Denk doch an unsere erste Nacht

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Aus einer bitterarmen Familie stammend, hat Molly es auf der Karriereleiter weit nach oben geschafft. Doch ihr enormer beruflicher Erfolg scheint keine Rolle mehr zu spielen, als sie in ihre kleine Heimatstadt zurückkehrt. In Harmony Cove zählen noch immer die alten Klassenunterschiede, und genau die waren schon damals der Grund dafür, dass sie und ihre große Liebe Dan sich trennten. Als sie ihren einstigen Traummann wiedersieht, versucht sie mit aller Macht, diese Leidenschaft zu unterdrücken. Doch wieder verliebt sie sich in den gut aussehenden Arzt, dessen Familie hoch angesehen ist. Und wie vor Jahren werden in Harmony Cove Intrigen gesponnen ...


  • Erscheinungstag 17.11.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733759827
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Das Haus war noch kleiner und armseliger, als Molly es in Erinnerung hatte. Dagegen war der elegante dunkelblaue Wagen, der auf der schneebedeckten Auffahrt parkte, neu und sicher teuer gewesen. Doch nie im Leben hätte sie vermutet, dass er Dan Cordell gehörte. Dafür war das Auto zu praktisch und konservativ. Zu einem Abenteurer wie Dan Cordell hätte eher eine Harley Davidson gepasst.

Doch es war eindeutig seine tiefe, wohlklingende Stimme, die Molly hörte, als sie die Haustür ihrer Mutter öffnete. „Du hast dich also doch dazu herabgelassen, nach Hause zu kommen.“

Mollys Herz begann, heftig zu schlagen. Sie hoffte, man würde ihr nicht ansehen, wie geschockt sie war. „Natürlich bin ich nach Hause gekommen“, erwiderte sie. „Man hat mir mitgeteilt, meine Mutter hätte einen Unfall gehabt und würde jemanden brauchen, der sich um sie kümmert. Ich habe nicht eine Sekunde gezögert, zu ihr zu kommen.“

Dan schien ihr nicht zu glauben. Er wies mit dem Kinn auf Ariel und fragte: „Und das ist …?“

Molly hatte gewusst, dass diese Frage irgendwann kommen würde. Doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so bald passieren – und dass ausgerechnet Dan sie stellen würde. Er durfte niemals die Wahrheit erfahren.

„Meine Tochter.“

„Das habe ich mir schon gedacht.“ Auf Dans Gesicht zeigte sich die Spur eines Lächelns. „Ich wollte wissen, wie sie heißt.“

„Ariel“, erwiderte Molly und zog ihre kleine Tochter schützend an sich.

Dan sah Ariel mit seinen faszinierenden blauen Augen an. Sein Blick war sanfter, als Molly ihn vor elf Jahren je erlebt hatte. „Das ist ein sehr hübscher Name“, sagte er zu dem Kind. „Er passt zu dir.“

Ariel lächelte erfreut. Molly jedoch wurde plötzlich von Panik ergriffen. Unzählige Male hatte sie ihre Tochter betrachtet, aber nie eine Ähnlichkeit mit den vornehmen Cordells festgestellt. Doch was wäre, wenn Dan bemerkte, was ihr nie aufgefallen war?

Bevor er Gelegenheit hatte, Ariels Gesicht genauer zu betrachten, schob Molly sie durch den schmalen Flur zur Küche. „Sieh doch mal nach, ob Milch, Brot, Eier und Saft im Kühlschrank sind, Schätzchen. Sonst müssen wir zuerst ein paar Sachen einkaufen.“

Dan blickte Ariel nach, als sie durch den Flur zur Küche ging. Molly hielt den Atem an. Doch er sagte nur: „Ich wusste nicht, dass du deine Familie mitbringen würdest.“ Dann nahm er seine mit Schaffell gefütterte Jeansjacke von der Garderobe und zog sie an.

„Und ich wusste nicht, dass du einen Schlüssel zum Haus meiner Mutter hast“, erwiderte Molly kühl. „Oder hast du vielleicht die Tür aufgebrochen?“ Sie war zwischen Ärger und Angst hin- und hergerissen.

„Ich bin der Arzt deiner Mutter, Molly“, erwiderte Dan. „Und ich bin altmodisch genug, immer noch Hausbesuche zu machen.“

Ungläubig sah sie ihn an. Dan Cordell, dessen Hauptbeschäftigung vor elf Jahren darin bestanden hatte, Frauen zu erobern und Geschwindigkeitsbeschränkungen zu übertreten – dieser Mann war Arzt?

„Natürlich“, sagte Molly schnippisch und ließ den Blick über seine Jeans und den weißen Pullover gleiten. „Und ich bin die Kaiserin von China.“

„Nein, Molly. Du bist eine Frau, die von zu Hause wegging und sich so für ihre Eltern schämte, dass sie die beiden völlig vergaß, nachdem sie einen reichen Mann geheiratet hatte.“

Offenbar gingen ihm Kränkungen so leicht über die Lippen wie früher charmante Komplimente. Molly sah zu ihm auf. Dan war über einen Meter achtzig groß. Seine Stimme klang äußerst kühl. Doch die Tatsache, dass Dan von einem Ehemann gesprochen hatte, nahm seiner Kritik ein wenig Schärfe.

Beinahe wäre Molly in hysterisches Lachen ausgebrochen. Sie sollte einen reichen Mann geheiratet haben? Wer, um alles in der Welt, hatte sich denn dieses Märchen ausgedacht? Betont gelassen erwiderte sie: „Wenn du ausnahmsweise die Wahrheit sagst und wirklich der Arzt meiner Mutter bist, dann erzähl mir bitte, wie es ihr geht.“

„So schlecht, dass sie sich auf keinen Fall allein durchs Haus bewegen darf. Sollte deine Mutter aus dem Bett oder auf der Treppe stürzen, könnte das fatale Folgen haben. Denn es ging ihr schon vor dem Unfall sehr schlecht.“

„Was genau meinst du damit?“

Abschätzend betrachtete Dan sie. Er ließ den Blick von Mollys Stiefeln aus weichem Leder über den edlen Kaschmirpullover bis zum fellbesetzten Kragen ihres Mantels gleiten. „Wie traurig, dass du überhaupt danach fragen musst. Wenn du …“

„Wenn ich nicht so eine undankbare, treulose Tochter wäre, wüsste ich genau Bescheid, wie es meiner Mutter geht“, unterbrach sie ihn hitzig. „Lassen Sie sich nicht von meiner Kleidung täuschen, Herr Doktor. Ich bin immer noch dieselbe Molly Paget, deren arme Eltern wirklich etwas Besseres verdient hätten als so ein herzloses Geschöpf wie mich.“

„Das sind deine Worte, Molly – nicht meine.“

„Es sind genau die Worte, die mich damals von hier vertrieben haben, kurz bevor ich achtzehn wurde. Sie wurden so laut ausgesprochen, dass jeder sie hören konnte. Und jetzt, da ich wieder hier bin, werde ich sie bestimmt noch öfter gesagt bekommen.“

„Bist du deshalb all die Jahre weggeblieben?“, fragte Dan. „Weil du das Gefühl hattest, nicht hierher zu gehören?“

Molly unterdrückte ein Seufzen. Sie wollte und konnte ihm nicht die Wahrheit sagen: Vor elf Jahren hatte Dan sich von ihr getrennt, weil ihre heimliche Sommeraffäre während des Sommers ihm langweilig geworden war. Kurze Zeit später hatte sie festgestellt, dass sie schwanger war. Sie hatte Angst, ihr Vater würde sie umbringen, wenn er davon erfahren sollte. Und ihre Mutter war nicht stark genug, ihr zur Seite zu stehen. Molly hatte niemanden gehabt, der ihr hätte helfen können. Es hatte keine andere Möglichkeit gegeben, als von zu Hause wegzugehen.

„Das ist jetzt nicht wichtig“, erwiderte sie ausweichend. „Bitte sag mir, wie es meiner Mutter geht. Ich weiß nur, dass der Wagen meiner Eltern von einem Zug erfasst wurde, mein Vater sofort tot war und meine Mutter schwer verletzt worden ist. Ich möchte wissen, wie es ihr geht und ob sie sich von den Verletzungen erholen wird.“

Plötzlich sah sie einen merkwürdigen Ausdruck in Dans Augen – fast, als würde er etwas bedauern. „Du hast dich verändert, Molly. Du bist ganz anders als das Mädchen, das ich damals kannte.“

„Im Gegensatz zu früher habe ich keine Illusionen mehr. Falls das bei dir anders sein sollte, bist du wohl kaum der richtige Arzt für meine Mutter. Warum kümmert sich eigentlich nicht dein Vater um sie? Er ist unser Hausarzt gewesen, solange ich denken kann.“

„Er ist letztes Jahr in den Ruhestand gegangen. Wenn du also eine zweite Meinung von einem Arzt hören möchtest, wirst du sie von ihm nicht bekommen. Aber natürlich kann ich dir jederzeit einen anderen Kollegen empfehlen. Ich habe bereits mit dem ansässigen Orthopäden und dem Lungenfacharzt gesprochen, und beide stimmen mit meiner Meinung überein. Wenn du mit einem weiteren Spezialisten sprechen möchtest, wirst du außerhalb von Harmony Cove suchen müssen.“

„Vielleicht werde ich das tun.“ Molly wippte nervös mit dem Fuß auf dem abgetretenen Linoleumboden und hoffte, Dan würde dies als Zeichen der Ungeduld deuten. Man hatte ihr gesagt, Dr. Cordell habe darum gebeten, dass die Behörden Kontakt zu ihr aufnahmen. Doch ihr war nie in den Sinn gekommen, dass es sich bei dem Arzt um Dan handeln könnte. Noch immer fiel es ihr schwer, sich an diese Vorstellung zu gewöhnen. „Aber jetzt hätte ich erst einmal gern eine Antwort auf meine Frage, der du immer wieder ausweichst. Ich möchte wissen, wie es meiner Mutter geht. Mach dir nicht die Mühe, es mir schonend beizubringen. Wenn die Gefahr besteht, dass meine Mutter sich nicht erholen und ein Pflegefall bleiben wird, sag es mir einfach.“

Dan verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln – den Mund, dessen bloßer Anblick sie elf Jahre später noch immer erschauern ließ. „Deine Mutter hat wegen ihres Asthmas sehr lange Steroide eingenommen und leidet deshalb unter Osteoporose im fortgeschrittenen Stadium. Hinzu kommen ihr Alter, die schlechte Ernährung und ihre allgemein schlechte gesundheitliche Verfassung. Die Knochen deiner Mutter sind so porös, dass sie bei einer zu heftigen Umarmung brechen könnten. Bei dem Unfall ist ihre Hüfte gebrochen. Sie wird nur durch Stahlschrauben zusammengehalten. Vielleicht wird deine Mutter irgendwann wieder gehen können, wahrscheinlich jedoch nicht ohne ein Laufgestell. Möglicherweise wird sich auch der Zustand ihrer Knochen verbessern, aber nur geringfügig und nur bei regelmäßiger Einnahme der verschriebenen Medikamente. Allerdings leidet deine Mutter auch unter Depressionen. Sie scheint kein großes Interesse daran zu haben, wieder gesund zu werden. Ich möchte fast behaupten, dass ihr jeder Lebenswille fehlt. War ich direkt genug, Molly?“

Direkt genug? Molly war erschüttert über das, was Dan ihr gesagt hatte. Doch um keinen Preis wollte sie es sich anmerken lassen. „Ja, das warst du“, erwiderte sie nur und stieß heftig die Haustür auf. Der kalte Atlantikwind schlug ihr ins Gesicht. „Danke, dass du vorbeigekommen bist.“

In aller Ruhe knöpfte Dan sich die Jacke zu und nahm seine schwarze Arzttasche. „Du scheinst es ja kaum erwarten zu können, mich endlich los zu sein“, stellte er fest. „Ich möchte aber, dass du ganz genau begreifst, wie es um den Gesundheitszustand deiner Mutter bestellt ist, bevor ich sie deiner Obhut überlasse.“

Verächtlich sah Molly ihn an. „Die Frau von der Behörde, die Kontakt zu mir aufnahm, hat mich bereits informiert. Und ich brauche wohl kaum eine genaue Einweisung darin, wie man eine Bettpfanne entleert oder ein Bett frisch bezieht.“

„Ich bezweifle, dass dir wirklich klar ist, was auf dich zukommt. Du hast deine Mutter seit vielen Jahren nicht mehr gesehen und wirst erschrocken sein, wie sehr sie sich verändert hat. Vielleicht wäre es besser, wenn ich noch ein bisschen bleiben würde, um dich moralisch zu unterstützen.“

„Nein, vielen Dank“, lehnte Molly ab. „Ich möchte mir selbst ein Bild davon machen, wie es meiner Mutter körperlich und seelisch geht – und zwar ohne dass du mir die ganze Zeit im Nacken sitzt. Falls sie also keine besondere Behandlung oder Medikamente benötigt …“

„Doch, das tut sie“, fiel Dan ihr ins Wort. „Die Gemeindeschwester kommt jeden Tag zwei Mal vorbei und kümmert sich darum.“

„Gut. Falls ich weitere Fragen habe, werde ich mich an dich wenden – oder an einen anderen Arzt.“

Dan sah sie einen Moment lang eindringlich an. „Du wirst mit Sicherheit Fragen haben, Molly. Und sollte sich deine Mutter nicht für einen anderen Arzt entscheiden, wirst du mit diesen Fragen zu mir kommen – und zwar gleich morgen. Lass dir für den Vormittag einen Termin geben. Ich arbeite in der Eastside-Klinik in der Waverley Street, gleich neben dem Gebäude der Seefahrergewerkschaft. Die Nachbarin Cadie Boudelet wird sich um Hilda kümmern, solange du weg bist.“

„Wie kommst du darauf, dass Cadie Boudelet sich dazu bereit erklären wird? Sie und meine Mutter waren nie besonders eng befreundet.“

„Weil sie praktisch mit hier gelebt hat, seit Hilda aus dem Krankenhaus entlassen wurde.“

„Dann hat sie sicher eine ganze Menge zu tun – schließlich kümmert sie sich ja auch noch um die Privatangelegenheiten sämtlicher anderer Menschen in ihrer Umgebung“, stellte Molly ironisch fest.

Du schienst es ja nicht besonders eilig damit zu haben, nach Hause zu kommen und dich um Hilda zu kümmern.“

Molly konnte seinen missbilligenden Blick nicht ertragen und schloss für einen Moment die Augen. Als sie sie wieder öffnete, war Dan bereits auf dem Weg zum Auto. Er neigte sich dem Wind entgegen. Schneeflocken hingen ihm im dunklen Haar. Ohne sie eines Blickes zu würdigen, stieg er in den Wagen und fuhr den Hügel hinunter in Richtung Hafen.

Molly sah in einiger Entfernung die aufgestapelten Hummerfallen neben den Holzschuppen. Zwei Männer saßen am Kai und flickten Fischernetze. In drei Monaten würde der Schnee verschwunden sein, und der Frühling mit seinen sanften Farben würde die raue Landschaft lieblich erscheinen lassen. Im Frühling kamen immer viele Touristen nach Harmony Cove. Sie waren entzückt von dem malerischen Städtchen mit dem alten Leuchtturm, den am Kai hervorspringenden Felsen und den hölzernen Blumenkästen voller Petunien an den Holzhütten der Hummerfischer.

Die Touristen machten unzählige Fotos und Videofilme. Für viele war Harmony Cove das hübscheste Städtchen an der Ostküste. Doch jetzt wirkte alles grau und trostlos. Nur der frisch gefallene Schnee, der auf den Dächern der kleinen Häuser lag, konnte diesen Eindruck etwas mildern.

Molly hasste die kleine Stadt von ganzem Herzen. Jeder Stein, jeder Blumenkasten erinnerte sie an die Menschen, die in den Häusern lebten: Sie waren engstirnig, dachten immer das Schlimmste von ihren Mitmenschen und verurteilten andere oft vorschnell. Außerdem waren sie überzeugt davon, dass es nur eine einzige richtige Art gab, Dinge zu tun – nämlich so, wie sie selbst diese schon seit mehr als hundert Jahren taten.

Als Molly die Tür schloss, kam Ariel aus der Küche. „Wir brauchen nicht einkaufen zu gehen, Mommy“, sagte sie eifrig. „Der Kühlschrank ist voll. Ich habe auch auf das Packungsdatum geachtet. Die Milch und die Eier sind ganz frisch.“

Und wenn Ariel das sagte, musste es stimmen. Sie war zwar erst zehn Jahre alt, aber als Tochter einer alleinerziehenden Mutter viel selbstständiger und verantwortungsbewusster als die meisten Kinder in ihrem Alter. Schon mit vier Jahren hatte sie das erste Mal zu ihrer Mutter gesagt: „Vergiss nicht, dass wir heute den Müll rausbringen müssen, Mommy!“ Oft, wenn die Dinge nicht gut liefen – was besonders in den ersten Jahren häufig der Fall war – hatte Ariel sie getröstet, als wäre Molly das Kind und nicht die Mutter.

Sie ließ die Finger über einen der langen dunklen Zöpfe ihrer Tochter gleiten. Dann hielt sie eine Hand hoch, und Ariel schlug ein. „Du bist schon so erwachsen und vernünftig. Was würde ich nur ohne dich tun?“, fragte Molly liebevoll.

Insgeheim hatte sie sich diese Frage schon oft gestellt. Doch jetzt hatten die Worte einen unheilvollen Beiklang bekommen. Wenn Dan jemals die Wahrheit erfahren und ihr Ariel wegnehmen sollte, wie sollte sie dann nur weiterleben?

Energisch verdrängte sie den Gedanken und zog ihre kleine Tochter an sich. „Komm, wir bringen die Taschen nach oben und begrüßen deine Großmutter. Bestimmt freut sie sich, dich kennenzulernen.“

Sie gingen hinauf. Die dunkle, steile Treppe erinnerte Molly daran, wie sie früher oft in ihre kleine Kammer eingesperrt worden war. Damals war sie noch jünger gewesen als Ariel jetzt. In jeder Ecke des Hauses schienen dunkle Schatten zu lauern, unheimliche Monster, die sie bestrafen wollten. Jetzt sah sie das Haus zum ersten Mal so, wie es wirklich war: trostlos, eng und düster. Es wirkte genauso streng wie der Mann, der früher hier gewohnt und seine Familie mit eiserner Hand regiert hatte.

Die Schlafzimmertür stand offen. Molly schob sie noch ein wenig weiter auf. Wieder wurde sie von Erinnerungen überwältigt. Nichts hatte sich verändert. Altes, abgenutztes Linoleum bedeckte den Boden. Die fadenscheinigen beigefarbenen Gardinen waren Molly noch ebenso gut in Erinnerung wie das schlichte Bett aus schwarzem Metall, über dessen Kopfende ein einfaches Kreuz aus Holz hing.

Nicht ein einziges Mal hatte Mollys Vater sie zu sich und seiner Frau ins Bett geholt, wenn sie schlecht geträumt hatte. Molly hatte auch nie morgens oder abends zu ihnen ins Bett kriechen dürfen, um eine Geschichte vorgelesen zu bekommen. Sie hatte das Zimmer aus ihrer Kindheit so spartanisch und schmucklos in Erinnerung wie eine Gefängniszelle. Und jetzt, als Erwachsene, hatte sie denselben Eindruck.

Hilda Paget schien zu merken, dass jemand an der Tür war. Mühsam richtete sie sich ein wenig auf und hob den Arm. „Cadie, bist du das?“

Molly war erschrocken darüber, wie kraftlos ihre Mutter klang. Sie ging zum Bett und stellte fest, dass Dan nicht übertrieben hatte. Hilda Paget war immer sehr schlank gewesen. Doch nach dem Unfall und einem Leben voller Entbehrungen schien sie nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen.

Plötzlich hatte Molly alle Vorwürfe vergessen. Sie war erfüllt von Trauer und Schuldgefühlen. „Nein, Mom, ich bin es“, sagte sie leise.

„Molly?“ Hilda Paget versuchte sich aufzurichten, doch ihre Kraft reichte nicht aus. Mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht ließ sie sich wieder in die Kissen sinken. „Kind, du hättest nicht herkommen sollen! Jetzt werden die Leute bestimmt wieder schlecht über dich reden!“

Mollys Kehle war wie zugeschnürt. Sie beugte sich herunter, küsste ihre Mutter auf die Wange und schob ihr eine Strähne aus dem Gesicht. „Das ist mir egal. Ich bin hier, um für dich zu sorgen. Alles andere ist unwichtig.“

„Aber ich habe doch jemanden, der sich um mich kümmert. Die Gemeindeschwester sieht zwei Mal täglich nach mir. Auch Cadie kommt morgens und abends vorbei und kauft für mich ein, wenn ich etwas brauche. Und Alice Livingston bringt mir mittags immer eine Suppe“, wandte Mollys Mutter ein. Aber gleichzeitig hielt sie die Hand ihrer Tochter fest umklammert. „Wie hast du von dem Unfall erfahren, Molly? Wer hat es dir gesagt?“

„Die Krankenhausleitung hat mich benachrichtigen lassen. Dein neuer Arzt hat sie darum gebeten. Warum hast du mich nicht angerufen, Mom? Hast du etwa geglaubt, es würde mich nicht kümmern, dass du einen Unfall hattest und Hilfe brauchst? Dachtest du, ich würde nicht für dich da sein?“

Hilda schüttelte den Kopf. „Nein, aber ich wusste doch, wie verhasst dir der Ort früher war und wie viel es dich kosten würde, hierher zurückzukehren.“

„Ich hasse ihn immer noch. Und das wird sich wohl niemals ändern.“

„Warum bist du dann hergekommen – noch dazu wegen einer Frau, die dir nie eine gute Mutter war?“

„Weil du trotz allem immer noch meine Mutter bist“, erwiderte Molly. „Und jetzt, da Vater nicht mehr da ist …“ Es war nicht nötig, den Satz zu Ende zu führen. Unzählige Male hatte John Paget sie aus dem Haus gejagt, ihr mit Prügel gedroht und sie so laut angeschrien, dass jeder in der Nachbarschaft es gehört hatte. Viele Stunden hatte Molly frierend draußen bei Wind und Schnee verbracht, nur mit einem dünnen Pullover bekleidet. Im Sommer hatte sie sich oft im Holzschuppen hinter dem Haus versteckt, bis sie sich wieder in ihr Zimmer traute.

Doch obwohl die anderen Bewohner von Harmony Cove dies alles mit erlebten, zeigte niemals irgendjemand auch nur das geringste Mitgefühl. Im Gegenteil: Sie hatten in ihren Hauseingängen gestanden, die Köpfe geschüttelt und zueinander gesagt: „Der arme John, er ist wirklich gestraft mit dieser widerspenstigen Tochter!“

Molly war froh, dass ihr Vater tot war. Und sollte irgendjemand sie danach fragen, würde sie es nicht abstreiten.

„Auch wenn du es nicht glaubst: Ich habe dafür bezahlt, dass ich zugelassen habe, was du als Kind durch deinen Vater erleiden musstest“, sagte Hilda Paget. „Ich werde mir nie verzeihen, dass ich damals den Blick abgewandt habe. Es würde mir ganz recht geschehen, wenn du mich meinem Schicksal überlassen würdest.“

„Dann könnten die Leute hier endlich selbstzufrieden nicken und sagen ‚Das habe ich doch immer gewusst.‘ Die Genugtuung werde ich ihnen bestimmt nicht verschaffen“, erwiderte Molly betont gelassen und lachte. „Nein, Mom. Ich werde so lange hier bleiben, wie du mich brauchst. Und ich bin nicht allein hergekommen.“

Ihre Mutter blickte zur Tür, wo Ariel stand. „Oh Molly, du hast deine kleine Tochter mitgebracht!“, flüsterte sie überwältigt. „Ich habe immer geglaubt, ich würde sie nie kennenlernen.“

Ihr freudiger, sehnsüchtiger Blick gab Molly einen Stich ins Herz. Doch um Ariel nicht zu beunruhigen, ließ sie sich nicht anmerken, wie bewegt sie war. „Komm zu uns, Schätzchen“, sagte sie ruhig.

Ariel ging zum Bett. „Hallo, Grandma. Es tut mir leid, dass du dir bei dem Unfall wehgetan hast.“

Hilda traten Tränen in die Augen. „Du meine Güte“, flüsterte sie und nahm Ariels kleine Hand. „Du siehst genau aus wie deine Mutter vor achtzehn Jahren: so hübsch und zierlich, dieselben großen braunen Augen und das weiche Haar.“ Sie wandte sich an ihre Tochter. „Sie ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten – mir zum Glück gar nicht.“

Molly drückte sanft Ariels Schulter und sagte: „Du könntest schon einmal deine Sachen auspacken, Schätzchen. Grandma kann sich in der Zwischenzeit ein wenig ausruhen. Und ich werde mir überlegen, was es zum Dinner geben wird. Dann können wir hier im Schlafzimmer ein kleines Picknick machen. Ist dir das recht, Mom?“

„Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.“ Hilda Paget war ohne Zweifel sehr erschöpft. Sie atmete schwer, doch ihr Lächeln war strahlend. „Ich glaube nicht, dass ich jemals zuvor im Bett gepicknickt habe. Das hätte dein Vater nie erlaubt. Vielleicht gibt es doch einiges, worauf ich mich in Zukunft freuen kann.“

Molly musste all ihre Kraft aufbringen, um nicht vor ihrer Mutter zu weinen. Doch sobald sie auf der Treppe war, wurde sie von Schluchzern geschüttelt. Mit einem Taschentuch trocknete Molly sich die Augen. Sie machte sich bittere Vorwürfe. Doch dann gab sie sich einen Ruck. Wenn das Leben mit ihrem Mann unerträglich geworden wäre, hätte Mom mich nur anzurufen brauchen, dachte Molly. Schließlich war sie ja nicht spurlos verschwunden, sondern hatte den Kontakt mit ihrer Mutter durch Briefe aufrechterhalten. Allerdings hatte Hilda Paget nur selten und immer sehr wenig geschrieben. Den letzten Brief hatte Molly vor elf Monaten erhalten. Er war so kurz gewesen, dass sie noch jedes Wort in Erinnerung hatte:

Liebe Molly,

der Winter hier ist wieder sehr hart. Die Rohre in der Küche sind letzte Woche zwei Mal eingefroren. Die Fischpreise sind gestiegen. Cadie Boudelets jüngstes Enkelkind hat eine Bronchitis, der arme kleine Kerl. Bei den Livingstons ist neulich ein Feuer im Schornstein ausgebrochen. Beinahe wäre ihr ganzes Haus abgebrannt. Unser Fernseher ist kaputtgegangen. Wir haben uns entschlossen, keinen Neuen zu kaufen. Es gibt doch nie etwas Sehenswertes. Ich versuche, ein Mal in der Woche zur Bücherei zu kommen. Weihnachten habe ich vier Quilts verkauft, sodass wir ein kleines Zusatzeinkommen hatten. Ende November hat es angefangen, zu schneien, und immer noch nicht aufgehört, dabei haben wir doch jetzt schon April. Dein Vater geht kaum aus dem Haus, weil er Angst hat zu stürzen. Ich hoffe, Dir und Deiner kleinen Tochter geht es gut.

Alles Liebe von Deiner Mutter

Wie üblich hatte Hilda Paget keine Fragen über Mollys Leben gestellt. Offenbar interessierte es sie auch nicht, wie es Ariel ging und was sie tat. Diese scheinbare Gleichgültigkeit hatte Mollys Vorbehalte gegenüber ihrer Mutter noch verstärkt. Doch als sie jetzt an Hilda Pagets überglückliches Lächeln dachte, waren alle Vorwürfe vergessen. Molly fragte sich, ob sie die kurzen, seltenen Briefe nicht falsch interpretiert hatte. Und plötzlich wurde ihr klar, wie viel Einsamkeit aus den knappen Zeilen sprach.

Diese Erkenntnis traf Molly wie ein Schlag. Wieder war sie erfüllt von Schuldgefühlen. „Jetzt bin ich wieder bei dir, Mom“, flüsterte sie, schob sich das Taschentuch in die Hosentasche und ging durch den dunklen Flur zur Küche. „Ich werde alles wieder gutmachen und dafür sorgen, dass dein Leben von jetzt an so schön wie möglich wird.“

Auch in der Küche hatte sich nichts verändert. Dort standen noch immer der uralte Kühlschrank und der kleine Herd mit den zwei Kochplatten, an die Molly sich noch aus ihrer Kindheit erinnerte. Den übrigen Platz in dem engen Raum nahmen ein schäbiger grauer Tisch und Stühle mit Sitzen aus rotem Plastik ein. Das einzige Neue war ein Kalender, der mit einem Reißnagel an der Wand neben der Tür befestigt war. Aber auch dieser sah genau aus wie seine Vorgänger. Kein Wunder, dass es Hilda Paget nicht wichtig zu sein schien, wieder gesund zu werden. Ihr Dasein war noch trostloser und eintöniger als das eines Hamsters im Laufrad.

Im Kühlschrank fand Molly Käse, Butter und ein Glas Mayonnaise, im Vorratsregal Brot und eine Dose Tomatensuppe. Die schwere gusseiserne Pfanne war noch immer in der Schublade unter dem Ofen. Molly begann das Essen vorzubereiten. Ihr Leben hatte sich zwar drastisch verändert, seit sie die abgelegte Kleidung anderer Leute getragen hatte. Doch die ersten harten Jahre hatten sie gelehrt, aus praktisch nichts eine nahrhafte Mahlzeit zuzubereiten. Heute Abend würde es Tee, warme Suppe und mit Käse überbackene Sandwichs geben.

Das Wasser im Teekessel war kurz vor dem Kochen. Molly drehte gerade die Sandwichs in der Pfanne um, als sie einen kühlen Luftzug spürte. Doch noch viel kälter war der Blick der Frau, die durch die Hintertür hereinkam.

Cadie Boudelet war keine Frau, die viel lächelte. Aber jetzt blickte sie noch grimmiger drein als sonst. „Ich habe schon gehört, dass du zurückgekommen bist“, sagte sie. „Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell.“

„Ich freue mich auch sehr, Sie zu sehen, Mrs. Boudelet“, erwiderte Molly. Es überraschte sie nicht, dass sich auch in dieser Hinsicht nichts geändert hatte. Die Boudelets und alle anderen Nachbarn hatten sie als Aussätzige betrachtet, als schamlos und aufsässig. Ein herzliches Willkommen hätte Molly daher sehr verwundert. „Kann ich etwas für Sie tun, oder sind Sie nur vorbeigekommen, um mich zu begrüßen und ein wenig mit mir zu plaudern?“

Autor

Catherine Spencer

Zum Schreiben kam Catherine Spencer durch einen glücklichen Zufall. Der Wunsch nach Veränderungen weckte in ihr das Verlangen, einen Roman zu verfassen. Als sie zufällig erfuhr, dass Mills & Boon Autorinnen sucht, kam sie zu dem Schluss, diese Möglichkeit sei zu verlockend, um sie verstreichen zu lassen. Sie wagte...

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