Melissas Nacht

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Grace kann ihren Erfolg kaum fassen: Für eine Nacht hat sie sich in einen hinreißenden Vamp verwandelt, und schon liegen ihr die Männer zu Füßen. Auch Ethan, dem sie sich als Melissa vorstellt, erkennt sie nicht. Der Schwarm aller Frauen will nur eins: mit Melissa ins Bett gehen! Diese Chance wird Grace nutzen ...


  • Erscheinungstag 30.12.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733754778
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Es war ein langweiliger Abend im Pirate’s Cay. Die paar Stammkunden, die sonst immer kamen, waren längst wieder gegangen, und jetzt hielten sich hier nur noch wenige Gäste auf. Ein Kerl, der allein in einer Ecke saß, hatte in den letzten beiden Stunden ununterbrochen dieselben alten Songs aus der Musikanlage dudeln lassen. Zwei der schlechtesten Billardspieler von Key West mühten sich seit Stunden, ihr Spiel zu Ende zu bringen. Ethan James seufzte. Der einzige Mensch, für den er sich halbwegs interessierte, war die Rothaarige, die allein an einem Tisch für zwei Personen saß.

Er hatte schon immer eine Schwäche für rothaarige Frauen gehabt, und diese hier könnte ihm verdammt gut gefallen. Ohne die Augen von ihr zu lassen, wischte er sorgfältig die Theke ab. Er war gerade mit seiner Arbeit fertig, als seine Chefin Key aus dem Büro trat.

„Hier ist ja heute richtig was los“, meinte sie ironisch, während sie den Blick über das fast leere Lokal schweifen ließ. Seufzend warf sie zwei Umschläge auf die Bar. „Hier. Zahltag.“

„Wieso zwei Umschläge?“

„Da ist ein Brief für dich dabei.“ Sie warf einen Blick auf die Uhr an der Wand. „Zeit für die letzte Bestellung, Leute“, rief sie. „Wir machen in zehn Minuten dicht.“

Die Rothaarige nahm ihre Tasche und stand langsam auf. An der Tür drehte sie sich um und lächelte Ethan zu. Keine Frage, dass sie draußen auf dem Parkplatz auf ihn warten würde.

Als er mit Aufräumen fertig war, waren alle Gäste gegangen. Seine Chefin hatte es nicht weit bis nach Hause – nur ein Stockwerk höher, dann war sie in ihrem Appartement. Er selbst wohnte nicht ganz so fürstlich. Sein Quartier befand sich in einem recht schäbigen Wohnviertel ein paar Meilen entfernt. Immerhin war es groß und hell und eigentlich zu teuer für seine Verhältnisse. Da er aber weder eine Familie noch sonst irgendwelche Verpflichtungen hatte, gab er sein Geld eben dafür aus.

„Bis morgen dann“, verabschiedete sich seine Chefin und schloss die Tür sorgfältig hinter ihm zu.

Während Ethan zum Parkplatz marschierte, warf er einen Blick auf den Brief, den Key ihm gegeben hatte. Die Handschrift kam ihm bekannt vor, also konnte es sich nur um seine Schwägerin Olivia handeln. Sie war die Einzige, die noch den Kontakt zu ihm hielt.

Nicht dass ihr besonders viel an ihm lag. Er wusste selbst nicht genau, was sie dazu veranlasste, ihm regelmäßig Weihnachts- und Geburtstagskarten zu schicken.

Als er um die Ecke bog, erblickte er die Rothaarige, die lässig an ihrem Wagen lehnte. Doch zuerst wollte er Olivias Brief wenigstens überfliegen. Er griff in den Umschlag und zog ein Foto hervor, auf dem ein Notizzettel klebte. Olivias elegante Handschrift sprang ihm entgegen. „Ich dachte, es würde dich interessieren“, stand auf dem Notizzettel. Was soll mich interessieren? fragte er sich, während er den Zettel hastig vom Foto abriss.

Und dann erstarrte er.

Der Schnappschuss war auf einem Parkplatz neben der Hauptstraße von Heartbreak aufgenommen worden. Die Frau auf dem Foto trug einen dicken Mantel und Schal, aber Ethan erkannte sie auf Anhieb. Auch ohne die wilden Locken und die engen Klamotten, die sie so sexy machten.

Er versuchte das plötzliche Zittern in den Händen zu unterdrücken. Aufmerksam betrachtete er das Foto. Sie trug kein Make-up, und ihr dichtes braunes Haar war zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden. Ihr Blick war in die Ferne gerichtet.

Und dann wusste Ethan plötzlich, weshalb Olivia ihm das Foto geschickt hatte. Die Frau war offensichtlich schwanger. Vermutlich im siebten Monat.

Sorgfältig verstaute er das Foto im Umschlag und steckte es in seine Tasche. Er wusste, was er zu tun hatte.

Er musste nach Hause fahren.

1. KAPITEL

Als Stadt macht Heartbreak nun wirklich nicht viel her, dachte Grace Prescott, während sie den Bürgersteig entlangeilte. Die Gebäude in diesem Ortsteil, der sich lächerlicherweise City nannte, waren alt und verkommen. Das wirtschaftliche Wachstum schien hier nicht stattgefunden zu haben. Die Farmer und Rancher, die hier lebten, hatten immer ein hartes Leben geführt. Und das war in den letzten Jahren nicht besser geworden. Für die meisten ging es ums nackte Überleben.

Trotzdem hätte Grace an keinem anderen Ort der Welt leben mögen. Sie hatte sich in den letzten Monaten in Heartbreak so gut eingelebt, wie sie es nie für möglich gehalten hätte. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sie sich in einer Stadt zu Hause. Sie hatte Freunde. Sie gehörte hierher.

Und das alles nur, weil sie von einem Mann, den sie kaum kannte, schwanger geworden war und ihr Vater sie kurzerhand vor die Tür gesetzt hatte. Doch sie war nicht unzufrieden. Ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich frei und glücklich wie nie zuvor. Egal, wie düster ihre Zukunft auch manchmal schien – es war mehr, als sie jemals in ihrem Leben gehabt hatte.

„Hallo, Grace“, wurde sie von Trudy Hampton begrüßt, die gerade ihre Versicherungsagentur öffnete. „Ganz schön kalt heute Morgen, was? Und trotzdem verzichtest du nicht auf deinen Spaziergang?“

„Das würde ich doch nie. Außerdem ist mir nicht kalt“, behauptete Grace, obwohl es nicht stimmte. Die Luft war eisig, und trotz ihrer warmen Kleidung fror sie.

„Es soll ja heute noch schneien“, bemerkte Trudy.

„Tatsächlich? Ich habe noch keinen Wetterbericht gehört.“

„Ich auch nicht. Aber du weißt doch, dass man im Café immer über alles informiert wird. Der alte Bill Taylor behauptet, dass das Reißen in seinen Knochen mindestens einen Schneesturm bedeutet.“

„Ich dachte immer, dann würde es regnen“, sagte Grace lachend.

Trudy stimmte in ihr Lachen ein. „Wie auch immer …“ Sie blickte auf ihre Uhr. „Ich glaube, ich muss mich jetzt an die Arbeit machen. Und du sieh zu, dass du endlich ins Warme kommst. Mach’s gut, Grace, einen schönen Tag wünsche ich dir.“

„Ich dir auch.“ Nachdenklich ging Grace weiter. Tatsächlich hatte sie in letzter Zeit sehr viele schöne Tage gehabt. Obwohl ihr Verdienst sehr gering war und sie mehr Arbeitsstunden leistete, als es ihr Arzt gutheißen konnte, ging es ihr besser als je zuvor. Natürlich versuchte immer noch der eine oder andere in ihrer Umgebung herauszufinden, wer denn nun der Vater ihres Babys war. Darüber hinaus wusste sie bis jetzt noch nicht, wie sie sich nach der Geburt des Kindes über Wasser halten sollte. An manchen Tagen verlor sie deshalb manchmal den Mut.

Und trotzdem … Endlich einmal Geld verdienen. Endlich einmal nicht von einem anderen Menschen abhängig sein. Und endlich Frieden und Ruhe um sich haben.

Wie schrecklich hatte sie manchmal unter der Tyrannei ihres Vaters gelitten, seit ihre Mutter vor dreizehn Jahren die Familie verlassen hatte. Schlimmer als im Gefängnis war es manchmal gewesen.

Wenn sie auch keine Familienangehörigen mehr besaß, hier hatte sie etwas Wunderbares dazugewonnen. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Grace Freunde. Menschen, mit denen sie reden, mit denen sie lachen und traurig sein konnte.

Grace erreichte ihren Laden. Es war der einzige vermietete im ganzen Block – alle anderen Schaufenster standen seit langem leer. Sie schloss die großen Doppeltüren aus Glas auf und betrat den Verkaufsraum. Der feine Duft von Metall und gesägtem Holz, der ihr entgegenströmte, erfüllte sie wie jeden Morgen mit Wohlbehagen. Der Laden gehörte ihr, und auch wenn er nicht groß war, so bot er doch alles, was die Leute von Heartbreak für kleinere Arbeiten rund um das Haus benötigten.

Grace schaltete das Licht an, hängte das Schild „Geöffnet“ in die Tür und rieb sich die Hände. Es war kalt hier, aber sie konnte es sich nicht leisten, die Heizung noch höher zu stellen.

Entschlossen ging sie zum Radio und stellte ihren Lieblingssender ein. Musik erfüllte den Raum. Ihr Vater hatte Musik nie gemocht und ihr nicht erlaubt, ein Radio anzuschaffen. Jetzt ließ sie den Sender den ganzen Tag über laufen – im Laden ebenso wie zu Hause. Obwohl ihre Stimme nicht besonders schön war, sang sie gerne und laut mit.

Sie hatte sich gerade eine Kanne Kaffee gebrüht, als der erste Kunde das Geschäft betrat. Eigentlich war es mehr ein lieber Besuch als Kundschaft. Reese Barnett war der hiesige Sheriff, und Grace verehrte ihn geradezu. An dem Tag, als ihr Vater sie im Laden geschlagen hatte, war er zur Stelle gewesen, um sie zu beschützen. Er hatte ihr auch beim Umzug in das kleine Haus geholfen, das nach Shay Stevens Heirat leer gestanden hatte.

Schließlich hatte er mit Hilfe des einzigen Rechtsanwalts in Heartbreak dafür gesorgt, dass ihr Vater ihr Haus, Geschäft und etwas Geld überließ, bevor er die Stadt wenige Wochen später verlassen hatte. Seitdem erschien Reese regelmäßig, um Grace einen Besuch abzustatten.

„Wo hast du denn dein Auto gelassen?“, brummte er und lehnte sich an den Verkaufstresen. „Ich habe es gar nicht auf dem Parkplatz gesehen.“

„Ich bin gelaufen“, erwiderte Grace. Sie schenkte Reese eine Tasse Kaffee ein und reichte sie ihm. Als ihre Finger seine Hand berührten, wurde ihr warm, und sie fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Insgeheim war sie sogar ein bisschen in Reese verliebt. Nicht nur, weil er unglaublich gut aussah und sehr kompetent war, sondern weil sie ihn ausgesprochen nett und sympathisch fand. Immer war er bereit, sich um andere zu kümmern, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Er hatte Charakter, und das gefiel Grace.

Leider betrachtete Reese sie mehr wie seine kleine Schwester. Gerade jetzt runzelte er die Stirn und bemerkte tadelnd: „Du solltest nicht solche weiten Spaziergänge machen.“

„Aber es sind ja nicht mal zwei Kilometer, und der Arzt meinte, dass ich mich viel bewegen soll“, verteidigte sich Grace.

„Aber doch nicht in dieser Kälte.“

„Ich ziehe mich doch warm an.“

„Und wenn es heute Nachmittag schneit? Was willst du dann tun?“

„Dann laufe ich eben ein bisschen schneller“, gab Grace zurück. „Ich bin doch nicht allein auf der Straße. Es sind immer Leute unterwegs.“

Obwohl ihm anzusehen war, dass Grace ihn nicht überzeugt hatte, ließ Reese das Thema fallen. Gemächlich sah er sich im Laden um. „Und – wie läuft das Geschäft?“

„Ganz gut. Ein bisschen besser als letztes Jahr um die Zeit.“

„Das liegt daran, dass Jed nicht hier ist“, bemerkte Reese und fügte gleich darauf hastig hinzu: „Entschuldige bitte. Ich wollte dich nicht beleidigen. Er ist ja trotz allem dein Vater.“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.“ Solange sie denken konnte, hatte sie sich vor ihrem Vater gefürchtet. Manchmal hatte er ihr auch leidgetan. Auf jeden Fall hatte sie sich immer Mühe gegeben, es ihm recht zu machen. Aber sie konnte beim besten Willen nicht behaupten, dass er ihr fehlte, und verspürte kein Bedürfnis, ihn jemals in ihrem Leben wieder zu sehen.

Reese schob die leere Tasse von sich. „Ich werde mich mal besser auf den Weg ins Büro machen. Wenn es heute Nachmittag schneit, warte auf mich. Ich bringe dich nach Hause.“

„In Ordnung“, sagte Grace. Sie wusste, dass jeder Widerstand zwecklos war. Sollte es heute Abend schneien, würde er mit dem Wagen draußen stehen und ihr gar keine Gelegenheit geben, sich zu Fuß aus dem Staub zu machen. Der Gedanke erfüllte sie mit Wärme, aber gleichzeitig war ihr klar, dass seine Gefühle ihr gegenüber immer nur brüderlich waren. Ob es jemals einen Mann in ihrem Leben geben würde, der etwas anderes für sie empfinden konnte?

Einen hatte es gegeben. Ethan James war alles andere als brüderlich gewesen.

Normalerweise versuchte Grace die Erinnerung an jene Nacht mit Ethan zu verdrängen. Es hatte Zeiten gegeben, wo sie nichts anderes im Kopf gehabt hatte als die Stunden mit ihm, die von einer Intensität und Leidenschaft geprägt waren, die sie nie für möglich gehalten hätte.

Den süßen Träumen war die Ernüchterung auf dem Fuß gefolgt. Eine Schwangerschaft war wirklich das Allerletzte gewesen, das in ihr Leben passte. Obwohl sie es längst geahnt hatte, wollte sie es erst glauben, nachdem ihre Freundin Ginger ihr, ohne Aufsehen zu erregen, einen Test beschafft hatte. Natürlich war nicht jeder Test hundertprozentig sicher, aber Grace war klar gewesen, was die Stunde geschlagen hatte.

Ginger fand die ganze Aufregung überflüssig. Schließlich gab es doch noch die Möglichkeit einer Abtreibung, oder man konnte das Baby zur Adoption freigeben. Und schließlich und endlich – warum das Kind nicht einfach behalten und es großziehen? So einfach war das. Für Ginger. Sie wusste eben nicht, wie es war, von seinem Vater mit eiserner Hand regiert zu werden. Sie hatte keine Ahnung, wie man sich fühlte, wenn einem das Leben unter den Fingern zerrann und nichts übrig blieb als die nackte Angst.

Ein ängstliches Mäuschen war Grace in den vielen Jahren mit ihrem Vater geworden. Ein Mensch, der kaum beachtet wurde. Sechzehn Jahre lang hatte sie in derselben Stadt wie Ethan James gelebt. Zehn Jahre davon waren sie in dieselbe Schule gegangen. Aber nie hatte er sie auch nur eine Sekunde länger als nötig angeschaut, obwohl er sonst kein Mädchen in der Schule übersehen hatte.

Und dann, an einem heißen Sommernachmittag, hatte ihr Vater verkündet, dass er geschäftlich verreisen und erst am nächsten Tag zurückkommen würde …

Grace wagte vor Aufregung kaum zu atmen. Vierundzwanzig Stunden, die ganz allein ihr gehörten? Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Was sollte sie mit diesem unerwarteten Geschenk anfangen? Vielleicht ausgehen? Sich mit jemandem treffen?

Hier war ihre Chance, für ein paar Stunden das Leben einer ganz normalen fünfundzwanzigjährigen Frau zu führen. Und diese Chance würde sie nutzen.

Ginger half ihr dabei, sich für diesen Abend vollkommen zu verwandeln. Eine neue Frisur und ein raffiniertes Make-up, ein superkurzer Rock und ein enges Top sorgten dafür, dass Ethan auf sie aufmerksam wurde.

An jenem Abend hatte er eine Frau namens Melissa kennen gelernt, die sich für kurze Zeit in Heartbreak aufhielt.

Am nächsten Morgen hatte sich Grace aus seinem Bett geschlichen, während er noch schlief. Zu Hause hatte sie in Windeseile geduscht und war wieder in die Rolle der unscheinbaren Grace geschlüpft, bevor ihr Vater das Haus betrat. Insgeheim hatte sie befürchtet, er würde ihr ansehen, wo sie die Nacht verbracht hatte. Aber nichts war passiert.

Seit jener Nacht hatte sie Ethan niemals wieder gesehen. Es gab in Graces Augen auch keinen Grund dafür, und so hatte sie nie versucht, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Weder stand sie in Kontakt mit seinem Halbbruder Guthrie Harris, noch ahnte seine Schwägerin Olivia, die selbst ein Kind erwartete, dass die Babys Cousin und Cousine sein würden. Wahrscheinlich hätten sie ihr sowieso nicht geglaubt.

Eine Zeit lang war Graces Schwangerschaft Stadtgespräch in Heartbreak gewesen. Aber nie war Ethans Name gefallen. Das war auch gut so. Sie hatte keinerlei Interesse daran, Ethan jemals wieder zu sehen, und würde nie jemandem die Wahrheit über den Vater ihres Kindes anvertrauen.

Es war ein grauer, regnerischer Tag, als Ethan die Stadtgrenze von Heartbreak passierte. Kaum zu glauben, dass er noch gestern im warmen, sonnigen Florida gewesen war. Und nun befand er sich dort, wo all die schlechten Dinge in seinem Leben einmal begonnen hatten.

Um nach Oklahoma zu kommen, hatte er keine Landkarte benötigt. Er hatte den Weg nach Hause immer in- und auswendig gekannt. Auch wenn er sich in Heartbreak eigentlich nie wirklich zu Hause gefühlt hatte. Wie sein Vater, der Heartbreak verlassen hatte, als Ethan gerade zehn gewesen war.

Ja, er war seinem Vater sehr ähnlich – sein Bruder Guthrie hatte es immer allen, die es hören oder nicht hören wollten, mit Abscheu in der Stimme erklärt. Jeder wusste, dass Guthrie nicht viel von seinem Stiefvater hielt. In seinen Augen war er faul und nutzlos. Ethan hatte es immer bedauert, dass sein Bruder eine so schlechte Meinung von ihm hatte. Andererseits musste er zugeben, alles dafür getan zu haben, Guthrie in seiner Meinung zu bestärken. Und jetzt auch noch das – er als zukünftiger Vater …

Er umkrampfte das Lenkrad und holte tief Luft. Immer hatte er sich geschworen, nie ein Kind in die Welt zu setzen. Schließlich wusste er doch, dass er kein guter Vater sein würde. Verantwortung übernehmen, Reife zeigen oder gar ein gutes Beispiel abgeben, damit hatte er nie etwas zu tun gehabt.

Aber er musste etwas unternehmen. Selbst ein Vater, der viele Fehler machte, war immer noch besser als einer, der nie im Leben seines Kindes auftauchte.

Wieder warf er einen Blick auf das Foto, das der Grund für seine Rückkehr nach Heartbreak war. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo er Melissa wieder finden würde. Sicher, der Parkplatz auf dem Bild gehörte zum Haushaltswarenladen, aber das hatte nichts zu bedeuten. Da es sich um das einzige Geschäft im Umkreis von zwanzig Meilen handelte, ging fast jeder dort einkaufen.

Tatsächlich wusste er nichts über die Frau, mit der er damals jene lange, leidenschaftliche Nacht verbracht hatte. Nur ihren Namen – Melissa. Es war eine perfekte Nacht gewesen. Bis auf die Tatsache, dass jetzt ein Baby unterwegs war. Dabei hatte er doch immer darauf geachtet, dass so etwas nicht passieren konnte. Ethan seufzte.

Er befestigte das Foto mit einem Gummiband an der Sonnenblende, während er den Wagen mit einer Hand in eine Seitenstraße lenkte, die bald in einen Feldweg überging. Guthrie würde nicht sehr erfreut sein, ihn hier auf der Ranch wieder zu sehen, vor allem nicht, wenn er erfuhr, wie lange Ethan bleiben wollte.

Natürlich nur, wenn Melissa nichts dagegen hätte.

Vor sieben Monaten war er zuletzt auf der Ranch gewesen, und trotzdem erschien ihm auf einmal alles sehr fremd. Vielleicht lag es daran, dass das Haus einen frischen Anstrich hatte. Vor den Fenstern hingen Blumenkästen, die Beete wirkten sorgfältig gepflegt, und der ganze Hof sah aus, als wäre er gefegt worden.

Ethan wusste, dass all das Olivias Werk war. Guthrie hatte weder die Zeit noch die Energie für solche Äußerlichkeiten.

Er war genug damit beschäftigt, sich um dreihundert Acker Land und Hunderte von Rindern zu kümmern. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Guthrie eine Zeit lang versucht, Ethan in das Familienleben und die Arbeit auf der Ranch einzubinden. Ethan hatte sein Bestes gegeben, aber er war einfach nicht der Typ dafür, von morgens bis abends zu schuften und jeden Penny umzudrehen. Rinder und Pferde, Dürrezeiten und Überflutungen, Marktpreise und Buchhaltung – das war nicht seine Welt.

Heimlich wie ein Dieb hatte er sich eines Nachts davongeschlichen, um Guthries vorwurfsvollem Blick zu entgehen. Er hatte gewusst, was sein Bruder gesagt hätte: Du bist genau wie dein Vater. Und das war die schlimmste Beleidigung, die jemand ihm an den Kopf werfen konnte.

Ethan parkte sein Auto neben Guthries Lieferwagen. Aber statt auszusteigen, blieb er noch eine Weile sitzen, um das Zusammentreffen mit seinem Bruder hinauszuzögern. Ich benehme mich wie ein kleiner Junge, nicht wie ein achtundzwanzigjähriger Mann, dachte er, zornig über sich selbst. Aber das Gefühl, seinen Bruder immer wieder zu enttäuschen, hatte ihn stets verfolgt und würde ihn wohl nie mehr loslassen.

Ethan holte tief Luft und öffnete die Wagentür. Es konnte ihm doch eigentlich egal sein, was Guthrie für eine Meinung von ihm hatte.

Mit energischem Schritt überquerte Ethan die Veranda und klopfte an die Tür. Noch hatte er die Wahl. Er konnte rasch bis zehn zählen und dann wieder verschwinden. Immerhin hatte er es dann versucht.

Mit leisem Klicken öffnete sich die Tür. Olivia, seine Schwägerin, schrie überrascht auf, als sie Ethan erblickte.

„Ethan! Meine Güte! Dass du gekommen bist! Ich hatte es nicht zu hoffen gewagt. Es ist so schön, dich zu sehen. Jetzt komm aber rein, und lass uns eine Tasse Kaffee zusammen trinken.“

Ethan war sprachlos. Auf so ein herzliches Willkommen war er nicht vorbereitet gewesen. Im Gegenteil. Olivia hatte ihn nie besonders gemocht. Er war deshalb auf der Hut und fühlte sich gar nicht wohl, als sie ihn zu allem Überfluss auch noch umarmte.

„Ist … ist er zu Hause?“, erkundigte er sich zögernd, als sich Olivia endlich wieder von ihm gelöst hatte. Sein Bruder wäre alles andere als begeistert gewesen, wenn er seine Ehefrau in den Armen von Ethan erblickt hätte.

„Guthrie?“, gab Olivia zurück. „Nein. Der Wetterbericht hat Schnee vorhergesagt. Er ist draußen bei den Rindern und kümmert sich um die Weide.“ Sie wandte sich zur Küche, blieb aber stehen, als sie bemerkte, dass Ethan ihr nicht folgte. „Vom Frühstück ist noch Kaffee übrig. Du kannst auch Kakao haben. Oder etwas Kaltes. Jetzt zieh doch endlich den Mantel aus. Nun komm schon. Ich will mit dir reden.“

Ethan hatte wenig Lust, sich nach Olivias Anweisungen zu richten. Wie früher, hatte ihn auch jetzt wieder das beklemmende Gefühl eingeholt, in diesem Haus nicht wirklich daheim zu sein. Dieses Haus gehörte der Familie Harris, nicht der Familie James. Und Gordon James kam gegen einen Mann wie Vernon Harris nicht im Leben an. Ein guter Rancher, ein guter Nachbar, ein guter Ehemann und Vater. Und natürlich hatte er einen Sohn hervorgebracht, der auch in jeder Hinsicht besser war als Ethan. Guthrie.

Olivia war eifrig damit beschäftigt, alles Mögliche aus dem Kühlschrank herauszuholen, als Ethan zögernd die Küche betrat.

„Was möchtest du trinken?“, wandte sie sich mit strahlendem Lächeln an ihn.

„Kaffee wäre prima.“

„Setz dich. Und zieh endlich deinen Mantel aus.“

Ethan zog seine Jacke aus und hängte sie über den Stuhl. Unbehaglich blickte er sich um. Wie sollte er sich wohl fühlen, wenn jeden Moment Guthrie zur Tür hereinkommen konnte?

Seine Schwägerin schnitt zwei Stück Kuchen ab, schenkte Kaffee und Milch ein und setzte sich gegenüber an den Tisch. „Wann bist du denn gekommen?“, erkundigte sie sich.

„Heute Morgen. Ich bin direkt hierher gefahren.“

Olivia ließ ihren Kuchen unter einem großen Berg Schlagsahne verschwinden. Als sie Ethans Blick bemerkte, lächelte sie.

„In letzter Zeit könnte ich nur von Schlagsahne leben“, meinte sie. „Meine Familie macht sich dauernd lustig über mich. Seit ich angefangen habe, Schlagsahne auch aufs Brot zu streichen, bringt mir Mary alle paar Tage einen frischen selbst gebackenen Kuchen herüber“, erklärte sie.

„Wann …“ Ethan schluckte, als er an das Foto in seinem Auto dachte. „Wann kommt denn dein Baby?“

„Nächsten Monat. Dabei bin ich jetzt schon so dick, dass ich es kaum aushalten kann. Elly meinte neulich, ich würde wohl Zwillinge bekommen“, erklärte sie lachend. Elly war ihre ältere Tochter. Das jüngere Mädchen hieß Emma. Die Mädchen waren so verschieden wie Tag und Nacht – Elly laut, vorwitzig und selbstbewusst, Emma dagegen ruhig und bescheiden. So unterschiedlich wie Guthrie und Ethan.

„Was sagt denn mein Bruder dazu?“, erkundigte sich Ethan vorsichtig.

„Er behauptet, ich hätte niemals besser ausgesehen“, antwortete Olivia mit glücklichem Lächeln. „Aber das sagt er nur, weil er keinen Ärger mit mir haben will. Er weiß genau, wie gereizt schwangere Frauen reagieren können.“

Der Gedanke an Melissa schoss Ethan durch den Kopf. Ob ihr wohl auch ein Mann sagte, wie schön sie war?

Womöglich hatte sie ja selbst eine Familie, die sich um sie kümmerte.

Als er bemerkte, dass Olivia ihn forschend betrachtete, sah er auf.

„Hast du Grace schon gesehen?“, erkundigte sie sich ruhig.

„Grace?“, wiederholte er verwirrt.

„Grace Prescott. Du erinnerst dich doch wohl an sie. Schließlich ist sie die Mutter deines Kindes. Ich nehme an, dass du ihretwegen hier bist.“

Also gab es gar keine Melissa. Sie hatte ihn angelogen. Und warum auch nicht? Schließlich passte der Name Melissa viel besser zu der aufregenden Frau, die er an jenem Abend in der Bar getroffen hatte.

Jetzt verstand Olivia seine Überraschung. „Du wusstest nicht einmal ihren Namen?“

Ethan antwortete nicht. Schließlich bemerkte er: „Grace Prescott? Woher sollte ich.“

„Aber sie hat schon immer hier gewohnt. Ihr müsst praktisch zusammen zur Schule gegangen sein. Ihrem Vater gehörte der Laden in der Stadt.“

Jed Prescott, natürlich! Oh ja, an ihn erinnerte sich Ethan nur zu gut. Und er konnte sich unschwer ausrechnen, was Jed mit ihm anstellen würde, wenn er ihm zwischen die Finger geriet. Aber dann wurde ihm plötzlich klar, was Olivia wirklich gesagt hatte. Ihm gehörte der Laden, hatte sie gesagt. Also war er nicht mehr der Besitzer. Aber wer dann?

„Und … was hält der alte Jed davon, dass er nun Großvater wird?“, fragte er vorsichtig.

Olivia stand auf und brachte das schmutzige Geschirr zur Spüle. „Nicht allzu viel, denke ich. Seit er es weiß, ist er hier nicht mehr aufgetaucht. Er hat die Stadt verlassen. Aber warum interessiert dich das? Willst du nicht lieber etwas über Grace wissen?“

„Oh doch. Ich würde zum Beispiel gern wissen, warum sie mir nicht selbst geschrieben hat. Warum hast du ihr nicht einfach meine Adresse gegeben?“

Olivia schaute verlegen zur Seite. „Sie hat mich nicht gebeten, dir zu schreiben“, erklärte sie schließlich. Ethan runzelte die Stirn. „Was meinst du damit? Worum hat sie dich denn gebeten?“

Autor

Marilyn Pappano
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