz und gar nicht. Er wollte sie nie wieder sehen, am allerwenigsten wollte er mit ihr zusammenarbeiten. Als er vor zwei Jahren in seine Heimatstadt Northbridge in Montana zurückgekehrt war, hatte er erleichtert festgestellt, dass sie damals kurz nach ihm die Stadt verlassen hatte, um woanders zu studieren. Seitdem hatte sie sich offenbar nur selten hier blicken lassen.

Aber jetzt war sie wieder da und sollte eine Frau auf einem alten Foto über vierzig Jahre altern lassen. Der Fall, um den es dabei ging, war inzwischen als der größte Skandal von Northbridge in die Geschichte dieser Kleinstadt eingegangen.

Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, war Eden jetzt zu allem Überfluss auch noch Cams Nachbarin. Da blieb ihm kaum etwas anderes übrig, als gute Miene zu bösem Spiel zu machen …

Gedankenverloren gab er einen Spritzer Spülmittel in seinen Becher, obwohl er das längst getan hatte. Egal – er war dankbar für jede Sekunde, um die er das Zusammentreffen mit Eden hinauszögern konnte.

Andererseits: Je eher er die Sache anging, desto schneller hatte er sie auch wieder vom Hals. Zumindest beruflich gesehen – dass Eden direkt neben ihm wohnte, ließ sich natürlich nicht so leicht ändern.

„Die braucht sich gar nichts einzubilden“, sagte er leise und drehte den Wasserhahn auf. „Sollen sie doch alle einen Kniefall machen, weil sich die tolle Eden Perry dazu herablässt, für uns zu arbeiten, mir ist das egal. Mir kann sie nichts vormachen, ich kriege sie schon klein.“ Er schrubbte den Kaffeebecher so heftig, dass der Schaum spritzte.

„Du arbeitest übrigens mit Cam Pratt zusammen“, sagte Luke Walker zu Eden, während er sie in den Bürobereich führte. „Ich weiß nicht, ob du dich an ihn erinnerst …“

„Doch“, erwiderte Eden knapp. Was sie da gerade zu hören bekam, gefiel ihr überhaupt nicht.

„Aus der Highschool“, sagte Luke überflüssigerweise. „Ich glaube, ihr habt euren Abschluss im selben Jahr gemacht. Zuerst warst du ja in meiner Klasse, aber dann hast du ein Jahr übersprungen, stimmt’s?“

„Genau“, erwiderte sie. Es klang etwas steif. Eigentlich war sie bis eben noch ganz gelassen gewesen … bis Luke den Namen Cam Pratt erwähnt hatte.

„Ich wusste nicht, dass er auch bei der Polizei ist“, sagte sie. „Außerdem dachte ich, er wäre weggezogen.“

„Er ist vor zwei Jahren wieder zurückgekommen.“

„Aha.“ Eden bemühte sich um einen beiläufigen Tonfall. „Hat es eigentlich einen Grund, dass ich ausgerechnet mit Cam zusammenarbeite?“

„Klar, Cam war lange bei der Polizei in Detroit und kennt sich deswegen mit dieser Phantombildgeschichte einigermaßen aus. Wir anderen betreten da Neuland, also war es naheliegend, dass er die Aufgabe übernimmt.“

Eden nickte bloß.

Dann schwiegen beide. „Tja, ich bin seit eben erst im Dienst und müsste eigentlich mal draußen nach dem Rechten sehen …“, sagte Luke in die Stille hinein.

„Kein Problem, meinetwegen brauchst du nicht hier zu warten.“

„Cam kommt bestimmt gleich. Er hat gerade Feierabend und muss nur noch schnell ein paar Dinge erledigen. Setz dich doch so lange an seinen Schreibtisch, er steht gegenüber von meinem.“

Wieder nickte Eden, sie blieb aber stehen. Ihr war völlig klar, dass Cam Pratt sie absichtlich warten ließ. Schließlich war sie bloß ein unscheinbares kleines Mauerblümchen, während ihm die Frauen wahrscheinlich immer noch hinterherliefen. Alle Mitschülerinnen hatten damals von ihm geschwärmt – alle, außer Eden. Da hatte er es natürlich nicht nötig, auf Abruf für sie verfügbar zu sein.

Stopp! Eden unterbrach ihre Gedanken, die mit ihr durchzugehen drohten. Sie kamen ihr erschreckend bekannt vor: Vor vierzehn Jahren hätte sie genauso reagiert.

Aber inzwischen hatte sie sich weiterentwickelt …

„Alles in Ordnung? Du bist auf einmal so rot im Gesicht“, bemerkte Luke Walker. Er stand immer noch neben ihr im Büro.

Sie berührte ihre Wange, die sich tatsächlich ziemlich heiß anfühlte. „Na ja, es ist ganz schön warm hier drin. Ich ziehe mir mal lieber die Jacke aus.“

„Ja, und setz dich doch, bitte“, beharrte er.

Eden streifte sich den Kamelhaarmantel ab und legte ihn über einen Stuhl. „Ich komme schon zurecht, du kannst jetzt ruhig auf Streife gehen. Immerhin bin ich nicht zum ersten Mal auf einer Polizeiwache.“

Luke ging zur Garderobe, ließ Eden dabei aber trotzdem nicht aus den Augen.

Wirke ich denn so hilfebedürftig, fragte sie sich. Na, hoffentlich nicht!

Unglaublich: Kaum war der Name Cam Pratt gefallen, schon fühlte sie sich in ihre Zeit an der Highschool zurückversetzt. Auf einmal war sie wieder die Streberin mit Brille, Zahnspange und rotem Kraushaar, die zwar geistig durchaus mit ihren Klassenkameraden mithalten konnte, in ihrer sonstigen Entwicklung jedoch deutlich hinterherhinkte. Immer wieder hatten sich die anderen über sie lustig gemacht … und dann hatte sie sich plötzlich mit dem großen Highschoolhelden höchstpersönlich auseinandersetzen müssen. Unter vier Augen.

Auf ihr damaliges Verhalten war sie überhaupt nicht stolz. Wenn sie daran dachte, hatte sie das Gefühl, vor Scham im Boden versinken zu müssen.

„Ich verschwinde mal kurz“, sagte sie plötzlich zu Luke, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte. Jetzt musste sie sich erst einmal fangen.

„Die Damentoilette ist am anderen Ende des Ganges.“ Mit dem Daumen wies er in eine Richtung.

„Vielen Dank. Und schön, dich wiederzusehen“, fügte sie hinzu und folgte seiner Wegbeschreibung – in der Hoffnung, dass er sie jetzt allein lassen würde.

„Gleichfalls“, rief Luke ihr hinterher.

Cam Pratt, dachte Eden, als sie die Toilettentür hinter sich schloss. Warum muss ich ausgerechnet mit ihm zusammenarbeiten?

Das war also ihre Strafe. Sie hatte sich ihm gegenüber damals so unmöglich aufgeführt, dass ihr die Sache bis heute schrecklich peinlich war.

Aber vielleicht hat er das alles längst vergessen, versuchte sie sich zu beruhigen. Vielleicht hat er das einfach so weggesteckt. Es kam ja bloß von mir, und ich bin nie jemandem aufgefallen …

Wahrscheinlich erinnerte er sich inzwischen gar nicht mehr an sie! Erst recht nicht an etwas, das sie ihm vor vierzehn Jahren gesagt hatte. Und mittlerweile sahen die Dinge auch ganz anders aus. Vor allem sah sie selbst anders aus. Um sich das noch einmal vor Augen zu führen, ging sie zu dem einzigen Waschbecken und schaute in den Spiegel darüber.

Die Eden Perry von heute war kein unscheinbares Mauerblümchen mehr.

Ihre Zähne waren jetzt gerade, die Zahnspange war verschwunden – ebenso wie die dicke Brille. Die hatte sie schon vor zehn Jahren gegen Kontaktlinsen getauscht, und inzwischen hatte eine Laseroperation auch diese Sehhilfe überflüssig gemacht. Ihre hellblauen Augen waren nur noch von dichten, schwarz getuschten Wimpern umrahmt.

Ihre Haut war mittlerweile makellos und glatt, auf die Wangen hatte sie etwas Rouge aufgetragen. Früher hatten ihre Arme und Beine viel zu lang für ihren restlichen Körper gewirkt, jetzt stimmten die Proportionen. Inzwischen bestand auch gar kein Zweifel mehr an ihrer Weiblichkeit: Ihr Körper hatte jetzt an genau den richtigen Stellen sanfte Rundungen.

Ihr Haar war nicht mehr leuchtend rot, sondern hatte einen dunkleren Ton angenommen. Kein einziges Mal hatte man sie in den letzten vierzehn Jahren „Karottenkopf“ genannt. Ihre eigenwillige Naturkrause bekam sie mit einer Kur so gut in den Griff, dass das Haar ihr Gesicht in sanften Wellen umspielte. Sie trug es jetzt schulterlang.

Alles in allem fand sie sich nicht mehr auffallend hässlich, sondern recht tageslichttauglich. Es gab keinen Grund mehr, sie wegen ihres Aussehens aufzuziehen.

Und was Cam Pratt anging … der hatte sich von der kleinen grauen Maus, die sie vor vierzehn Jahren gewesen war, bestimmt nicht einschüchtern lassen. Immerhin hatten alle anderen zu ihm aufgesehen.

Eden zupfte den Kragen der weißen Bluse zurecht. Dann öffnete sie einen weiteren Knopf der hellbraunen Strickjacke, die sie darüber trug. Schließlich straffte sie die Schultern und betrachtete noch einmal ihr Gesamtbild im Spiegel. Kein Vergleich zwischen damals und heute, befand sie.

Doch als sie wenige Minuten später die Damentoilette verließ und zurück ins Büro kam, war es um ihre Selbstsicherheit schon wieder geschehen.

Hatte sie sich eben tatsächlich eingebildet, dass Cam Pratt sich nicht mehr an sie erinnern würde – oder daran, wie sie ihn behandelt hatte? Dass ihm ihr unmögliches Verhalten nichts ausgemacht hatte?

Von wegen!

Dort stand er mit seinen einsfünfundachtzig und wartete auf sie. Sein Gesichtsausdruck sprach Bände, es bestand kein Zweifel daran, dass er stocksauer auf sie war.

Wie angewurzelt blieb Eden im Durchgang zu den Büros stehen. Und jetzt? Da sie schlecht auf dem Absatz kehrtmachen konnte, atmete sie tief durch und ging auf ihn zu. Er hatte sich mit einer breiten Schulter an der Wand abgestützt und dabei die Arme vor der Brust verschränkt. In seiner dunkelblauen Polizeiuniform wirkte er außerordentlich beeindruckend.

„Cam?“, sagte sie, obwohl sie genau wusste, wen sie da vor sich hatte. In den letzten vierzehn Jahren war er offenbar noch attraktiver geworden. Am besten, Eden dachte gar nicht weiter darüber nach …

Er runzelte kurz die Stirn, sodass sich seine dichten, auffälligen Augenbrauen fast in der Mitte trafen. Offenbar hatte er mit einer älteren Version von Eden Perry, dem Mauerblümchen, gerechnet, nicht mit der Frau, die jetzt vor ihm stand. Im Gegensatz zu Luke schien ihn die Veränderung jedoch nicht zu beeindrucken. „Eden“, erwiderte er bloß, und es klang verächtlich.

„Ja“, bestätigte sie, um irgendetwas zu sagen.

Und jetzt, dachte sie. Soll ich mich jetzt vielleicht für alles entschuldigen? Soll ich ihm sagen, dass ich mich unmöglich aufgeführt habe und inzwischen alles bereue?

Allerdings befürchtete sie, dadurch alles nur noch schlimmer zu machen. Und die ganze Situation war sowieso schon unangenehm genug. Also richtete sie sich auf, hob den Kopf und beschloss, die Sache rein professionell anzugehen. „Es tut mir leid, dass ich dich gerade von deinem Feierabend abhalte. Ich wollte mir nur kurz meinen Computer anschauen und überprüfen, ob er alle Funktionen hat, die ich für meine Arbeit hier brauche. Und vielleicht kannst du mir noch kurz erzählen, wie weit ihr mit den Ermittlungen in diesem Fall seid und wie genau ich euch helfen kann.“

„Na ja, ich habe immerhin den Auftrag, dir auf Abruf zur Verfügung zu stehen, da hast du wohl das Recht, mich auch nach Dienstschluss hierzubehalten.“

„Mag ja sein, aber es soll nicht noch einmal vorkommen“, sagte sie unbewegt, aber durchaus höflich. Sie wollte ihm seine Feindseligkeit nicht mit gleicher Münze heimzahlen. „Von jetzt an achte ich darauf, dass du auch Dienst hast, wenn ich vorbeikomme.“

„Warten wir’s ab“, murmelte er. Es klang ungläubig. Dann stieß er sich von der Wand ab und wies mit dem Kopf zu einer Tür. „Dein Computer steht übrigens da drin.“

Gut, er wollte also partout nicht nett zu ihr sein. Aber ich verdiene es ja auch nicht anders, sagte sie sich und nahm sich vor, über seine Unfreundlichkeit hinwegzusehen, so gut es ging.

Cam folgte ihr in den Raum, der ungefähr so groß wie eine Telefonzelle war. Die Geräte auf dem Schreibtisch waren eindeutig moderner und leistungsstärker als alles, was in den anderen Büros stand.

„Ich habe alles gründlich durchgecheckt“, sagte er. „Damit müsstest du in jeder Hinsicht gut versorgt sein.“

„Wunderbar“, erwiderte Eden und begann, sich ihren Arbeitsplatz genau anzusehen. Sie war dankbar für die Ablenkung von Cam.

„Ja, guck’s dir lieber selbst noch mal an, und verlass dich bloß nicht auf mein Wort“, stichelte er.

„Ich wollte doch nur nachschauen, ob es auch einen Scanner gibt und ich eventuell eine Kamera anschließen kann.“ Er seufzte laut, als hätte er große Mühe, sich zusammenzureißen, sagte aber nichts weiter. Stattdessen kam er ihrer zweiten Bitte nach und erzählte ihr von dem Fall, an dem sie gemeinsam arbeiten sollten. „Du weißt ja, dass wir auf der Suche nach der Frau des ehemaligen Pfarrers sind, die vor über dreißig Jahren verschwunden ist. Celeste Perry …“

„Ja, nach meiner Großmutter“, ergänzte Eden. Sie hatte den Computer inzwischen komplett in Augenschein genommen und war mit dem Ergebnis zufrieden. Also musste sie sich wieder Cam zuwenden.

„Bisher wissen wir bloß, dass Mickey Rider und Frank Dorian 1960 die Bank von Northbridge ausgeraubt haben“, fuhr er fort. „Als vor einigen Monaten die Restaurierungsarbeiten an der alten Brücke losgingen, ist dort eine Tasche mit Mickey Riders Sachen aufgetaucht. Die Blutflecken auf der Tasche stammen nachweislich von Rider, außerdem hat man unweit der Brücke im Wald menschliche Überreste gefunden.“

Cam sprach betont nüchtern und sachlich, aber damit kam Eden immer noch besser zurecht als mit seinem Sarkasmus. Allerdings hatte sie trotzdem Schwierigkeiten, ihm zu folgen: Statt sich auf seinen Bericht zu konzentrieren, verlor sie sich immer wieder in seinen dunkelblauen, fast schwarzen Augen.

„Die Knochen sind natürlich ebenfalls gründlich untersucht worden“, sagte er gerade, „und es besteht kein Zweifel daran, dass sie von Rider stammen. Offenbar ist er durch einen Schlag auf den Kopf ums Leben gekommen. Einige Monate nach dem Banküberfall hat sich das FBI Frank Dorian geschnappt, den Mann, mit dem Celeste durchgebrannt ist. Er ist dann allerdings noch vor seinem Gerichtstermin bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen. Beide Bankräuber sind also inzwischen verstorben, Rider wurde vielleicht sogar ermordet. Dabei fehlt jede Spur von dem gestohlenen Geld – daher das verstärkte Interesse an Celeste.“

„Steht sie etwa unter Verdacht, Rider ermordet zu haben?“ Endlich war es Eden gelungen, sich einigermaßen auf das zu konzentrieren, was Cam ihr erzählte.

„Nicht direkt, aber sie ist auch nicht über jeden Verdacht erhaben“, erwiderte er. „Dem FBI hat Dorian damals erzählt, dass deine Großmutter nichts mit dem Überfall zu tun hatte. Allerdings hat er auch behauptet, dass sein Partner mit der Hälfte des Geldes abgehauen ist, aber zu diesem Zeitpunkt war Rider wohl schon tot. Also sind jetzt wieder alle Fragen offen. “

„Zumindest kann es sein, dass Celeste bei der Sache Beihilfe geleistet hat“, warf Eden ein, während sie seine Nase betrachtete. Cam hatte eine leichte Hakennase, die markant war. Ziemlich sexy befand Eden.

„Wie gesagt, die Polizei will sie unbedingt finden“, sagte er.

„Und was soll ich dabei tun?“

„Als Dorian verhört wurde, meinte er, dass Celeste innerhalb kurzer Zeit ziemlich viel zugenommen hat. Außerdem gibt es eine Frau in Bozeman, die meint, 1968 mit Celeste in einem Diner gearbeitet zu haben. Nach ihrer Beschreibung war Celeste korpulent …“

Eden, die gerade seine perfekt gestutzten Koteletten betrachtete, fuhr erschrocken auf. „Bozeman … dann war meine Großmutter ja ganz in der Nähe!“

„So sieht es aus. Die Frau hat sich übrigens Charlotte Pierce genannt, sagt dir das was?“

Eden schüttelte den Kopf. „Nein, überhaupt nicht“, erwiderte sie. „Und es hat auch nie jemand Kontakt mit mir aufgenommen, auf den Celestes Beschreibung hätte passen können.“

„Wir brauchen hier auf jeden Fall dein Können als Phantombildzeichnerin“, erklärte Cam. „Uns liegt nämlich bloß ein altes Fotos von Celeste vor, das uns aber so gar nicht weiterhilft. Also müsstest du es für uns bearbeiten. Deine Aufgabe besteht darin, Celeste auf dem Bild altern und zunehmen zu lassen, damit wir eine Ahnung haben, wie sie heute aussehen könnte. Das bearbeitete Bild können wir den Leuten hier zeigen, vielleicht erinnert sich ja jemand an etwas. Immerhin hat sie ihrer Kollegin in Bozeman erzählt, dass sie eines Tages wieder nach Northbridge kommen wollte, um ihre Söhne wiederzusehen …“

„Meinen Vater und meinen Onkel“, murmelte Eden, während sie den Blick über Cams leicht welliges Haar streifen ließ. Er trug es ganz kurz, nur das Deckhaar war etwas länger. Allerdings ging es gerade gar nicht um sein Aussehen, sondern um das ihrer Großmutter …

„Gut, dann habe ich also die Beschreibung von dieser Frau in Bozeman, und was noch?“, fragte sie.

„Nicht viel, fürchte ich. Dein Großvater hat fast alle Fotos von ihr vernichtet, nachdem sie damals durchgebrannt ist. Wir haben hier bei der Polizei auch bloß ein Bild, das in der Zeitung erschienen ist, als der Pfarrer seine Stelle in Northbridge angetreten hat. Auf dem Schnappschuss ist sie Mitte zwanzig, darauf kann natürlich niemand die heutige Celeste Perry wiedererkennen. Wir hoffen aber, dass sich das ändern wird, wenn du das Foto erst mal bearbeitet hast. Falls Celeste hier wirklich irgendwann aufgetaucht ist, hat sie vielleicht auch jemandem von ihren weiteren Plänen erzählt. Dann haben wir eine Chance, sie zu finden, falls sie noch lebt.“

„Es kann aber doch auch sein, dass sie hiergeblieben ist, oder? Meine Schwestern und meine Cousinen meinten, das sei nicht völlig ausgeschlossen.“

„Im Moment ist das reine Spekulation, damit kommen wir nicht weiter“, gab Cam zurück. „Aber wir bekommen gerade ganz schön Druck vom FBI und der Bundespolizei, denen gehen unsere Ermittlungen zu langsam voran. Die Knochen wurden ja schon im November gefunden, aber dann hat es erst mal gedauert, bis die Laborergebnisse vorlagen. Außerdem kamen die Feiertage dazwischen, und auf dich mussten wir auch noch warten. Darüber sind zwei volle Monate ins Land gegangen, ohne dass viel passiert ist.“

Das klang so, als wäre Eden schuld an der Verzögerung. Sie hatte das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. „Na ja, vor Weihnachten habe ich noch an einem anderen Fall gearbeitet, und danach musste ich zurück nach Hawaii und mein Haus aufgeben … und dafür sorgen, dass alles nach Northbridge gebracht wurde. Heute früh bin ich erst hier eingetroffen und sofort hergekommen, weil ich ja genau wusste, dass ihr auf mich wartet.“

Sie seufzte und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. „Aber wenn das wirklich so furchtbar eilig ist, hättet ihr euch doch jemand anderen dafür suchen können. Eigentlich arbeite ich gar nicht mehr in diesem Bereich. Ich habe diesen einen letzten Auftrag auch bloß angenommen, weil ich jetzt sowieso in Northbridge bin und es irgendwie blöd wäre, wenn extra jemand anderes dafür anreisen müsste.“

„Was blöd ist und was nicht, kannst du natürlich zweifelsfrei beurteilen“, murmelte Cam vor sich hin.

Also hatte er wirklich nichts von dem vergessen, was vor vierzehn Jahren passiert war …

„Dass du den Auftrag doch noch angenommen hast, hat natürlich nichts damit zu tun, dass du neugierig bist“, sagte er spöttisch.

„Natürlich bin ich auch neugierig“, erwiderte Eden. „Immerhin geht es um meine Großmutter, die damals ihren Mann und ihre beiden kleinen Söhne zurückgelassen hat. Und wenn ich darüber nachdenke, dass sie irgendwann in Northbridge war, ich ihr sogar über den Weg gelaufen sein könnte … Natürlich habe ich auch persönliches Interesse an diesem Auftrag, aber das meinte ich eben gar nicht, ich meinte …“

„Jaja, ich weiß schon, was du sagen wolltest: Du hast zwar auch selbst etwas davon, aber wir müssten trotzdem dankbar dafür sein, dass du für uns arbeitest.“

Wie konnte ein so attraktiver Mann nur so dickköpfig sein!

„Nein, ich wollte damit sagen, dass ich so schnell hergekommen bin, wie es irgendwie ging, aber wenn euch das nicht gereicht hat, hättet ihr wirklich nicht auf mich warten müssen. Jedenfalls brauche ich erst mal einen Tag, um mich zwischen meinen Umzugskartons zurechtzufinden und meine ganzen Hilfsmittel und die Software herauszusuchen.“

„Das soll mir recht sein. Ich würde jetzt nämlich gern nach Hause fahren.“

Ihre Erklärungen interessierten ihn also nicht.

„Ich habe alles gesehen, vielen Dank“, sagte sie.

„Dann habe ich jetzt meine Schuldigkeit getan?“

Sie seufzte. „Von Schuldigkeit habe ich nichts gesagt. Nur, dass wir für heute fertig sind.“

„Schön“, sagte er und ging ohne ein weiteres Wort aus dem Raum. Er sah sich nicht einmal mehr nach ihr um.

Vielleicht hat er diese Sache vor vierzehn Jahren gar nicht anders verdient, dachte Eden. Allmählich verlor sie die Geduld mit dem Mann.

Im Büroraum zogen beide schweigend ihre Mäntel an. Gleichzeitig erreichten sie die Tür.

„Nach dir.“ Besonders freundlich klangen seine Worte jedoch nicht.

Eden ging vor ihm nach draußen und würdigte ihn keines weiteren Blickes, während sie auf dem Polizeiparkplatz nach ihrem Kleinwagen suchte. Das Auto stand genau neben seinem Geländewagen: Das war ja klar.

Aber Eden kümmerte sich nicht weiter darum.

Sie ließ den Motor an, er ebenso.

Und als sie die Ausfahrt erreichte, war sein Wagen gleich neben ihrem. Sie gab ihm ein Handzeichen, dass er vorfahren solle.

Cam bog rechts in die South Street, Eden ebenfalls.

Er überquerte die Hauptstraße, und Eden blieb hinter ihm.

Vor der dritten Querstraße setzte er den Blinker rechts.

Eden tat das Gleiche.

„Oh, bitte nicht …“ Sie stöhnte laut auf, dann sah sie auch schon, wie er den Wagen in die breite Auffahrt lenkte, die sie sich mit ihrem direkten Nachbarn teilte. Eden bog ebenfalls dort ein.

Gleichzeitig hielten sie vor ihren baugleichen Garagen, die kaum einen Meter voneinander entfernt standen. Gleichzeitig stiegen sie aus ihren Wagen, gleichzeitig gingen sie zum Kofferraum.

„ Du wohnst also … gleich nebenan? “ Es gelang Eden nicht, ihr Entsetzen zu verbergen.

Cam zog die Augenbrauen hoch. „Hat dir das noch niemand gesagt?“

„Nein, eigentlich hieß es, das Haus nebenan würde einer Familie namens Poppazitto gehören.“

„Stimmt, das sind meine Vermieter. Und wenn der Mietvertrag in zwei Monaten ausläuft, kann ich ihnen das Haus sogar abkaufen.“

„Dann sind wir ja Nachbarn“, sagte Eden mehr zu sich selbst als zu ihm.

„Ja, aber das heißt noch lange nicht, dass wir uns auch gut verstehen müssen“, gab er zurück und drehte ihr den Rücken zu.

2. KAPITEL

Auch heute hatte Cam schon vor der Arbeit sein alltägliches Trainingsprogramm absolviert. Trotzdem hatte er jetzt das dringende Bedürfnis, wieder an die Geräte zu gehen – um sich nach dem Zusammentreffen mit Eden Perry abzureagieren. Sonst könnte er sich an diesem Abend nicht mehr entspannen, und an Schlaf war dann erst recht nicht zu denken. Also verließ er das Haus und ging durch die kalte Winterluft zur Garage.

Zwillingsbrüder hatten damals die Häuser gebaut, in denen Cam und Eden jetzt wohnten, und offenbar hatten die Männer darauf geachtet, dass sich die Gebäude glichen wie ein Ei dem anderen – genau wie sie selbst. Entsprechend gab es über beiden Garagen noch eine kleine Einzimmerwohnung mit einem größeren Wohn- und Schlafzimmer, einem winzigen Bad und einer kleinen Küche.

Sobald sein Mietvertrag auslief, wollte Cam das Haus kaufen, die Küche um Herd und Kühlschrank ergänzen und das Apartment an einen Studenten vermieten. Bis dahin brachte er hier seine Gewichte und sonstigen Trainingsgeräte unter.

Aber jetzt, wo Eden Perry gleich nebenan wohnte, überlegte er ernsthaft, ob er sich die Sache mit dem Hauskauf nicht anders überlegen sollte.

Er warf das Handtuch, das er mitgebracht hatte, über den Ständer mit den Gewichten und zog sich die Trainingsjacke aus, sodass er nur noch in Shorts und T-Shirt dastand. Dann begann er mit seinen Aufwärmübungen – zum zweiten Mal an diesem Tag. Wenn er damit doch bloß Eden Perry aus seinen Gedanken vertreiben könnte!

Warum ist das Leben nur so ungerecht, dachte er. Warum kann sie nicht einfach so aussehen wie damals? Als Teenager hatte sie karottenrote Haare gehabt, die in alle Richtungen vom Kopf abstanden wie bei einer Clownsperücke, außerdem hatte sie eine Brille mit fingerdicken Gläsern getragen. Eine Zahnspange hatte ihre schiefen Zähne richten sollen. Dazu war Eden auch noch pickelig gewesen und platt wie eine Briefmarke.

Dadurch, dass sie so unscheinbar gewesen war, hatte er die schreckliche Zeit mit ihr vor vierzehn Jahren etwas besser ertragen können. Vor vierzehn Jahren hatte er ihr abstoßendes Aussehen als Hinweis auf ihren miesen Charakter gedeutet: hässliche Schale, hässlicher Kern.

Und heute?

Heute war sie so umwerfend, dass ihm bei ihrem Anblick die Luft weggeblieben war. Und das war wirklich nicht fair …

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