Flitterwochen wie im Paradies

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Der ebenso weltgewandte wie erfolgreiche Unternehmer Ralph Danvers ist fassungslos. Kurz vor der Trauung lässt sein Halbbruder Piers die atemberaubende Shaan einfach sitzen! Spontan heiratet er die verführerische Braut selbst - obwohl sich beide kaum kennen!


  • Erscheinungstag 19.06.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773519
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Im Raum war es totenstill. Lähmendes Entsetzen breitete sich unter den Anwesenden aus, während Shaan sich schockiert in einen Sessel sinken ließ. Sie war ganz blass und hielt noch den Brief in den Händen, den Ralph ihr vor wenigen Minuten gegeben hatte.

„Wie konnte er dir das nur antun?“, ertönte plötzlich die Stimme ihres Onkels.

Niemand antwortete ihm. Shaan war einfach nicht fähig, auch nur ein einziges Wort herauszubringen, und Ralph wollte offenbar nichts sagen.

Er stand so unbeteiligt am Fenster, als würde ihn das alles nichts angehen. Nachdem er seine Rolle in diesem Stück erfolgreich gespielt hatte, wollte er wohl nichts mehr damit zu tun haben. Nur wenige Meilen entfernt warteten die Hochzeitsgäste in der Kirche auf das Erscheinen von Braut und Bräutigam, die jedoch nicht kommen würden.

Vielleicht ahnten einige bereits, dass irgendetwas nicht stimmte, weil Piers und Ralph ihre Plätze neben dem Altar noch nicht eingenommen hatten. Shaans Tante würde aufgeregt nach draußen eilen, während Jemma, die einzige Brautjungfer, in ihrem pinkfarbenen Kleid vor der Kirche auf die Braut wartete, die nicht mehr gebraucht wurde.

„Du liebe Zeit! Einen besseren Zeitpunkt hätte er nicht wählen können!“, rief Shaans Onkel ärgerlich aus.

„Nein“, stimmte Ralph ihm angespannt zu.

Shaan saß reglos da. In ihrem blassen, beinah weißen Gesicht sahen ihre sonst dunkelbraunen Augen schwarz aus. Sie war vor Entsetzen wie betäubt und nahm nichts wahr um sich her. Aber es würde nicht lange dauern, dann würde ihr klar werden, wie sehr man sie verletzt und gedemütigt hatte.

War Ralph etwa auch schockiert? Vielleicht, denn trotz seiner gebräunten Haut wirkte er sehr blass in dem eleganten anthrazitgrauen Anzug. Bestimmt hatte er nicht damit gerechnet, dass sich Piers in letzter Minute zurückziehen würde.

Sie betrachtete den Brief in ihren Händen.

Es tut mir schrecklich leid, dass ich Dir mitteilen muss … las sie, und ihre Lippen zitterten. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und ihr Mund war ganz trocken. Und dann wurde ihr auch noch schwindlig.

„Ich muss den Gästen in der Kirche Bescheid sagen, die immer noch warten“, erklärte ihr Onkel.

„Nicht nötig, das habe ich schon getan“, antwortete Ralph gereizt. „Ich hielt es für besser so“, fügte er angespannt hinzu. Die Situation, in die Piers ihn gebracht hatte, war ihm wohl mehr als unangenehm.

In dem Moment hörte man auch schon die ersten Autos vor dem eleganten Londoner Stadthaus vorfahren.

O nein, nur das nicht, ich halte es nicht aus, dachte Shaan verzweifelt. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie schwankte leicht und befürchtete, ohnmächtig zu werden und aus dem Sessel zu stürzen.

„Shaan!“, rief Ralph besorgt aus und war sogleich neben ihr, um sie festzuhalten.

„Ich will niemanden sehen“, sagte sie leise.

„Nein, das sollst du auch gar nicht.“ Ralph kniete sich neben sie. Der feine weiße Schleier, der ihr langes, volles schwarzes Haar bedeckte, streifte seine Wange.

„Sheila ist da.“ Shaans Onkel Thomas blickte aus dem Fenster. „Es ist deine Tante, Shaan.“ Er ging seiner Frau entgegen.

Als sie hörte, dass die Haustür geöffnet wurde, begann Shaan am ganzen Körper zu zittern. Ralph fluchte leise vor sich hin, dann richtete er sich etwas auf und legte die Arme wie schützend um sie.

„Shaan!“, ertönte eine schrille, beinah hysterisch klingende Stimme. „Du arme Kleine!“ Ihre Tante stürmte ins Wohnzimmer.

„Nein“, wimmerte Shaan an Ralphs Schulter. „Nein …“ Sie konnte es nicht mehr ertragen. Sie wollte sich weder mit dem Kummer ihrer Tante und ihres Onkels noch mit dem eigenen Schmerz auseinandersetzen.

Ralph spürte offenbar, was in ihr vorging, denn er stand unvermittelt auf und zog sie aus dem Sessel. Ehe sie wusste, wie ihr geschah, hob er sie hoch. Und dann barg sie das Gesicht an seiner Schulter.

„Sie ist ohnmächtig geworden“, erklärte er spontan, und Shaan war ihm dankbar für die Notlüge. „Zeigen Sie mir ihr Zimmer, Mrs Lester.“

„Das arme Kind! Wie entsetzlich!“ Shaans sonst so sanfte, ruhige und besonnene Tante Sheila war völlig außer sich. Sie ließ sich in einen Sessel sinken und schluchzte hemmungslos. Thomas, ihr Mann, versuchte sie zu trösten, während Ralph aus dem Raum ging, ohne darauf zu warten, dass ihm jemand erklärte, wo sich Shaans Zimmer befand.

In der Eingangshalle drängten sich die Hochzeitsgäste. Obwohl Shaan das Gesicht fest an Ralphs Schulter presste, spürte sie die Anwesenheit der vielen Menschen. Ralph eilte die Treppe hinauf, ohne die Leute zu beachten.

Dann hörte Shaan Jemmas Stimme wie aus weiter Ferne. Ralph antwortete irgendetwas, das Shaan nicht verstand. Sie hatte das Gefühl, in eine graue Wolke eingehüllt zu sein, sodass die schmerzliche Wirklichkeit sie nicht erreichen konnte.

„Wo ist dein Zimmer?“, fragte Ralph angespannt.

Es gelang ihr nicht, sich zu konzentrieren. Sie konnte nicht mehr klar denken, obwohl sie sich sehr bemühte.

Ralph öffnete eine Tür nach der anderen, bis er in ein Zimmer blickte, das so aussah, als gehörte es der Braut. Er ging hinein, trat die Tür mit dem Fuß hinter sich zu und setzte Shaan aufs Bett.

Eine Zeit lang schwiegen sie beide. Das Schweigen war bedrückend, beinah genauso wie kurz zuvor im Wohnzimmer, als Ralph ihr den Brief überreicht hatte.

Sekundenlang betrachtete er Shaans gesenkten Kopf, ehe er sich entschloss, ihr den Schleier abzunehmen. Ungeachtet der vielen Haarklammern, mit denen er befestigt war, riss er ihn ihr vom Kopf und warf ihn achtlos zu Boden.

„Es tut mir leid“, entschuldigte er sich angespannt, „aber ich konnte es nicht mehr …“ Er unterbrach sich und schob die Fäuste in die Hosentaschen.

Ihr Kopf schmerzte, so heftig hatte Ralph an dem Schleier und ihren Haaren gezogen. Aber irgendwie war es ihr egal. Sie war sogar froh, dass sie überhaupt noch etwas spürte. Sie verstand auch, warum er es getan hatte. In dem langen weißen Kleid und mit dem ganzen Brautschmuck sah sie wahrscheinlich richtig pathetisch aus, was absolut unpassend wirken musste, nachdem der Bräutigam lieber nicht erschienen war.

Plötzlich sprang sie auf. Sie ließ den Brief, den sie in der Hand zerknüllt hatte, fallen und riss ungeduldig an den Knöpfen des Spitzenoberteils ihres Kleids.

„Hilf mir!“, bat sie Ralph verzweifelt. Ihre Finger zitterten, und ihre zuvor so unbeteiligte Miene wirkte gequält.

Es konnte ihr nicht schnell genug gehen, das weiße Seidenkleid loszuwerden und alles andere auch, das sie an Piers und die geplante Hochzeit erinnerte, die nicht stattgefunden hatte.

„Du liebe Zeit! Hilf mir endlich!“

„Das kann ich nicht, Shaan!“, erwiderte er schockiert.

„Warum nicht?“, fragte sie ihn verächtlich. „Du hast doch bis jetzt kräftig mitgeholfen, mir den Tag zu verderben. Warum kannst du mir nicht helfen, das Kleid auch noch zu ruinieren?“

Ihr Ausbruch überraschte ihn. Er wich einen Schritt zurück. Als er etwas sagen wollte, blickte Shaan ihn so empört und vorwurfsvoll an, dass er es vorzog, zu schweigen.

Zornig riss Shaan das Oberteil des Kleids auseinander. Die winzigen Knöpfe flogen in alle Richtungen. Einer rollte über den hellvioletten Teppich genau vor Ralphs Füße.

Er betrachtete ihn, und da er den Kopf gesenkt hatte, konnte sie seine Miene nicht erkennen. Sie drehte sich um und beendete das Werk der Zerstörung. Es bereitete ihr ungeheure Befriedigung, sich das exklusive Kleid vom Körper zu reißen, bis sie in dem weißen Spitzenbody und den Seidenstrümpfen zitternd und frierend dastand.

„Das ist beinah schlimmer als eine Vergewaltigung“, sagte sie leise und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Du liebe Zeit, Shaan!“ Mit ausgestreckter Hand ging er auf sie zu, als wollte er sie trösten.

Doch unvermittelt blieb er stehen und zog die Hand zurück. Er konnte ihr sowieso nicht helfen. Die Demütigung, die sie soeben erlitten hatte, ließ sich nicht ungeschehen machen. Mit dem Schmerz musste sie ganz allein fertig werden.

„Du solltest jetzt nicht allein sein. Vielleicht kann sich jemand um dich kümmern.“ Er durchquerte den Raum.

Shaan drehte sich zu ihm um. „Nein!“, rief sie aus, und ihre Stimme klang rau. „Nein“, wiederholte sie heiser. „Du kannst gehen, wenn du willst. Aber ich will sonst niemanden sehen.“

Dass Ralph Zeuge ihrer schlimmsten Demütigung geworden war, konnte sie noch verkraften, denn schließlich war er schuld daran und hatte dafür gesorgt, dass es überhaupt geschehen konnte. Viel schlimmer war, dass alle anderen es auch mitbekommen hatten. Nein, sie konnte jetzt mit niemandem reden, weder mit Jemma, ihrer besten Freundin, noch mit ihrer Tante.

Was Ralph dachte, war ihr egal. Es störte sie auch nicht, dass sie in ihren Dessous vor ihm stand. Er verachtete sie sowieso. Schon als Piers sie ihm vorgestellt hatte, hatte er sie verachtet.

Beim Gedanken an Piers wurde ihr ganz übel, und ihr Magen verkrampfte sich. Sie atmete tief ein, um sich nicht überwältigen zu lassen von dem Verlangen, sich in körperliches Unwohlsein zu flüchten und alles zu vergessen. Dabei presste sie die Fingernägel so tief in ihre Arme, dass ihre Haut schmerzte.

Plötzlich spürte sie einen kalten, harten Gegenstand an einem Arm. Natürlich wusste sie, was es war. Sie streckte die linke Hand aus und betrachtete den goldenen Reif am Ringfinger. Der Diamant strahlte und funkelte sie an. Schließlich zog sie den Ring ärgerlich vom Finger und blickte Ralph verbittert an.

„Hier“, sagte sie und warf ihm den Ring vor die Füße. „Du kannst ihn Piers zurückgeben. Ich brauche ihn nicht mehr und will ihn nicht. Und deinen Bruder will ich niemals wiedersehen.“

Ralph bückte sich langsam und hob den Ring auf, während Shaan ins Badezimmer eilte und sich erschöpft von innen an die geschlossene Tür lehnte. Sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick zusammenzubrechen. Ihr wurde ganz schwindlig, und sie krümmte sich zusammen. Doch sie wollte nicht wahrhaben, wie es um sie stand, und richtete sich entschlossen wieder auf.

Ich muss unbedingt duschen, dachte sie, während sie durchs Badezimmer wankte. Sie fühlte sich beschmutzt und glaubte in ihrer Verzweiflung, alles abwaschen zu können, was man ihr angetan hatte.

Erst als sie den weißen Spitzenbody und die weißen Seidenstrümpfe ausgezogen hatte, bemerkte sie das hellblaue Satinstrumpfband an ihrem Oberschenkel. Ihr wurde bewusst, wie lächerlich sie mit diesem frivolen Dessous auf Ralph gewirkt haben musste.

Tränen traten ihr in die Augen, und sie wischte sie mit der Hand ab, die sich eiskalt anfühlte. Dann stellte sie sich unter die Dusche, schloss die Augen und ließ das heiße Wasser über Gesicht und Körper strömen. Es war ihr egal, ob sie sich die Haut verbrannte oder nicht, wichtig war nur, dass alles abgespült wurde, was noch irgendwie an die glückliche Braut erinnerte, die sie gewesen war.

Sie stand einfach da und ließ die Zeit verrinnen, denn sie wollte nicht denken und nichts empfinden. Undeutlich und wie aus weiter Ferne hörte sie, dass an ihre Schlafzimmertür geklopft wurde. Dann vernahm sie Stimmen – die hohe, schrille ihrer Tante und noch eine andere, wahrscheinlich Jemmas.

Auch Ralphs tiefe, dunkle Stimme war gedämpft zu hören, aber was er sagte, konnte Shaan nicht verstehen. Es interessierte sie auch nicht. Sie wollte nur in Ruhe gelassen werden. Schließlich wurde es wieder still im Zimmer nebenan, und Shaan beruhigte sich allmählich und gab sich der wohltuenden Wirkung des heißen Wassers auf Körper und Seele hin.

Später würde sie sich den mitleidigen Blicken aussetzen und das nichtssagende Gerede über sich ergehen lassen müssen. Es würde gar nicht zu vermeiden sein. Aber jetzt wollte sie allein sein und erst einmal mit sich selbst zurechtkommen.

Eine sitzen gelassene Braut – was für eine Demütigung! Ich war unglaublich dumm und naiv, mir einzubilden, Ralph Danvers würde es zulassen, dass sein Bruder mich heiratet, überlegte sie.

Schon als Piers sie seinem Bruder vorgestellt hatte, war ihr klar gewesen, dass Ralph alles tun würde, die Heirat zu verhindern.

Wie konnte Piers mir das nur antun, fragte sie sich gequält und glaubte, ihn vor sich zu sehen mit seinem gewinnenden, charmanten Lächeln.

„Shaan!“, rief Ralph plötzlich und klopfte laut an die Badezimmertür.

Sie schreckte aus den Gedanken auf und wäre beinah auf den nassen Fliesen ausgerutscht.

Ralph hatte sich also nicht so rasch und heimlich entfernt wie sein Bruder. Er war immer noch in ihrem Zimmer. Offenbar wollte er sich der Verantwortung nicht entziehen. Das passte zu ihm. Sie hatte ihm erklärt, niemanden sehen zu wollen außer ihm. Deshalb fühlte er sich wahrscheinlich verpflichtet, bei ihr zu bleiben bis zum bitteren Ende.

Und was ist das bittere Ende, überlegte sie.

Ralph war Piers’ älterer und erfolgreicherer Bruder. Er leitete das Familienunternehmen und wirkte so stark und zuverlässig, als wäre ihm keine Last zu schwer und keine Verantwortung zu groß. Aber heute hat Piers ihn vor eine ganz besonders schwierige Aufgabe gestellt, sagte sie sich und verzog verbittert die Lippen.

„Shaan!“

Verblüfft öffnete sie die Augen, denn Ralphs Stimme klang, als wäre er neben ihr. Und so war es auch, mit dem Badetuch in der Hand stand er vor ihr.

„Wer hat dir erlaubt hereinzukommen?“, fragte sie, während das Wasser immer noch über ihren Körper strömte. Es war ihr egal, dass er sie nackt sah. Von dem schrecklichen Ereignis fühlte sie sich noch so betäubt, dass sie nichts anderes mehr aufregen konnte.

Er ignorierte ihren nackten Körper und blickte ihr stattdessen in die Augen.

„Komm jetzt“, forderte er sie ruhig auf und breitete das Badetuch aus. „Du hast lange genug geduscht.“

Sie lachte und wusste selbst nicht, warum. Es klang freudlos und hilflos. Lange genug? Was meinte er damit? Sie hatte doch nichts vor und sehr viel Zeit, oder?

Shaan beachtete ihn nicht mehr und schloss wieder die Augen.

„Es wird nicht besser, wenn du dich versteckst“, erklärte er freundlich.

„Lass mich in Ruhe, Ralph“, antwortete sie undeutlich. „Du hast erreicht, was du wolltest. Lass mich bitte jetzt allein.“

„Das kann ich nicht.“ Er streckte die Hand aus und drehte den Wasserhahn zu.

Das heiße Wasser verdampfte auf den feuchten Fliesen. Shaan beobachtete, wie sich der Dunst wie leichter Nebel um ihren Körper zu legen schien, um ihre langen, schlanken Beine, die schmalen Hüften und die festen Brüste.

„Er hat mich nicht gewollt“, sagte sie leise. „Er hat mich nicht wirklich gewollt, trotz aller Beteuerungen und Versprechen.“

Ralph legte ihr sanft das Badetuch um die Schultern, schob sie vorsichtig aus der Duschkabine und zog sie in die Arme.

„Doch, er hat dich gewollt und dich auch sehr gern gehabt, Shaan“, versuchte er sie zu trösten. „Aber er liebt nur Madeleine. Er hätte dir nichts versprechen dürfen.“

Ja, Madeleine, dachte sie. Madeleine war Piers’ erste und einzige Liebe.

„Du hast sie absichtlich in sein Leben zurückgeholt“, warf Shaan ihm vor.

„Stimmt.“ Ralph seufzte und streichelte sanft ihren Rücken. „Ob du es glaubst oder nicht, Shaan, es tut mir wahnsinnig leid …“

Seine Entschuldigung tat ihr so weh und kam ihr so unsinnig vor, dass sie einen Schritt zurücktrat und ihm eine heftige Ohrfeige gab. Sie konnte einfach nicht anders, zu viel Bitterkeit, Zorn und Ärger hatten sich in ihr gestaut.

Er nahm es hin, ohne mit der Wimper zu zucken. Er blickte sie nur an mit seinen grauen Augen und verzog keine Miene.

Shaan hätte am liebsten geweint, aber sie konnte es nicht. Sie wollte Ralph treten, anschreien und ihn immer wieder schlagen, um den Schmerz und die Enttäuschung loszuwerden, doch auch das konnte sie nicht. Der kurze Wutausbruch schien ihr alle Energie genommen zu haben. Sie stand nur noch da und schaute Ralph aus großen dunkelbraunen Augen an. Ist er jetzt zufrieden, oder hat er vielleicht doch Schuldgefühle, überlegte sie.

Vor sechs Wochen hatte er sie gewarnt und angekündigt, ihre geplante Hochzeit mit seinem Bruder auf jeden Fall zu verhindern. Vom ersten Moment an, als sie Ralph in seinem luxuriösen Haus begegnet war, hatte er sie spüren lassen, wie sehr er sie verachtete.

Bis dahin war sie nur Shaan Saketa gewesen, die Tochter von Tariq und Mary Saketa, die nicht mehr lebten und die sie sehr geliebt hatte. Sie war stolz auf ihre Herkunft gewesen und auch darauf, dass sie anders aussah und anders dachte als die Menschen um sie her.

Als Ralph sie jedoch so abschätzend gemustert hatte, war ihr zum ersten Mal klar geworden, was es bedeutete, auf Vorurteile zu stoßen. Sie war sich plötzlich ihres dichten, glatten schwarzen Haars, der dunkelbraunen Augen und der hellen Haut sehr bewusst gewesen, obwohl die Leute sich schon immer bewundernd nach ihr umgedreht hatten. Sie musste sich überwinden, Ralphs ausgestreckte Hand zu nehmen und ihn höflich zu begrüßen, denn es war offensichtlich, dass es ihm widerstrebte, sie zu berühren. Es war eigentlich ein Wunder, dass er sich überhaupt im selben Raum aufhielt wie sie.

Seltsamerweise reichte er ihr aber nicht nur die Hand, sondern hielt ihre auch noch viel zu lange fest. Ich muss vorsichtig sein und mich in Acht nehmen, sagte sie sich, und sie hatte das Gefühl, das Blut würde ihr in den Adern gefrieren, so kühl und abweisend war seine Miene.

Ralph Danvers hatte ihr ohne Worte klargemacht, dass sie nicht in seine Familie passte und nicht willkommen war.

Und heute hatte er sein Ziel erreicht. Sie hatte eine entsetzliche Niederlage erlitten, war gedemütigt worden – und jetzt konnte er es sich erlauben, sie freundlich und nachsichtig zu behandeln.

Sie wickelte sich das große Badetuch um und ging ins Schlafzimmer. Auf dem Bett lag nur ihr pinkfarbener Bademantel. Offenbar hatte jemand aufgeräumt, während sie unter der Dusche gestanden hatte, denn auf wundersame Weise war die ganze Brautausstattung verschwunden, auch das zerrissene Brautkleid. Nichts erinnerte mehr daran, dass es ihr großer Tag hätte werden sollen. Nur die Koffer, die sie am Abend zuvor voller Vorfreude gepackt hatte, standen noch neben der Schlafzimmertür.

Shaan legte das Badetuch hin und zog sich den Bademantel über. Es war ihr auch jetzt wieder egal, dass Ralph sie nackt sah. Es spielte gar keine Rolle, ob sie nackt war oder nicht. Er interessierte sich sowieso nicht für sie.

Während sie den Gürtel zuband, drehte sie sich zu Ralph um. Er stand an der Badezimmertür. Seine Miene wirkte verschlossen, und er ließ sich keine Gefühlsregung anmerken.

„Dein Anzug ist nass geworden, als ich mich an dich gelehnt habe“, sagte sie und warf einen flüchtigen Blick auf die feuchten Flecke.

Er zuckte gleichgültig die Schultern. Dann durchquerte er das Schlafzimmer und blieb neben der Frisierkommode stehen.

„Hier.“ Er reichte ihr ein Glas, das zur Hälfte mit einer hellbraunen Flüssigkeit gefüllt war.

Wahrscheinlich Brandy, dachte sie und verzog die Lippen. „Ein Heilmittel?“, fragte sie spöttisch und nahm das Glas vorsichtig entgegen. Dann setzte sie sich aufs Bett und spürte plötzlich, wie steif sie geworden war. Der Schock hatte seltsame Auswirkungen. Erst bin ich total wacklig auf den Beinen, und jetzt sind meine Glieder so steif, dass sie mir sogar beim Hinsetzen wehtun, überlegte sie.

„Du kannst es nennen, wie du willst“, antwortete er. „Tatsache ist“, er nahm das andere Glas von der Kommode und hielt es hoch, als wollte er ihr zutrinken, „ich brauche auch einen Drink.“ Dann setzte er sich neben sie aufs Bett. „Trink bitte“, forderte er sie auf. „Es wird dir bestimmt helfen.“

Sekundenlang betrachtete sie die bernsteinfarbene Flüssigkeit, ehe sie sie probierte. Ralph saß so dicht neben ihr, dass er ihren Arm mit seinem streifte, als er das Glas an die Lippen hob.

Irgendwie verstand sie ihn nicht. Sechs Wochen hatte er sich krampfhaft bemüht, ihr auf gar keinen Fall zu nahe zu kommen. Er hatte sogar jede Berührung vermieden nach dem ersten, unvermeidlichen Händedruck, und jetzt schien es ihm zu gefallen, so dicht neben ihr zu sitzen.

Unter ihren langen schwarzen Wimpern sah sie ihn an. Er ist sehr angespannt, dachte sie, während sie sein energisches Kinn und das markante Profil musterte. Zwischen ihm und Piers bestand keine Ähnlichkeit. Piers hatte hellblonde Haare und Ralph schwarze, deshalb war Shaan auch nicht überrascht gewesen, als sie erfahren hatte, dass die beiden nur Halbbrüder waren. Das erklärte auch den Altersunterschied von zehn Jahren. Mit seinem charmanten Lächeln und dem freundlichen Wesen wirkte Piers viel unkomplizierter und umgänglicher als Ralph.

Shaan trank noch einen Schluck Brandy, der ihr in der Kehle brannte, aber ihr wurde wenigstens warm davon.

„Was ist mit dem ganzen Zeug passiert?“, fragte sie.

Ralph schaute sich in dem ordentlich aufgeräumten Zimmer um. „Deine Tante und deine Freundin haben alles weggeräumt, als du unter der Dusche warst“, erklärte er. „Sie wollten sich nützlich machen.“

„Eigentlich bin ich überrascht, dass Jemma dich nicht hinausgeworfen hat“, sagte sie leise.

„Über deine Tante wunderst du dich nicht?“

„Nein.“ Shaan schüttelte den Kopf. „Meine Tante hat in ihrem Haus noch nie einen Gast unfreundlich behandelt.“

„Ganz im Gegensatz zu mir, meinst du wohl.“

„Ja, genau“, stimmte sie zu. Es war eine seltsame Situation, und sie konnte sich selbst nicht erklären, weshalb sie sich ausgerechnet mit ihm in ihrem Schlafzimmer unterhielt.

„Jemma hat versucht, mich wegzuschicken“, gab er zu und trank einen kräftigen Schluck Brandy. „Aber ich habe sie überzeugt, dass niemand außer mir dir in dieser schwierigen Lage helfen kann.“

„Ja, weil es dir sowieso egal ist, was mit mir passiert.“

„Das stimmt nicht, Shaan.“ Plötzlich klang seine Stimme rau. „Du wirst es wahrscheinlich nicht glauben, aber ich habe von Anfang an gewusst, dass Piers nicht der richtige Mann für dich ist. Okay“, räumte er ein, als er ihren vorwurfsvollen Blick bemerkte, „ich bin natürlich erleichtert, dass er gerade noch rechtzeitig zur Besinnung gekommen ist. Aber ich finde es falsch, dass er die Entscheidung so lange hinausgezögert hat. Und ich werde ihm nicht so schnell verzeihen, dass er dich zutiefst verletzt hat. Kein Mensch hat das Recht, einem anderen so etwas anzutun. Er und Madeleine sind nicht stolz auf das, was passiert ist – falls es dir hilft und dich überhaupt interessiert. Sie …“

„Nein, tut es nicht“, unterbrach sie ihn und stand unvermittelt auf. „Ich möchte davon nichts mehr hören.“

Dann leerte sie das Glas mit einem einzigen Zug. Sie schloss die Augen und hielt den Atem an, während ihr der Brandy in der Kehle brannte. Shaan wartete förmlich darauf, sich wieder wie betäubt zu fühlen und alles vergessen zu können.

Sie wollte sich noch nicht mit den schlimmen Ereignissen dieses Tages auseinandersetzen, so weit war sie noch nicht. Und sie wollte auch nicht nachdenken. Weder über sich noch über Ralph und ganz bestimmt nicht über Piers und Madeleine.

„Okay, Ralph“, wandte sie sich plötzlich an ihn und stellte das Glas hin. Sie war immer noch ziemlich blass, aber ihre Lippen zitterten nicht mehr und sahen nicht mehr so farblos aus. „Mir ist klar, dass es für dich schwierig gewesen ist, und ich danke dir, dass du dich um mich gekümmert hast. Aber jetzt geht es mir besser. Deshalb bitte ich dich, mich allein zu lassen.“ Er soll gehen, ehe all der Schmerz und Kummer mit voller Wucht auf mich einstürzen, fügte sie insgeheim hinzu.

Ralph schüttelte jedoch den Kopf und blieb sitzen. Statt zu tun, was sie von ihm wollte, packte er Shaan am Handgelenk und zog sie aufs Bett zurück.

„Ich gehe noch nicht“, erwiderte er. „Erst will ich dir etwas vorschlagen. Hör mir bitte zu und unterbrich mich nicht. Ich weiß, dass du noch unter Schock stehst und wahrscheinlich noch nicht in der Lage bist, irgendetwas zu entscheiden. Aber in diesem einen Punkt musst du dich entscheiden, dann können wir wenigstens deinen Stolz retten, und du kommst einigermaßen unbeschadet aus der verfahrenen Lage heraus.“

Er schaute sie mit den grauen Augen aufmerksam an. Shaan hielt seinem Blick stand.

„Willst du mich anstelle meines Bruders heiraten, Shaan?“, fragte er ernst und mit rauer Stimme.

2. KAPITEL

Sekundenlang war Shaan sprachlos. „Bist du verrückt geworden?“, stieß sie schließlich hervor. „Du verachtest mich doch!“

„Das stimmt nicht, Shaan“, erwiderte Ralph.

Sie hörte gar nicht zu, sondern versuchte aufzustehen. Aber sie schaffte es nicht, denn die Beine gehorchten ihr nicht. Sie fühlte sich leer und wie zerschlagen, wahrscheinlich die Auswirkungen des Schocks, wie sie vermutete.

Ralph nahm ihre Hände in seine und zwang Shaan, ihn anzusehen. Er wirkte sehr angespannt, aber auch sehr entschlossen.

Shaan zitterte am ganzen Körper. Sie atmete viel zu hastig und hatte das Gefühl zu ersticken.

„Ich weiß, ich bin nicht Piers“, sagte er hart. „Und ich werde nie so sein wie er. Er ist mein Halbbruder, wir beide sind so verschieden wie du und Madeleine. Aber …“

Schon wieder Madeleine! Shaan konnte den Namen nicht mehr hören! Sie wollte die junge Frau mit dem niedlichen Gesicht, den großen blauen Augen und dem dichten goldblonden Haar vergessen, die wie eine hübsche Porzellanpuppe aussah.

„Sie passt zu Piers, Shaan!“, erklärte Ralph heftig, als könnte er ihre Gedanken lesen. „Sie haben als Kinder zusammen gespielt und waren schon als Teenager ineinander verliebt, bis Madeleine wegen eines dummen Missverständnisses eines Tages überstürzt zu ihrer Mutter nach Amerika geflogen ist, um bei ihr …“

Autor

Michelle Reid

Michelle Reid ist eine populäre britische Autorin, seit 1988 hat sie etwa 40 Liebesromane veröffentlicht.

Mit ihren vier Geschwistern wuchs Michelle Reid in Manchester in England auf. Als Kind freute sie sich, wenn ihre Mutter Bücher mit nach Hause brachte, die sie in der Leihbücherei für Michelle und ihre...

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