Küss mich, Chérie

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Eine laue Frühlingsnacht, ein malerisches Dorf in Frankreich, und das einzige freie Hotelzimmer hat nur ein Bett: Sarah, schon lange heimlich verliebt in ihren Reisebegleiter James, ist im siebten Himmel. Doch am Morgen danach scheint der Traum von Liebe ausgeträumt...


  • Erscheinungstag 22.02.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733788001
  • Seitenanzahl 128
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Das Freizeichen ertönte, und Sarahs Nervosität nahm zu. Sarah war James MacAllister bisher zwei Mal begegnet, und das genügte ihr, um zu ahnen, dass er das, was sie ihm nun mitteilen musste, nicht sonderlich gut aufnehmen würde. Nicht, dass sie ihm das zum Vorwurf hätte machen können, alle Eltern wären wohl …

„MacAllister.“

Die Stimme klang trotz der schlechten Verbindung unmissverständlich schroff. Plötzlich sah Sarah ihn wieder so wie bei ihrer letzten Begegnung vor drei Monaten vor sich: mit dunklem, eiskaltem Blick, das schmale Gesicht angespannt vor nur mühsam unterdrücktem Zorn. Sarah erschauerte. Sie hätte ihre Kollegin Mrs Lawrence bitten sollen, ihr dieses Gespräch abzunehmen.

„Hallo, wer ist dort?“ Die Stimme klang jetzt ungeduldig, und Sarah wurde klar, dass sie durch ihr Zögern die Sache nur verschlimmerte.

„Mr MacAllister, hier spricht Sarah Marshall. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern, ich unterrichte Ihre Tochter Catherine.“

„Ich erinnere mich durchaus, Miss Marshall.“

Natürlich. Ihre Bemerkung vor ein paar Monaten hatte ihm ganz und gar nicht gepasst, und er hatte ihr, Sarah, wohl noch immer nicht verziehen.

„Ist etwas passiert, Miss Marshall?“

„Ich …“ Was machte sie nur so nervös? Sie war es gewohnt, sowohl mit Schülern als auch mit Eltern fertig zu werden, doch James MacAllister brauchte nur etwas zu sagen, und schon geriet sie ins Stocken wie ein Teenager. Dabei war sie eine erwachsene Frau von dreißig Jahren, die einen verantwortungsvollen Beruf ausübte! Sarah ärgerte sich über sich selbst. „Ich fürchte, Catherine ist verschwunden, Mr MacAllister.“

„Verschwunden? Was meinen Sie damit? Ich dachte, sie wäre auf einer Studienfahrt in Frankreich?“

„Das stimmt.“ Sarah atmete tief durch. „Ich rufe aus Paris an.“

„Dann erklären Sie mir doch bitte, was eigentlich genau los ist! Ich habe meine Erlaubnis zu dieser Fahrt nicht gegeben, nur damit Sie Catherine verlieren!“

„Ich habe sie nicht verloren! Und bisher ist alles programmgemäß verlaufen. Wir waren alle im Louvre, Mrs Lawrence, Miss Jacobs, die Mädchen und ich, als Catherine plötzlich … nun, eben nicht mehr da war.“

„Niemand verschwindet so einfach, Miss Marshall. Haben Sie auch gründlich gesucht? Vielleicht hat sie sich verlaufen und weiß jetzt nicht, wie sie zu Ihnen zurückfinden soll!“

„Mr MacAllister, wir haben zwei Stunden lang nach ihr gesucht! Dazu schalteten wir sogar die Museumswärter mit ein. Glauben Sie mir, sie war nirgends zu finden.“

„Also war sie nicht mehr im Louvre. Haben Sie weitere Nachforschungen angestellt? Meine Tochter ist nicht der Typ Mädchen, der einfach davonläuft.“

„Ich bezweifle stark, ob Sie wissen, was für ein Mädchen Ihre Tochter ist, Mr MacAllister. Wahrscheinlich liegt gerade da das Problem.“ Das hätte sie nicht sagen sollen. Sarah bereute ihre Worte sofort, aber sie ließen sich nicht mehr zurücknehmen. Sie schloss die Hand fester um den Hörer und wartete auf James MacAllisters Wutausbruch.

Der folgte prompt. „Was glauben Sie, wer Sie sind, dass Sie sich ein solches Urteil erlauben? Ich zahle Ihrer Schule eine Menge Geld, damit meine Tochter eine anständige Erziehung bekommt! Ich habe etwas dagegen, dass die Beziehung zwischen mir und meiner Tochter von einer ältlichen Jungfer kommentiert wird, die keine Ahnung hat, wie es im Kopf eines jungen Mädchens aussieht!“

„Was unterstehen Sie sich! Mr MacAllister, ich protestiere …“

Er fiel ihr ins Wort. „Ehrlich gesagt, Ihr Protest ist mir ziemlich gleichgültig, Miss Marshall. Mein einziges Interesse gilt momentan meiner Tochter und dem, was ihr zugestoßen sein könnte. Ich nehme an, Sie haben die Polizei verständigt?“

„Natürlich. Man hat mir jedoch geraten, unter den gegebenen Umständen noch ein, zwei Tage abzuwarten, ehe ich eine Vermisstenanzeige aufgebe.“

„Unter welchen Umständen? Catherine ist verschwunden, und ich werde Sie persönlich dafür verantwortlich machen, wenn ihr aufgrund Ihrer Unfähigkeit irgendetwas zugestoßen ist. Und nun rate ich Ihnen, sich schleunigst wieder mit der Polizei in Verbindung zu setzen. Ich möchte, dass umgehend etwas unternommen wird.“

„Hören Sie sich meinen Bericht doch erst mal zu Ende an, Mr MacAllister.“ Sarah beherrschte sich nur mit Mühe. „Ich fürchte, mit Catherines Verschwinden hat es eine besondere Bewandtnis. Als ich vorhin ins Hotel zurückkehrte, fand ich eine Nachricht von ihr in meinem Zimmer. Auf dem Zettel stand, sie ginge mit Philippe fort, und ich solle mir keine Sorgen machen.“

„Philippe? Wer ist das, Miss Marshall?“

„Ein Kellner unseres Hotels. Catherine wurde nicht entführt, wie Sie offenbar annehmen, sondern sie ist mit Philippe durchgebrannt. Jetzt verstehen Sie vielleicht, warum die Polizei nicht sofort eine Großfahndung einleiten wollte.“

„Durchgebrannt? Wie konnten Sie erlauben, dass ein Kellner mit meiner Tochter anbandelt, während sie sich in Ihrer Obhut befand?“

„Ich konnte weder etwas erlauben noch etwas verhindern, weil ich keine Ahnung hatte, dass Catherine mit …“

„Sie haben doch wohl Augen im Kopf. Sie hätten sehen müssen, was sich da abspielt. Selbst Sie in Ihrer akademischen Weltfremdheit hätten die Anzeichen erkennen müssen. Vermutlich haben Sie es schon häufiger mit verliebten Fünfzehnjährigen zu tun gehabt, auch wenn Sie persönlich wahrscheinlich solche Empfindungen niemals hatten!“

Eigentlich hätten ihr diese harten Worte nicht wehtun dürfen. Sie hätte sie ignorieren und seiner Aufregung wegen seiner Tochter zuschreiben sollen. Trotzdem versetzten sie Sarah einen schmerzhaften Stich. War das das Bild, das er und alle anderen sich von ihr machten? Das einer alten Jungfer, die nie normale emotionale Regungen verspürte? Nun ja, die letzten zehn Jahre hatte sie sehr zurückgezogen gelebt, ob das Spuren bei ihr hinterlassen hatte?

„… und deshalb werde ich in ein paar Stunden in Paris sein.“

Sarah zuckte zusammen, sie hatte gar nicht mitbekommen, was James MacAllister zuvor gesagt hatte. „Verzeihung, aber sagten Sie gerade, dass Sie hier herkommen werden?“

„Natürlich. Jemand muss sich ja dieser Sache annehmen, denn Sie sind offenbar nicht imstande dazu. Ich nehme den nächsten Flug.“

Sein Sarkasmus verletzte sie, aber sie unterdrückte eine entsprechende Erwiderung. „Hören Sie, Catherine ist kein Kind mehr, sie ist fast sechzehn, und …“

„Ich weiß, wie alt sie ist. Ich weiß aber auch, dass ich um nichts in der Welt tatenlos zusehen werde, wenn irgendein junger Kerl sie zu Dummheiten anstiftet!“

James MacAllister knallte den Hörer auf, und erst jetzt merkte Sarah, dass sie zitterte. Sie schloss die Augen, der pochende Schmerz hinter ihren Schläfen nahm zu. Die arme Catherine würde viel Klatsch über sich ergehen lassen müssen, wenn sie zur Schule zurückkam – das hieß, falls ihr Vater ihr den weiteren Besuch dieser Schule erlaubte, was zweifelhaft war. Er schien zu glauben, dass alles ihre, Sarahs, Schuld sei, dabei hatte sie schon vor Monaten versucht, ihn zu warnen und ihm zu sagen, wie unglücklich Catherine sich fühlte, aber er hatte nicht zuhören wollen. Nun kannte sie, Sarah, den Grund. Denn jetzt wusste sie ja, wofür MacAllister sie hielt – für eine ältliche Jungfer!

Sarah stand auf und trat vor den Spiegel. Was sie sah, ermutigte sie nicht gerade. Mit ihrem blassen Teint, den blaugrauen Augen und dem im Nacken zusammengefassten hellbraunen Haar entsprach sie leider nur zu sehr seiner Beschreibung. Sie wirkte wie die Karikatur einer altjüngferlichen Lehrerin. Sogar die Kleidung passte, der weiße Rolli und das dunkelblaue Kostüm. Warum war ihr bisher bloß nie aufgefallen, wie streng sie allmählich auszusehen begann? Sie schaute jeden Tag in den Spiegel, doch heute entsetzte es sie auf einmal, dass es schon so viele Jahre her war, seit ihr zum letzten Mal ein lachendes, von weich fallenden Locken umrahmtes Gesicht daraus entgegengeblickt hatte. Sie war damals ein ganz anderer Mensch gewesen, fröhlich und unbeschwert … Doch dann war „es“ passiert, und danach hatte sich ihr Leben dramatisch verändert.

Sarah wandte sich abrupt ab und kämpfte gegen den vertrauten scharfen Schmerz in ihrem Innern an. Vor zehn Jahren hatte sie die Scherben ihres bisherigen Lebens aufgesammelt und mühsam zu dem gekittet, woraus ihr jetziges Leben bestand. Und daran ließ sich nichts mehr ändern.

Im Hotel herrschte Ruhe, nachdem die Mädchen zu Bett gegangen waren. Sarah trank einen Schluck von dem starken Kaffee, den Madame ihr gemacht hatte, und genoss die Ruhe. Den ganzen Abend hatten die Mädchen nur darüber spekuliert, wo Catherine wohl stecken mochte, bis Sarah sie am liebsten angeschrien hätte, sie sollten endlich damit aufhören. Erleichtert hatte sie aufgeatmet, als es schließlich Schlafenszeit war und auch ihre Kolleginnen sich zurückzogen. Die bevorstehende Begegnung mit James MacAllister wollte Sarah lieber ohne Zeugen hinter sich bringen, denn vermutlich würde er sich wieder zu unschmeichelhaften Bemerkungen hinreißen lassen.

Draußen vor dem Haus fiel eine Autotür zu, und Sarah sprang mit klopfendem Herzen auf und eilte ans Fenster. Es handelte sich jedoch nur um ein paar Hotelgäste, und so setzte sie sich wieder in ihren Sessel. Wo blieb MacAllister nur? Er hatte gesagt, er käme mit dem nächstmöglichen Flug, und das war nun schon einige Stunden her. Wenn seine Maschine Verspätung hatte, würde er womöglich noch schlechterer Laune sein.

Sarah wartete weiterhin im Salon des Hotels, doch gegen Mitternacht reichte es ihr. Die ganze letzte Woche hatte sie es ununterbrochen mit einem Dutzend lebhafter Fünfzehnjähriger zu tun gehabt, und der heutige Tag war ebenfalls sehr anstrengend gewesen. Ob es MacAllister nun passte oder nicht, sie brauchte dringend Schlaf. Also hinterließ sie beim Nachtportier eine Nachricht für James MacAllister, dass sie gleich am Morgen mit ihm reden würde.

In ihrem Zimmer zog sie ihr Kostüm aus und hängte es ordentlich auf einen Bügel. Leider hatte der Raum kein eigenes Bad, und sie war zu müde, um die Gemeinschaftsdusche am anderen Ende des Flurs aufzusuchen. Sarah beschloss, sich am Waschbecken zu waschen.

Sie hatte gerade die Seife zur Hand genommen, da klopfte es an der Tür. Sarah wollte nach ihrem Bademantel greifen, hielt aber wie erstarrt in der Bewegung inne, als die Tür aufflog und James MacAllister ins Zimmer trat.

„Nun? Haben Sie schon etwas von Catherine gehört?“, fuhr er Sarah ohne Umschweife an, sein Blick war kalt.

Angst stieg in ihr auf. „Hinaus! Was fällt Ihnen ein, hier einfach so hereinzukommen? Gehen Sie, sofort!“

„Ich gehe nirgendwohin, Miss Marshall.“ Er schloss die Tür hinter sich und schmunzelte leicht, als er Sarahs erschrockenen Augenausdruck wahrnahm. „Tut mir leid, wenn ich Ihr Gefühl für Schicklichkeit verletze, aber jetzt ist nicht der Zeitpunkt, sich über so etwas den Kopf zu zerbrechen. Schließlich ist meine Tochter verschwunden.“

„Das gibt Ihnen nicht das Recht, sich so zu benehmen. Verschwinden Sie, sonst rufe ich den Portier und lasse Sie hinauswerfen. Das geht zu weit!“

„Zu weit? Nein, was hier zu weit geht, ist die Tatsache, dass Sie es meiner Tochter erlaubt haben, mit irgendeinem französischen Casanova durchzubrennen!“ Seine Wangen röteten sich vor Zorn. Obwohl MacAllister fast hager wirkte, war nicht zu übersehen, dass er über große physische Kraft verfügte, und das flößte Sarah Furcht ein. Sein Haar war sehr dunkel, fast schwarz, seine Haut tief gebräunt, und seine Augen hatten die Farbe dunkler Obsidiane. Seine ganze Haltung war unnachgiebig, fast bedrohlich, und Sarahs Herzschlag geriet ins Stocken. Sie hasste sich dafür, dass sie solche Angst vor ihm hatte.

„Niemand hat Ihrer Tochter das erlaubt, es war ihr eigener Entschluss. Und Philippe ein Casanova …“ Sie holte tief Luft. „Mr MacAllister, Sie wissen nicht, wovon Sie reden. Trotzdem bin ich nicht bereit, hier mit Ihnen zu diskutieren. Verlassen Sie mein Zimmer. Wir werden das Gespräch im Salon fortsetzen, sobald ich mir etwas angezogen habe.“

„Miss Marshall, es wäre mir sogar gleichgültig, wenn Sie ganz nackt wären. Mir geht es nur um Catherine, und wenn Sie glauben, ich verschiebe diese Unterredung, nachdem ich bereits so viel Zeit durch den Fluglotsenstreik verloren habe, dann irren Sie sich.“ Sein Blick glitt flüchtig über ihren BH und den Slip, dann nahm James MacAllister ihren Bademantel vom Haken an der Tür und warf ihn Sarah zu. „Da, ziehen Sie den über, wenn Sie sich so besser fühlen, und dann können wir vielleicht über wichtigere Dinge sprechen als Ihre verletzte Würde!“

Sarah fing den Mantel auf und schlüpfte hinein. Sie band den Gürtel fest zu und zwang sich, MacAllisters kaltem Blick standzuhalten. Jetzt, wo sie etwas anhatte, fühlte sie sich zwar etwas besser, aber immer wieder musste sie an das letzte Mal denken, als ein Mann wütend in ihrem Schlafzimmer gestanden hatte.

„Wo haben Sie die Nachricht, die Catherine Ihnen hinterlassen hat?“

Wortlos trat sie an die Kommode und nahm einen Zettel aus der Schublade, den sie ihm reichte.

Er überflog ihn rasch, dann sah er Sarah an. „Und was sagte die Polizei dazu? Ich nehme doch an, Sie haben daran gedacht, den Zettel vorzuzeigen?“

Sarah ignorierte die bissige Bemerkung. „Natürlich. Die Polizei schien das für ein relativ gutes Zeichen zu halten. Man sagte mir, wir sollten uns keine zu großen Sorgen machen, da Catherine ja wohl freiwillig mit Philippe gegangen sei.“

„Freiwillig? Sie ist doch fast noch ein Kind! Sie ist viel zu jung, um zu wissen, was sie tut!“ Seine Augen begannen vor Wut zu glitzern, und Sarah wich instinktiv einen Schritt zurück. Wieder quälten sie diese bitteren, dunklen Erinnerungen, die sie die meiste Zeit zu verdrängen versuchte. Einst hatte sie Tag und Nacht mit ihnen gelebt, wie in einem nicht enden wollenden Albtraum, aber mit der Zeit war es ihr gelungen, diese Ängste in den hintersten Winkel ihrer Seele zu verbannen. Jetzt aber war es, als hätte MacAllisters Zorn eine verborgene Tür in Sarahs Innern gesprengt, und die Erinnerungen kehrten zurück, langsam und tückisch. Vor lauter Anstrengung, diese Furcht in Schach zu halten, fing Sarah an zu zittern.

„Mr MacAllister, so kommen wir nicht weiter. Ich habe weitergegeben, was die Polizei dazu meint, das heißt aber nicht, dass ich dem zustimme. Natürlich ist Catherine zu jung, um eine solche Entscheidung zu fällen, aber Sie müssen auch den Standpunkt der Polizei verstehen. Philippe hat Ihre Tochter nicht entführt, sie ist aus freien Stücken mit ihm gegangen. Das geht zweifelsfrei aus der Nachricht hervor.“

„So? Sie können wohl Gedanken lesen? Sie wissen also genau, was meine Tochter dachte, als sie das hier schrieb?“ Er kam mit grimmiger Miene näher, und erneut wich Sarah hastig zurück, was ihm nicht entging. „Was zum Teufel ist bloß mit Ihnen los? Warum sind Sie so schreckhaft?“ Er streckte den Arm aus und berührte ihr Handgelenk.

„Fassen Sie mich nicht an!“, schleuderte sie MacAllister entgegen, ihr ganzer Körper war unter der leichten Berührung wie versteinert.

MacAllister betrachtete sie eine Weile schweigend, dann ließ er die Hand sinken. „Keine Sorge, ich werde Sie nicht mehr anfassen. Ich hebe mir meine Anteilnahme für meine Tochter auf, sie hat sie nötiger.“ Er wandte sich ab und ging zum Fenster. „Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was ich gerade durchmache, Miss Marshall? Können Sie das annähernd nachvollziehen, oder bedeutet Catherines Verschwinden für Sie nichts weiter als eine unangenehme Störung Ihres sonst so säuberlich vorgeplanten Tagesablaufs?“

„Das ist ungerecht. Natürlich mache ich mir Sorgen um sie. Sie ist eine meiner besten Schülerinnen.“ Das Atmen wurde Sarah leichter, nachdem MacAllister nicht mehr vor ihr stand; es gelang ihr, ihre Panik in den Griff zu bekommen. Jetzt war Sarah wieder eine erwachsene Frau, kein einsames, verängstigtes und hilfloses Mädchen mehr von zwanzig Jahren. MacAllister wollte nicht das von ihr, was sie so befürchtet hatte.

„Ihre beste Schülerin – wie distanziert Sie sich ausdrücken! Ist das alles, was Sie für sie empfinden?“ Kalte Verachtung zeichnete sich auf seinen Zügen ab, als er sich zu Sarah umdrehte.

„Mr MacAllister, ich habe Catherine sehr gern. Sie ist so lieb. In letzter Zeit spürte ich, dass irgendetwas sie sehr unglücklich machte. Deshalb habe ich ja auch am letzten Elternsprechtag versucht, mit Ihnen zu reden. Leider zogen Sie es jedoch vor, nicht auf meine Warnung zu hören, und nun ist das hier passiert.“

„Oh, nein, Miss Marshall, so leicht kommen Sie mir nicht davon.“

„Womit?“

„Damit, dass Sie die Schuld auf mich abwälzen. Während ihres Aufenthalts hier waren Sie für Catherine verantwortlich. Sie befand sich unter Ihrer Obhut, als sie verschwand. Sie haben nicht gemerkt, was sich vor Ihrer Nase abspielte, und so liegt die Schuld bei Ihnen, Miss Marshall, nicht bei mir! Ich habe Ihnen Catherine anvertraut, und Sie haben versagt!“

„Das stimmt nicht!“ Sarah warf empört den Kopf in den Nacken. Es regte sie maßlos auf, dass MacAllister sie zum Sündenbock für seine eigenen Fehler machen wollte, obwohl sie ihn schon vor Monaten gewarnt hatte, irgendetwas sei nicht in Ordnung. „Der einzige Grund, warum Catherine etwas für sie so Untypisches getan hat, liegt darin, dass Sie sich zu wenig um sie gekümmert haben! Wie oft haben Sie Ihre Tochter im letzten Jahr besucht? Wie oft haben Sie ihr von Ihren zahlreichen Auslandsreisen geschrieben?“

„Ich bin ein sehr beschäftigter Mann, Miss Marshall. Ich muss oft dienstlich ins Ausland reisen. Catherine versteht das. Ich habe sie unter anderem deswegen auf Ihr Internat geschickt, weil ich ihr durch meine Lebensweise kein stabiles, geordnetes Zuhause bieten konnte.“

Wieder schwang Zorn in seiner Stimme mit, aber diesmal hatte Sarah keine Angst. Es ärgerte sie, dass James MacAllister versuchte, sich seiner Verantwortung zu entledigen. „Ein Internat ist kein Ersatz für ein glückliches Familienleben! Ich räume ein, dass Sie diesbezüglich Schwierigkeiten haben, aber Catherine sollte zumindest wissen, dass Sie da sind, wenn sie Sie braucht, dass Ihnen etwas an ihr liegt! Für ihre Erziehung können Sie vielleicht zahlen, aber das Wichtigste, was Sie ihr geben sollten, ist nicht käuflich – Liebe!“

„Sie haben keine Ahnung von der Beziehung zwischen mir und meiner Tochter. Bis sie unter Ihren Einfluss geraten ist, war sie immer ausgesprochen glücklich! Ich frage mich, welche Flausen Sie ihr in den Kopf gesetzt haben. In ihren Briefen lese ich nur noch: ‚Miss Marshall sagt …‘ oder ‚Miss Marshall meint …‘ Was für ein Spiel treiben Sie mit meiner Tochter? Warum haben Sie sie so beeinflusst?“ Er betrachtete sie eine Weile schweigend und mit grimmiger Miene. „Könnte es sein, dass Sie dadurch an mich herankommen wollten?“

„Wie bitte?“

Zynisch lächelnd trat er auf Sarah zu. „Ich glaube, Sie haben mich recht gut verstanden. Heute Morgen habe ich Sie als gefühllose ältliche Jungfer bezeichnet, aber da habe ich mich wohl geirrt.“

„Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden, Mr MacAllister, und es interessiert mich auch nicht. Das Ganze wird allmählich lächerlich.“ Sie wollte an ihm vorbeigehen, doch er hielt sie am Oberarm fest.

„So? Wie Sie sicher wissen, steckt das Leben voller kleiner Überraschungen, Miss Marshall. Und der Gedanke, Sie – wie soll ich sagen? – könnten sich zu mir hingezogen fühlen, ist in der Tat eine Überraschung für mich.“

„Zu Ihnen …? Nein!“

„Nein? Aber es würde einiges erklären, nicht wahr? Die Art, wie Sie bei unserer letzten Begegnung reagiert haben, wie Sie darauf beharrten, sich unter vier Augen mit mir über Catherine zu unterhalten, obwohl es da meiner Meinung nach gar nichts zu besprechen gab … Wenn ich es recht bedenke, hat bei unseren Zusammenkünften immer eine gewisse Spannung zwischen uns geherrscht. Ich schrieb das der Tatsache zu, dass Sie Männer generell nicht mögen, doch das schien eine Fehlannahme zu sein. Sexuelle Faszination kann bei den Menschen die seltsamsten Reaktionen auslösen …“

„Was unterstehen Sie sich? Wenn es Spannungen gegeben hat oder gibt, dann nur deshalb, weil mir die Art missfällt, wie Sie Ihre Tochter behandeln“, widersprach Sarah verzweifelt.

„Wirklich? Es gab im Laufe der Jahre bestimmt andere Väter oder Mütter, die Ihrer Meinung nach ihren Kindern nicht die nötige Aufmerksamkeit schenkten. Verhielten Sie sich denen gegenüber auch immer so angespannt?“ James MacAllister schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht.“

„Es ist mir gleichgültig, was Sie glauben, Mr MacAllister. Wie können Sie es wagen, mir vorzuwerfen, ich hätte … hätte …“ Sarah geriet ins Stocken und errötete.

„Sie hätten ein Auge auf mich geworfen?“ Das klang ausgesprochen höflich.

Sarah ließ sich nicht täuschen. MacAllister war kein höflicher Mann, er war gefährlich. War sie deshalb immer so angespannt, wenn sie mit ihm zu tun hatte? Wahrscheinlich. Und er hatte das gespürt und falsch ausgelegt. „Ich habe kein Auge auf Sie geworfen, ganz im Gegenteil. Wenn Sie die Wahrheit wissen wollen – ich verabscheue alles, was Sie verkörpern, und ich verabscheue auch die Art, wie Sie Ihr Leben führen, ohne je zu bedenken, welche Folgen das für Ihre Tochter haben könnte.“

„Miss Marshall, ich bin nur realistisch. Frauen waren stets aus den unterschiedlichsten Gründen hinter mir her, nicht zuletzt deswegen, weil ich ein relativ wohlhabender Witwer bin, der noch dazu nicht allzu schlecht aussieht. Ich gestehe allerdings, es wundert mich, dass Sie auf diesen Zug mit aufgesprungen sind, das hätte ich Ihnen nicht zugetraut. Aber der äußere Schein kann manchmal trügen, nicht wahr?“ Sein Griff um ihren Arm verstärkte sich. „Ich sollte mich wohl geschmeichelt fühlen, doch im Moment beschäftigt mich mehr, was mit Catherine geschehen ist. Also wollen wir diese Sache jetzt ein für alle Mal bereinigen, ja?“

„Was soll das nun wieder heißen? Hören Sie, ich …“ Sarah brachte den Satz nicht zu Ende, denn MacAllister beugte sich über sie und küsste sie hart.

Anfangs verharrte sie reglos, verwirrt durch das ungewohnte Gefühl, die festen Lippen James MacAllisters auf ihren zu spüren. Dann drängte der alte Albtraum vehement an die Oberfläche von Sarahs Bewusstsein, und sie begann, sich heftig zu wehren. Wie von Sinnen hämmerte sie mit den Fäusten gegen James MacAllisters Schultern, und schließlich fuhr sie ihm mit den Fingernägeln über die Wange. Er fluchte und stieß Sarah von sich.

Sie war nicht mehr imstande, vernünftig zu denken. „Hinaus!“, rief sie heiser und nach Atem ringend.

„Ich gehe. Aber wir sind noch nicht fertig miteinander, Sarah Marshall.“ Er strich sich über die Kratzwunde auf der Wange und sah Sarah durchdringend an. „Kein normaler Mensch verhält sich so wie Sie. Sie haben ganz eindeutig ein Problem, und ich versichere Ihnen, sobald ich Catherine gefunden habe, werde ich dafür sorgen, dass Sie keinen schädlichen Einfluss mehr auf junge, unverbildete Menschen ausüben können. Ich werde alles daransetzen, dass Sie nie wieder unterrichten!“

Er verließ das Zimmer und schlug die Tür hinter sich ins Schloss. Sarah zitterte am ganzen Körper, eine Nachreaktion auf das, was geschehen war und was James MacAllister zuletzt gesagt hatte. Was, wenn er seine Drohung wahr machte und sie, Sarah, keine Zuflucht im Unterrichten mehr finden konnte? Jahrelang war ihr Beruf das Einzige gewesen, was ihrem Leben einen gewissen Sinn gegeben hatte. Ohne ihn blieb ihr gar nichts mehr. MacAllister hatte gesagt, sie hätte ein Problem. Leider hatte er damit recht, doch im Augenblick schien ihr größtes Problem James MacAllister selbst zu sein.

2. KAPITEL

Die Pfützen auf der Terrasse glitzerten in der Sonne. Sarah lehnte den Kopf zurück gegen die Sessellehne und schloss die Augen. Sie hatte in der Nacht kaum geschlafen. Zu den alten quälenden Erinnerungen hatten sich neue gesellt – Bilder von James MacAllister.

„Sarah? Geht es dir nicht gut?“

Sie zuckte zusammen, öffnete die Augen und wandte den Kopf der Tür zu, wo Stephanie Jacobs, eine der Kolleginnen, stand. „Doch, doch, ich bin nur etwas müde, das ist alles. Vor Sorge um Catherine habe ich nicht allzu gut geschlafen.“ Sarah schämte sich fast, wie glatt ihr diese Lüge über die Lippen kam, aber wie hätte sie Stephanie den wahren Grund für die Schlaflosigkeit nennen können? Nämlich, dass MacAllister ihr, Sarah, vorgeworfen hatte, sie wolle etwas von ihm, dass er sie geküsst hatte und sie daraufhin völlig durchgedreht war.

„Ich bin auch sehr beunruhigt. Glaubst du, sie kommt zur Vernunft und erkennt, was für eine Dummheit sie gemacht hat?“ Stephanie wirkte bedrückt. „Ich begreife nicht, wie sie so etwas tun konnte, Sarah. Sie war stets ein so ruhiges Mädchen.“

„Ich fürchte, genau da liegt das Problem. Catherine war zu ruhig. Sie hat alles in sich hineingefressen, anstatt zu sagen, was ihr Kummer macht. Schon vor Monaten habe ich geahnt, dass etwas nicht stimmt, und versucht, mit ihrem Vater darüber zu sprechen, aber er wollte nicht zuhören. Er ist mehr an seinem Leben interessiert als an dem seiner Tochter.“

Autor

Jennifer Taylor

Jennifer Taylor ist Bibliothekarin und nahm nach der Geburt ihres Sohnes eine Halbtagsstelle in einer öffentlichen Bibliothek an, wo sie die Liebesromane von Mills & Boon entdeckte. Bis dato hatte sie noch nie Bücher aus diesem Genre gelesen, wurde aber sofort in ihren Bann gezogen. Je mehr Bücher Sie las,...

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