Das, was man Liebe nennt

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Wie jedes Jahr um die Weihnachtszeit ist bei Vicky Moreton das liebe Geld mal wieder sehr knapp. Um ihre karge Haushaltskasse ein wenig aufzubessern, vermietet sie eins der vielen Zimmer des alten Pfarrhauses an den Bauunternehmer Jay Brentford. Dieser kühle Geschäftsmann zieht sie magisch an - schon ewig hat Vicky kein so starkes Verlangen mehr gespürt. Seit sie sich mit achtzehn, vom ersten Champagner berauscht, einem Fremden hingegeben hat, ist Liebe kein Thema mehr für sie gewesen. Ihre ganze Fürsorge galt ihren Zwillingen Julie und Jamie - gezeugt in jener Liebesnacht. Doch jetzt werden Vickys heiße Gefühle anscheinend erwidert: Jay lässt keine Gelegenheit aus, mit ihr allein zu sein ...


  • Erscheinungstag 08.09.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733759216
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Alles scheint in Ordnung zu sein.“

Philip Sterne betrachtete den dunklen Schopf seines neusten Klienten, der gerade das Dokument unterschrieb. Während seiner langjährigen Tätigkeit als Anwalt war er selten einem Unternehmer begegnet, der gleichermaßen entschlussfreudig wie intelligent war. Zweifellos war das das Geheimnis von Jay Brentfords meteoritenhaftem Aufstieg als Geschäftsmann.

Seit Jay Brentford vor weniger als zehn Jahren die erste Firma übernommen hatte, wurde ständig im Finanzteil der Tageszeitungen über ihn berichtet. Seine jüngste Errungenschaft – eine kleine, ziemlich heruntergewirtschaftete Baufirma in einem verschlafenen Dorf in den Cotswolds – passte auf den ersten Blick vielleicht nicht zu den übrigen. Er, Philip, war allerdings ebenfalls sehr geschäftstüchtig und konnte gut nachvollziehen, warum ein Mann mit den finanziellen Mitteln, über die Jay Brentford verfügte, diesen Schritt vollzog – vor allem wenn er an der Ausschreibung für die geplante Autobahn teilnehmen wollte.

Zügig unterschrieb Jay Brentford den Vertrag. Er stand in dem Ruf, ein unerbittlicher Mann zu sein, und sah auch so aus. Groß und schlank, in einem dunklen Anzug, strahlte er Autorität aus, und der Blick seiner kühlen grauen Augen konnte sicher vernichtend sein, wenn jemand oder etwas nicht seinen Ansprüchen genügte. Wie alt mochte Jay Brentford sein? Mitte, Ende dreißig?

Der leicht schroffe Klang seiner Stimme riss Philip aus seinen Gedanken.

„Eine Unterkunft?“, wiederholte er.

„Ja, ein gutes Hotel. Ich muss hier einige Dinge erledigen und brauche für mindestens zwei Wochen ein Zimmer.“

Philip runzelte die Stirn. „Hm, in Little Camwater gibt es nur ein Hotel, ‚The Bells‘, und das ist zurzeit ausgebucht“, erwiderte er bedauernd. „Am besten versuchen Sie es in Gloucester, und wenn Sie da nichts finden, vielleicht in einem Touristenhotel in einem der anderen Dörfer.“

„Touristenhotel?“ Jay schüttelte den Kopf und runzelte ebenfalls leicht die Stirn. In einem Touristenhotel stiegen die Leute ab, denen er momentan nicht begegnen wollte.

Die Übernahme von Camwater Construction war ein spontaner Entschluss gewesen, den die übrigen Mitglieder seines Vorstands immer noch nicht hundertprozentig billigten, obwohl sie schließlich dafür gestimmt hatten. Ihrer Meinung nach konnten sie sich auch an der Ausschreibung für die geplante Autobahn beteiligen, ohne eine Baufirma zu erwerben. Schließlich verfügten ihre anderen Firmen über alle erforderlichen Einrichtungen, und wenn sie den Zuschlag bekamen, würden sie ihr gesamtes Kapital benötigen. Er hatte sich allerdings über ihre Einwände hinweggesetzt und zu bedenken gegeben, dass die politisch Verantwortlichen das Angebot eher berücksichtigen würden, wenn es von einer ortsansässigen Firma kam. Er presste die Lippen zusammen, als er an die Probleme dachte, die vor ihnen lagen, wenn sie den Zuschlag bekamen. Der Bau einer Autobahn sorgte immer für lebhafte Diskussionen in den betroffenen Gegenden. Und obwohl diese sich in die schöne Landschaft einfügen würde, gab es bereits eine breite Opposition.

Eine tiefe Müdigkeit überkam ihn, aber Jay verdrängte den Gedanken daran und überlegte stattdessen, wo er wohnen sollte. Wenn er kein Hotelzimmer fand, musste er in seinem Haus wohnen, und dazu hatte er keine Lust, weil er dann einige Leute einstellen musste. Er verzog das Gesicht. Vielleicht hatte Elaine doch recht gehabt, und er hätte sich nach den zähen Verhandlungen im Mittleren Osten eine Pause gönnen sollen, bevor er hierher gefahren war.

Elaine … Um seine Mundwinkel zuckte es. Er wusste genau, was sie wollte, aber so bald würde er nicht heiraten. Jetzt nicht, vielleicht überhaupt nicht und schon gar nicht eine Frau wie Elaine, die außer ihm noch andere Liebhaber gehabt hatte. „Kein Hotel. Verdammt!“ Dass er laut geflucht hatte, merkte Jay erst, als Philip leise sagte:

„Na ja, es gibt eins – nicht direkt ein Hotel, aber eine sehr gute Pension, die zufällig von einer meiner Klientinnen geführt wird.“ Als Jay die Augenbrauen hochzog, wurde Philip rot.

„Sie machen Werbung für Ihre Klienten? Gehört das auch zu Ihren Leistungen?“

„Ganz und gar nicht“, entgegnete der Anwalt entrüstet.

Sofort bereute Jay seine sarkastischen Worte. Das Problem war, dass er schon seit Wochen so angespannt war. Der Auftrag, den er im Mittleren Osten ausgehandelt hatte, war zwar höchst lukrativ, doch alles, was hatte schief gehen können, war auch schief gegangen. So hatte er schließlich acht Wochen dort verbringen müssen, um sicherzustellen, dass die Strafklauseln im Vertrag nicht zum Tragen kommen würden. Er entschuldigte sich und beobachtete, wie Philip erleichtert aufatmete.

„Eine Pension, sagten Sie?“ Jay verzog leicht das Gesicht. „Na, wenn es nichts Besseres gibt.“

Er stellte sich die Art Pension vor, wie er sie aus seiner Teenagerzeit kannte. Damals hatte er sich als Bauarbeiter verdingt. Es waren harte Zeiten gewesen, doch er hatte gut verdient und genug sparen können, um eine eigene kleine Firma zu gründen. Genug, um Jenny einen Heiratsantrag zu machen. Er war außerdem jung und naiv genug gewesen, um zu glauben, dass sie seine Liebe in dem gleichen Maße erwiderte. Schon bald war er eines Besseren belehrt worden. Noch immer erinnerte Jay sich genau an den Abend, an dem sie ihm mitgeteilt hatte, sie würde die Verlobung lösen und den Geschäftspartner ihres Vaters heiraten. Sie hatte seinen Blick gemieden, als sie ihm den Ring zurückgab, und selbst jetzt spürte er die Hilflosigkeit, die Bitterkeit und den Schmerz, die er damals empfunden hatte.

Oh, er hatte mit ihr diskutiert und sie eindringlich gebeten, es nicht zu tun, weil John Oliver zwanzig Jahre älter war als sie. Jenny hatte sich allerdings entschieden und erklärt, sie könnte sich ein Leben an seiner Seite nicht vorstellen, das darin bestand, ihm von Projekt zu Projekt zu folgen und in einem ramponierten alten Wohnwagen zu hausen, während er jeden auch noch so kleinen Gewinn in seine Firma steckte. In dem Moment war ihm klar geworden, dass sie seine Visionen nicht teilte, sondern die Sicherheit und Ordnung der Welt ihres Vaters vorzog.

Schließlich hatte er sie verlassen müssen. Damals war er vierundzwanzig gewesen und davon überzeugt, sie hätte ihm das Herz gebrochen, doch mittlerweile wusste er es besser. Herzen brachen nicht, sie wurden nur hart.

„Wenn Sie wollen, kann ich Vicky anrufen und sie fragen, ob sie ein freies Zimmer hat“, erbot sich Philip. „Eigentlich müsste es der Fall sein, denn um diese Jahreszeit hat sie normalerweise kaum Gäste. Camwater liegt etwas abseits der Touristenpfade, und sie ist erst im Hochsommer ausgebucht. Sie hat sehr viele Stammgäste“, fuhr er fort und lächelte, was er selten tat. „Es ist unglaublich, wie sie es schafft, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Als Henry gestorben ist, habe ich ihr geraten, die Pension zu verkaufen, doch sie hat darauf bestanden, sie für ihren Stiefsohn Charles weiterzuführen.“ Er schüttelte leicht den Kopf. „Ich hätte nie gedacht, dass sie es schaffen würde. Die ‚Alte Pfarrei‘ ist ein schönes Gebäude, aber die ganze Arbeit und die Kosten – und dann die Erziehung von Charles und den Zwillingen …“ Er verstummte, als hätte er gemerkt, dass er ihn langweilte, und griff zum Telefon.

„Bitte verbinden Sie mich mit Mrs. Moreton von der ‚Alten Pfarrei‘, Madge“, sagte er zu seiner Sekretärin.

Jay ging unterdessen zum Fenster und blickte auf den kleinen Platz. Philip Sternes Kanzlei befand sich im zweiten Stock eines Reihenhauses aus spätgeorgianischer Zeit. Gegenüber lagen Gebäude aus der Tudorzeit, und der Platz hatte noch Kopfsteinpflaster. Heute war Markttag, und es herrschte reges Treiben, doch Jay nahm es kaum wahr. Er war in einer Kleinstadt im Norden in den Pennines aufgewachsen. Mit achtzehn erfuhr er, dass seine vermeintlichen Eltern in Wahrheit seine Tante und sein Onkel waren und seine Mutter die jüngere Schwester seiner Tante, die sich in Manchester mit einem Seemann eingelassen hatte. Dieser hatte die Gegend verlassen, lange bevor seine Mutter von der Schwangerschaft gewusst hatte.

Die Tatsache, dass es sich nicht um seine leiblichen Eltern handelte, bewog ihn dazu, endlich dem Tal den Rücken zu kehren, in dem er sich immer gefangen gefühlt hatte. Seine Tante und sein Onkel waren über seinen Weggang nicht allzu traurig. Sie hatten sich zwar verpflichtet gefühlt, ihn großzuziehen, doch im Grunde hatte er nie zu ihnen gehört. So war er zum Beispiel der Einzige in der Familie gewesen, der das Gymnasium besucht hatte, und aufgrund seiner Intelligenz ein Außenseiter unter seinen Geschwistern. Er hatte zwar immer noch Kontakt zu ihnen, aber sie blieben auf Distanz, denn sie konnten leichter mit seinem Erfolg umgehen, wenn sie ihn als Cousin betrachteten. Er war Patenonkel des Sohns seines ältesten Cousins und schickte diesem regelmäßig Geld zum Geburtstag und zu Weihnachten.

„Vicky?“ Jay hörte Philip Sterne lachen und überlegte zynisch, dass Vicky Moreton offenbar wusste, wie sie diesen zu nehmen hatte.

„Hast du ein freies Zimmer? Ja? Hervorragend. Ich habe einen Klienten, der für mindestens vierzehn Tage eine Unterkunft braucht.“ Es folgte eine kurze Pause, und schließlich fuhr Philip erfreut fort: „Ja, das findet er bestimmt gut. Ich beschreibe ihm den Weg zu dir … Sehr gut, danke, und wie geht es euch?“ Philip lachte wieder, und Jay merkte erst, dass er die Stirn runzelte, als Philip hinzufügte: „Victoria ist meine Patentochter, Mr. Brentford.“ Er lächelte flüchtig. „Sie hat ein freies Zimmer und hat vorgeschlagen, Ihnen die kleine Suite zu geben, die Henrys verstorbene Mutter bewohnt hat. So haben Sie genug Ruhe zum Arbeiten. Und es ist mit Vollpension.“

Und so kann Vicky mir wesentlich mehr in Rechnung stellen als für ein Einzelzimmer, dachte Jay, ließ sich allerdings nichts anmerken. Zweifellos würde Philip Sterne seine Patentochter sofort in Schutz nehmen.

„Wie weit ist es von Camwater entfernt?“, fragte Jay schroff.

„Oh, weniger als fünf Meilen.“

Er ließ sich von Philip den Weg beschreiben und warf dann einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach drei, zu spät zum Mittagessen. Daher konnte er genauso gut gleich zur „Alten Pfarrei“ fahren und seine Sachen hinbringen.

Vom Wagen aus rief er in London an, um Bescheid zu sagen, dass er den Vertrag unterzeichnet hatte, und telefonierte anschließend mit Elaine. Um halb vier verließ er die kleine Marktstadt. Da es Anfang Dezember war, dämmerte es bereits, und die Hecken waren von Raureif überzogen. Es erinnerte ihn daran, wie sich ein harter Winter auf seine vertraglich vereinbarten Termine auswirken könnte, vor allem bei ihrem Projekt im Norden von Schottland. Die Straße gabelte sich, und Jay verlangsamte das Tempo. Er fluchte, als ihm plötzlich ein Junge auf einem Fahrrad genau vor den Wagen fuhr. Statt zu bremsen, wich er instinktiv aus. Eine Hecke tauchte vor ihm auf. Es spürte den Ruck, als das linke Vorderrad in den Graben geriet, und riss das Lenkrad herum. Schließlich schaffte er es, den Wagen auf der Straße zum Stehen zu bringen.

„Tut mir schrecklich leid …“

Jay überlegte gerade, wie knapp er den Radfahrer verfehlt hatte, als der Klang der Jungenstimme ihm ins Bewusstsein drang. Zorn packte ihn.

Jay öffnete das Fenster auf der Beifahrerseite und beugte sich hinüber. Wütend funkelte er den Jungen an. „Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht? Hat dir keiner beigebracht, was ein Vorfahrtschild bedeutet?“

Der Junge erwiderte seinen Blick aus haselnussbraunen Augen und wurde aschfahl. Fluchend stieg Jay aus und ging um den Wagen herum. Der Junge war vom Fahrrad abgestiegen und hatte sich nun darüber gebeugt. Das glatte dunkle Haar hing ihm ins Gesicht.

„Schon gut. Komm …“ Jay öffnete die Tür und verfrachtete ihn auf den Beifahrersitz. Der Junge war groß und dünn und ungefähr vierzehn. Da er eine Schuluniform trug, war er wohl gerade auf dem Nachhauseweg. Sein Fahrrad war alt, aber gut in Schuss, und während er über den Lack strich, fühlte Jay sich in die Vergangenheit zurückversetzt. Wie gut er sich noch an sein erstes richtiges Fahrrad erinnerte! Es war sehr stolz darauf gewesen. Und auch er war damit zur Schule gefahren. Sein Zorn verflog, und auf einmal war Jay furchtbar müde.

Er hob das Fahrrad auf und ging damit zum hinteren Teil des Wagens.

Daraufhin versuchte der Junge auszusteigen. Noch immer war er kreidebleich. „He …“, begann er rau. Offenbar war er gerade im Stimmbruch.

„Keine Angst“, erwiderte Jay lakonisch, „ich schmeiße es nicht in den Graben und dich hinterher – obwohl du es verdient hast. Hat dein Vater dir nicht beigebracht, dass man nicht einfach auf eine Kreuzung fährt, ohne vorher anzuhalten?“

„Mein Vater ist tot“, informierte der Junge ihn widerstrebend.

Prompt meldete sich sein Gewissen. „Dann deine Mutter“, verbesserte sich Jay, „oder wer auch immer für dich verantwortlich ist. Wo wohnst du? Ich fahre dich hin.“

„Das brauchen Sie nicht, ich kann zu Fuß gehen.“ Erneut versuchte der Junge auszusteigen.

Jay fluchte. Plötzlich wurde ihm bewusst, wie erschöpft er war. „Sei nicht albern“, erklärte er wütend. „Du stehst unter Schock, und außerdem will ich nicht, dass du wieder auf das verdammte Fahrrad steigst und einem anderen Fahrer einen Herzinfarkt bescherst.“

Ein Lächeln umspielte seine Lippen, und der Junge schien sich etwas zu entspannen. Zweifellos hatte er seine Lektion gelernt, und er, Jay, war viel zu müde, um ihm ihn weiter zu belehren. Das überließ er lieber der Mutter des Jungen.

„Wo wohnst du?“, erkundigte er sich noch einmal, während er das Fahrrad in den Kofferraum lud. „Ich bin auf dem Weg zur ‚Alten Pfarrei‘.“

Der Junge schwieg, und nachdem Jay eingestiegen war, betrachtete er ihn aus zusammengekniffenen Augen. „Los, sag mir, wo du wohnst.“

„In der ‚Alten Pfarrei‘“, antwortete der Junge widerstrebend, und Jay rief sich ins Gedächtnis, was Philip Sterne ihm über seine zukünftige Vermieterin erzählt hatte.

„Dann bist du Mrs. Moretons …“

„Stiefsohn“, beendete der Junge den Satz für ihn. Er biss sich auf die Lippe, und sein Mienenspiel war sehr aufschlussreich. „Sie wollen doch immer noch bei uns wohnen nicht?“, fragte er nach einer Weile.

Jay war überrascht. Eigentlich hatte er damit gerechnet, dass der Junge ihn bitten würde, seiner Mutter nichts von dem Unfall zu erzählen.

„Ma braucht das Geld“, fuhr der Junge fort. „Im Winter haben wir nicht viele Gäste, und sie kann uns kaum über Wasser halten. Mr. Sterne meint, sie soll das Haus verkaufen, aber sie will nicht, weil es praktisch schon immer meiner Familie gehört hat und ich es später bekommen soll. Ich hab ihr gesagt, dass es mir egal ist, nur sie hört nicht auf mich. Sie bleiben doch, oder?“ Er schwieg eine Weile und fügte schließlich schroff hinzu: „Ma mag es nicht, wenn ich im Winter Fahrrad fahre, aber ich brauche es zum Zeitungaustragen. Wenn Ihr Wagen beschädigt ist, kann ich die Reparatur von meinem Lohn bezahlen … Es dauert vielleicht nur ein paar Wochen …“

Wenn er an die Kratzer dachte, die die Dornenhecke auf dem Lack hinterlassen hatte, schätzte er, dass es wohl eher Monate, wenn nicht gar Jahre dauern würde. Jay sagte allerdings nichts, denn er mochte den Jungen.

„Mr. Philip Sterne hat mir mitgeteilt, ich könnte mich glücklich schätzen, dass ich zu dieser Jahreszeit überhaupt eine Unterkunft in der Nähe von Little Camwater gefunden habe. Deswegen brauchst du dir deswegen keine Sorgen zu machen.“

Der Junge wirkte erleichtert. „Hm, die großen Hotels sind wegen Weihnachten bestimmt alle ausgebucht.“

Weihnachten. Erst jetzt fiel Jay wieder ein, dass das Christfest vor der Tür stand. In den letzten, hektischen Wochen hatte er überhaupt nicht daran gedacht.

„Hier müssen Sie links abbiegen“, wies der Junge ihn an und entspannte sich merklich. „Jetzt ist es nicht mehr weit.“

Während sie Futter für die Hühner in den Trog tat, überlegte Vicky, ob es stimmte, dass man die Jahreszeit am liebsten mochte, in der man geboren war. Sie hatte Ende November Geburtstag, war also ein Winterkind, aber erklärte das ihre eigentlich unerklärliche Liebe für diese düstere Jahreszeit? Man hatte für diesen Tag Schnee vorhergesagt, doch der klare Himmel und die fallenden Temperaturen ließen darauf schließen, dass es noch einige Tage dauern würde. Abgesehen von ihrer Studienzeit in Bristol hatte sie ihr ganzes Leben hier in den Cotswolds verbracht.

Vicky seufzte leise und kehrte ins Haus zurück. Durch die geöffnete Küchentür hörte sie die Zwillinge streiten.

„Hört auf damit“, rief sie. Nachdem sie den Korb abgestellt und die Gummistiefel ausgezogen hatte, ging sie hinein.

Der dunkelrote Fliesenboden glänzte, weil sie ihn erst am Nachmittag geputzt hatte. Nur leider wusste sie aus Erfahrung, dass er nicht lange sauber bleiben würde. Die „Alte Pfarrei“ war ein wunderschönes Haus, doch es zehrte an ihren Kräften, es sauber zu halten. Ihre Freunde rieten ihr immer wieder, das Parkett und die Fliesen herausreißen und pflegeleichtere Bodenbeläge verlegen zu lassen, aber selbst wenn sie es gewollt hätte, fehlten ihr dazu die finanziellen Mittel.

„Was ist los?“, fragte sie eines der dunkelhaarigen Kinder, die an dem Holztisch saßen, und fügte streng hinzu: „Ihr sollt eure Hausaufgaben machen.“

„Jamie hat mir mein Lineal geklaut.“ Julie, die kleinere der beiden, blickte aus großen dunklen Augen zu ihr auf.

„Das ist nicht dein Lineal, sondern meins“, entgegnete ihr Bruder hitzig und versetzte ihr einen Knuff mit dem Ellbogen. Er hatte genauso dunkle Augen wie sie.

Vicky seufzte wieder und dachte daran, dass eine Mutter von Zwillingen wie ihren die Weisheit Salomos und die Geduld Hiobs brauchte, ganz zu schweigen von anderen Eigenschaften.

„Es gehört mir“, protestierte Julie. „In die Ecke ist ein ‚J‘ eingeritzt, siehst du?“ Sie hielt ihr das Lineal hin.

„Ja, ‚J‘ für ‚Jamie‘“, rief Jamie. „Es ist mein Lineal, Ma …“

Hinter ihr lag ein langer, anstrengender Tag. Der Filialleiter ihrer Bank hatte sie angerufen und auf ihr geringes Guthaben hingewiesen, und sie hatte eine hohe Gasrechnung bekommen. Nun verlor Vicky endgültig die Geduld. „Wie oft habe ich euch schon gesagt, dass ihr mich nicht Ma nennen sollt“, schalt sie ihren Sohn.

„Charles nennt dich doch auch so.“

„Weil sie nicht seine richtige Mutter ist“, bemerkte Julie spöttisch. „Ma ist nur seine Stiefmutter …“

„Das reicht jetzt, ihr zwei.“ Vicky fragte sich, woran es lag, dass sie sich bestimmten Situationen oft nicht gewachsen fühlte, wenn es um die Zwillinge ging.

„Hyperaktiv“, hatte Doktor Robinson befunden, als die beiden zwei Jahre alt und kaum zu bändigen gewesen waren. Ihre Lehrerin in der ersten Klasse hatte sie als „intelligent und lebhaft“ bezeichnet, während Charles sie meistens „verdammte Gören“ nannte. Und sosehr Vicky sie auch liebte, sie war oft mit den Nerven am Ende.

„Macht mit euren Hausaufgaben weiter“, befahl sie. „Heute Abend kommt ein neuer Gast, deswegen essen wir ein bisschen später.“

„Ein neuer Gast … Toll! Heißt das, ich bekomme zu Weihnachten doch ein Fahrrad?“, erkundigte sich Jamie. Mit neun Jahren kannte er den Zusammenhang zwischen der Belegung und ihren Einkünften.

Vicky schüttelte den Kopf. Sie hasste es, die beiden zu enttäuschen, besonders in der Weihnachtszeit. Eigentlich waren die beiden gute Kinder, die keine hohen materiellen Ansprüche stellten. Es war schwer gewesen, die Pension nach Henrys Tod weiterzuführen. Sie hatten beide gewusst, dass er schwer krank war und sterben würde, allerdings nicht so bald damit gerechnet. Und Henry war sich des Risikos nicht bewusst gewesen, als er sein Geld in jene australischen Aktien investierte.

Vicky seufzte erneut und strich sich das Haar aus dem Gesicht. Es hatte keinen Sinn, sich zu fragen, was gewesen wäre, wenn. Sie war entschlossen, die „Alte Pfarrei“ weiterzuführen. Ihre Freunde hielten sie für verrückt und konnten nicht nachvollziehen, warum sie Charles’ Erbe erhalten wollte. Keiner von ihnen verstand ihre Beziehung zu ihrem Stiefsohn – aber es verstand auch keiner von ihnen, warum sie sich Henry so verpflichtet fühlte und ihm so dankbar war. Wenn er nicht gewesen wäre, dann wäre sie eine von unzähligen unverheirateten Müttern mit zwei Kindern gewesen, eine junge Frau, die zwar studiert, aber keinen Abschluss gemacht hatte. Wie hätte sie einen Job finden sollen? Wie hätte sie sich und die Zwillinge durchbringen sollen, wenn Henry ihr nicht die Sicherheit einer Ehe geboten hätte?

Natürlich hatten sie darüber gesprochen. Henry war mit ihrer Großmutter befreundet gewesen, als diese noch lebte, und als sie, Vicky, schwanger war, hatte sie sich ihm anvertraut. Er war zu dem Zeitpunkt seit fast fünf Jahren verwitwet – seine Frau war bei Charles’ Geburt gestorben. Bei der Heirat war Sheila genau wie er schon vierzig gewesen, also vielleicht zu alt für das erste Kind. Es wäre eine reine Vernunftehe, erklärte er ihr behutsam. Vicky war froh darüber, weil sie allein die Vorstellung schrecklich fand, die beschämende Erfahrung, die zur Empfängnis der Zwillinge geführt hatte, noch einmal zu machen. Die Schamgefühle waren allerdings erst später gekommen.

Zuerst lehnte sie ab, weil sie Henry nicht mit ihren Problemen belasten wollte. Daraufhin sagte er jedoch, dass er auch von dem Arrangement profitieren würde. Er wäre schwer krank und würde sterben, bevor Charles erwachsen wäre, und was sollte dann aus seinem Sohn werden? Weder er noch Sheila hatten Verwandte oder gute Freunde, denen er die Vormundschaft für sein einziges Kind übertragen hätte. Als ihr klar wurde, dass sie sich bei Henry revanchieren konnte, änderte Vicky ihre Meinung. Er ließ ihr genug Zeit zum Nachdenken und wies sie darauf hin, dass sie im Falle einer Heirat mit ihm keine Beziehung zu einem Mann in ihrem Alter eingehen könnte. Sie erwiderte, dass sie es auch gar nicht wollte. Mit achtzehn glaubte sie die Männer zu kennen.

Henry hatte nicht so lange gelebt, wie er gehofft hatte. Er war gestorben, als die Zwillinge erst sechs Monate alt waren und Charles fünf. Seitdem versuchte sie nach Kräften, sich und ihre Familie über Wasser zu halten, und zwar hauptsächlich mit der Beherbergung von Sommergästen.

Der neue Gast würde mindestens zwei Wochen bleiben. Vicky überschlug die Summe und gestattete sich, erleichtert aufzuatmen. Damit würde sie auf jeden Fall die Gasrechnung begleichen können und eventuell sogar etwas übrig behalten. Zum Glück hatte Charles wegen seiner hervorragenden Leistungen ein Stipendium bekommen, sonst … Sie war sehr erfreut und stolz gewesen, als Charles eines der begehrten Stipendien für die ehemalige Schule seines Vaters ergattert hatte, und hatte gespart, um ihm eine neue Uniform kaufen zu können. Eigentlich kann ich von Glück sagen, überlegte sie, während sie die Zwillinge betrachtete, die über ihre Schulbücher gebeugt waren. Sosehr die beiden auch manchmal ihre Nerven strapazierten, sie waren gesund und klug, wenn man ihren Lehrern glauben konnte. Außerdem verstanden sie sich gut mit Charles. Sobald sie alt genug waren, hatte sie, Vicky, ihnen erklärt, dass Henry nicht ihr Vater gewesen war. Vor dem Tag, an dem die beiden mehr über ihren leiblichen Vater wissen wollte, graute ihr schon jetzt. Was sollte sie ihnen bloß sagen? Die Wahrheit? Dass sie es schlichtweg nicht wusste? Dass sie ihrem Vater auf einer Party begegnet und zu betrunken gewesen war, um sich seinen Annäherungsversuchen zu widersetzen? Dass sie fassungslos in einem Hotelzimmer neben ihm aufgewacht war?

Allerdings nicht halb so fassungslos wie in dem Moment, als ich von der Schwangerschaft erfahren habe, dachte Vicky grimmig. Sie hatte einfach nicht gewusst, wohin. Schließlich war sie nach Hause zu ihrer Großmutter gefahren, hatte allerdings feststellen müssen, dass diese nach einem schweren Sturz im Krankenhaus lag. Henry war gerade auf dem Weg zu ihr gewesen, um es ihr zu sagen, und dann hatte sie die Fassung verloren und ihm alles erzählt. Der liebe, gute Henry. Er war ihr vielmehr ein Vater gewesen als ein Ehemann. Ja, in vieler Hinsicht war er der Vater gewesen, den sie nie gehabt hatte, der Vater, den die Zwillinge nun so dringend brauchten. Vicky hatte sich ans andere Ende des Tisches gesetzt, an dem die beiden arbeiteten.

Autor

Penny Jordan

Am 31. Dezember 2011 starb unsere Erfolgsautorin Penny Jordan nach langer Krankheit im Alter von 65 Jahren. Penny Jordan galt als eine der größten Romance Autorinnen weltweit. Insgesamt verkaufte sie über 100 Millionen Bücher in über 25 Sprachen, die auf den Bestsellerlisten der Länder regelmäßig vertreten waren. 2011 wurde sie...

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