Eines Tages kommt die Liebe

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Der charmante Tierarzt Jared Carlisle ist von der schönen Rachel absolut hingerissen: Wie rührend sie sich um ihren kleinen Neffen kümmert! Doch nicht nur deshalb will er sie heiraten. Er hegt nämlich einen heiklen Verdacht, der alles in anderem Licht erscheinen ließe …


  • Erscheinungstag 14.12.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733787165
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Im Gerichtsgebäude von Henderson war es warm und stickig, und auch die Deckenlüfter richteten gegen die Augusthitze nicht viel aus. Jared Carlisle rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Er saß im Zuschauerraum und fühlte sich fehl am Platze. Eigentlich hätte es ihm ja Genugtuung bereiten müssen, dass sein alter Rivale seine gerechte Strafe erhielt, doch stattdessen empfand er nur Mitleid.

Außerdem wurde er immer wieder von der rothaarigen Frau abgelenkt, die auf der anderen Seite des Ganges saß. Er kannte nur eine Frau, deren Haare in diesem Kupferton schimmerten – Laurel Hale. Ihre Schönheit nahm ihn noch genauso gefangen wie damals. Und wie damals gehörte sie Drew Pierce.

Es ärgerte ihn, dass er sofort wieder Eifersucht empfand, besonders nach allem, was Laurel ihm angetan hatte. Und doch war sie es, die ihm jetzt einen wütenden Blick zuwarf. Er lächelte sarkastisch und sah noch, wie sie die Lippen aufeinanderpresste, bevor sie hochmütig den Kopf abwandte.

Der Richter, der im Laufe der Verhandlung schon mehrmals die Geduld verloren hatte, ließ seinen Hammer auf den Tisch niedersausen. „Der Angeklagte möchte sich erheben.“

Mit erhobenem Kopf stand Drew Pierce auf, und ein missbilligendes Raunen ging durch die Zuschauerränge. Er war zu reich, zu gut aussehend, zu verwöhnt, zu selbstsicher … das hatte ihn im ländlichen Henderson und bei der Jury Punkte gekostet.

Jared sah die steinernen Mienen der Geschworenen und war nicht überrascht. Obwohl der Vorfall schon über ein Jahr zurücklag, regten sich die Stadtbewohner noch immer darüber auf. Der von Drew verschuldete Brand hatte nicht nur das von den Pierces geführte Holzfällerlager zerstört, sondern war auch auf Stones End übergesprungen, die Farm, die sich schon seit Generationen im Besitz von Jareds Familie befand. Sie hatten den Lagerschuppen verloren und den größten Teil der Ernte. Doch während die Krise Jared und seinen Vater einander näher brachte und für Stones End einen neuen Anfang bedeutete, hatten die Pierces weniger Glück gehabt.

Der Brand hatte sie an den Rand des finanziellen Ruins gebracht und sie zu Außenseitern in der Gemeinde gemacht. Zwar hatte Drew nur die Befehle seines Vaters ausgeführt und versucht, am falschen Ende zu sparen, doch auf dem Papier war er verantwortlich für das Lager. Er hatte ein leckendes Ventil an einem Gas-Tank notdürftig repariert, statt es wie vorgeschrieben auszutauschen. Diese schwere Nachlässigkeit hatte die Explosion verursacht.

Jared fuhr sich mit der Hand über die Augen, als er sich an jene dunkle Nacht erinnerte, die hochschlagenden Flammen und den beißenden Rauch. Er hatte bei der Rettungsaktion geholfen. Zum Glück war niemand schwer verletzt worden.

„Wie lautet das Urteil?“, fragte der Richter.

„Schuldig“, erwiderte der Vorsitzende der Geschworenen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Schuldig! Das hatte Drew offensichtlich nicht erwartet, denn er sank in sich zusammen. Seine Mutter wurde ohnmächtig, und die anderen Familienmitglieder kamen ihr zu Hilfe. Nur eine Person kümmerte sich um Drew. Laurel. Tröstend legte sie ihm eine Hand auf den Arm. Widerwillig bewunderte Jared ihre Loyalität, auch wenn sie sie an den Falschen verschwendete.

„Das Gericht verurteilt den Angeklagten zu fünf Jahren Haft“, verkündete der Richter.

Angesichts des harten Urteils ballte Drew die Fäuste. Der Sheriff führte ihn höchstpersönlich hinaus.

„Na, damit wäre das ja erledigt“, bemerkte Ira, Jareds Vater, der während der Verhandlung neben ihm gesessen hatte. Trotz seines Herzschrittmachers hatte er darauf bestanden, bei der Urteilsverkündung anwesend zu sein, und Jared hatte sich den Tag freigenommen, um ihm zur Seite zu stehen.

„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, fragte Jared nun besorgt. „Es ist furchtbar heiß hier drin. Vielleicht hättest du doch lieber zu Hause bleiben sollen.“

Ira richtete sich entrüstet auf. „Dann hätte ich ja den ganzen Spaß verpasst!“

Lächelnd schüttelte Jared den Kopf. Obwohl sie nicht immer einer Meinung waren, bewunderte er die Entschlossenheit seines alten Herrn. Und trotz seiner einundsiebzig Jahre entging ihm selten etwas. So wie jetzt.

„Ich habe gesehen, wie du zu dieser Miss Hale hinübergestarrt hast. Das solltest du besser lassen. Sie ist neu in der Stadt. Tauchte vor etwa einem Monat auf und hält sich ziemlich im Hintergrund, aber die Leute tuscheln trotzdem.“

Sie war schon seit einem Monat hier? Jared war nach mehreren Wochen Abwesenheit erst vor Kurzem in die Stadt zurückgekehrt und hatte danach viel Arbeit in Stones End gehabt. Das erklärte, warum sie ihm nicht früher aufgefallen war. Laurel war der Typ Frau, den ein Mann nicht übersah, es sei denn, er war blind … oder an Frauen nicht interessiert.

„Worüber tuscheln sie denn?“, fragte er beiläufig.

„Sie scheint ein Kind bei sich zu haben. Die Leute sagen, es ist Drews Sohn. Er hat ihr einen Job und ein Dach über dem Kopf besorgt.“ Missbilligend verzog Ira den Mund. „Kann mir nicht vorstellen, dass Drew etwas für jemanden tut, wenn nichts für ihn dabei herausspringt.“

„Nein“, erwiderte Jared finster. Dass Drew und Laurel noch immer zusammen waren, überraschte ihn nicht, doch das Kind schon. Laurel war nicht gerade der mütterliche Typ.

„Du solltest dich besser von ihr fernhalten“, riet Ira. „Zwischen dir und Drew gibt’s schon genug böses Blut.“

Früher hätte Jared widersprochen, doch angesichts der Herzprobleme seines Vaters war es ihm nicht mehr so wichtig, sich mit ihm zu streiten und recht zu behalten. Wortlos wandte er sich dem Ausgang zu, vor dem sich die Zuschauer drängten. Er wurde von Ira getrennt und fand sich unversehens direkt hinter Laurel wieder. Ihr angenehm süßes Parfüm machte es ihm umso schwerer, sie zu ignorieren. Er fluchte leise und sah, wie sie zusammenzuckte. Lächerlich. Als ob Laurel jemals etwas um Moral und Anstand gegeben hätte.

Damals hatte sie sich immer so aufreizend wie möglich gekleidet und schamlos geflirtet, wobei ihre grünen Augen blitzten. Jetzt trug sie ein beinah braves dunkelblaues Kleid. Es betonte nicht gerade ihre Figur, verbarg sie jedoch auch nicht, und Jared sah, dass sich ihre Kurven vorteilhaft gerundet hatten. Ihre dichten, seidigen Naturlocken waren im Nacken mit einer goldenen Spange zusammengehalten, doch am Haaransatz ringelten sich spielerisch einige rotgoldene Strähnen.

Als sie sich der Tür näherten, wurde das Gedränge dichter, und Jared legte ihr schützend eine Hand auf die Taille. Als er sie berührte, sog Laurel hörbar den Atem ein, und er spürte, wie sein Herzschlag sich prompt beschleunigte. Verdammt! Er ließ sie los, als hätte er sich die Finger verbrannt, und sie seufzte erleichtert, als könnte sie seine Berührung nicht ertragen.

Gleichzeitig griffen sie nach der Schwingtür, und für einen Augenblick ruhten ihre Hände nebeneinander. Ihre schmale, feingliedrige Hand wirkte auf dem dunklen Holz beinahe durchscheinend blass, besonders neben seiner tief gebräunten.

Er stieß die Tür auf und murmelte ein wenig spöttisch: „Nach dir.“

Draußen war es unerträglich heiß, und ihr frostiger Blick stand in krassem Gegensatz dazu. Er war nicht darauf vorbereitet, sie so unverhofft aus der Nähe zu sehen, und kam sich sofort wieder vor wie ein Teenager. Sie hatte sich kaum verändert. Vor neun Jahren war er unsterblich in sie verliebt gewesen, und trotz allem war ein Funke dieser Leidenschaft geblieben.

„Hallo, Laurel“, sagte er so unbeteiligt wie möglich. „Ziemlich lange her, was?“

„Es tut mir leid, Sie verwechseln mich mit jemandem“, erwiderte sie. Ihre Anspannung war deutlich zu sehen, doch insgesamt wirkte sie weicher, weniger arrogant. Und sie hatte Sommersprossen. Seltsam, dass ihm das früher nie aufgefallen war.

Ihr wundervolles rotes Haar leuchtete in der Sonne, und er erinnerte sich nur zu gut daran, wie herrlich es auf dem weißen Kissen ausgesehen hatte. Er lächelte angesichts ihres dreisten Ablenkungsmanövers. „Ich bin sicher, dass ich mich nicht täusche, Laurel“, sagte er. Immerhin hatte es Jahre gedauert, bis er sie vergessen konnte.

„Sie irren sich“, wiederholte sie und stolperte beinahe auf der Treppe, so eilig hatte sie es, von ihm wegzukommen.

Jared hielt sie am Arm fest, damit sie nicht hinfiel. Schließlich wollte er ihr keinen Schaden zufügen, sondern sie nur ein wenig verunsichern. „Tue ich nicht.“ Er lächelte sarkastisch. „Wie könnte ich dich auch vergessen? Aber bevor du dir was darauf einbildest, lass dir sagen, dass es keine allzu guten Erinnerungen sind.“

Seine Grobheit ließ sie nach Luft schnappen, und sie wich vor ihm zurück, so weit es sein Griff zuließ.

„Sie täuschen sich dennoch“, erwiderte sie ruhig und blickte ihm geradewegs in die Augen. „Laurel war meine Zwillingsschwester.“

War?

Er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Vielleicht haben Sie es nicht gehört. Es ist ja auch schon eine Weile her …“ Während sie sprach, wurde sie immer blasser, sodass die Sommersprossen auf ihrer hellen Haut schließlich deutlich hervortraten. „Sie ertrank bei einem Bootsunfall vor vier Jahren“, schloss sie schließlich.

Noch immer suchte Jared verzweifelt nach einer Antwort. Dabei fiel ihm etwas auf, was er gleich hätte sehen sollen: Ihre Augen hatten nicht das kalte Grün, das Laurel manchmal so hexenhaft wirken ließ, sondern strahlten in einem tiefen, fast violetten Blau.

„Ich hatte keine Ahnung“, murmelte er. Er wünschte, dass er seine harten Bemerkungen zurücknehmen könnte, doch dafür war es natürlich zu spät. Außerdem hatte er nicht einmal gewusst, dass es eine Zwillingsschwester gab. Laurel hatte sie nie erwähnt.

Und jetzt wirkte sie verletzt, und das weckte sofort seine Hilfsbereitschaft. Als Kind hatte er ständig verwundete Vögel nach Hause gebracht, und die Frau vor ihm rief dasselbe Gefühl in ihm hervor. Er wollte ihren Schmerz lindern und den traurigen Ausdruck in ihren Augen zum Verschwinden bringen.

Doch als Laurels Zwillingsschwester war sie auf keinen Fall eine gute Wahl. Dass er sich von ihr angezogen fühlte, durfte auf keinen Fall seinen gesunden Menschenverstand ausschalten. Er widerstand dem Drang, sich noch einmal zu entschuldigen. Nach seinen früheren Bemerkungen hätte das ziemlich verlogen geklungen.

„Würden Sie mich jetzt gehen lassen?“ Sie blickte auf seine Hand, mit der er noch immer ihren Arm umklammert hielt.

„Ich bitte um Verzeihung.“ Nun hatte er es doch gesagt. Wie steif und höflich er sein konnte, zivilisiert und korrekt. Schnell ließ er sie los. Diese Frau brauchte seinen Schutz so dringend wie ein Fisch ein Fahrrad. Mit ihrem Flammenhaar, ihren großen Augen und der perfekten Figur konnte sie jeden Mann haben – und ohne Skrupel benutzen und wegwerfen, wenn sie Ähnlichkeit mit Laurel hatte.

Er hatte seine Lektion gelernt: Halte dich von Frauen fern, die den Himmel versprechen und dir die Hölle auf Erden bereiten.

Obwohl der Fremde sie losgelassen hatte, stand Rachel reglos da. Unbewusst rieb sie die Stelle an ihrem Arm, an der er sie so unnachgiebig festgehalten hatte. Seine Verbindung zu Laurel hatte einen wunden Punkt getroffen.

„Es tut mir leid, ich bin nicht Laurel.“ Kaum hatte sie das gesagt, wurde ihr die doppelte Bedeutung klar, und sie biss sich auf die Lippen. Normalerweise blickten Männer sie nämlich nicht so an wie dieser hier – bevor er seinen Fehler bemerkt hatte. Aber wollte sie das wirklich? Innerlich erschauerte sie. Nein, sie wollte nicht wie Laurel sein.

Aber natürlich hatte sie dennoch bemerkt, dass er sie im Gerichtssaal die ganze Zeit über mit den Augen ausgezogen hatte. Zuerst hatte sie das irritiert, doch jetzt tat es ihr fast leid, dass seine heißen Blicke nicht wirklich für sie bestimmt gewesen waren. Als er sie jetzt stirnrunzelnd betrachtete, fühlte sie sich völlig zweitklassig, und das war schon lange nicht mehr vorgekommen. Vielleicht hatte die Verhandlung sie mehr Kraft gekostet, als sie glaubte. Oder es lag an ihm. Vielleicht wünschte sie sich, dass er sie mit denselben hungrigen Blicken bedachte wie Laurel.

„Ich wusste nicht, dass Laurel eine Schwester hatte“, entschuldigte er sich wieder. Ja, das hatte sie gemerkt. Er war unglaublich attraktiv. Groß und schlank, tief gebräunt, mit blondem Haar, das ihm fast bis auf die Schultern reichte. Doch sein Gesichtsausdruck war finster, und seine grauen Augen wirkten streng und zynisch. Als ob er glaubte, die Wahrheit über sie zu kennen.

„Und ich hatte Ihren Namen nicht mitbekommen.“ Seine Stimme klang höflich, aber kühl.

„Ich bin Rachel Hale“, sagte sie und straffte die Schultern. Seltsam, dass sie ihrer Schwester zwar zum Verwechseln ähnlich sah, doch von sich aus auf Männer nie dieselbe Wirkung ausübte. Andererseits schienen die Männer, die Laurel kannten, etwas von ihr, Rachel, zu erwarten, das sie nicht geben konnte oder wollte.

„Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden“, sagte sie hastig, bevor die Situation außer Kontrolle geriet. Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern eilte die Stufen hinunter und bahnte sich einen Weg durch die Menge, die sich dort versammelt hatte. Als sie den Fuß der Treppe erreicht hatte, öffnete sich eine Seitentür im Gebäude, und der Sheriff führte Drew zu dem mit laufendem Motor wartenden Polizeiwagen.

Zu Rachels Überraschung waren die Pierces nicht in der Nähe. Offenbar hatten sie sich nicht von ihrem Sohn verabschieden wollen. Doch als Drew Rachel entdeckte, griff er in seine Tasche und warf ihr einen Schlüsselbund zu.

Automatisch fing sie ihn auf, schüttelte jedoch missbilligend den Kopf. Die Leute redeten schon genug, und sie war sich bewusst, dass alle sie anstarrten. Wahrscheinlich auch der Fremde, der sie mit Laurel verwechselt hatte. „Ich will deinen Wagen nicht.“

Drew blickte sie spöttisch an. „Du brauchst aber ein neues Auto. Und ich habe in den nächsten fünf Jahren bestimmt keine Verwendung dafür. Nimm es also, ich kann sonst nichts für dich und Dylan tun.“

Rachel trat zur Seite, als der Sheriff Drew am Arm zog. Für einen Moment gewann Drews unbeherrschte Seite die Oberhand, und es schien, als würde er den Sheriff angreifen. Doch dann zuckte er nur die Schultern und stieg in den Polizeiwagen. Er war für niemanden eine Gefahr außer für sich selbst. Er wird immer sein schlimmster Feind sein, dachte Rachel.

Während sie dem Wagen nachblickte, fragte sie sich, wie Drew wohl im Gefängnis zurechtkommen würde. Sicherlich würde er kaum wegen guter Führung frühzeitig entlassen werden – er hasste es, Anordnungen zu folgen oder sich anderen unterzuordnen. Zum ersten Mal, seit er die schwangere Laurel verlassen hatte, empfand Rachel nichts als Mitleid für ihn.

Tief in Gedanken versunken, bemerkte Rachel verspätet, dass die Menge sich zerstreut hatte und sie ganz allein am Fuß der Treppe stand. Sie atmete tief durch und straffte die Schultern. Irgendwie würde sie auch den Rest des Tages überstehen.

Sie hatte ihren Neffen Dylan, Laurels Sohn, am Morgen beim Ferienprogramm der Schule abgeliefert. Er blickte von dem Bild auf, an dem er arbeitete, und lächelte ihr zu. Die anderen Kinder spielten Fangen, doch er saß allein an einem der Picknicktische. Rachel wusste, dass es eine Weile dauern würde, bis er als Neuer in der Stadt Freunde gefunden hatte, doch er war jetzt schon acht, und sie konnte ihn auch nicht immer vor der Realität des Lebens beschützen.

„Hi“, sagte sie. Sie bemühte sich um eine heitere Miene, doch er schien ihr die Enttäuschung über das Urteil anzusehen.

„Muss Drew ins Gefängnis?“, fragte Dylan stirnrunzelnd.

Sie ließ sich neben ihm auf die Holzbank sinken. „Ja, Schatz. Er hat einen schlimmen Fehler gemacht, und das Gericht hat entschieden, dass er dafür bestraft werden muss.“

„Aber er hat gesagt, dass es ihm leidtut!“

„Manchmal reicht das einfach nicht.“ Sie strich ihm übers Haar und sagte so fest wie möglich: „Es wird alles gut, keine Sorge. Lass uns nach Hause gehen.“

Hand in Hand gingen sie nach Hause. Es war nicht weit bis zu dem gemieteten Cottage am Stadtrand. Der Wald begann gleich hinter dem Gartenzaun, und er gehörte den Pierces, genau wie das Cottage. Was nicht weiter erstaunlich war, wenn man bedachte, dass die Familie die halbe Stadt zu ihrem Besitz zählte.

Am Zaun begrüßte sie Sunny, Dylans Hündin, mit begeistertem Bellen. Dylan grinste und breitete die Arme aus. Wie seine Hündin war er immer gut gelaunt und liebte die Aufmerksamkeit anderer.

Während Sunny an Dylan hochsprang und ihm das Gesicht und die Ohren leckte, betrachtete Rachel stirnrunzelnd den roten Sportwagen, der in der Einfahrt geparkt war. Offenbar hatte Drew dafür gesorgt, dass er zu ihrem Haus gebracht wurde. Der Ersatzschlüssel steckte noch im Zündschloss. Doch selbst wenn sie den Wagen zurückschickte, würde Drew nicht aufgeben. Auch der Kühlschrank, der Herd und die Waschmaschine hatten am nächsten Tag immer wieder vor der Tür gestanden, bis sie schließlich nachgab.

Und da er ihr auch den Job in der Sägemühle besorgt hatte, glaubten die Leute nun, dass sie zu ihm gehörte. Was natürlich völlig lächerlich war.

Ihre einzige Verbindung bestand in Dylan. Drew hatte jahrelang Unterhalt für den Jungen gezahlt, sich jedoch nie um eine persönliche Beziehung bemüht. Doch weil Dylan sich so sehr einen Vater wünschte, hatte Rachel Drews Jobangebot angenommen und war nach Henderson gezogen, in der Hoffnung, dass Vater und Sohn doch noch zueinanderfanden. Außerdem war sie dankbar gewesen für die neue Arbeitsstelle. Ihr Onkel und ihre Tante hatten das Familienhotel Stillwater Inn aus Altersgründen geschlossen, sodass sie ihre Stelle als Kellnerin dort verloren hatte.

Die Explosion und Drews Verhandlung hatten ihre Pläne für Drew und Dylan zu einem unverhofften Ende gebracht. Zwar waren die Pierces freundlich zu ihr gewesen, doch sie hatten verständlicherweise nicht viel Zeit für sie. Und jetzt war Drew verurteilt worden, und sie fand sich allein in einer fremden Stadt wieder.

Zu allem Überfluss hatte sie heute im Gerichtssaal die Feindseligkeit der Stadtbewohner gespürt. Und ein schrecklicher Mann hatte sie die ganze Zeit über angestarrt. Na ja, vielleicht nicht ganz so schrecklich, gestand sie sich mit einem kleinen Lächeln ein. Immerhin war er groß und gut aussehend. Und wenn er lächelte, blitzten seine grauen Augen freundlich. Offenbar lächelte er sonst mehr als heute, das verrieten die kleinen Lachfältchen. Aber wie auch immer, er war an Laurel interessiert gewesen, nicht an ihr.

Als alleinerziehende Tante, die für Dylan die Mutterrolle übernahm, hatte sie recht bald herausgefunden, dass Frauen mit Kindern nicht zur Zielgruppe heiratsfähiger Männer zählten. Aber das war ihr nur recht. Sie konnte gut auf Komplikationen in ihrem Leben verzichten.

2. KAPITEL

Die Sensation des Jahres – Drews Gerichtsverhandlung – war vorüber, und das Leben in Henderson ging seinen gewohnten Gang. Rachel genoss ihren freien Samstag und war bei der Gartenarbeit, mit der sie vor der Mittagshitze fertig werden wollte.

Auf einmal begann Sunny wie wild zu bellen. Gleich darauf rief Dylan: „Mom! Mom! Komm schnell!“

Sie erkannte die Panik in seiner Stimme, ließ die Harke fallen und rannte los. Zuerst war sie Tante Rachel für ihn gewesen, dann Tante Mom, und schließlich einfach Mom, was ihnen beiden am besten gefiel. Zwar versuchte sie, Laurels Erinnerung in Ehren zu halten, doch da ihre Schwester nur selten zu Besuch gekommen war, schien es manchmal so, als hätte Laurel nie existiert. Abgesehen davon, dass sie ihn nicht auf die Welt gebracht hatte, war Dylan immer schon Rachels Sohn gewesen, den sie von der ersten Sekunde an liebte.

„Komm schnell, Mom!“ Dylan hüpfte aufgeregt auf und ab.

„Was ist denn?“, fragte sie atemlos.

„Sunny benimmt sich komisch!“ Dylan hielt den großen Labrador am Halsband fest, doch die Hündin zog ihn mühelos quer durch den Garten zu den Brombeersträuchern.

Rachel kam ihm zur Hilfe, hielt die Hündin ebenfalls fest und befahl: „Bleib!“

Tatsächlich blieb Sunny stehen und setzte sich schwanzwedelnd. Dann raschelte etwas in den Büschen.

„Ups“, machte Dylan, dann bellte Sunny laut, riss sich los und warf Dylan und Rachel dabei um. Sie schauten sich an und begannen zu lachen, während die Hündin im Gebüsch verschwand.

Dylans Lachen machte Rachel glücklich. Sie lehnte sich zurück und genoss die warme Sonne und den Duft der Kiefern. Die Sägemühle blieb fürs Wochenende geschlossen, und es war angenehm still.

Jedenfalls bis Sunny aufgeregt zu jaulen anfing. Rachel hörte sie im Gebüsch, konnte sie jedoch nicht sehen.

Dylan hatte sie aber offenbar erspäht, denn der erklärte aufgeregt: „Sie hat was Großes gefunden!“

Sie stieß den Pfiff aus, an den Sunny gewöhnt war. „Hierher!“

Dylan versuchte, es ihr nachzumachen. „Es ist bestimmt ein Alligator!“, sagte er eifrig.

„Wir sind in Maine. Hier gibt’s keine Alligatoren“, erwiderte sie.

„Aber es könnte doch sein. Ich habe gehört, dass Leute sie in Tierhandlungen kaufen und dann durch die Toilette wegspülen, wenn sie zu groß werden. Vielleicht ist es ja auch ein Krokodil.“

„Mmmm“, murmelte Rachel ernst. Sie lachte ihn niemals wegen seiner abenteuerlichen Vorstellungen aus, ganz gleich, wie abwegig sie waren. Wusste sie nicht selbst, wie wichtig es war, Träume zu haben? Ihre eigenen waren schlicht genug, wurden aber auch nie wahr. Sie wünschte sich einen Ort, wo Dylan und sie sich niederlassen und heimisch werden konnten. Aber für eine Hale war das vielleicht zu viel verlangt.

Schwanzwedelnd kam Sunny aus dem Gebüsch, eine große schwarze Plastiktüte hinter sich herziehend. Sie schleppte sie quer durch den Garten und legte sie vor Rachels Füßen ab.

Ganz offensichtlich Lob erwartend, setzte sie sich dann hin und zog die Lefzen hoch, was bei ihr aussah, als ob sie grinste. Na ja, immerhin war es diesmal kein totes Stinktier. „Braves Mädchen“, sagte Rachel.

In der Plastiktüte bewegte sich etwas.

Dylan blickte fasziniert darauf hinunter. „Es ist zu klein für einen Alligator“, meinte er. „Vielleicht eine Schlange?“

Ein Schauer überlief Rachel. Sie hasste Schlangen. Dennoch zupfte sie vorsichtig an der Tüte und öffnete sie. Als sie ein paar kleine Fellknäuel sah, riss sie sie hastig ganz auf.

Dylan blickte ihr über die Schulter. „Welpen!“, stieß er überrascht und erschrocken hervor.

Sie teilte seine Gefühle. Jemand hatte den unerwünschten Nachwuchs weggeworfen wie Abfall, und ihr kamen beinahe die Tränen über so viel Grausamkeit. Die Welpen waren schwach und halb verhungert, gerade mal so groß wie Tennisbälle. Doch sie hatten es immerhin mit ihren kleinen Pfoten geschafft, Löcher in das Plastik zu reißen, sodass sie Luft bekamen.

Als eins der kleinen Fellbündel zu zittern begann, sagte Rachel: „Lass sie uns reinbringen.“

Dylan folgte ihr auf dem Fuß und sah zu, wie sie einen Weidenkorb mit flauschigen Handtüchern auslegte. „Werden sie überleben?“

„Ich hoffe es.“ Und das nicht nur der Hundebabys wegen. Auf keinen Fall sollte Dylan schon wieder eine traurige Erfahrung machen, so kurz nach Drews Verurteilung. Doch als sie die Welpen vorsichtig in den Korb setzte, bemerkte sie, wie abgemagert sie waren. Eins lag nur reglos da und atmete ganz flach. Wenn es starb, würde es Dylan das Herz brechen.

Der schaute sie erwartungsvoll an. „Können wir sie behalten?“

„Schatz, sie sind noch sehr klein. Wir müssen sie ins Tierheim bringen. Sie brauchen besondere Pflege.“

Allerdings war im Telefonbuch kein Tierheim zu finden, nur eine Tierklinik. Sie wählte die Nummer, um sich eine Wegbeschreibung geben zu lassen.

„Wir sind etwa fünf Kilometer außerhalb der Stadt“, sagte die Frau am anderen Ende der Leitung. „Biegen Sie auf der Hauptstraße links ab, dann rechts, dann wieder links.“

Es ist sowieso fast unmöglich, sich in Henderson zu verfahren, dachte Rachel, als sie auf der einzigen Kreuzung auf der Hauptstraße den Blinker links setzte. Stillwater, wo sie bis vor Kurzem gelebt hatte, war auch nicht viel größer, aber es hatte ein ganz anderes Flair. Fünfzig Kilometer entfernt und an einem See gelegen, zog es im Sommer Touristen und im Winter Eisläufer an und hatte dementsprechend Gastronomie, Boutiquen und andere Attraktionen. Henderson dagegen war eine Farm- und Holzfällerstadt und wirkte vom Rest der Welt reichlich abgeschnitten.

„Sie sind noch so klein“, bemerkte Dylan, der den Korb bewachte, während Rachel fuhr. „Was ist, wenn keiner sie will?“

„Ich bin sicher, dass sie eine lange Liste mit Leuten haben, die einen Welpen wollen“, erwiderte Rachel fest. Das hoffte sie zumindest.

Der Weg zur Tierklinik führte stetig bergauf, und ihr Kleinwagen protestierte heftig. Schon jetzt machte ihr das klopfende Geräusch im Motor ständig Sorgen. Natürlich hätte sie Drews Wagen nehmen können, doch ihr Stolz verbot ihr, diese Art von Almosen anzunehmen, auch wenn es gut gemeint war.

Stones End stand auf dem Schild an der letzten Abzweigung. Wie passend, dachte sie. Auf beiden Seiten des Feldwegs standen halbhohe Steinmauern, hinter denen sich grüne Kartoffelfelder erstreckten. Dazwischen entdeckte sie ein Feld, auf dem Wildblumen blühten, als hätte jemand Kartoffeln zu langweilig gefunden.

Während sie die bunte Pracht genoss, fuhr sie beinahe an der Tierklinik vorbei, die sich in die Landschaft einfügte. Sie hielt auf dem großen Vorplatz und stieg aus. Dylan trug den Korb mit den Welpen. Zusammen stiegen sie die Treppen zur Veranda hinauf.

Das Gebäude war offenbar neu und verströmte noch den Duft nach frischem Holz. Es war ein langes, einstöckiges Haus, das im Schatten von hohen Kiefern stand. Auf einem Hügel im Hintergrund standen einige Farmgebäude. Es war still hier, friedlich.

Doch dann hörte sie ein Baby schreien und zuckte zusammen. Schnell öffnete sie die Tür und trat mit Dylan in den Empfangsraum.

Als sie die altmodische Klingel auf dem Tresen anschlug, kam sofort eine junge Frau herein, die ein Baby auf dem Arm trug. „Hallo! Sie hatten angerufen?“, fragte sie freundlich.

„Ja, stimmt.“ Als es Rachels Stimme hörte, wandte das Baby den Kopf und grinste sie zahnlos an.

Die junge Frau lachte. „Das hier ist Nathaniel. Sonst ist er nicht so quengelig, aber er zahnt gerade.“

„Er ist wundervoll“, versicherte Rachel. Und es stimmte. Das Kind hatte rote Wangen, dunkle, lockige Haare und die grauen Augen seiner Mutter.

Lächelnd erwiderte die Frau: „Ja, wir mögen ihn auch. Ich bin übrigens Jessie Harding. Sie sind neu in Henderson, nicht wahr? Herzlich willkommen. Ich hoffe, dass Sie sich schnell einleben. Woher kommen Sie?“

Rachel gefiel ihre direkte Art, und sie stellte sich selbst und Dylan vor. „Meine Tante und mein Onkel führten das Stillwater Inn, bis sie sich vor Kurzem zur Ruhe setzten.“

„Das kenne ich. Ist es jetzt geschlossen?“

„Ja, auf unbestimmte Zeit.“ Rachel sparte sich weitere Erklärungen, warum sie nach Henderson gezogen war.

Jessie setzte ihren Sohn in einen Laufstall und reichte ihm eine Rassel, was ihn ablenkte. „Sie haben Welpen gefunden? Ich verstehe einfach nicht, wie jemand so was tun kann.“

„Ja, ich auch nicht.“ Doch Rachel klang nicht besonders überzeugt. Sie fühlte sich schuldig, weil sie die Kleinen ja auch nicht behalten wollte.

Autor

Lisette Belisle

Lisette Belisle schreibt Geschichten über ganz normale Leute, die ganz besondere Taten vollbringen und damit gegen alle Regeln handeln. Aber wie kam sie zum Schreiben? Das Schreiben kam zu ihr. Im Alter von 10 Jahren las Lisette ein Buch über eine Krankenschwester, die aus dem Wunsch heraus handelte, jedem Menschen...

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