Der Mann der Stunde

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Glynnis‘ Tochter wurde entführt! In den schrecklichsten Stunden ihres Lebens kann ihr nur Lieutenant Dan O‘Neill helfen. Der Polizist übernimmt die Ermittlungen und kümmert sich einfühlsam um Glynnis. Ist es vermessen, zu glauben, er könne vielleicht für immer bleiben? Glynnis sehnt sich doch so nach Geborgenheit … Doch sie fürchtet, dass sich der Kidnapping-Experte schon bald einem neuen Fall zuwendet.


  • Erscheinungstag 26.02.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733776145
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Mommy, ich hab Durst!“

„Ich auch! Ich will nach Hause.“

Glynnis March sah auf ihre übermüdeten Kinder herab. Michael, ihr Siebenjähriger, und die dreijährige Olivia schienen wirklich genug zu haben.

„Es tut mir leid“, sagte sie, so geduldig sie konnte, da sie selbst bereits Kopfweh hatte und am liebsten gleich heimgefahren wäre. „Ich weiß, dass ihr müde seid. Nur noch fünf Minuten, ja? Mommy kauft noch ein Weihnachtsgeschenk, danach holen wir was zu essen.“

„Krieg ich Pommes?“, fragte Michael.

Normalerweise erlaubte Glynnis den Kindern kein Fast Food, aber heute war sie bereit, eine Ausnahme zu machen. „Ja, und Cola, die kannst du dann im Auto trinken, wenn wir heimfahren, okay?“

Michael zog skeptisch die Stirn in Falten. „Versprochen?“

„Versprochen.“

Ernsthaft wandte sich Michael an seine Schwester. „Nur noch fünf Minuten, Livvy. Mommy hat’s versprochen.“

„Fümb Minuten?“ Konzentriert versuchte Olivia, an ihren Fingern bis fünf zu zählen.

Glynnis musste lächeln und half Olivia. „Fünf, Honey. Eins, zwei, drei, vier, fünf.“ Sie nahm Olivias Händchen und zählte die Finger ab.

Olivia sprach laut mit ihrer Mutter mit, dann breitete sich ein Grinsen über ihr Gesicht, und ihre süßen Grübchen kamen zum Vorschein. „Fümb.“

Michael schnaufte genervt, und Olivia wusste, dass sie seine Geduld nicht überstrapazieren durfte. Aber in Corinne’s Boutique hier im Einkaufszentrum gab es reduzierte Kaschmirpullover, und sie wollte ihrer Schwägerin Sabrina unbedingt einen zu Weihnachten schenken.

In der stillen Hoffnung, die Kinder würden noch ein paar Minuten durchhalten, bis sie einen passenden Pullover gefunden hatte, betrat Glynnis den belebten Laden und bahnte sich mit den Kindern im Schlepptau einen Weg durch die Menge, bis sie vor dem Tisch mit den heruntergesetzten Pullovern stand.

„Glynnis! Wie nett, dich hier zu treffen!“

Glynnis drehte sich um. Sie hatte ihre Kollegin Isabel McNabb schon an ihrem schottischen Akzent erkannt. Isabel war die Leiterin der Abteilung Kreatives Schreiben am Ivy Community College, wo Glynnis Geschichte und Kunst unterrichtete. „Hi, Isabel!“

„Dieses Gewühl hier ist ein Albtraum.“ Isabel strich sich das Haar zurück. „Aber meine Mutter kommt morgen, und ich habe noch immer kein Geschenk für sie.“

„Mommy! Komm endlich!“ Michael zog ungeduldig am Arm seiner Mutter.

Glynnis warf einen ziemlich strengen Blick auf ihren Sohn. „Honey“, begann sie.

„Ich will gehen. Du hast es versprochen!“

„Verpochn“, wiederholte Olivia unsicher und versuchte, sich der Hand der Mutter zu entziehen.

Glynnis hob Olivia auf ihren Arm. „Isabel, tut mir leid, ich habe überhaupt keine Zeit. Ich muss einen Pullover kaufen und zusehen, dass ich hier rauskomme, bevor meine Kinder mich zur Schnecke machen. Fröhliche Weihnachten!“

Isabel war voller Verständnis. „Euch auch.“ Winkend tauchte sie in der Menge unter.

Glynnis wandte sich wieder dem Tisch mit den Pullovern zu. Mit Olivia auf dem Arm suchte sie die passende Größe in Moosgrün für ihre Schwägerin heraus. Gerade als sie die richtige Größe aus dem Stapel Pullover gezerrt hatte, gab es einen mächtigen Krach. Ein Ständer mit Lederjacken war umgefallen, und als Glynnis genauer hinsah, erspähte sie die roten Sneakers ihres Sohnes, die unter dem Ständer hervorragten.

„Michael!“ Sie setzte Olivia ab und eilte zu der Verkäuferin, die gerade versuchte, den Ständer wieder aufzustellen. Michael blickte benommen zu seiner Mutter auf. Auf seiner Wange hatte er einen kleinen blutigen Kratzer. „Oh, Michael, Honey!“ Glynnis half ihm hoch. „Ist alles in Ordnung?“

„Mhm.“

Glynnis holte tief Atem. Ihr Herz raste, als sie Michael in die Arme schloss. „Es tut mir sehr leid“, sagte sie zu der Verkäuferin.

Die Angestellte nahm es nicht übel. „Kein Problem, er ist ein Kind. Das kommt öfter vor.“

Dankbar lächelte Glynnis. Sie holte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und wischte Michael sanft das Blut ab. Es war nur ein oberflächlicher Kratzer, aber ein mehr als deutliches Zeichen, dass sie ihre Weihnachtseinkäufe nun wirklich beenden sollte. Den grünen Kaschmirpullover könnte sie auch morgen noch kaufen. „Komm, Honey, wir gehen.“

„Okay“, erwiderte er.

„Livvy, Sweetie, wir gehen nach Hause.“

Glynnis drehte sich um. Als sie Olivia nicht hinter sich sah, runzelte sie die Stirn. Sie hatte die Kleine doch an dem Tisch da drüben abgesetzt. „Livvy? Livvy, Honey, wo bist du?“ Sie stand auf und ließ den Blick durch den Laden schweifen, aber nirgendwo war die leuchtend gelbe Jacke zu sehen, die ihre Tochter trug. „Livvy!“, rief sie nun lauter, während Panik in ihr hochstieg. „Hör auf mit dem Versteckspiel. Das ist nicht lustig!“

„Was ist denn?“, fragte die Verkäuferin, die den Kleiderständer wieder aufgestellt hatte.

„Meine kleine Tochter. Ich sehe sie nicht. Sie … Oh Gott.“ Die Angst ließ ihre Stimme zittern. „Ich … ich hatte sie auf dem Arm, und als ich Michael unter dem Ständer sah, habe ich sie abgesetzt.“ Glynnis weinte fast schon. „Sie ist weg! Ich kann sie nirgendwo sehen!“

Mit Michael fest an der Hand eilte sie durch den Laden. Livvy musste doch irgendwo sein! Vielleicht versteckte sie sich nur. Michael hatte das auch schon einmal gemacht und sie damals fast zu Tode erschreckt. Als sie ihn schließlich gefunden hatte, hatte er nur gekichert, völlig ahnungslos, welche Höllenqualen Glynnis durchlitten hatte.

Inzwischen hatten etliche Kunden bemerkt, dass etwas nicht stimmte, und versammelten sich besorgt um die Mutter.

„Ma’am, ganz ruhig. Sagen Sie mir, wie Ihre Tochter aussieht“, sagte die Angestellte.

„Sie … sie ist erst drei. Dreieinhalb. Klein, rotgoldenes Haar wie ich, haselnussbraune Augen, Grübchen. Sie trägt eine leuchtend gelbe Jacke mit Kapuze. Ja, und dunkelblaue Cordhosen und weiße Turnschuhe.“ Glynnis kämpfte gegen ihre Angst und versuchte, sich einzureden, Livvy hätte sich vermutlich nur irgendwo verkrochen, weil sie müde war. Bitte, lieber Gott, lass es nur ein Versteckspiel sein.

„Ich hole den Sicherheitsdienst“, erklärte die Verkäuferin. „Hilf ihr beim Suchen“, rief sie einer Kollegin zu.

Eine weitere Verkäuferin beschwichtigte die Kundinnen im Laden, während Glynnis mit der Kollegin alles abzusuchen begann. Als sie alle Möglichkeiten für Verstecke geprüft hatten, war klar, dass Livvy nirgendwo im Laden stecken konnte.

Glynnis, Michael fest im Griff, rannte zur Tür und auf die Einkaufspassage hinaus. Ihr Blick schoss hin und her. Livvy, Livvy, Livvy, wo bist du? Aber wohin sie auch sah, nirgendwo erblickte sie die gelbe Jacke. Keine Olivia. Glynnis biss sich auf die Lippe, um nicht zu weinen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so hilflos gefühlt.

„Mommy? Wo ist denn Livvy?“ Michaels Stimme klang sehr unsicher.

Glynnis sah auf ihren Sohn hinunter, dem bereits die Tränen in den Augen standen. Sie versuchte, ihn zu beruhigen. „Wir finden sie wieder, Honey, mach dir keine Sorgen. Wir finden sie. Vielleicht ist sie nur schon zu dem Imbiss gegangen, wo es die Pommes gibt.“ Doch während sie redete, drohte ihre wachsende Angst sie vollständig zu überwältigen.

Nur einen Augenblick später erschienen zwei uniformierte Leute vom Sicherheitsdienst des Einkaufszentrums, ein älterer Mann und eine junge Frau.

Die Verkäuferin, die mit Glynnis den Laden abgesucht hatte, nahm sie am Arm. „Kommen Sie wieder herein. Wir haben eine Überwachungskamera. Wir sehen uns das Band an, dann wissen wir mehr.“

„Was ist denn passiert, Ma’am?“, fragte die Frau vom Sicherheitsdienst.

Inzwischen war Glynnis kaum mehr fähig zu sprechen, daher erzählte die Angestellte, was geschehen war. Sofort zückte der Mann vom Sicherheitsdienst sein Walkie-Talkie. „Keine Sorge, Ma’am, ich lasse die Ausgänge schließen. Wenn Ihre Tochter einen Ausflug macht, dann wird sie nicht aus der Passage kommen. Wir finden sie bestimmt.“

Als er seine Order gegeben hatte, sahen sie sich gemeinsam im Büro der Boutique das Video der Überwachungskamera an.

„Oh Gott!“, keuchte Glynnis auf, als sie ihre Tochter auf dem Bildschirm sah. „Da! Da! Das ist sie!“ Sie begann zu weinen, denn sie sah, dass Olivia den Laden nicht allein verließ. Eine junge Frau trug sie auf den Armen, und Olivia weinte. „Diese Frau hat mein Baby entführt!“

Der Mann vom Sicherheitsdienst tippte eine Nummer auf seinem Handy. „Ich rufe die Polizei“, erklärte er. „Setzen Sie alle in Alarmbereitschaft“, wandte er sich an seine Kollegin. „Wir suchen eine Frau, um die zwanzig Jahre alt, kurze Jacke und Jeans, Igelfrisur, vermutlich blondiert, mit einem kleinen Kind auf dem Arm. Gib ihnen eine Beschreibung des Mädchens. Die Ausgangstüren sind alle zu, die Frau kann also nicht abhauen. Ruf mich an, sobald ihr sie habt.“

Er sah Glynnis fest in die Augen. „Machen Sie sich keine Sorgen, Ma’am, wir finden sie wieder.“

Bitte, lieber Gott, betete Glynnis, mach, dass er recht hat. Bitte lass sie sie finden. Hoffentlich passiert ihr nichts. Ich will sie nur einfach wiederhaben, sonst gar nichts.

Dan O’Neills Schicht begann eigentlich erst um drei Uhr, aber da er sich zu Hause gelangweilt hatte, war er schon früher auf die Wache gekommen.

Um Weihnachten herum stieg dann die Kriminalität gewöhnlich etwas an. Selbst hier in Ivy, Ohio, mit seinen weniger als fünfundreißigtausend Einwohnern, hatten sie um die Feiertage herum immer mehr zu tun. Natürlich waren es andere Verbrechen als in Chicago, wo er früher gearbeitet hatte: Statt Morde, Drogendeals oder Raubüberfälle gab es in Ivy tatsächlich eher Diebstähle, Fälle häuslicher Gewalt und manchmal Trunkenheit am Steuer.

Nicht gerade aufregend, dachte Dan.

Aber wegen Aufregung war er auch nicht hierhergezogen. In den Jahren beim Chicago Police Department hatte er genug erlebt, um bis an sein Lebensende davon erzählen zu können. Bei der Erinnerung an Chicago und die Gründe für seinen Weggang fühlte er, wie sich eine vertraute Niedergeschlagenheit in ihm ausbreitete. Nein! Er versuchte, sie abzuschütteln. Dan war es leid, sich schlecht oder schuldig zu fühlen. Er war seiner selbst müde.

Bald würde ein neues Jahr anbrechen. Ein neues Jahr. Im Stillen wiederholte er die Worte. Ein neues Jahr verhieß Veränderungen. Es bedeutete, sich schlechter Angewohnheiten zu entledigen und neue Vorsätze zu fassen.

„Ein neues Leben“, murmelte er.

„Hast du was gesagt?“

Dan sah auf. Romeo Navarro, sein Kollege, betrachtete ihn prüfend.

„Selbstgespräche, nichts weiter“, meinte Dan.

„Hoppla, ich dachte, das machen nur alte Leute.“

Dan zuckte mit den Schultern. Gerade als Romeo noch etwas sagen wollte, läutete das Telefon. Elena, die Sekretärin, hob ab.

„Oh, das ist ja schrecklich!“, sagte sie, während sie zuhörte. „Ich schicke sofort jemanden vorbei.“ Sie legte auf und klopfte an das Glasfenster des Chefbüros. „Chief Crandall! In einem Laden im Einkaufszentrum ist ein kleines Kind verschwunden.“

Dan und Romeo waren aufgesprungen, bevor ihr Vorgesetzter sie dazu auffordern musste. „O’Neill, Sie übernehmen die Leitung“, entschied Chief Crandall. „Wenn Sie mehr Unterstützung brauchen, rufen Sie an. Elena wird für Verstärkung sorgen“, fügte er hinzu.

Fünf Minuten später waren Dan und Romeo unterwegs zum Einkaufszentrum auf der Westseite der Stadt, während sie sich über Funk von Elena die Details geben ließen. Das Opfer war ein dreijähriges Mädchen, das von einer Unbekannten entführt worden war.

Der Vorfall war auf Video aufgezeichnet worden. Vielleicht hatten sie ja Glück, und das Mädchen war wieder aufgetaucht, wenn sie ankamen. Dan versuchte, nicht darüber nachzudenken, was wäre, wenn nicht.

Als sie an der Ivy Mall ankamen, stellte Dan zufrieden fest, dass alle Türen verriegelt waren. Er hoffte, es war rechtzeitig geschehen. Er und Romeo zeigten ihren Dienstausweis, und ein dunkelhaariger Mann, der sich als Geschäftsführer des Einkaufszentrums vorstellte, ließ sie ein.

Dan und Romeo folgten dem Mann durch die volle Passage bis zur Mitte, wo ein großer Weihnachtsmann aufgestellt war. Dan musste nicht lange raten, wo der Schauplatz des Geschehens war, denn vor Corinne’s Boutique drängte sich eine aufgeregte Menschenmenge. Die Spannung war förmlich fühlbar.

Die beiden Polizisten bahnten sich einen Weg durch die Menge. Dan wusste sofort, dass die rothaarige Frau, die in der Ecke des Büros saß, die Mutter sein musste. Ihr gehetzter Blick und das angespannte, bleiche Gesicht sprachen Bände. Neben ihr stand ein kleiner dunkelhaariger Junge, der müde und verängstigt wirkte.

Dan nickte der Frau zu. In ihrem Blick lag nackte Angst. Er wünschte, er könnte ihr sagen, dass es keinen Grund zur Sorge gab, doch seine Erfahrung hatte ihn eines Besseren belehrt. Er wandte sich an die beiden Beamten des Sicherheitsdienstes. „Ich bin Lieutenant Dan O’Neill vom Ivy Police Department.“

Sie stellten ihm Glynnis vor. „Das ist Mrs March, die Mutter des vermissten Kindes.“

„Ich kümmere mich gleich um Sie“, sagte Dan zu der Frau und wandte sich an den Sicherheitsbeamten. „Sie haben den Vorfall auf Video aufgezeichnet? Können wir das Band sehen?“

Als das Band abgespielt wurde, ließ Dan die Szene anhalten, wo die Frau mit dem Kind auf dem Arm den Laden verließ. Er wollte sie genauer studieren. Sie war auffällig. Auch wenn man ihr Gesicht nicht sehen konnte, war sie durch ihre Igelfrisur in der Menge leicht auszumachen.

„Hat irgendjemand diese Frau im Laden gesehen?“, fragte er.

„Ja, ich“, erwiderte eine junge Verkäuferin mit blonden Haaren. Auf ihrem Namensschild stand Lucy.

„Was genau haben Sie gesehen, Lucy?“

„Ich habe die Frau nur kurz gesehen. Sie stand vorne an der Kasse, wo wir eine Schmuckvitrine haben. Ich wollte hin, um sie zu fragen, ob ich ihr helfen könne, aber dann hat mir eine andere Kundin eine Frage gestellt, sodass ich sie vergaß.“

„War etwas Auffälliges an ihr, außer ihrer Frisur?“

„Nein, ich habe leider nichts Besonderes bemerkt. Sie war jung, vielleicht neunzehn oder Anfang zwanzig, an mehr kann ich mich nicht erinnern. Sie trug eine schwarze Lederjacke und Jeans.“

Dan lächelte. „Danke. Sie haben ein gutes Erinnerungsvermögen.“ Er richtete sich wieder an die Sicherheitsleute. „Ist das ganze Zentrum abgeriegelt?“

„Ja, alle Türen zu den Ausgängen sind zu. Alle Läden wurden angewiesen, ihre Türen geschlossen zu halten.“

„Wie viele Sicherheitsleute gibt es hier?“

„Vier, mich eingeschlossen.“

„Und wie viele Läden?“

„Fünfunddreißig.“

Na wunderbar! Bei so vielen Läden reichte das vorhandene Personal nie und nimmer aus, wenn sie eine effektive Suche durchführen wollten. Während Romeo Verstärkung anforderte, wandte sich Dan der Mutter zu.

„Mrs March, seien Sie versichert, dass wir alles tun werden, was in unserer Macht steht, um Ihre Tochter wiederzufinden.“

Sie schluckte. „Danke.“

„Haben Sie ein Foto von ihr?“

„Ja.“ Glynnis griff nach ihrer Handtasche und zog mit zitternden Händen ein Foto aus ihrem Portemonnaie.

Dan war Profi genug, um zu wissen, dass er Gefühle während einer Befragung außen vor lassen musste. Die nackte Angst der Mutter und ihr stilles Flehen, ein Wunder geschehen zu lassen, waren schlimm genug. Doch der Anblick des hübschen Mädchens auf dem Foto stellte seine Fähigkeit, objektiv und professionell zu sein, auf eine harte Probe. Das Kind war wirklich ausnehmend süß, mit den Grübchen und den fröhlichen haselnussbraunen Augen und dem lockigen Haar, das denselben rotgoldenen Schimmer wie das seiner Mutter hatte.

Er versuchte, seine Gedanken zu unterdrücken, aber die Bilder eines anderen wunderhübschen kleinen Mädchens stiegen vor seinem inneren Auge auf. Als wäre seine geliebte Tochter erst gestern gestorben, traf ihn der Schmerz wie ein Schlag in die Magengrube.

Einen Augenblick war Dan wie gelähmt. Dann fand er irgendwie die Kraft, die peinigenden Erinnerungen wegzuschieben, um sich auf seinen Job zu konzentrieren.

„Darf ich das behalten?“ Seine Stimme klang schroffer als beabsichtigt. Etwas sanfter fügte er hinzu: „Falls wir es brauchen.“

„Ja, natürlich.“

„Ich hätte dann noch einige Fragen.“

„Bitte.“

„Besteht die Möglichkeit, dass jemand, den Sie kennen, hinter dieser Entführung steckt?“

Vor Erstaunen riss sie die Augen auf. „Jemand, den ich kenne? Kein Mensch, den ich kenne, würde jemals so etwas tun.“

„Gibt es vielleicht einen Exmann? Jemanden, der Ihnen schaden möchte?“

Sie sank etwas in sich zusammen und schüttelte den Kopf. „Nein. Ich … ich bin verwitwet.“

„Das tut mir leid. Mrs March, es dauert vielleicht ein bisschen, bis wir Ihre Tochter gefunden haben. Sie sollten nach Hause gehen. Haben Sie jemanden, den Sie anrufen könnten und der Sie abholt?“

„Ich … ja. Mein Bruder.“ Glynnis atmete etwas auf und nahm ihr Handy aus der Handtasche.

Während sie telefonierte, erkundigte sich Dan bei Romeo und den Sicherheitsleuten nach Neuigkeiten. „Elena hat alle zehn Streifen alarmiert“, berichtete Romeo, „und wir haben noch sechs weitere Sicherheitsleute angefordert.“

Dan legte sich schnell einen Plan zurecht. „Gut. Die großen Läden im ersten Stock nehmen wir uns zuerst vor. Lasst die Kunden und Verkäufer durch den Hauptausgang gehen. Fragt sie, ob sie etwas gesehen haben, und prüft auch die Ausweise. Wer ein kleines Kind dabei hat, wird besonders genau unter die Lupe genommen. Ein anderes Team soll währenddessen die kleinen Läden im zweiten Stock systematisch durchsuchen und danach abriegeln. Postiert Sicherheitsleute, damit niemand durchschlüpft. Die Leute, die sich gerade in den Passagen befinden, sollen die Mall über den Nordausgang verlassen, da können wir jeden Einzelnen kontrollieren.“ Dan drehte sich zu dem Geschäftsführer um. „Können wir Ihr Büro als Kommandozentrale benutzen?“

„Natürlich.“

„Gut. Romeo, schick die überzähligen Kräfte zunächst dorthin.“ Den Geschäftsführer bat er, das Gleiche mit seinen Sicherheitsleuten zu machen.

Nachdem er die Aufgaben verteilt hatte, wandte er sich wieder Glynnis zu, die das Handy bereits weggesteckt hatte. „Kommt jemand?“, fragte er.

Sie nickte. „Meine beste Freundin. Ich … ich habe meinen Bruder nicht erreicht.“

„Okay. Ich bin froh, dass sich jemand um Sie kümmert.“ Er versuchte ein zuversichtliches Lächeln. „Ich möchte, dass Sie solange hier bleiben, bis Ihre Freundin da ist, in Ordnung?“

„Ja. Sie …“ Glynnis holte tief Luft. „Sie werden sie doch finden, nicht wahr?“

Hin und her gerissen zögerte Dan, dann nickte er grimmig. „Ja. Wir werden sie finden.“

Als er das blinde Vertrauen in ihrem Blick sah, gelobte er im Stillen, dass er sein Versprechen halten würde. Und wenn es das Letzte war, was er tat.

2. KAPITEL

Glynnis saß da wie gelähmt. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit der Lieutenant gegangen war, aber es kam ihr vor wie Stunden. Sie hatte seinen Namen vergessen. Sie wusste nur noch, dass er freundliche Augen hatte, und sie wollte glauben, was er sagte: Dass sie Olivia finden würden.

Bitte, betete sie stumm. Er soll sie finden. Hoffentlich passiert ihr nichts, bitte. Sie konnte nicht vergessen, wie verängstigt Livvy auf dem Video ausgesehen hatte. Bestimmt stand die Kleine Todesängste aus. Glynnis biss sich wieder auf die Unterlippe und ballte die Hände, die unkontrolliert zitterten.

Mein Baby.

Wie hatte sie Livvy nur absetzen können, ohne sie dann gleich an die Hand zu nehmen, damit so etwas nicht passierte? Was war sie überhaupt für eine Mutter? Mein ganzes Leben lang habe ich immer die falschen Entscheidungen getroffen. Was stimmt denn nicht mit mir?

Sie wusste zwar, dass es keinen Sinn hatte, über vergangenen Fehlern zu brüten, aber in diesem Moment konnte sie nicht anders. Wollte sie jemand bestrafen? Für alle Fehler, die sie begangen hatte, besonders den schlimmsten, damals vor neunzehn Jahren? Sollte das ein Hinweis sein, in Zukunft vorsichtiger zu sein?

Glynnis sprang auf und wanderte ruhelos durch den Laden. Gregg, wo bist du? Ich brauche dich …

Ihr ganzes Leben lang hatte sie sich auf ihren Zwillingsbruder verlassen können. Alle anderen hatten sie im Stich gelassen, Gregg nie. Sie hatten sich immer nahe gestanden, besonders seit ihre Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren, als sie sechzehn war.

Aber heute war Gregg einfach nicht aufzutreiben, weder zu Hause noch im Restaurant, und auf seinem Handy hatte sich nur die Mailbox eingeschaltet. Sie hatte eine Nachricht hinterlassen, ebenso bei Janine, der Chefkellnerin im Antonelli’s, das Gregg seit sechs Jahren gehörte und das inzwischen eines der erfolgreichsten Restaurants der Gegend war.

Daraufhin hatte Glynnis Kat Sherman angerufen, ihre beste Freundin, die ihr versprochen hatte, sofort loszufahren. In einer halben Stunde wollte sie da sein. Fünfundzwanzig Minuten waren bereits vergangen, Kat musste also jeden Moment hier sein.

„Mommy?“

Glynnis schreckte hoch.

„Mommy, ich muss auf die Toilette.“

„Oh, Honey, natürlich. Tut mir leid!“ Was war nur los? Sie hatte ihren Sohn ganz vergessen, er war so still gewesen. „Da drüben ist die Toilette.“ Sie zeigte auf eine Tür hinter ihnen. „Soll ich mitkommen?“

Michael schüttelte den Kopf. „Nee.“

Glynnis sah ihm nach, als er die Tür hinter sich zuzog. Er war so ein guter Junge, genauso brav wie Livvy. Sie hatte zwei wunderbare Kinder. Allein deswegen würde sie die Beziehung mit dem Vater ihrer Kinder nie bereuen, denn wenn sie Ben March nicht geheiratet hätte, hätte sie weder Michael noch Olivia bekommen. Sie waren die ganze Erniedrigung wert, die sie erlitten hatte, weil sie so gutgläubig gewesen war und dem Vater ihrer Kinder vertraut hatte.

Michael kam von der Toilette zurück. „Mommy, wo ist Livvy denn hingegangen?“

Der Ausdruck in seinen Augen brach ihr beinahe das Herz, und sie zog Michael an sich, um ihn zu umarmen. Sein warmer Körper, die vertrauensvolle Art, wie er die Arme um ihren Nacken legte, brachten sie fast zum Weinen. „Ich weiß nicht, Honey, aber du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Die Polizisten werden Livvy bald finden.“

„Aber warum ist sie überhaupt weg? Sie weiß doch, dass sie nicht mit fremden Leuten mitgehen soll!“

„Oh, Schatz, ich …“ Was sollte sie darauf sagen?

„Glynnis?“

„Aunt Kat!“ Michael vergaß seine Frage und stürzte zu Kat, die in der Tür des kleinen Büros stand. Die Kinder liebten Kat, die für sie eine Art Tante war. Kat beugte sich herab und schloss Michael in ihre Arme. Als sie sich wieder aufrichtete, schimmerten ihre Augen verräterisch.

Glynnis war noch nie so froh gewesen, ihre Freundin zu sehen. Sie stand auf, und die beiden Frauen umarmten sich fest.

„Glynnis, das ist einfach schrecklich. Es tut mir so leid!“

Glynnis versuchte, den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken. „Es ist alles meine Schuld.“

„Oh, komm, mach dir keine Vorwürfe. Du kannst Livvy nicht jede Sekunde im Auge behalten!“

„Gib dir keine Mühe, Kat. Ich bin eine totale Versagerin. Nichts mache ich richtig.“

Kat nahm sie an beiden Schultern. „Jetzt hör mir mal zu, Glynnis Antonelli.“ Da Kat es nie verwunden hatte, dass Ben March Glynnis jahrelang betrogen hatte, nannte sie Glynnis immer noch bei ihrem Mädchennamen. „Du bist keine Versagerin. Du hattest eben ein paar Mal ziemliches Pech. Nichts von dem, was passiert ist, ist deine Schuld.“

„Ich habe mein Kind verloren, Kat! Was muss ich denn für eine Mutter sein? Und bloß wegen eines blöden Pullovers! Ich wusste doch, dass die Kinder müde waren. Warum bin ich nicht einfach mit ihnen heimgefahren?“ Sie spürte selbst, wie sie immer lauter und hysterischer wurde, aber sie konnte sich nicht bremsen. „Oh, Kat …“, weinte sie.

„Ach, Honey …“

Als ihre Freundin sie in die Arme nahm, schluchzte Glynnis hemmungslos.

„Mommy?“

„Mommy wird schon wieder“, versuchte Kat, den Jungen zu beruhigen, dann zischte sie Glynnis ins Ohr: „Reiß dich ein wenig zusammen. Tu es für Michael.“

Glynnis nahm ihre ganze Kraft zusammen. Während Kat sich setzte und Michael an sich zog, berichtete sie, was geschehen war. Als sie geendet hatte, war ein entschlossener Ausdruck auf Kats Gesicht getreten. „Was macht die Polizei sonst noch, außer die Ausgänge zu kontrollieren? Haben sie die TV-Stationen kontaktiert? Wer ist der Verantwortliche?“

„Ich habe seinen Namen vergessen“, erwiderte Glynnis. „Ich habe kaum mitbekommen, was er zu mir sagte. Aber er kam mir kompetent vor, er scheint die Lage im Griff zu haben.“

„Das hoffe ich. Ich glaube, ich habe dir erzählt, dass mein Bruder wieder hierhergezogen ist und für das Ivy Police Department arbeitet. Wenn er nicht ohnehin schon hier ist, soll er kommen. Er hat eine Menge mehr Erfahrung als die Kleinstadtpolizisten hier.“ Kat wählte energisch eine Nummer auf ihrem Handy und wippte ungeduldig mit dem Fuß, während sie wartete. „Er ist nicht zu Hause. Ich rufe auf der Polizeistation an.“

Glynnis betrachtete ihre Freundin. Wenn sie nicht so voller nagender Sorge gewesen wäre, hätte sie sich amüsiert. Kat zögerte nie. Wenn sie ein Problem sah, packte sie es sofort an. Glynnis wünschte sich, sie wäre auch so. Jedes Mal, wenn sie eine schnelle Entscheidung getroffen hatte, hatte es sich als Fehler erwiesen. Inzwischen war sie vorsichtig geworden. Außer heute. Heute warst du überhaupt nicht vorsichtig.

„Mhm. Ja. Ah, tatsächlich?“ Kat warf Glynnis ein triumphierendes Lächeln zu und formte mit den Fingern ein Okayzeichen. Einen Augenblick später berichtete sie. „Dan ist wirklich hier. Er ist der zuständige Detective bei diesem Fall.“

„Du machst Witze.“ Glynnis rief sich den Detective ins Gedächtnis zurück, der so nett zu ihr gewesen war – das dunkle widerspenstige Haar, die traurigen blauen Augen, der große athletische Körper. Jetzt, wo sie wusste, dass Dan Kats Bruder war, sah sie die Ähnlichkeit. „Er war sehr nett zu mir.“

„Weiß er, wer du bist?“, fragte Kat. „Wo ist er denn eigentlich?“

„Er sagte, er wollte eine Kommandozentrale im Büro des Managements einrichten, also wird er dort sein.“

„Ist es das Büro in der Nähe der Restaurants?“

Autor

Patricia Kay
Patricia Kay hat bis heute über 45 Romane geschrieben, von denen mehrere auf der renommierten Bestsellerliste von USA Today gelandet sind. Ihre Karriere als Autorin begann, als sie 1990 ihr erstes Manuskript verkaufte. Inzwischen haben ihre Bücher eine Gesamtauflage von vier Millionen Exemplaren in 18 verschiedenen Ländern erreicht!
Patricia ist...
Mehr erfahren