Junges Glück in Gefahr

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Detektiv Evan Graham soll eine junge Witwe überwachen - und ahnt nicht, was auf ihn zukommt: Hannah und ihr Kind bezaubern ihn, das sollte einem Profi nicht passieren! Denn sein Auftraggeber fordert Fakten - und keinen Bericht über Hannahs verlockend rote Lippen …


  • Erscheinungstag 06.11.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733774967
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Das Reifenknirschen draußen auf der kurvenreichen kiesbestreuten Auffahrt, die Hannah James’ geliebtes Zuhause in den Bergen von North Carolina mit der ebenfalls kurvenreichen Straße nach Boone verband, erweckte in ihr gemischte Gefühle. Am Ende aber überwog Erleichterung.

Offenbar hielt der Mann mit der freundlichen Stimme, der sich vor einer Stunde telefonisch auf ihre Zeitungsanzeige gemeldet hatte, sein Versprechen. Er kam tatsächlich, um sich persönlich vorzustellen und sich etwas ausführlicher mit ihr über den Job zu unterhalten, den sie zu vergeben hatte.

Aber ein bisschen nervös war Hannah schon. Vor nicht allzu langer Zeit – vor kaum einem Jahr, um genau zu sein – hatte sie sich geschworen, nie mehr einen Mann auf ihr Grundstück, geschweige denn in ihr Leben zu lassen.

Dummerweise hatte sie bei diesem Schwur nicht an den Arbeitsaufwand gedacht, der erforderlich war, um die verwilderte Obst- und Gemüsefarm wieder in jenes blühende Unternehmen zu verwandeln, mit dem ihre Eltern ihren Lebensunterhalt gesichert hatten. Und ebenso wenig hatte sie sich eingestehen wollen, wie einsam sie nach dem Tod ihres Mannes war – sie und ihr fünfjähriger Sohn Will.

Ihre Eltern waren vor fast sieben Jahren kurz nacheinander gestorben und hatten sie ohne engere Familie zurückgelassen … erst durch ihre Heirat mit Stewart James hatte sie wieder jemanden gehabt, der ihr nah stand. Natürlich gab es da ein paar Freunde in Boone, und mit ihren nächsten Nachbarn hatte Hannah immer auf gutem Fuß gestanden. Doch in Stewarts letzten beiden Lebensjahren war sie sehr isoliert gewesen.

Es gab niemanden, den sie um Hilfe bitten konnte. Zumindest niemanden, dem ich vertraue, überlegte Hannah, als sie sich daran erinnerte, wie seltsam Stewarts Vater ihren Sohn Will bei der Beerdigung beobachtet hatte.

Schon lange bevor sie und Stewart sich kennengelernt hatten, hatte er die Hoffnungen seines Vaters bereits in mehrfacher Hinsicht enttäuscht. Der schlimmste Schlag für ihren Schwiegervater war jedoch die Heirat mit ihr gewesen, weil Randall James sie als alles andere als standesgemäß betrachtet hatte. Zu Stewarts Ehre musste gesagt werden, dass er sich nicht das Geringste daraus gemacht hatte. Er hatte mehr als einmal betont, dass es für sie beide besser war, sich von dem Alten loszusagen, als ewig unter seiner Fuchtel zu leben.

Auch nach Wills Geburt gab es keine Annäherung. Auf die Karte, die Hannah ihrem Schwiegervater damals geschickt hatte, hatte dieser nicht reagiert. Stewart erzählte sie nichts davon. Aber sie selbst hatte dieses hartnäckige Schweigen nie vergessen können, sodass sie sich unmöglich an den Mann wenden konnte, als Stewart anfing, sich seltsam zu benehmen. Hauptsächlich allerdings auch deshalb, weil sie wusste, dass der alte Herr ihr die Schuld an Stewarts unberechenbarem Verhalten geben würde – wie sie selbst übrigens auch.

Nach Stewarts Tod hatte Hannah ihn schließlich doch benachrichtigt, weil sie fand, dass er ein Recht darauf hatte, Bescheid zu wissen. Obwohl er sie bei der Beerdigung genau wie erwartet wie Luft behandelte, ließ er Will nicht aus den Augen. Hannah war sein plötzliches Interesse an seinem Enkel alles andere als geheuer gewesen – mit gutem Grund, wie sich wenig später herausstellen sollte.

Auf dem Weg vom Friedhof zu der wartenden Limousine hatte er sie grob beiseite gezerrt und ihr ein Angebot unterbreitet, das ihr die Zornesröte ins Gesicht trieb. Er nannte ihr eine Summe, mit der er ihr praktisch ihren Sohn abkaufen wollte, um ihn in seiner Luxusvilla in Asheville aufwachsen zu lassen.

Sein Vorschlag war so abwegig, dass Hannah Randall ins Gesicht lachte. Daraufhin warf er ihr vor, Stewart nur seines Geldes wegen geheiratet zu haben. Er war sogar unverschämt genug zu behaupten, sie habe Stewarts Tod wahrscheinlich billigend in Kauf genommen, um in den Genuss seiner Lebensversicherung zu gelangen. Und dann hatte Randall auf eine so hinterhältige Art ihre psychische Gesundheit infrage gestellt, dass es ihr eiskalt über den Rücken gelaufen war …

„Mommy, Mommy, da kommt Besuch.“ Will ließ die hölzernen Bauklötze liegen, mit denen er auf dem bunten Flickenteppich im Wohnzimmer gespielt hatte. Dann stellte er sich neben sie an das große Fenster, das die Aussicht auf einen sanften, momentan verregneten Berghang freigab. „Wer ist das denn, Mommy?“, fragte er, die kindliche Stimme fast schrill vor Aufregung.

Im letzten Jahr war es hier oben sehr still gewesen. Genauer gesagt war überhaupt nur selten jemand vorbeigekommen, seit Will alt genug war, um es zu registrieren. Seine Begeisterung über einen Besucher, ganz egal, um wen es sich dabei handelte, sagte alles.

Es gab genug Rechtfertigungen dafür, dass Hannah und ihr Sohn in den Wochen und Monaten nach Stewarts Tod zurückgezogen gelebt hatten. Die während der langen Wintermonate vereiste und verschneite Serpentinenstraße war nur einer dieser Gründe. Doch seit Frühjahrsbeginn wusste Hannah, dass sie mit Will wieder mehr unter Leute gehen musste und nicht bloß zum Einkaufen und Tanken nach Boone fahren durfte.

„Das ist wahrscheinlich der Mann, der wegen der Anzeige angerufen hat“, erklärte sie, als ein Jeep neuester Bauart die letzte Kurve nahm.

Draußen unter dem schützenden Vordach der Veranda erhob sich Nellie, die junge Jagdhündin, die Hannah im vergangenen September adoptiert hatte. Das Tier trottete über die hölzernen Verandabohlen und gab ein halbherziges Bellen von sich. Ein besonders guter Wachhund war Nellie nicht, das musste Hannah zugeben. Dafür war sie in kalten Winternächten eine gute Bettgefährtin, ganz zu schweigen davon, dass sie Will bei seinen täglichen Ausflügen im Auge behielt wie eine Glucke ihre Jungen.

„Aber ich kann dir doch im Garten helfen, Mommy“, sagte Will und schob seine kleine Hand in ihre.

„Das weiß ich, mein Schatz, und du hast mir auch schon viel geholfen, besonders mit den Setzlingen im Treibhaus. Aber es gibt jede Menge Arbeit, und zwar sehr viel mehr, als wir beide allein auch nur annähernd schaffen. Ich habe dir doch erzählt, dass vorhin ein Mann angerufen hat, oder?“

„Ja, Mommy. Aber ist er auch wirklich nett?“ Will klammerte sich an ihre Hand, während er Hannah in banger Erwartung musterte.

„Am Telefon klang es jedenfalls so“, gab sie zurück – in dem Bemühen, nicht nur ihrem Sohn, sondern auch sich selbst Mut zu machen. Sie wusste, dass es nicht ohne Risiko war, einen Fremden ins Haus einzuladen. Um ihrer Verantwortung gerecht zu werden, hatte sie deshalb mit dem Besitzer des kleinen Motels am Stadtrand von Boone gesprochen, in dem der Mann abgestiegen war, und sich versichern lassen, dass dieser einen ordentlichen Eindruck machte. Er wohnte bereits seit einigen Tagen dort und hatte mit einer noblen Kreditkarte im Voraus bezahlt.

Der Jeep kam ein paar Schritte vor dem mit Steinplatten belegten Weg zum Stehen. Gleich darauf schwang die Fahrertür auf und ein Mann stieg aus.

„Und weißt du auch schon, wie er heißt?“, fragte Will.

„Evan Graham.“

„Also aussehen tut er nett, oder?“, fand Will.

„Sehr nett“, stimmte Hannah spontan zu. In ihrem Bauch begann es merkwürdig zu kribbeln.

Evan Graham ging um den Jeep herum und den Fußweg, der zur Verandatreppe führte, hinauf. Dabei beeilte er sich, um nicht nass zu werden. Er war nur mittelgroß, damit aber immer noch ein paar Zentimeter größer als Hannah. Bekleidet war er mit einem rot karierten Flanellhemd, die Ärmel hatte er aufgekrempelt, sodass man seine muskulösen Unterarme sehen konnte. Dazu trug er ausgewaschene enge Jeans, die seine schmalen Hüften betonten, und fast neu wirkende braune Arbeitsstiefel. Sein dichtes blondes Haar war gut geschnitten und sein kantiges Kinn glatt rasiert.

Auch wenn Hannah natürlich wusste, dass das Äußere eines Menschen täuschen konnte, nahm sie erleichtert zur Kenntnis, dass Evan Graham kein bisschen bedrohlich wirkte, während er mit gesenktem Kopf angenehm leichtfüßig die Treppe heraufkam. Oben angelangt, schaute er auf das Haus und ließ den Blick langsam von rechts nach links wandern. Als er sie und Will am Fenster entdeckte, nickte er lächelnd.

Wieder verspürte sie dieses komische Kribbeln im Bauch. Sie hätte nicht sagen können, wie sie sich Evan Graham vorgestellt hatte.

Selbstverständlich war ihr am Telefon sofort aufgefallen, dass er nicht blöd war, sonst hätte sie ihn nicht eingeladen. Vor allem aber hatte sie ihn älter geschätzt, eher Ende vierzig als Ende dreißig, und vielleicht etwas milder und müder.

Aber der Mann, der jetzt auf der Veranda innehielt, um Nellie kurz die seidenweichen Schlappohren zu kraulen, erschien ihr nicht nur viel zu dynamisch, sondern auch völlig überqualifiziert. Schwer vorstellbar, dass er an einem schlecht bezahlten Aushilfsjob interessiert sein könnte.

„Also, Nellie mag ihn jedenfalls“, bemerkte Will.

„Nellie mag jeden“, erinnerte Hannah ihren Sohn, wobei sie ihn anlächelte und wieder seine Hand drückte.

„Machst du ihm nicht auf?“

„Stimmt, gute Idee.“

Erst nachdem ihr Sohn sie an ihre guten Umgangsformen erinnert hatte, löste sich Hannah vom Fenster. Da der Mann sie bereits entdeckt hatte, wusste er, dass sie seine Ankunft beobachtet hatte. Es gab also keinen Grund zu warten, bis er sich durch Klopfen bemerkbar machte.

Bevor sie die Hand nach dem Türknauf ausstreckte, strich sie sich die Strähnen zurück, die sich aus ihrem langen Zopf gelöst hatten, und wünschte sich zum ersten Mal seit Monaten, wenigstens einen Hauch Make-up aufgelegt zu haben. Im nächsten Moment jedoch schalt sie sich schon als albern. Du lieber Himmel, sie war eine verwitwete Frau und Mutter, die einen tüchtigen Gartenarbeiter für ihre verwilderte Obst- und Gemüsefarm suchte, keinen Liebhaber oder Freund. Andererseits ließ sich nicht bestreiten, dass der Anblick von Evan Graham etwas in ihr geweckt hatte, irgendetwas, das sie hoffen ließ, er möge ihr Angebot annehmen. Aber wenn ihm erst klar wurde, dass es ein Knochenjob war – und obendrein auch noch ein schlecht bezahlter –, würde er sich wahrscheinlich sofort wieder verabschieden.

„Mr Graham?“, fragte Hannah höflich distanziert, während sie die Tür weit öffnete.

„Evan … Evan Graham.“ Er tätschelte Nellie ein letztes Mal den Kopf, bevor er sich aufrichtete und ihr die Hand hinstreckte. „Und Sie sind Mrs James?“

„Hannah James“, erwiderte sie, erfreut über seinen festen Händedruck, aber auch erleichtert über dessen unpersönliche Kürze.

„Ich bin Will“, verkündete ihr Sohn und schob sich neben sie in die Türöffnung, wobei er den Besucher aus neugierigen dunklen Augen musterte. „Und das ist Nellie, die Hündin.“

„Guten Tag, Will. Sehr erfreut, dich kennenzulernen.“ Während Will kicherte, drehte sich Evan Graham zu Nellie um und machte eine förmliche Verbeugung. „Dir auch einen guten Tag, Nellie, die Hündin.“

„Sie hat schon wieder vergessen, dass sie nicht auf dem Wohnzimmerteppich herumkauen darf und muss jetzt zur Strafe eine Weile auf der Veranda bleiben“, erklärte Will.

„So ist es“, sagte Hannah und lächelte ihrem Sohn zu. Dann schaute sie Evan Graham wieder an und sah, dass sein Gesicht einen sehr sanften Ausdruck annahm, als er Will mit freundlichem Interesse betrachtete. Plötzlich fühlte sie sich auf eine Art ermutigt, die sie sich nicht erklären konnte. Sie trat einen Schritt beiseite und machte eine einladende Handbewegung. „Kommen Sie herein, Mr Graham. Drinnen ist es warm, und frischen Kaffee gibt es auch.“

„Klingt gut“, erwiderte er mit einem erfreuten Lächeln.

„Darf Nellie auch mit rein? Bitte, bitte“, rief Will. „Ich kann dann ja mit ihr im Wohnzimmer spielen, und ich pass auch ganz doll auf, dass sie nicht wieder auf dem Teppich rumkaut.“

Nellie schaute Hannah zerknirscht aus seelenvollen braunen Augen an, als ob ihr Schicksal an einem dünnen Faden hinge.

„Also gut“, stimmte Hannah schließlich zu, überzeugt davon, dass sie wieder einmal zu nachgiebig war. Da stürmte Nellie auch schon ohne einen Blick zurück mit wehenden Ohren und Will im Schlepptau ins Haus.

„Manchmal frage ich mich wirklich, wer hier das Sagen hat“, seufzte Hannah.

„Sie scheinen doch alles bestens im Griff zu haben“, erwiderte Evan, während er hinter ihr das Haus betrat und dann stehen blieb, um sich umzusehen.

Hannah, die einen Anflug von Überraschung in seiner Stimme mitschwingen hörte, fragte sich, was er wohl erwartet haben mochte. Von der Veranda aus gelangte man direkt in die L-förmig angelegte Wohnebene, die unterteilt war in Küchen-, Ess- und Wohnbereich. Die schlichten Möbel aus Mahagoni und Rosenholz glänzten, weil Hannah sie erst kürzlich mit Möbelpolitur behandelt hatte. Im Wohnbereich gab es eine modernere bequeme Sitzgruppe, die aus einer Couch und Sesseln bestand. Auf dem bunten Flickenteppich lag Spielzeug von Will, und auf einem Beistelltisch waren einige Bücher und Gartenmagazine griffbereit gestapelt. Aber wirklich unordentlich war es bei ihnen nicht – nie gewesen.

„Ich finde es einfach praktischer, regelmäßig aufzuräumen, als zu warten, bis einem alles über den Kopf wächst. Leider habe ich es während der Krankheit meines Mannes nicht geschafft, mich genauso sorgfältig um meine Gewächshäuser und Beete zu kümmern. Deshalb suche ich jetzt jemanden, der mir beim Unkrautjäten und Pflanzen hilft, damit ich in dieser Saison etwas auf den Markt bringen kann.“

„Aus diesem Grund bin ich hier“, sagte Evan.

Er folgte ihr in die Küche. Vor dem runden Holztisch blieb er stehen und blickte Hannah erwartungsvoll an.

„Tja … Unkraut jäten, kompostieren und Stauden teilen ist harte körperliche Arbeit, und unzählige Setzlinge in unzählige winzige Töpfe zu pflanzen kann sehr ermüdend sein“, erklärte Hannah. „Außerdem ist die Bezahlung alles andere als üppig, aber mehr kann ich mir zurzeit leider nicht leisten.“ Sie war überzeugt davon, dass Offenheit in diesem Fall das Beste war.

„Ich verstehe.“

„Und das schreckt Sie nicht?“, fragte Hannah über die Schulter, während sie Kaffeebecher aus dem Hängeschrank nahm.

„Sonst wäre ich nicht hier.“ Evan Graham begegnete ihrem Blick mit einem entspannten Lächeln.

Irgendwie passt er gut in meine kleine Küche, fand sie. Es ist fast so, als gehörte er hierher. „Na gut, dann setzen Sie sich, damit wir uns ein bisschen unterhalten können.“ Fürs Erste atmete sie erleichtert auf, dann drehte sie sich wieder um, streckte die Hand nach der Kaffeekanne aus und schenkte ein. „Milch und Zucker?“

„Nur Milch, bitte.“

„Ich habe Sahne da oder entrahmte Milch, was Sie lieber möchten.“

Mit den Kaffeebechern in der Linken nahm Hannah mit der Rechten Löffel aus einer Schublade und Servietten aus einem Körbchen auf dem Tresen, dann trug sie alles zum Tisch.

„Dann lieber Sahne“, sagte er, während sie zum Kühlschrank ging. „Auch wenn es ungesund ist.“

„Es ist eine lässliche Sünde“, gab sie mit einem kleinen Lächeln zurück.

Sie nahm die Sahne aus dem Kühlschrank und stellte sie auf den Tisch. Dann holte sie die Blechdose mit den Schokoladenkeksen, die sie gestern Nachmittag gebacken hatte.

„Mm, lecker“, bemerkte Evan, als sie die Dose auf den Tisch stellte. „Noch eine lässliche Sünde?“

In Hannahs Augenwinkeln bildeten sich Lachfältchen. „Wenn man nicht mehr als eines isst, dann ja. Andernfalls ist man auf dem besten Weg in die Zügellosigkeit“, scherzte sie – und erschrak über sich selbst, als ihr klar wurde, dass sie mit dem Mann flirtete.

„Und Zügellosigkeit ist eine schlechte Sache?“

„Nicht unbedingt.“

Nachdem sie sich ihm gegenübergesetzt hatte, tat sie sich mit einem leicht zerknirschten Lächeln Sahne in ihren Kaffee und nahm sich einen Keks. Obwohl der Mann sie aufmerksam beobachtete, spürte sie doch, dass sie und Will nichts von ihm zu befürchten hatten. Genau genommen fühlte sie sich sogar ausgesprochen wohl mit ihm, hier, an diesem grauen, nasskalten Tag in ihrer mollig warmen Küche.

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass Zügellosigkeit zu Ihren Lastern gehört, Mrs James“, bemerkte Evan, während er den Löffel, mit dem er umgerührt hatte, auf seiner Serviette ablegte. Dann nahm er sich einen Keks.

„Nennen Sie mich doch bitte Hannah“, forderte sie ihn auf. „Ja, Sie haben recht – zur Zügellosigkeit neige ich wirklich nicht. Und was ist mit Ihnen, Mr Graham?“

„Evan. Nein, normalerweise auch nicht, obwohl ich mir jetzt unbedingt noch einen Keks nehmen muss. Sie sind wirklich köstlich.“

„Danke.“ Hannah lächelte. Als ihr Blick zufällig auf seine Hände fiel, stutzte sie. Sie wirkten gepflegt und zeigten keinerlei Spuren harter körperlicher Arbeit, die Nägel waren sauber und ordentlich geschnitten.

„Sie sind plötzlich so nachdenklich“, bemerkte er.

Sie wurde nicht rot und fing auch nicht an zu stottern. Schließlich war es ihr gutes Recht, wachsam zu sein. „Sie arbeiten normalerweise nicht mit den Händen, richtig?“, fragte sie und schaute ihm in die Augen.

Für einen Sekundenbruchteil erstarrte Evan, dann lächelte er ein wenig verlegen.

„Ist das so offensichtlich?“

„Ja.“ Anstelle einer Erklärung fuhr sie sich kurz über den Handrücken.

„In letzter Zeit hat sich die körperliche Arbeit bei mir wirklich in Grenzen gehalten“, gestand er. „Aber das heißt nicht, dass ich ein Problem damit habe.“

„Und was haben Sie zuletzt gemacht … Evan?“

„Ich war bei einer Computerfirma in Charlotte tätig, bis sie von einer größeren Firma geschluckt wurde. Vor gut einem Monat hat man mich mit einer Abfindung entlassen.“ Er zog ein ordentlich zusammengefaltetes Blatt Papier aus seiner Brusttasche. „Hier ist eine Liste mit Namen und Telefonnummern von Leuten, die bereit sind, mir Referenzen zu geben. Sie können sie jederzeit anrufen.“

Hannah nahm das Blatt entgegen, faltete es auf und schaute auf eine sauber getippte Liste mit Namen, Adressen und Telefonnummern. Natürlich war die Liste selbst noch kein Beweis für Evans Zuverlässigkeit, schließlich kannte Hannah keinen einzigen Namen, den sie dort las. Und trotzdem: Allein weil es diese Liste gab, war Hannah geneigt, dem Mann zu vertrauen, auch wenn längst noch nicht alle Fragen beantwortet waren.

„Und was führt Sie ausgerechnet hierher?“, erkundigte sie sich nun. Wieder begegnete sie seinem Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

„Ich will beruflich einfach mal etwas ganz anderes machen, und das schien mir eine günstige Gelegenheit zu sein. Mich interessiert, ob ich mit einer anderen Art Arbeit in einer anderen Umgebung vielleicht glücklicher werde, als ich es mit einem Zwölf- bis Vierzehnstundentag in einem Büro in Charlotte war“, erwiderte er, ohne zu zögern.

„Aber bei mir würden Sie nicht einmal annähernd so viel Geld verdienen“, wandte Hannah ein.

„Ich bin nicht allzu anspruchsvoll. Im Moment brauche ich bloß ein Dach überm Kopf und etwas zu essen, und in Ihrer Anzeige stand ‚einschließlich Kost und Logis‘.“

„Ja, das ließe sich einrichten“, stimmte Hannah zu. „Sie hätten den ersten Stock ganz für sich allein. Das Zimmer ist natürlich möbliert, und ein Bad gibt es da oben auch. Es ist mein früheres Mädchenzimmer, das mein Mann später als Arbeitszimmer benutzt hat. Und drei Mahlzeiten pro Tag könnte ich Ihnen auch anbieten.“

„Wenn das Essen so gut schmeckt wie Ihre Schokoladenkekse, ist das ein ausgesprochen verlockendes Angebot.“ Er grinste und nahm sich noch ein drittes Plätzchen.

„Na ja, kochen kann ich ganz gut“, erwiderte Hannah, die sich ein bisschen geschmeichelt fühlte.

„Gut, dann wäre ich einverstanden, Hannah … falls Sie mich haben wollen.“

„Ich freue mich über Ihr Interesse, aber der Fairness halber sollte ich Sie wirklich erst einmal herumführen, damit Sie ungefähr einschätzen können, was auf Sie zukommt. Haben Sie einen Regenschutz dabei?“

„Meine Regenjacke ist im Jeep. Ich hole sie nur rasch, okay?“

„Okay“, gab Hannah zurück, während sie aufstand.

2. KAPITEL

Evan nahm seine Regenjacke vom Rücksitz des Jeeps und schlüpfte hinein, so langsam, dass er Zeit hatte, etwas Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Und das war nicht ganz einfach.

Er konnte sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so durcheinander gewesen war. Hannah James war das glatte Gegenteil dessen, was er erwartet hatte. Randall James hatte ihm vor knapp einer Woche eine vollkommen andere Frau beschrieben. Mit den langen dunklen Haaren, die sie sich zu einem Zopf geflochten hatte, und ohne Make-up wirkte sie naturverbunden und bodenständig. Und obwohl die Jeans, der rote Pullover und die knöchelhohen Boots nicht neu waren, war doch alles gepflegt und sauber.

Ebenso wenig hatte sich Hannah als die bösartige, geldgierige und gefühllose Person präsentiert, die sie ihrem früheren Schwiegervater zufolge sein sollte. Dass sie den Tod ihres Ehemannes billigend in Kauf genommen hatte, um dessen Lebensversicherung zu kassieren, erschien Evan nach dem, was er von ihr bisher mitbekommen hatte, äußerst unwahrscheinlich. Auch ihrem kleinen Sohn schien es gut zu gehen, er wirkte wie ein ganz normaler glücklicher Fünfjähriger.

Entweder hatte sich Hannah James also in Rekordgeschwindigkeit und auf wundersame Weise in eine warmherzige, freundliche und liebevolle Mutter verwandelt, oder sein Klient hatte ihn nach Strich und Faden belogen.

Durch seine Arbeit bei der Polizei und die anschließende Tätigkeit als Privatdetektiv hatte Evan eine gute Menschenkenntnis entwickelt. Er war so erfolgreich, dass er sich seine Klienten aussuchen konnte, und eines seiner wichtigsten Auswahlkriterien war stets deren vermutete Aufrichtigkeit ihm gegenüber.

Ihm entging selten, wenn ihn jemand belog. Genauer gesagt konnte er sich nur an einen einzigen Fall erinnern, bei dem es einem neuen Klienten gelungen war, ihm Sand in die Augen zu streuen – dies allerdings gründlich, wie Evan zugeben musste. Andererseits war es aber auch so, dass alles im Leben mindestens zwei Seiten hatte. Es kam nur selten vor, dass zwei Menschen dieselbe Situation exakt gleich beurteilten … am allerwenigsten dann, wenn die Beteiligten auch noch Gegenspieler waren. Evan hatte seine Erfahrungen damit, wie grotesk Vorwürfe manchmal übertrieben wurden.

Eine einsame, von Minderwertigkeitskomplexen geplagte Ehefrau würde ihren freundlichen, dezent flirtenden, aber ansonsten pflichtbewussten Ehemann wahrscheinlich als einen unverbesserlichen Schürzenjäger bezeichnen, der sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit betrog. Der Inhaber einer kleinen Firma, der sah, dass ein oftmals aufmüpfiger Angestellter ein neues teures Auto fuhr, vermutete vielleicht, dass ihn ebenjener Angestellte in irgendeiner Weise bestahl. Solche Beispiele ließen sich beliebig viele finden.

Evan hatte mit Randall James zunächst telefonisch und später persönlich gesprochen. Evan hatte Fragen gestellt, die James allem Anschein nach offen beantwortete. Der Mann hatte ruhig und besonnen gewirkt und konnte ihm in die Augen schauen. Nur seine Besorgnis war unübersehbar gewesen. Und durchaus verständlich, wie Evan damals gedacht hatte. Sogar mehr als verständlich, wenn er an seine eigene Kindheit dachte. Schließlich war er bei einer Mutter aufgewachsen, die man – vor allem, wenn sie betrunken war – ganz bestimmt nicht als liebevoll und fürsorglich bezeichnen konnte. Deshalb hatte es sich Evan als Erwachsener zur Aufgabe gemacht, verwahrloste und von ihren Eltern misshandelte Kinder aus ihrem wenig zuträglichen Umfeld zu retten.

Hannah und ihr Sohn lebten jedoch nicht unter derartigen Umständen. Ihr Zuhause war freundlich und einladend, sie wohnten in einem gepflegten Haus, nicht in einem vergammelten Wohnwagen und schon gar nicht in einer Holzhütte, wie Randall James es hatte erscheinen lassen. Evan fragte sich, ob der Mann jemals dort gewesen war, dann entschied er, dass das unmöglich war.

Ebenso wenig hatte Evan auch nur das leiseste Anzeichen dafür entdecken können, dass Hannah James hinterhältig und neurotisch war, wie ihr Schwiegervater behauptete. Sie war allenfalls etwas scheu, aber auf eine durchaus liebenswerte Art. Und natürlich war sie Evan gegenüber wachsam, was man ihr gewiss nicht verübeln konnte. Jede allein lebende Frau, die auch nur einen Funken Verstand hatte, würde wachsam sein, wenn sie einen fremden Mann in ihr Haus einlud, egal, wie vertrauenswürdig er auf den ersten Blick erscheinen mochte.

Aber gab es jetzt überhaupt noch einen Grund für Evan, diesen Job anzunehmen, wenn das, was Randall James über Hannah erzählte, doch so offensichtlich falsch war?

Evan konnte immer noch nicht glauben, dass er sich von dem Mann so leicht hatte hinters Licht führen lassen. Hatte seine Menschenkenntnis wirklich so gründlich versagt? Oder war Hannah James eine begnadete Schauspielerin, die es verstand, ihre Niedertracht hinter einer liebenswürdigen Maske zu verbergen?

Dann würde sie allerdings viel Geschick brauchen, um eine solche Rolle tage- oder gar wochenlang durchzuhalten. Obwohl ihm nicht einleuchten wollte, warum sie sich diese Mühe überhaupt machen sollte. In ihren Augen war er nur ein Mann, der Arbeit suchte. Deshalb hatte sie gar keinen Grund, sich ihm gegenüber zu verstellen. Und ein fünfjähriges Kind dazu zu zwingen, glücklich zu wirken, wenn dies nicht der Fall war, war fast unmöglich.

Als Evan von seinem Wagen aus Hannah, Will und Nellie die Hündin auf die Veranda kommen sah, beobachtete er die drei noch einen Moment lang. Er war immer noch unentschieden, was er tun sollte. Schließlich entdeckte Hannah ihn und winkte ihm zu. Das war für ihn das Zeichen, die Druckknöpfe seiner Regenjacke zu schließen. Seine Entscheidung war gefallen.

„Es ist scheußlich matschig da draußen. Sind Sie wirklich sicher, dass Sie Ihre neuen Stiefel ruinieren wollen?“, fragte Hannah. Sie schaute unter ihrer dunkelgrünen Kapuze zu ihm auf, nachdem er sich zu ihnen gesellt hatte.

Ihre Stimme klang zögerlich, und Besorgnis spiegelte sich in ihren warmen braunen Augen. Sofort musste Evan wieder daran denken, dass die Hannah James, die er hier vor sich sah, nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Hannah James aufwies, die man ihm beschrieben hatte.

„Das sind Arbeitsstiefel, und angeblich sind sie wasserdicht. Betrachten wir es also als Härtetest.“

„Na schön, wenn Sie meinen“, erwiderte sie, offensichtlich erleichtert. „Am besten fangen wir bei den Gewächshäusern an.“

Als Hannah sich umdrehte und den asphaltierten Weg hinunterging, sah Evan, dass sie in ihrer grünen Regenjacke mit der üppig grünen Frühjahrslandschaft fast verschmolz. Sie führte ihn anmutig und selbstbewusst in ihre Welt. Und er folgte ihr mit einer Bereitschaft, die eindeutig mehr mit ihren weiblichen Reizen zu tun hatte als mit seinem Auftrag.

Autor

Nikki Benjamin
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