Glaub an die Liebe, Fiona

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Es war einmal eine glückliche Ehe … bis Fiona erfährt, dass George Savas sie anscheinend nur aus Pflichtgefühl geheiratet hat! Bitter enttäuscht verlässt sie ihn, verbietet sich jede Erinnerung an ihre zärtlichen Nächte und baut sich ein neues Leben auf. Doch dann erhält sie einen schockierenden Anruf: George hatte einen schweren Unfall! Ihr starker, befehlsgewohnter Ehemann, nun ganz schwach? Die widersprüchlichsten Gefühle stürmen auf sie ein! Gibt es etwas, das sie für ihn tun kann? Das gibt es - allerdings etwas, an das Fiona nicht mehr geglaubt hat …...


  • Erscheinungstag 15.05.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733777449
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Als das Telefon klingelte, griff Fiona blitzschnell zum Hörer. Auf keinen Fall sollte ihre Tochter geweckt werden, nachdem sie es endlich geschafft hatte, Lily zum Einschlafen zu bringen.

„Hallo?“, fragte sie leise ins Telefon.

„Mrs Savas?“

Die Stimme des Anrufers war ihr vollkommen unbekannt. Doch der Name, den er aussprach, ließ Fiona zusammenschrecken. Sie zögerte einen Moment, antwortete dann aber resolut: „Es tut mir leid, Sie haben die falsche Nummer gewählt. Natalie Savas ist meine Cousine. Wenn Sie mit ihr sprechen möchten, müssen Sie auf ihrer Geschäftsnummer anrufen.“

„Nein, ich möchte nicht mit Natalie Savas sprechen“, kam es zurück. „Ich muss dringend mit Fiona Savas sprechen. Bin ich mit der Nummer …“

Fiona hörte kaum, wie er ihre Telefonnummer wiederholte. In ihrem Kopf hallte nur der Name Fiona Savas.

So hatte sie einst geheißen. Für einige Monate.

Fiona kam es so vor, als habe ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt. Unwillkürlich umklammerte sie den Telefonhörer fester und setze sich.

„Hallo? Sind Sie noch dran? Bin ich richtig verbunden?“

Sie musste kurz durchatmen, bevor sie antworten konnte. „Ja.“ Ihre Stimme klang glücklicherweise beinahe emotionslos. „Ich bin Fiona McKinnon.“ Und mit gespielter Gelassenheit fügte sie hinzu: „Ehemals Savas.“

Die ganze Situation kam Fiona unwirklich vor. Vielleicht hatte ihr Gesprächspartner sie mit jemandem verwechselt.

„George Savas’ Ehefrau?“

Keine Verwechslung. Fiona schluckte schwer. „Ja…a“, kam es ihr zögernd über die Lippen.

Schon lange betrachtete sie sich nicht mehr als Georges Ehefrau. Aber wie konnte es sein, dass eine so simple Frage sie derart aus dem Gleichgewicht brachte?

In den vergangenen vier Jahren hätte George jederzeit die Scheidung einreichen können. Fiona hatte zwar nie die Scheidungspapiere erhalten, war aber davon ausgegangen, dass er die notwendigen Schritte eingeleitet hatte. Doch im Wesentlichen hatte sie versucht, die ganze Angelegenheit – und George – aus ihrem Gedächtnis zu löschen.

Es war ein Fehler gewesen, ihn zu heiraten. Sie hatte es gewusst. Alle hatten es gewusst. Aber das war jetzt ohne Bedeutung, genauso wie die Scheidung. Schließlich hatte sie nicht vor, noch einmal zu heiraten.

Aber vielleicht plante George eine neue Ehe.

Warum um alles in der Welt spürte sie bei diesem Gedanken plötzlich einen stechenden Schmerz in ihrem Herzen? Es konnte ihr doch egal sein, was er tat.

Rief nun sein Anwalt an, um die Trennung offiziell zu vollziehen?

Fiona holte noch einmal tief Luft und versuchte, sich darauf zu besinnen, dass George in ihrem Leben keine Rolle spielte. Nie gespielt hatte. Ihre Ehe war nur auf dem Papier gültig gewesen. Auch wenn sie gehofft hatte …

„Ja, richtig. Fiona Savas“, antwortete sie schließlich mit bemüht ruhiger Stimme.

„Hier spricht Dr. Harlowe. Es tut mir leid, Ihnen diese Nachricht überbringen zu müssen, aber Ihr Mann hatte einen sehr schweren Unfall.“

„Weißt du, was du tust?“ Natalie war offensichtlich besorgt. Sie und ihr Ehemann Christo waren sofort vorbeigekommen, als Fiona sie angerufen hatte. Jetzt saß sie auf Fionas Bett und sah zu, wie ihre Cousine hektisch eine Reisetasche packte. „Du willst wirklich nach New York fliegen? Auf die andere Seite der Vereinigten Staaten?“

„Ich weiß, wo New York ist. Und ja, ich bin sicher“, gab Fiona heftiger als gewollt zurück. Das Problem war nicht, wohin sie fuhr, sondern wen sie, einmal angekommen, dort treffen würde. „Er ist damals auch für mich da gewesen, oder hast du das vergessen?“

„Weil er dazu gezwungen war“, betonte Natalie unnötigerweise.

„Verdammt, Natalie.“ Als wenn sie jetzt aus Spaß einmal quer durch das Land fliegen würde. Sie musste es tun. Fiona warf ein Paar Turnschuhe in die Tasche, denn sie wusste aus der Zeit, als sie in New York gelebt hatte, dass sie viele Wege zu Fuß erledigen würde.

„Ich dachte, Ihr seid geschieden“, hakte Natalie nach.

„Das habe ich auch angenommen. Zwar habe ich nie etwas unterschrieben. Aber …“ Fiona zuckte ratlos mit den Schultern. „Ich dachte, er würde sich darum kümmern.“ So wie er sich immer um alles gekümmert hatte, auch um Lily und sie. Es war Georges Art, an alles und alle zu denken.

„Glaub mir, ich würde es bestimmt nicht tun, wenn es nicht unbedingt notwendig wäre“, seufzte Fiona, während sie den Reißverschluss ihrer Tasche zuzog. Sie blickte ihre Cousine ernst an. „Aber es ist unumgänglich. Das Krankenhaus hat die Columbia University kontaktiert, wo George arbeitet. Und dort hat man den Ärzten mitgeteilt, dass ich in seiner persönlichen Akte als nächste Angehörige angegeben bin. Er ist bewusstlos. Vielleicht müssen sie ihn operieren. Noch können sie nichts Genaueres über das volle Ausmaß seiner Verletzungen sagen. Der Arzt sagte, man müsse die nächsten Tage abwarten. Aber sollte sich Georges Zustand plötzlich weiter verschlechtern …“ Fiona brachte es nicht über sich, die Möglichkeiten zu wiederholen, die Dr. Harlowe ihr am Telefon unterbreitet hatte.

„Fiona.“ Der Ton in Natalies Stimme war sanfter, aber immer noch besorgt.

„Ich muss es tun“, erwiderte Fiona bestimmt und straffte ihre Schultern. „Als ich hochschwanger auf mich allein gestellt war, hat er mir zur Seite gestanden.“ Es war eigentlich überflüssig, ihre Cousine an die damaligen Geschehnisse zu erinnern. Sie beide wussten, dass George Fiona geheiratet hatte, um Lily einen Vater und gleichzeitig den Namen der Familie Savas zu geben. „Ich stehe in seiner Schuld.“

„Es mag wohl sein“, lenkte Natalie zögernd ein. Doch in ihren Augen lag eine Mischung aus Ungeduld und Ärger. „Aber welcher erwachsene Mann läuft einfach so vor einen Lastwagen?“

Ein selbstvergessener Physiker, der zu sehr mit Protonen, Atomen und der Teilchenbeschleunigung beschäftigt ist, als dass er auf den Verkehr achten könnte, dachte Fiona. „Ich weiß nicht, wie es passiert ist“, sagte sie nur. „Aber ich rechne es dir hoch an, dass du alles stehen und liegen lässt, um dich um Lily zu kümmern. Wir können morgen früh telefonieren. Dann wird ihr der Abschied nicht so abrupt erscheinen.“

Fiona hatte sich in den vergangenen vier Jahren noch nie von ihrer Tochter getrennt – jedenfalls nicht länger als ein paar Stunden. Aber sie jetzt zu wecken, hieße, in ein Wespennest zu stechen. Normalerweise war Lily ein sonniges, unkompliziertes Kind, aber die Vorfreude auf ihren vierten Geburtstag hatte sie in den letzten Tagen aufgeregt. Heute hatten sie mit fünf kleinen Freundinnen und deren Müttern das große Ereignis am Strand gefeiert und anschließend zu Hause gegrillt. Und obwohl ihre Tochter nach der Party völlig übermüdet gewesen war, hatte es noch eines heißen Bades, einer Kuschelstunde und mehrerer Gute-Nacht-Geschichten bedurft, ehe sie einschlief.

„Mach dir keine Sorgen um Lily“, beruhigte Natalie sie jetzt. „Tue, was du tun musst, und pass auf dich auf.“

„Das werde ich“, versprach Fiona, nahm ihre Tasche und folgte Christo, der sie zum Flughafen bringen sollte. Vorher warf sie noch einen kurzen Blick in Lilys Zimmer. Einen Moment lang beobachtete sie mit einem Kloß im Hals ihre schlafende Tochter, das dunkle zerzauste Haar, den leicht geöffneten Mund. Wie sehr sie George ähnelte.

Nein, korrigierte Fiona sich, nicht unbedingt George. Aber sie sah aus wie eine Savas. Und das war sie schließlich auch. Aber George war nicht ihr Vater. Auch wenn auf dem Nachttisch ein Foto von ihm mit Lily als neugeborenem Baby stand.

Lily konnte sich zwar nicht an ihn erinnern, aber sie wusste, wer er war. Seitdem sie entdeckt hatte, dass ihre Freunde eine Mutter und einen Vater hatten, fragte sie immer nach dem fehlenden Elternteil.

Wer ist mein Vater? Wo ist er? Und warum ist er nicht hier? Wann kommt er zurück?

Unzählige Fragen, und von mir kommen nur unzureichende Antworten, dachte Fiona niedergeschlagen.

Wie sollte sie einem Kind erklären, was damals passiert war, wenn sie es sich nicht einmal selbst richtig erklären konnte?

Trotz der verfahrenen Situation war es ihr gelungen, Lily klarzumachen, dass ihr Vater sie liebte. Fiona kannte George gut genug, um zu wissen, dass das nicht gelogen war. Sie hatte ihr sogar versprochen, dass sie ihn eines Tages kennenlernen werde.

„Wann?“, hatte Lily natürlich gefragt.

„Wenn du älter bist“, war ihre vage gehaltene Antwort gewesen.

Sicherlich nicht jetzt. Ein schmerzlicher Gedanke schoss Fiona plötzlich durch den Kopf. Was, wenn George seine Verletzungen nicht überlebte?

Aber das war unmöglich! George war ihr immer unverwüstlich vorgekommen, wie ein Fels in der Brandung.

Doch was wusste sie wirklich über den Mann, der für kurze Zeit ihr Ehemann gewesen war? Vielleicht hatte sie sich nur eingebildet, ihn zu kennen …

Und gegen einen Lkw konnte selbst der stärkste Mann nichts ausrichten.

„Fiona?“, rief Natalie leise. „Christo wartet bereits im Auto auf dich.“

„Ich komme.“ Fiona stieß einen verzweifelten Seufzer aus, beugte sich schnell über ihre Tochter, gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn und ging zur Wohnungstür.

Dort zwang sie sich, Natalies nachdenklichem Blick mit einem unbekümmerten Lächeln zu begegnen. „Ich bin bald wieder zurück.“

„Davon gehe ich aus“, erwiderte Natalie mit einem Schmunzeln und umarmte ihre Cousine herzlich. Fiona wusste, dass Natalie ihr – trotz aller Zweifel – Mut und Kraft vermitteln wollte. „Du liebst ihn doch nicht etwa noch?“, fragte sie wie aus heiterem Himmel.

Fiona löste sich aus der Umarmung und schüttelte energisch den Kopf. „Nein.“

Sie liebte ihn nicht mehr. Und sie würde auch nie wieder solche Gefühle für ihn entwickeln. „Natürlich nicht.“

Die Ärzte gaben ihm keine Schmerzmittel, obwohl er heftigste Kopfschmerzen hatte und jede Bewegung seines Körpers höllische Qualen bedeutete.

Wenn sie mich wenigstens schlafen ließen, dachte George.

Aber genau das verhinderten sie. Jedes Mal, wenn er kurz davor war, endlich einzuschlafen, leuchteten sie ihm mit einer Lampe in die Augen und quälten ihn mit sinnlosen Fragen – wie er heiße, wie alt er sei, und wer der Präsident der Vereinigten Staaten sei.

Es war idiotisch. Er hatte sich kaum an sein Alter oder an den Namen des Präsidenten erinnern können, bevor er von einem Lastwagen angefahren worden war.

Hätten sie ihn gefragt, wie man die Geschwindigkeit von Licht berechne oder was ein Schwarzes Loch sei, hätte er in Sekundenschnelle antworten können.

Aber das wollten sie nicht wissen.

Sie ließen ihm nur kurze Verschnaufpausen und kamen dann mit immer neuen Gerätschaften zurück. Ultraschall, Computer-Tomografie des Schädels, Reflexuntersuchungen – und wieder und wieder dieselben Fragen. Dass er nicht wusste, ob er vierunddreißig oder fünfunddreißig Jahre alt war, wurde mit besorgten Blicken quittiert.

War es denn so wichtig?

Für sie offensichtlich schon.

„Die Zeitwahrnehmung des Patienten scheint stark beeinträchtigt zu sein“, murmelte ein Arzt und vermerkte es sofort in der Krankenakte.

George hatte nicht die Kraft zu widersprechen. Sein eigenes Wohlbefinden interessierte ihn auch kaum. „Geht es Jeremy gut?“

Das war das Einzige, woran er momentan denken konnte. Vor seinem geistigen Auge sah er immer wieder die Szene, wie der vierjährige Nachbarjunge plötzlich auf die Straße rannte, um seinen Ball zurückzuholen. Das nächste Bild war ein heranrasender Lieferwagen.

„Er hat nur ein paar kleine Kratzer“, antwortete der Arzt und leuchtete wieder in Georges Augen. „Er kann heute schon entlassen werden. Im Gegensatz zu dir. Und jetzt halt endlich still und lass verdammt noch mal die Augen geöffnet, George.“

George ging davon aus, dass Dr. Sam Harlowe normalerweise bei seinen Patienten mehr Geduld an den Tag legte. Aber sein Verhältnis zu Sam war etwas Besonderes – sie kannten sich seit der Grundschule. Und nun hielt der Arzt den Kopf seines Patienten nicht gerade behutsam am Kinn fest und kontrollierte zum x-ten Mal die Pupillenreaktion. Das Pochen in Georges Kopf war nach wie vor unerträglich.

„Hauptsache, Jeremy ist nichts passiert“, presste er mühsam hervor, als Sam endlich von ihm abließ. Erschöpft sank er zurück in die Kissen.

„Du kannst dich so bockig anstellen, wie du willst – das Krankenhaus wirst du heute nicht verlassen. Du brauchst Ruhe.“ Dann wandte sich Sam an die Krankenschwester. „Kontrollieren Sie regelmäßig seinen Zustand und unterrichten Sie mich über jede noch so kleine Veränderung. Die kommenden vierundzwanzig Stunden sind kritisch.“

„Du hast gesagt, es gehe ihm gut.“ George blickte seinen Jugendfreund panisch an.

Ihm geht es gut. Das Damoklesschwert schwebt über dir“, erklärte Sam barsch. „Ich schaue später wieder rein.“ Es klang mehr nach einer Drohung als nach einem Versprechen. Bevor George erwidern konnte, dass Dr. Harlowe sich die Mühe nicht zu machen brauche, weil er vorhabe, schon bald nach Hause zu gehen, war Sam bereits aus dem Zimmer gerauscht.

Verärgert und wie gelähmt blickte George ihm nach. „Sie können auch gehen“, wandte er sich gereizt an die Krankenschwester. Er hatte genug von dem ganzen Theater. Außerdem schmerzte sein Kopf weniger, wenn er einfach ruhig dalag und die Augen schloss. Und genau das hatte er vor.

Wahrscheinlich war er sogar kurz eingenickt, denn das Nächste, was er wahrnahm, war, dass sich die Schwester über ihn beugte.

„Wie alt sind Sie, George?“

„Zu alt, um diese Spielchen zu spielen“, sagte er mit einem müden Blinzeln. „Wann kann ich nach Hause?“

„Wenn Sie brav all unsere Spielchen gespielt haben“, kam die trockene Antwort.

George rang sich ein gequältes Lächeln ab. „Ich werde bald fünfunddreißig. Es ist Oktober. Heute früh habe ich Haferflocken gegessen. Es sei denn, es ist nicht mehr heute, sondern schon morgen.“

„Ja, das ist es“, erklärte die Krankenschwester, während sie das Blutdruckmessgerät anlegte.

„Dann kann ich also nach Hause.“

„Solange Dr. Harlowe nicht grünes Licht gibt, bleiben Sie schön hier“, widersprach sie und löste die Manschette vom Oberarm. „Ich habe gehört, Sie seien ein Held.“

„Wie bitte?“, fragte George erstaunt.

„Haben Sie nicht dem kleinen Jeremy das Leben gerettet?“

„Ich habe ihn nur von der Straße geschubst.“

„Und damit verhindert, dass er von dem Lastwagen überfahren wird“, stellte die Schwester fest. „Ich weiß nicht, wie Sie das nennen, aber ich nenne das ‚Leben retten‘. Schließlich ist der Kleine dank Ihnen mit nur ein paar Kratzern davongekommen.“

„Und das Gleiche gilt für mich“, versuchte George sie zu überzeugen.

„Das mag von außen so scheinen, aber mit Kopfverletzungen ist nicht zu scherzen“, erwiderte sie in professionellem Ton. „Und jetzt ruhen Sie sich erst mal aus.“

George dankte dem Himmel, dass sie und ihre hartnäckigen Kollegen ihn für eine Weile in Ruhe ließen. Er konnte zwar nur schlecht einschätzen, wie viele Minuten oder Stunden seit der letzten Kontrolle vergangen waren, aber er hörte, dass die Geräusche auf dem Flur langsam weniger wurden. Selbst das Piepen und Klicken der Geräte schien zu verklingen. Nur das dumpfe Pochen in seinem Kopf wollte nicht abebben.

Es schien ein unmögliches Unterfangen, eine Stellung zu finden, die ihm keine Schmerzen verursachte. Und wenn es ihm trotz allem gelang, für kurze Zeit einzudösen, wurde er schon nach kurzer Zeit wieder für eine Untersuchung geweckt. Darüber hinaus wurde sein ohnehin schon unruhiger Dämmerschlaf von albtraumhaften Unfallszenen unterbrochen, die ihn aufschrecken ließen. Manchmal sah er Jeremys leblosen Körper auf der Straße liegen. Oder Jeremys weinende Eltern.

„Wir hätten ihn verlieren können“, hatte Jeremys Mutter am Nachmittag – oder war es am Morgen? – an seinem Bett geschluchzt.

„Du hast keine Vorstellung, was du für uns getan hast.“ Mit Tränen in den Augen hatte der Vater immer wieder Georges Hand dankbar gedrückt.

Die Bilder von Jeremy vermischten sich mit Erinnerungen an ein kleines dunkelhaariges Baby. Das erste Lächeln und die samtweiche Haut. Und die großen vertrauensseligen Augen.

Sie war jetzt genauso alt wie der Nachbarjunge. Alt genug, um wie er unbedacht auf die Straße zu rennen … George versuchte, nicht daran zu denken. Nicht an sie zu denken. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen konnte, waren Augen, die von ungeweinten Tränen brannten.

Er konnte nicht sagen, wie lange er geschlafen hatte. Ihm war nur bewusst, dass bereits das erste Licht der Morgendämmerung durch die halb zugezogenen Vorhänge sickerte.

Kurz zuvor war eine Krankenschwester ins Zimmer gekommen. Er hatte leise Gesprächsfetzen und das Rücken eines Stuhles vernommen, sich aber bewusst schlafend gestellt.

Nun war wieder Stille im Zimmer eingekehrt, und doch hatte er das Gefühl, nicht allein zu sein.

Stand da etwa Sam an seinem Bett und beobachtete ihn? Als kleine Jungen hatten sie sich die absurdesten Spiele ausgedacht, eines davon war „Wer bricht zuerst das Schweigen?“. Aber aus diesem Alter sollten sie eigentlich schon lange herausgewachsen sein.

George versuchte, sich auf die Seite zu drehen und weiterhin den Schlafenden zu mimen. Doch das war einfacher gesagt als getan. Jeder Muskel in seinem Körper schmerzte wie verrückt, besonders seine lädierte Schulter machte ihm zu schaffen. Er konnte ein gequältes Stöhnen nicht unterdrücken. Okay, es war sinnlos, Sam hatte gewonnen.

Aber als er die Augen öffnete, stand da nicht, wie erwartet, Sam mit einem triumphierenden Lächeln. Auf dem Stuhl saß eine wunderschöne Frau und schaute aus dem Fenster.

Geschockt hielt George den Atem an. Was die Person neben ihm offensichtlich alarmierte, denn sie drehte den Kopf sofort in seine Richtung. George spürte, wie sein Mund trocken wurde und seine Kehle sich zuschnürte, als ihre Blicke sich trafen.

Fast vier Jahre waren vergangen, seit er Fiona – seine Ehefrau – das letzte Mal gesehen hatte.

Ehefrau. Dass er nicht lachte!

Sie mochten sich vielleicht im New Yorker Standesamt ein Eheversprechen gegeben und die Ringe ausgetauscht haben. Und es gab eine Eheurkunde, nach der sie immer noch verheiratet waren. Aber die war nie mehr gewesen als ein Stück Papier.

Jedenfalls für sie.

Und auch für mich, versuchte George sich selbst zu überzeugen. Und doch spürte er einen plötzlichen Schmerz in seinem Herzen. Er musste, verdammt noch mal, dagegen ankämpfen. Seine Gefühle waren jetzt völlig fehl am Platze!

Genauso wie die Anwesenheit von Fiona. Unbewusst biss er die Zähne zusammen, was seine Kopfschmerzen nur noch verschlimmerte.

„Was machst du denn hier?“, fragte er und schaute sie vorwurfsvoll an. Seine Stimme klang ungewollt heiser, wahrscheinlich lag das an den Schläuchen in seinem Mund und an der trockenen Krankenhausluft.

„Dich verärgern, wie mir scheint“, erwiderte sie in ruhigem Ton. Doch der besorgte Blick strafte die vorgetäuschte Ruhe Lügen. „Das Krankenhaus hat mich angerufen. Du warst bewusstlos, und für eventuelle Eingriffe benötigten sie die Einwilligung des nächsten Verwandten“, erklärte sie mit einem Schulterzucken.

„Und das bist du?“, erkundigte sich George entgeistert.

„So ähnlich war auch meine Reaktion, als ich mit dem Arzt gesprochen habe“, gab sie freimütig zu, schlug ein Bein über das andere und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.

Sie trug eine schwarze Hose aus weich fallender Schurwolle und einen olivgrünen Pullover. Ihre Garderobe war schlicht, aber gleichzeitig geschmackvoll edel, dachte George anerkennend. Nichts erinnerte an die Fiona in Jeans und Sweatshirt, die er kannte. Nur ihr kupferrotes Haar, das im Morgenlicht wie ein frisch polierter Penny glänzte, war unverändert. Ein Anblick, der unwillkürlich Erinnerungen hochkommen ließ, die er nur zu gerne endgültig aus seinem Gedächtnis gestrichen hätte. Die Zeiten, in denen er sein Gesicht an ihr Haar schmiegen und ihren Duft und ihre Wärme spüren konnte, gehörten unwiederbringlich der Vergangenheit an.

„Anscheinend hast du vergessen, dich offiziell scheiden zu lassen.“ Es klang mehr nach einer Frage als nach einer Feststellung.

„Ich dachte, du würdest dich darum kümmern“, gab er trocken zurück. Schließlich hatte sie die Trennung gewollt. Aber diese Feinheiten waren letztlich unwichtig. Nicht ganz so egal waren die verdammten Kopfschmerzen! George schloss müde die Augen.

„Ich hielt es nicht für nötig“, hörte er Fiona sagen. „Schließlich hatte ich nicht vor, noch einmal zu heiraten.“

Überflüssig, ihr zu erklären, dass auch er von einer Ehe die Nase voll hatte. George öffnete die Augen und versuchte, ihrem bohrenden Blick standzuhalten.

Von einem Lastwagen angefahren zu werden, war eine Kleinigkeit im Vergleich zu einem Wiedersehen mit Fiona. Um ihr nicht den Eindruck eines hilflosen Patienten zu geben, versuchte er, sich in seinem Bett aufzurichten.

„Das ist wohl keine so gute Idee“, kommentierte sie sein – augenscheinlich schmerzvolles – Vorhaben.

Nein, das war es wirklich nicht. Sobald er seinen Kopf hob, musste er Höllenqualen ausstehen.

„Du solltest dich ausruhen.“

„Ich habe die ganze Nacht geschlafen.“

„So siehst du aber nicht aus“, erwiderte Fiona frei heraus. „Außerdem hat die Krankenschwester gesagt, du habest eine sehr unruhige Nacht verbracht.“

„Versuch du mal zu schlafen, wenn alle fünf Minuten jemand kommt und dir Fragen stellt.“

„Das Krankenhauspersonal muss dich beobachten. Du hast eine Gehirnerschütterung. Zuerst hatten sie sogar befürchtet, du könntest Hirnblutungen haben.“ Fiona schaute ihn von oben bis unten an. „Und wenn du es ganz genau wissen willst – du siehst aus, als hätte dich jemand durch den Fleischwolf gedreht.“

George fühlte sich plötzlich wie ein abscheulich aufgespießter Käfer unter dem Blick eines Naturforschers.

„Vielen Dank“, brummte er und versuchte, sich in eine ansehnlichere Position zu hieven. Doch so sehr er sich auch anstrengte, er war offensichtlich nicht mehr Herr über seinen Körper. Fast ohnmächtig vor Schmerz krallte er seine Finger in die Bettdecke.

„Würdest du um Himmels willen bitte aufhören, dich zu bewegen! Wenn du nicht still liegst, rufe ich die Krankenschwester.“

„Nur zu. Dann kann ich wenigstens gleich die Entlassungspapiere unterschreiben. Ich habe nämlich zu tun. Auch wenn das niemanden zu interessieren scheint – ich habe eine Arbeit.“

Fiona rollte entnervt mit den Augen. „Du wirst nirgendwo hingehen. Du solltest lieber froh sein, dass du dich nicht einer riskanten Operation unterziehen musstest.“

„Warum auch? Schließlich fehlt mir nichts“, erwiderte er stur und warf einen Blick auf seine Armbanduhr – um erstaunt festzustellen, dass an deren Stelle Schläuche an seinem Arm befestigt waren. „Verdammt. Wie spät ist es? Ich will morgen mit meinen Studenten ein Experiment durchführen. Ich muss ins Labor.“ Ich muss von dieser Frau wegkommen – oder ich werde sie für immer festhalten.

„Das kannst du dir abschminken.“

Einen kurzen Moment befürchtete George, er hätte im Delirium seine Gedanken laut ausgesprochen. Aber natürlich bezogen sich Fionas Worte auf seine Arbeit.

„Meine Verpflichtungen hören nicht auf zu existieren, nur weil ich einen Unfall hatte.“

Du hättest beinahe aufgehört zu existieren.“

Die unverblümten Worte und ihr ernster Gesichtsausdruck versetzten ihm einen Schock.

„Wann wirst du endlich kapieren, dass du hättest sterben können?“, fragte sie.

„Ich bin aber nicht gestorben“, antwortete er mit betonter Gelassenheit, obwohl ihm plötzlich bewusst wurde, dass sie recht hatte. Wäre der Lastwagen nur ein bisschen schneller gefahren oder er ein bisschen langsamer gewesen, hätte er das nicht mehr sagen können.

Er war nicht so dumm, Fionas offensichtliche Sorge mit Liebe zu verwechseln. Aber wenigstens wusste er jetzt, dass sie ihn auch nicht hasste.

Damals hatte er sogar zu hoffen gewagt, ihre Ehe könne eine Chance haben und sie werde sich eines Tages in ihn verlieben.

„Wie ist es passiert?“, riss sie ihn aus seinen Gedanken. „Die Krankenschwester hat mir gesagt, dass du ein Kind gerettet hast?“

„Ja, Jeremy, meinen vierjährigen Nachbarjungen“, erklärte er. „Ich kam gerade von der Arbeit, als er mir auf dem Bürgersteig entgegenrannte. Er wollte mir seinen neuen Fußball zeigen. Zuerst dribbelte er langsam, doch dann schoss er mir den Ball zu – nur landete der Ball nicht bei mir, sondern auf der Straße. Und genau in dem Moment kam ein Lastwagen herangerast.“ George stockte.

„Oh mein Gott“, sagte Fiona. Ihr Gesicht war bleich vor Schrecken. „Er ist doch nicht …“

„Nein, er ist mit ein paar Kratzern und blauen Flecken davongekommen“, beruhigte er sie.

„Dem Himmel sei Dank“, seufzte sie erleichtert. „Danke, George“, fügte sie dann völlig unerwartet hinzu.

„Nichts zu danken. Hätte ich ihn etwa vor den Lkw rennen lassen sollen?“, erwiderte George schroff.

„Natürlich nicht!“, gab sie entsetzt zurück. „Wie kannst du so etwas nur sagen? Ich wollte dir nur … meine Anerkennung ausdrücken.“

Wortlos blickte George sie mit leicht gerunzelter Stirn an. In der Stille lag etwas Unausgesprochenes.

Fiona fuhr sich mit der Zunge über ihre plötzlich trockenen Lippen. „Du hast ihn gerettet.“

Für George klangen ihre Worte fast wie eine Anklage. Wie ein Echo aus der Vergangenheit. An dem Tag, als sie ihm mitgeteilt hatte, dass er aus ihrem Leben verschwinden solle, hatte sie ihm weinend an den Kopf geworfen: „Du hast mich nur geheiratet, weil du mich retten wolltest.“

Nun, das stimmte teilweise. Aber es war eben nur ein Teil der Wahrheit. Doch sie hätte seinen Rechtfertigungen nicht geglaubt, und so war er damals wortlos gegangen.

Immer noch waren ihre tief grünen Augen unverwandt auf ihn gerichtet. Schier endlose Momente vergingen, bevor sie mit ruhiger Stimme hinzufügte: „Du bist ein Held.“

„Wenn er mich nicht gesehen hätte, wäre es gar nicht erst passiert“, schnaubte er.

„Du glaubst doch nicht etwa, es sei deine Schuld?“, fragte sie ungläubig.

George zuckte mühsam mit den Schultern. „Ich wollte bloß sagen, dass er auf mich gewartet hat. Manchmal kicken wir zusammen.“

„Seid ihr befreundet?“, frage sie erstaunt, als könne sie sich nicht vorstellen, dass er eine Freundschaft zu dem Kind aufgebaut hatte.

„Ja“, sagte er kurz angebunden. Dass ihn Jeremy mit seinen dunklen Augen und seinem strahlenden Lächeln an Lily erinnerte, verschwieg er.

Er wusste, welches Bild Fiona von ihm hatte. Während ihrer kurzen gemeinsamen Zeit hatte er keinen einzigen ihrer Nachbarn kennengelernt und keine Freundschaften geschlossen.

Autor

Anne McAllister
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