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Mari ist glücklich: Über Nacht sind alle finanziellen Sorgen vergessen, und dann entdeckt sie auch noch in den Armen des breitschultrigen Russ Simon, wie wunderschön es ist, geliebt zu werden! Doch ihr Glück ist nur von kurzer Dauer: Durch einen Zufall erfährt Mari, dass ihr Geliebter ausspionieren soll, ob sie wirklich einen Anspruch auf das Vermögen des Multimillionärs Haskell hat …


  • Erscheinungstag 06.06.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733757502
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Russ Simon hasste die Aufgabe, die er übernommen hatte, wusste aber auch, dass er gar keine andere Wahl hatte. Er bog von der Hauptstraße in eine Bundesstraße ein und musste immer wieder daran denken, durch welch einen glücklichen Zufall ihm in Reno die Zeitung mit dieser Anzeige in die Hand gespielt worden war: „Kutsch- und Zugstute, Stockmaß 152 cm, alle Angebote werden berücksichtigt.“ Schließlich waren Pferde sein Geschäft. Dennoch hätte er sich gewünscht, dass es hier wirklich nur um Pferde ging.

Es war ein lauer Nachmittag im Mai, und durch das offene Fenster wehte der Duft von Flieder, der ihn an seine Farm im Osten erinnerte. Aber was er bisher vom Norden Nevadas gesehen hatte, gefiel ihm auch. Es war ein gutes Aufzuchtsgebiet für Pferde, und unter anderen Umständen hätte er sicher Lust gehabt, sich hier nach einem Stück Land umzusehen.

Auf dem Briefkasten am Straßenrand stand „Crowley-Ranch“. Also bog er in den Kiesweg ein, der ihn zu einem Farmhaus mit blauem Dach und ein paar Ställen führte, die von einer Pappelgruppe umgeben waren. Als er sich nach dem Kutschpferd aus der Anzeige umschauen wollte, fiel sein Blick auf eine junge Reiterin. Sie saß auf einem Araber und führte das Tier in Schlangenlinien um Fässer herum, die auf einer Wiese neben den Ställen aufgestellt waren.

Noch mehr wurde er allerdings von der jungen Frau abgelenkt, die daneben auf dem Zaun saß. „Das machst du sehr schön, Yasmin!“, rief sie begeistert, nahm den breitkrempigen Hut vom Kopf und winkte damit dem Mädchen zu. Dabei kam leuchtend goldenes Haar zum Vorschein. Das musste Marigold Crowley sein – sein „Opfer“.

Russ parkte neben dem Stall und schlenderte zum Zaun hinüber. „Sind Sie die Besitzerin der Zugstute?“, fragte er.

Die junge Frau nickte, wobei sie ihn von oben bis unten musterte. „Ich bin gleich bei Ihnen. Yasmins Stunde ist fast zu Ende.“

Ihre raue Stimme hatte einen angenehmen Klang, der ihn seltsam berührte. Langsam ließ er den Blick über Marigold Crowleys fantastische Figur gleiten. Nimm dich in Acht, warnte er sich selbst. Diese Situation ist schon kompliziert genug – auch ohne dass du Gefallen an dieser Frau findest.

Also setzte er sich neben sie auf den Zaun und versuchte, sich auf das etwa sechsjährige Mädchen zu konzentrieren, das auf einem herrlichen Araber-Wallach ritt, als wäre sie mit dem Sattel verwachsen. Wenn Ms. Crowley dieses Mädchen ausgebildet hatte, dann war sie eine ausgezeichnete Lehrerin.

„Du warst heute fast perfekt“, lobte Marigold Yasmin wenig später auf dem Weg in den Stall. „Stan wird dir helfen, Sheik abzusatteln. In der Küche findest du Milch und Plätzchen. Bedien dich, bis deine Mutter dich abholt.“

„Und Sie sind wegen der Annonce gekommen?“, wandte Marigold sich schließlich an Russ. Sie hatte warme braune Augen, der Farbton erinnerte an einen guten alten Sherry.

„Stimmt.“

„Lucy steht auf der äußeren Koppel. Wenn Sie mir bitte folgen wollen.“

Nur zu gerne, dachte Russ und versuchte, nicht auf den Schwung ihrer Hüften zu achten, die in einer engen Jeans steckten. Was war nur heute mit ihm los? Er durfte sich für jede Frau dieser Welt interessieren, nur nicht für diese! Also beschleunigte er seine Schritte, um mit ihr auf gleicher Höhe zu sein.

„Lucy kann sehr stur sein, aber sie ist ein Schatz“, sagte Marigold, „und sie ist klug. Sie hat sich ihren neuen Namen sehr schnell gemerkt.“

„Sie haben sie umbenannt?“

Marigold schenkte ihm ein Lächeln. „Sie ist als Streunerin zu uns gekommen. So nennen wir hier in Nevada herrenlose Pferde. Ich glaube aber nicht, dass sie aus einer wilden Mustangherde stammt, denn sie ist ganz sicher nicht von hier. Als sie letztes Jahr hier aufkreuzte, habe ich mehrere Anzeigen aufgegeben, aber es hat sich nie jemand gemeldet. Also habe ich sie erst mal behalten, und ich würde sie auch gern weiter behalten …“ Marigold seufzte. „Aber sie wird uns langsam zu teuer. Wir haben keine Verwendung für ein Zugpferd.“

Russ gefiel ihre offene Art und ihre sexy Stimme … Aber das durfte ihn nicht von dem Grund ablenken, aus dem er hier war. „Ich bin übrigens Russ Simon“, sagte er, „und ich züchte Zugpferde zum Vermieten.“

„Mein Name ist Mari“, erwiderte sie. „Mari … Crowley.“

Hatte sie gezögert, bevor sie ihren Nachnamen nannte, oder bildete er sich das nur ein?

„Und dort ist Lucy.“ Sie zeigte auf die große Stute, die vor ihnen auf der Weide stand.

Russ starrte das Tier an. Das war doch nicht möglich! Er konnte seinen Augen nicht trauen. Er trat auf das Pferd zu und flüsterte Lucy leise etwas ins Ohr, während er ihr Fell untersuchte. „Sie ist eine Blaue“, sagte er schließlich.

Mari schaute erstaunt auf. Eine Blaue? Wovon redete er da? „Für mich sieht Lucy sehr grau aus.“

Russ lächelte die junge Frau an, und sie bekam eine Gänsehaut. Es war ihr nicht entgangen, dass er einer der bestaussehenden Männern war, die ihr je über den Weg gelaufen waren, und dass er faszinierende grüne Augen hatte. Aber das war noch nicht alles. Sein Lächeln war einfach umwerfend, und eine gute Figur hatte er obendrein.

„Ich züchte Blauschimmel“, erzählte er weiter. „Der Farbunterschied ist nur sehr gering, aber er ist da.“

Mari zuckte mit den Schultern. „Sie müssen es ja wissen.“

„Ich habe gehört, dass die Blauen von den Pferden abstammen, auf denen die Ritter früher ihren Damen im Turnierkampf imponiert haben.“ Dabei deutete er eine ritterliche Verbeugung an. „Wäre ich ein Ritter, so würde ich Sie jetzt um einen Glücksbringer bitten, den ich dann beim Kampf tragen kann.“

Russ Simon war also ein Charmeur, und leider hatte Mari diese Sorte Mann bereits vor zwei Jahren zur Genüge kennengelernt. Das sollte mir eine Lehre sein, erinnerte sie sich, und doch wurde ihr heiß und kalt unter seinem bewundernden Blick. „Sind Sie an Lucy interessiert?“, wechselte sie schnell das Thema.

„Ja, das bin ich. Wie alt ist sie wohl?“

„Nach ihren Zähnen zu urteilen und nach der Art, wie sie ausschlägt, wenn ihr danach ist, schätze ich sie auf fünf oder sechs Jahre. Sie wäre also eine gute Zuchtstute.“

Als Russ schließlich seine gründliche Untersuchung durchgeführt hatte, war die Stute ihm bereits sichtlich ergeben. Kein Wunder, zumal er ganz offenbar wusste, welche Streicheleinheiten ein Pferd am liebsten hatte. Ob er wohl mit einer Frau genauso liebevoll umgeht? fragte sich Mari unwillkürlich. Aber sie rief sich schnell wieder zur Vernunft und nahm sich vor, in ihm nur einen möglichen Käufer und keinen möglichen Liebhaber zu sehen. Und sie musste Lucy unbedingt verkaufen, denn sie hatte kein Geld mehr, sie zu füttern.

„Ich nehme das Tier“, sagte Russ. „Nennen Sie mir Ihren Preis.“

„Ich brauche fünfhundert Dollar.“

„Das kommt nicht infrage. Sie ist mindestens das Doppelte wert. Selbst für tausend Dollar wäre es für mich noch ein gutes Geschäft, besonders wenn ich Lucy noch eine Weile hier lassen kann, bis ich ihren Transport nach Michigan organisiert habe. Ich zahle auch dreihundert zusätzlich für ihren Unterhalt.“

Mari gab sich Mühe, ihre Begeisterung nicht zu deutlich zu zeigen.

Russ schaute zur Bergkette am Horizont hinüber und atmete die Luft tief ein. „Ist das Salbei, den ich da außer Flieder noch rieche?“ Und als Mari nickte, fragte er weiter. „Wissen Sie zufällig, ob hier in der Gegend Land angeboten wird? Ich möchte gern in Nevada eine zweite Pferdezucht anfangen.“

„Drei Kilometer von hier steht eine Ranch zum Verkauf.“

Er sah Mari in die Augen und hielt ihren Blick gefangen, sodass sie sich kaum zu bewegen wagte. Warum fühle ich mich bloß so schnell so stark zu diesem Mann hingezogen? fragte sie sich. Dabei sollte ich doch mittlerweile wirklich gelernt haben, dass man keinem Charmeur trauen darf.

„Wenn Sie ein kleineres Pferd für mich haben, würde ich gern zu dieser Ranch hinüber reiten“, schlug Russ vor.

Mari wollte ihn eigentlich daran erinnern, dass er ein Auto hatte, aber stattdessen sagte sie: „Wir können gleich zwei andere Pferde satteln, dann zeige ich Ihnen, wo es ist.“

„Gern“, antwortete er, „wenn ich meine Rechnung bezahlt habe.“

Also gingen sie ins Haus. In der Küche trafen sie auf Maris Haushälterin, Willa Hawkins, die Russ prüfend musterte. Offenbar hielt sie Russ für einen Verehrer. Bevor die ältere Frau auf ihre direkte Art ein paar forsche Bemerkungen machen konnte, stellte Mari ihren Besucher vor.

„Gut, dass endlich jemand Lucy kauft“, sagte die Haushälterin darauf. „Mari bringt jeden Streuner mit nach Hause.“

„Willa wohnt übrigens ganz in der Nähe der Ranch, die Sie sich ansehen wollen“, erklärte Mari.

„Ja, wenn ich mich nicht gerade hier um die Crowleys kümmere,“, warf Willa ein. „Maris Onkel Stan ist nämlich mit Abstand der schlechteste Koch aller Zeiten, und das junge Ding hier hat viel zu viel mit den Pferden zu tun.“

Schweigend ritten Mari und Russ nebeneinander zur Curwith-Ranch. Mari konnte sich nicht erinnern, sich jemals in der Gesellschaft eines fremden Mannes so wohl gefühlt zu haben. Das liegt bestimmt daran, dass er genau wie ich ein Pferdenarr ist, sagte sie sich. Das verbindet.

Schließlich brach sie das Schweigen. „Sie kommen also aus Michigan?“

„Ja, in der Nähe des Huronsees“, bestätigte er, wobei er versuchte, ihren Blick einzufangen. „Es ist schön dort, aber ich finde, Nevada hat auch seine Reize.“

Damit meint er bestimmt nur die Berge und das Klima, sagte Mari sich, und ganz bestimmt nicht mich. Außerdem wollte sie sich gar nicht für ihn interessieren. Erstens hatte sie heute Abend schon andere Pläne, und zweitens wollte sie ohnehin keinem Mann mehr trauen.

Willa hatte ihr geraten, nach der Enttäuschung mit Danny Boy den Männern eine Weile fern zu bleiben, bis sie wusste, was sie wollte.

Mari spürte, dass Russ sie unentwegt ansah.

„Es ist wichtig, gute Nachbarn zu haben“, sagte er, „besonders wenn sie etwas von Pferden verstehen.“

Auch darauf reagierte Mari nicht. Sie wollte ihn nicht ermuntern, sich diesbezüglich Gedanken zu machen, obwohl ihr die Vorstellung, ihn als Nachbarn zu bekommen, sehr gefiel. Aber niemand konnte vorhersagen, wie ihr Leben nach dem heutigen Abend aussehen würde. Noch nicht einmal ihr Onkel Stan, obwohl er so tat, als ob klar auf der Hand läge, wie es weitergehen würde. Warum hatte er bloß nicht mit ihr gesprochen, bevor er diesen Brief an Joe Haskell abgeschickt hatte?

Mari wollte nicht daran denken, was ihr bevorstand, und lieber diesen Ritt genießen.

„Haben Sie schon immer in Nevada gelebt?“, wagte Russ einen weiteren Versuch, mit ihr ins Gespräch zu kommen.

„Mein ganzes Leben habe ich auf dieser Ranch verbracht.“

„Haben Sie jemals daran gedacht wegzugehen?“

Sie sah erstaunt auf. „Wieso? Nein, eigentlich nicht.“ Und das stimmte ja auch. „Warum fragen Sie?“

„Ich bin noch nie einer waschechten ‚Nevaderin‘ begegnet.“ Dabei hoffte er, dass sich diese Erklärung in ihren Ohren nicht so lahm anhörte wie in seinen.

Schließlich kam ein Farmhaus in Sicht, das schon bessere Tage gesehen hatte.

„Oh, da gibt es aber viel zu tun“, rief Russ aus und war erleichtert, wieder ein unverfängliches Thema zu haben.

„Die Ställe sind aber noch in einem guten Zustand“, wandte Mari ein.

Gemeinsam umrundeten sie die Gebäude, bevor sie zurückritten. „Eigentlich ein schönes Stück Land“, sagte Russ. „Ich werde darüber nachdenken.“

Deswegen war er zwar nicht hergekommen, aber die Ranch interessierte ihn wirklich. Sie war ideal für seine Pferdezucht.

„Fahr dorthin und nimm die neue Anspruchstellerin unter die Lupe, bevor der alte Joe etwas tut, was er später bereuen muss“, hatte ihn sein Vater gedrängt. „Sein Herz ist in keiner guten Verfassung und kann vielleicht keine weitere Enttäuschung verkraften.“

Russ atmete tief durch und rutschte unbehaglich auf dem Sattel hin und her. Diese Spioniererei lag ihm überhaupt nicht, besonders seit er Mari Crowley begegnet war, denn sie gefiel ihm gut. Aber seit dem Zerwürfnis mit seinem Vater war es das erste Mal, dass dieser ihn um einen Gefallen gebeten hatte, ja dass er überhaupt mit ihm sprach. Da hatte Russ natürlich schlecht ablehnen können.

Russ schaute in Maris bernsteinfarbene Augen. Die Frau machte einen offenen und ehrlichen Eindruck, aber das hatte nichts zu bedeuten. Dann ertappte er sich dabei, wie er ihre sanften, ebenmäßigen Gesichtszüge bewunderte, und riss sich zusammen.

„Vielen Dank, dass sie mir die Ranch gezeigt haben“, sagte er betont sachlich. „Ich würde mich gern mit einer Einladung zum Abendessen bei Ihnen bedanken.“

„Das war ja wohl das Mindeste, was ich für Sie tun konnte, nachdem Sie mir den doppelten Preis für Lucy bezahlt haben“, lachte Mari. „Leider verreise ich noch heute Abend. Es geht also nicht.“

Enttäuschung war das Erste, was Russ empfand, doch dann wurde ihm die Bedeutung ihrer Worte bewusst. Mari wollte verreisen? Dann hatte sein Vater Joe Haskell also nicht davon abhalten können, die junge Frau auf die Insel einzuladen!

„Dann ein anderes Mal vielleicht?“

„Ich glaube nicht, dass ich so schnell wieder da bin, jedenfalls nicht, bevor Sie Nevada wieder verlassen.“

„Nicht?“, fragte Russ, in der Hoffnung, er könne sie damit bewegen, ihm noch mehr zu erzählen.

Aber Mari sagte nichts. Sie dachte darüber nach, ob sie seine Einladung angenommen hätte, wenn sie nicht wegfahren würde. Wahrscheinlich wäre das nicht besonders klug gewesen, schließlich hatte sie doch aus ihrer Enttäuschung mit Danny Boy eine Lehre ziehen wollen. Nein, sie musste vorsichtig sein – besonders bei Männern, die gleich von Anfang an so eine starke Anziehungskraft auf sie ausübten wie dieser Russ Simon. Und so war es wohl gut, dass ihre Bekanntschaft zu Ende war, bevor Mari herausfinden konnte, was da zwischen ihnen beiden knisterte … selbst wenn sich dabei herausgestellt hätte, dass ihre Befürchtungen bei Russ vollkommen unangebracht waren.

Nachdem sie eine Zeit lang schweigend nebeneinander hergeritten waren, fragte Russ sie nach ihrer Kindheit. Wahrscheinlich fällt ihm jetzt auch kein spannenderes Gesprächsthema mehr ein, dachte sie, als sie seine Fragen beantwortete.

„Meine Tante Blanche ist vor zwei Jahren gestorben“, erzählte Mari. „Sie und Onkel Stan haben mich aufgezogen, nachdem meine Mutter meine Geburt nicht überlebt hat.“

„War Ihre Mutter die Schwester Ihrer Tante?“

Mari runzelte die Stirn, sodass Russ sich schnell entschuldigte. „Tut mir leid, ich wollte nicht persönlich werden. Ich bin bloß manchmal zu neugierig.“

Mari sagte zunächst nichts. Wie konnte sie auch? Schließlich hatte sie bis zur letzten Woche selbst geglaubt, dass ihre Mutter die jüngere Schwester ihrer Tante gewesen war. Sie hatte den Schock noch nicht überwunden. Nach dem, was Onkel Stan ihr erzählt hatte, war sie überhaupt nicht mit den Crowleys verwandt, und eigentlich wusste niemand, wer ihre leiblichen Eltern waren. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob diese Reise zu Mr. Haskell ihr Klarheit bringen würde.

Doch dann riss sie sich zusammen, um Russ nicht weiter mit ihrem Schweigen zu verunsichern. „Ich hatte eine sehr glückliche Kindheit auf dieser Ranch“, erwiderte sie knapp. Und das stimmte, auch wenn die Nachricht ihres Onkels, dass sie möglicherweise Joseph Haskells Enkelin war, ihre Erinnerungen in ein anderes Licht tauchte. Aber das musste ja nicht unbedingt stimmen. „Und Sie? Sind Sie auch auf einer Farm aufgewachsen?“

Russ schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht. Ich bin ein Stadtkind.“

„Und jetzt haben sie ein Gestüt?“

„Ja, das war schon sehr lange mein Traum. Schon als kleiner Junge wollte ich am liebsten Pferde züchten.“

„Wie schön, dass Sie ihren Traum verwirklichen konnten.“

„Jedenfalls bin ich froh, dass ich über Ihre Anzeige gestolpert bin. Sonst hätte ich Sie nicht kennengelernt.“

Fast wäre Mari herausgerutscht, dass sie sich ja vielleicht als Nachbarn öfter sehen würden. Aber wie ihr Leben in Zukunft aussehen würde, stand in den Sternen. Also sagte sie lieber nichts.

Als sie zum Stall zurückkamen, bestand Russ darauf, sein Pferd selbst abzusatteln und abzureiben. Mari ließ ihn gewähren. Als Gast hätte sie es auch nicht anders gewollt. Reiter mussten sich um ihre Pferde kümmern – das war das Erste, was sie ihren Schülern beibrachte –, und es gefiel ihr, wie Russ mit dem Wallach umging. Offensichtlich gehörte er nicht zu Willas so genannten „Möchtegern-Cowboys“.

Nachdem sie die Pferde versorgt hatten, bemühte sich Mari, ihre Traurigkeit nicht zu zeigen. Vielleicht tat sie all diese Dinge ja zum letzten Mal? Immerhin wusste sie nicht, was ihr Besuch bei Mr. Haskell ergeben würde.

„Zeit, sich zu verabschieden“, sagte sie schließlich betont fröhlich.

Russ nahm ihre ausgestreckte Hand und hielt sie fest. „Ich hoffe, nur bis zum nächsten Mal.“

Wie angenehm warm und kräftig seine Hand ist, dachte Mari. Am liebsten hätte sie sie festgehalten und ihn gebeten, noch nicht zu gehen – aber eigentlich war sie ja diejenige, die in wenigen Stunden fort sein würde.

Es verschlug ihr fast den Atem, als er ihre Finger an die Lippen hob und ihr einen Kuss darauf hauchte. Dann ging er zum Auto und fuhr davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Mari presste die Hände zusammen, als wenn sie den Kuss festhalten wollte, und schaute dem Auto hinterher, bis die letzte Staubwolke verflogen war.

2. KAPITEL

In der Küche traf Mari auf Willa, die sich gerade eine Tasse Tee eingoss. „Sieht so aus, als könntest du auch einen gebrauchen“, sagte die Haushälterin. „Hol Dir einen Becher, und setzt dich zu mir.“

Mari zögerte. Eigentlich musste sie packen, aber dazu hatte sie keine Lust. Also ging sie auf den Vorschlag ein.

„Der junge Mann eben wirkte eigentlich ganz freundlich“, meinte Willa. „Sah nicht so aus wie einer der gefährlichen Sorte, aber im Grunde kenne ich mich nur bei Schlangen damit aus, da kann ich dir sofort sagen, welche giftig ist und welche nicht.“ Willa züchtete Klapperschlangen, um ihr Gift zu verkaufen. „Bei Männern ist das nicht so einfach, und im Grunde ist keiner von ihnen wirklich ungefährlich“, fügte sie noch hinzu.

„Er hat mich zum Essen eingeladen, aber das habe ich natürlich abgelehnt.“

„Wärst aber gerne gegangen, nicht wahr?“

„Ich weiß es selbst nicht, Willa“, sagte Mari verzweifelt. „Ich weiß gar nichts mehr. Ich bin ganz durcheinander. Tue ich wirklich das Richtige?“

„Das wirst du selbst herausfinden müssen.“

„Ich wünschte, Onkel Stan hätte erst mit mir gesprochen, bevor er diesen Brief an Joseph Haskell geschrieben hat. Ich kannte ja noch nicht einmal seinen Namen, bevor er im Fernsehen aufgetreten ist und seine lang vermisste Tochter gebeten hat, nach Hause zu kommen.“

„Stan ist sich eben sicher, dass es sich dabei um deine verstorbene Mutter handelt.“

„Meine Mutter kann genauso irgendeine andere Frau gewesen sein!“, brach es aus Mari heraus, die mit den Tränen kämpfte. „Ich habe Tante Blanche geliebt. Warum hat sie mir nie die Wahrheit erzählt – dass meine Mutter eine Fremde war, die sie erst kurz vor meiner Geburt kennengelernt hat?“

„Wahrscheinlich hat sie es so lange verheimlicht, weil sie befürchtete, sonst ihr geliebtes Kind abgeben zu müssen – dich. Vielleicht hätten sie und Stan dich nicht adoptieren können, wenn herausgekommen wäre, dass ihr nicht miteinander verwandt seid. Schließlich waren die beiden damals auch nicht mehr die Jüngsten. Und jetzt hat dein Onkel einfach das getan, was er für dich für das Beste hielt.“

„Wahrscheinlich hast du recht. Trotzdem weiß niemand, wie die Geschichte ausgehen wird. Vielleicht sollte ich lieber hier darauf warten, dass …“ Mari stockte. Worauf eigentlich? Mr. Haskell hatte ihrem Onkel am Telefon klar gemacht, dass es gesundheitlich schlecht um ihn stand und er nicht nach Nevada reisen konnte. Darum wollte er sein Privatflugzeug herschicken, mit dem Mari zu ihm auf die Insel Mackinac fliegen sollte, und zwar noch heute Abend.

„Wenn du dich nicht mit ihm triffst, wirst du nie herausfinden, ob Isabel Haskell deine Mutter war oder nicht“, führte Willa Maris Gedanken zu Ende. „Und jetzt solltest du endlich packen. Wenn du einen bleibenden Eindruck auf den jungen Mann gemacht hast, wird er schon wieder auftauchen. Dann ist immer noch Zeit, sich über ihn den Kopf zu zerbrechen.“

Mari hatte fast nur Reit- und Freizeitkleidung, packte aber wenigstens ein gutes Kleid und passende Sandalen ein. Wenn sie ehrlich war, dann hatte sie Angst vor dieser Reise in eine Gegend, die sie nicht kannte, um einen Fremden zu treffen, der vielleicht ihr Großvater war.

Onkel Stan konnte nicht mitkommen, denn einer musste sich schließlich um die Ranch und die Tiere kümmern. Willa war zwar noch rüstig für ihr Alter, aber diese Arbeit wäre zu schwer für sie, und eine Aushilfe konnten sie sich nicht leisten. Sie waren mit der Hypothek bereits eine Rate im Rückstand, und das Geld, das Russ für Lucy bezahlt hatte, würde gerade mal dafür reichen, die nötigsten Rechnungen zu begleichen.

Als endlich die Limousine vorfuhr, die Mari zum Carson-City-Flughafen bringen sollte, war sie ein einziges Nervenbündel. In ihren siebenundzwanzig Jahren war sie noch nie in einer luxuriösen Limousine gefahren, geschweige denn mit einem Privatjet geflogen. Sie kam sich vor wie das Aschenbrödel, das zum Ball abgeholt wird. Als Mari Crowley hatte sie bisher noch jede Situation gemeistert, aber jetzt, da sie erfahren hatte, dass sie mit den Crowleys gar nicht verwandt war, kam sie sich selbst merkwürdig fremd vor. Vielleicht war sie ja tatsächlich eine Haskell, und diese Vorstellung gefiel ihr gar nicht. Wenigstens bin ich immer noch Mari, dachte sie, als sie Onkel Stan und Willa zum Abschied umarmte.

Am Flughafen war sie immer noch vollkommen verunsichert, aber wenigstens hatte sie aufgehört zu weinen. Sie ließ sich bereitwillig zu Mr. Haskells Jet bringen. An Bord stellten sich ihr der Pilot Tom und der Copilot George vor. George zeigt ihr, wo sie unterwegs Drinks und Sandwichs finden würde, und erst da wurde ihr klar, dass sie der einzige Fluggast war.

Beim Start schloss sie die Augen. Sie wollte nicht sehen, wie Carson City unter ihr immer kleiner wurde, und nicht daran erinnert werden, dass sie nun alles hinter sich ließ, was ihr vertraut war.

Schließlich nahm sie eine Illustrierte zur Hand, in der sie einen Artikel über Joseph Haskell fand. Als sie auf Mackinac landeten, wusste Mari schon sehr viel mehr über diesen Mann, der vielleicht ihr Großvater war.

Aus dem Artikel ging hervor, wie reich er war, also hätte es sie eigentlich nicht überraschen dürfen, dass das am Telefon angekündigte „Sommerhaus“ ein Herrenhaus im viktorianischen Stil mit vierzehn Zimmern war. Mit Pferd und Wagen – dem einzigen Transportmittel auf dieser Insel – fuhr sie dort vor, und bei dem Anblick überfiel die Angst sie erneut.

Eine gepflegte, etwa vierzigjährige Frau öffnete die Tür und stellte sich als Pauline Goodwin vor. „Ich bin die Haushälterin, Miss Crowley“, sagte sie.

„Bitte nennen Sie mich Mari“, antwortete diese, während sie hineingeleitet wurde. „Ist Mr. Haskell nicht da?“

„Vor einer Stunde ist er ins Columbia Presbyterian Hospital in New York geflogen worden. Ich soll Ihnen während seiner Abwesenheit den Aufenthalt so angenehm wie möglich gestalten.“

„Ist er ernsthaft krank?“

„Wir wissen nicht, wann er zurückkommen wird“, antwortete Pauline steif. „Hier entlang, bitte.“

Was ist das denn für eine Antwort? wunderte sich Mari, während sie der Haushälterin über eine Treppe nach oben folgte. Onkel Stan hatte ihr ja schon erzählt, dass Joseph Haskell Probleme mit dem Herzen hatte. Und ob er nun ihr Großvater war oder nicht, sie hoffte sehr, dass es ihm bald besser gehen würde.

Das Zimmer, das ihr zugewiesen wurde, war mit weiß gestrichenen Korbmöbeln eingerichtet. An den Wänden hingen Bilder und Fotos von Pferden, die Mari interessiert begutachtete, während Pauline sagte: „Frank wird Ihre Koffer bringen. Brauchen Sie sonst noch etwas?“

Mari schüttelte den Kopf und dankte höflich. Was sie brauchte, konnte Pauline ihr nicht geben. Sie brauchte einen Freund, jemanden, mit dem sie sprechen konnte und dem sie vertraute, jemanden, der ihr Mut zusprach. Sie machte sich auch Sorgen, dass es Mr. Haskell bestimmt nicht gut tun würde, wenn sich herausstellen sollte, dass sie doch nicht die ersehnte Enkelin war. Im Fernsehen hatte er gesagt, dass er alt und einsam sei und dass es ihm leidtat, seinem einzigen Kind entfremdet zu sein. Sie empfand damals Mitleid mit ihm, obwohl sie da noch nichts von Stans Vermutungen wusste, dass Haskells verschollene Tochter Isabel vielleicht ihre Mutter war. War sie es wirklich?

Ich hätte schon gerne einen Großvater, dachte Mari, als sie ins Bett ging. Außer Stan habe ich ja sonst keine Familie. Dann schlief sie sofort ein und wachte erst am späten Morgen wieder auf.

Beim Frühstück hatte sie das Gefühl, dass sie Pauline und Diana, der Köchin, zur Last fiel. Darum verließ sie danach schnell das Haus. Sie fühlte sich unsicher und unbehaglich, und das lag nicht nur am Personal. Sie wusste einfach nicht, ob sie hierher gehörte oder nicht. Auf ihrem Spaziergang ins Dorf entspannte sie sich ein wenig.

Im Mai war es hier noch sehr kühl. Das lag wohl daran, dass die Insel in den Wasserstraßen lag, durch die der Huronsee und der Michigansee miteinander verbunden waren. Da es hier keine Autos gab und man nur das Hufgetrappel hörte, wenn ein Pferdewagen vorbeifuhr, wirkte Mackinac nicht nur sehr friedlich, sondern man fühlte sich in die Vergangenheit zurückversetzt. In den Gärten blühten jetzt erst die Tulpen, deren Zeit in Nevada schon vorbei war. Die Knospen des Flieders waren noch fest geschlossen und konnten noch nicht den von Mari so heiß geliebten Duft verströmen.

Es beunruhigte sie immer noch, warum Joe Haskell nicht erst die Blut- und DNA-Tests hatte machen lassen, bevor er Mari einlud. Der ständige Gedanke daran, dass sie den alten Mann möglicherweise nur enttäuschen würde, hinderte sie daran, dieses wunderschöne Ferienparadies zu genießen.

Mari schlenderte am Grand Hotel vorbei und bewunderte seinen unglaublich langen und imposanten Vorbau. Dann kam sie ins Dorf, wo sie zwischen ein paar Bäumen hindurch das Wasser des Sees schimmern sah. Als sie gerade die Straße überqueren wollte, um zur Strandpromenade zu gelangen, wurde sie am Arm festgehalten. Erschrocken drehte sie sich um und sah – in die grünen Augen von Russ Simon.

„Mari, sind Sie das wirklich?“, fragte er.

„Russ!“, rief sie. „Was machen Sie denn hier?“

Er ließ ihren Arm los. „Ich schaue nach meinen Pferden. Zwanzig davon habe ich an ein hiesiges Kutschenunternehmen vermietet. Hatte ich Ihnen das nicht erzählt?“

Mari schüttelte den Kopf. „Nur, dass Sie Kutschpferde vermieten, aber ich wusste nicht, wo.“

„Kommen Sie, lassen Sie uns ein ungestörteres Plätzchen suchen und einen Kaffee zusammen trinken. Es ist zwar erst Mai, aber die Insel ist schon voller Touristen.“

Nachdem sie in einem Hafencafé ihren Kaffee serviert bekommen hatten, schaute Russ sie fragend an. „Sie wissen ja jetzt, warum ich hier bin. Nun sind Sie dran.“

Mari ermahnte sich, ihn nicht unentwegt anzustarren, damit sie einen klaren Gedanken fassen konnte. „Ich schaue mir die Insel an“, wich sie aus. Sie wollte nicht lügen, ihm aber auch nicht die ganze Wahrheit erzählen.

Russ schenkte ihr ein Lächeln, das ihr einen wohligen Schauer über den Rücken rieseln ließ. „Da habe ich ja Glück.“

Autor

Jane Toombs

In dem Alter, als Jane das Alphabet lernte, hatte ihr Vater, ein erfolgreicher Sachbuchautor, nach einer Krankheit vollständig sein Gehör verloren. Wer mit ihm kommunizieren wollte, musste schreiben. Er trug stets einen kleinen Block mit sich herum, darauf stand z.B.: Was hast du auf dem Schulweg gesehen? Und so musste...

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