Nur dich habe ich immer geliebt

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Ist es wahr? In Neuseeland erreicht Carter Prescott die Nachricht, dass die wundervolle Nacht mit Becky etwas nach sich gezogen habe. Aber was? Er muss seine große Jugendliebe wiedersehen, wieder in die Arme schließen. Diesmal für immer?


  • Erscheinungstag 17.01.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733772864
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Na toll“, empörte Becky sich. „Warum haben Sie Christina angeschrien? Jetzt sitzt sie im Vorratsraum und heult sich die Augen aus dem Kopf. Was Feingefühl ist, das wissen Sie wohl überhaupt nicht, oder?“

Der Besitzer von Merlin’s Fine Diner zog die buschigen Augenbrauen finster zusammen und stützte sich auf die Theke. „Christina hat die Bestellung falsch ausgeführt“, behauptete er gereizt. „Der Gast hat immer recht.“

„Aber dieser Gast nicht. Er hat ein Schinken-Salat-Tomaten-Sandwich bestellt, aber ohne Schinken und mit extra Tomate. Und genau das hat er bekommen!“

„Ach ja? Wer bestellt schon ein Schinken-Salat-Tomaten-Sandwich ohne Schinken?“

„Ich zum Beispiel“, antwortete Becky. „Allerdings bin ich noch nie auf die Idee gekommen, in dieser Kaschemme zu essen.“ Allein schon vom Fettgeruch bekam Becky ein flaues Gefühl im Magen. „Ich sehe nach Christina“, entschied sie und schluckte schwer.

„Ihr seid doch alle gleich“, schimpfte Merlin. „Ihr macht nur Ärger.“

„Ihr? Wer?“ Becky drehte sich blitzartig wieder um. „Was soll das denn heißen?“

„Ihr Vegetarier! Ihr bildet einen Geheimbund, und das ist unamerikanisch! Geradezu subversiv! Und Sie arbeiten jetzt weiter!“

„Sie kennen nur Arbeit und haben kein Herz. Christina weint, und Sie denken an Arbeit! Was sind Sie für ein Mensch?“

„Ich sage Ihnen, was ich für ein Mensch bin!“ Merlin reckte drohend den Zeigefinger in die Luft. „Ich bin ein Mensch, der im Geschäft bleiben will und keinen Widerspruch von einer Angestellten duldet. Es reicht, Rebecca. Wollte ich eine Köchin haben, die ständig an mir herumnörgelt, hätte ich meine Frau eingestellt. Sie sind gefeuert! Ab sofort koche ich wieder selbst.“

Großartig gelaufen, dachte Becky, nachdem sie sich von Christina verabschiedet hatte. Wieder mal arbeitslos, und wofür?

Silberglöckchen klingelten, als sie die Tür des Diners öffnete und die kalte Dezemberluft ihr entgegenschlug. Sie zog den Schal bis übers Kinn hoch und trat ins Freie.

Es war nicht ihre Schuld, dass sie keine Stelle länger halten konnte. Sie hatte eben noch nicht ihren Platz in der Welt gefunden. Allerdings dachte sie nicht über Arbeitslosigkeit oder Wetter nach, während sie sich enger in die Jacke hüllte. Viel wichtiger war das, was sie ihrer Familie beim Abendessen beichten wollte.

Aufschieben brachte nichts, weil es früher oder später ohnedies an den Tag gekommen wäre. Da konnte sie auch die Katze aus dem Sack lassen, wenn die ganze Familie versammelt war – die ganze Mischpoke, wie Bubbe sagte.

Noch nie hatte ein Familienmitglied am Freitagabend zum Essen bei Ma gefehlt. Als Entschuldigung hätte nur gegolten, dass man von einem Lastwagen überfahren worden war oder gerade ein Kind bekam. In der Zeit ihrer Ehe war Becky jeden Freitag von New York mit dem Zug nach Middlewood gefahren, allerdings immer allein. Ihr Mann Jordan war stets entschuldigt gewesen, weil er schon fast Arzt war. Und laut Beckys Mutter galten für Ärzte eigene Regeln.

Becky malte sich aus, wie sie heute Abend mit der Neuigkeit herausrücken würde. Auf dem Tisch stand Mutters liebste Kristallvase mit einem gekauften Strauß. Vater klagte, die Blumen wären bei Weitem nicht so schön wie die Rosen, die er im Sommer im Garten züchtete. Mutter verdrehte die Augen.

„Gib mir bitte die Knisches“, würde Becky ihren Bruder David bitten. „Ach ja, Ma, ich habe heute meine Stelle verloren. Und übrigens, ich bin im dritten Monat schwanger.“

„Schon wieder arbeitslos?“, würde ihre Mutter höchstwahrscheinlich fragen. Gertie Roth hörte stets nur, womit sie ohnehin rechnete, und sie rechnete bestimmt nicht damit, ihre geschiedene Tochter könnte schwanger sein. Und weil sie nie nachrechnete, würde sie erst recht nicht hören wollen, dass ihr ehemaliger Schwiegersohn Dr. Jordan Steinberg nicht der Vater war.

Becky geriet ins Schwanken. Vielleicht sollte sie doch nicht sofort mit der Sprache herausrücken, weil zweifellos ein unbeschreibliches Chaos über sie hereinbrechen würde. Sobald ihre Mutter begriff, was los war, würde sie sich ans Herz fassen und einen Infarkt vortäuschen. Gertie Roth war zwar kerngesund, behauptete jedoch immer, jung zu sterben.

„Dafür ist es sowieso schon zu spät“, antwortete Beckys Vater dann jedes Mal scherzhaft. Nach der Neuigkeit seiner Tochter würde er jedoch nicht zu Scherzen aufgelegt sein, sondern verlangen, dass sie zu einem Arzt ging, um sich untersuchen zu lassen. Und er würde jammern: „Was haben wir bloß falsch gemacht?“

Bubbe würde traurig nicken, wie Großmütter das nun mal so tun, und Gott dafür danken, dass Beckys Großvater Chaim bereits von ihnen gegangen war. Wäre er nämlich nicht schon tot, würde ihn diese Neuigkeit bestimmt umbringen.

Nein, Becky entschied, an diesem Abend doch nichts zu sagen. Eine solche Bombe durfte sie nicht zwischen Suppe und Gefiltem Fisch platzen lassen, selbst wenn sie als Vegetarierin keinen Fisch aß. Am besten schwieg sie für immer und schob den wachsenden Umfang ihres Bauchs auf Depressionen. Und wenn es so weit war, konnte sie …

Ja, was konnte sie dann? Das Baby zur Adoption freigeben? Ausgeschlossen. Das kam so wenig infrage wie eine Abtreibung. Den Entschluss hatte sie bereits gefasst, als sie vor einigen Stunden im Waschraum des Diners auf das Ergebnis des Schwangerschaftstests gewartet hatte.

Sie bog um die nächste Ecke und erreichte den älteren Teil der Stadt mit schönen, herrschaftlichen Häusern. Hier war Carter aufgewachsen.

Vor einer altmodischen Frühstückspension blieb sie stehen. Es war ein ganz reizendes Haus. Die Eckpfeiler und Dachfirste waren hübsch verziert, und neben dem Schild Starr’s Bed & Breakfast hing ein weiteres Schild, auf dem Zimmer frei stand. Außerdem wurde ein Hilfskoch beziehungsweise eine Hilfsköchin gesucht.

Entschlossen ging Becky zur Haustür, zögerte jedoch, als sie den Türklopfer aus Messing berührte. Im Garten stand eine mächtige, mit bunten Lichtern geschmückte Tanne. Seit Thanksgiving sah man in der Stadt immer mehr Weihnachtsschmuck. Überall gab es Kerzen in den Fenstern, Kränze hingen an den Türen, und der Weihnachtsmann machte sich mit seinen Rentieren in Vorgärten breit.

Becky zog die Hand zurück. Das ist nicht meine Welt, dachte sie und ging weiter.

Der Auftrag in Phoenix hatte zehn Monate in Anspruch genommen, war jedoch harmlos gewesen im Vergleich zu dem bevorstehenden Projekt. Endlich würde Carter die volle Partnerschaft bei Sullivan & Walters erreichen, einem angesehenen Architekturbüro in Middlewood. Erst vor wenigen Minuten hatte Joe Sullivan ihn über Handy informiert, dass der Auftrag in Neuseeland unter Dach und Fach war.

Trotzdem dachte Carter im Moment nicht an Neuseeland. Er ließ den Blick über das fleckige Plastiktischtuch und die zerrissenen Kunststoffbezüge der Sitze wandern. Bisher war er noch nie in diesem Diner gewesen, und das aus gutem Grund. Ein Schild behauptete, dass man das Essen hier nie vergessen würde. Wenn die Qualität des Essens der des erbärmlich schlechten Kaffees entsprach, dann traf die Ankündigung bestimmt zu, wenn auch in negativem Sinne.

Carter hatte einen langen Tag hinter sich, angefangen von dem fünfstündigen Flug von Phoenix nach New York bis zur ebenfalls stundenlangen Fahrt mit einem Leihwagen nach Middlewood in Connecticut. Danach wäre er am liebsten zu Hause geblieben, aber seine Mutter erwartete ihn. Also hatte er nur das Gepäck in seiner Wohnung abgestellt und den Wagen aus der Garage geholt.

Doch dann sah er das Schild und hielt am Diner. Wieso auch nicht?

Becky hatte auf seine Anrufe nicht reagiert, und er war es leid, dass sie ihm die kalte Schulter zeigte. Sie waren beide erwachsene Menschen, und da passierten eben gewisse Dinge. Es war höchste Zeit, dass sie das klärten.

Trotzdem kam er sich vor wie ein Schuft.

Vor drei Monaten war er von Übersee angereist, um bei Davids Hochzeit als Zeuge des Bräutigams aufzutreten, und am Morgen nach dem Fest musste er gleich wieder abfliegen. Gegen Ende der Hochzeitsfeier hatte Mrs Roth die Gäste aufgefordert, alles mitzunehmen, was sie haben wollten. Damit hatte sie natürlich die Süßigkeiten und die Blumen gemeint, aber Carter hatte die jüngere Schwester des Bräutigams gewählt.

„Bei der Einrichtung kriegt man nicht gerade Appetit, was?“ Neben dem Tisch stand eine vielleicht zwanzigjährige Frau mit einer Kaffeekanne. Sie hatte ein frisches Gesicht, und das lange blonde Haar war zum Pferdeschwanz gebunden. „Der einzige Vorteil des Diners ist, dass er gegenüber von der Buchhandlung liegt. Noch Kaffee?“

„Ja, warum nicht?“ Wenn Carter an der ersten Tasse nicht gestorben war, überlebte er alles. Nach einem Blick auf das Namensschild der jungen Frau fragte er: „Christina, wann kommt Becky aus der Pause zurück?“

„Tut mir leid, Mister, Rebecca ist vorhin gegangen. Sie ist gekündigt worden. Wahrscheinlich will sie nach Hause. Hoffentlich ist alles in Ordnung“, meinte sie besorgt. „Das Wetter ist reichlich ungemütlich, und sie ist zu Fuß unterwegs.“

„Christina!“, rief in diesem Augenblick ein massiger Mann hinter der Theke. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht mit den Gästen quatschen sollst! Los, an die Arbeit!“

„Ich quatsche nicht, ich arbeite!“ Sie griff nach dem Bestellblock und tat, als würde sie schreiben. „Die ganze Sache tut mir leid. Sie ist meinetwegen hinausgeflogen.“

„Wohl kaum“, erwiderte Carter. „Becky wird ständig hinausgeworfen. Darin hat sie ohne fremde Hilfe eine Kunst entwickelt.“ Er legte einen Fünfdollarschein auf den Tisch und stand auf. „Danke, ich verzichte auf den Kaffee. Vielleicht hole ich Becky noch ein.“

„Der Kaffee macht nur einen Dollar fünfzig. Sie kriegen noch Geld heraus.“

„Behalten Sie es.“ Er deutete auf den Mann hinter der Theke, der finster zu ihnen herübersah. „Wenn Sie für den arbeiten, haben Sie es mehr als verdient.“

Sein Wagen war bereits mit einer leichten Schneeschicht überzogen. Carter fegte die Windschutzscheibe mit bloßen Händen frei. Es war die erste Woche im Dezember und eigentlich noch zu früh für so viel Schnee. Zu dumm, dass er keine Handschuhe dabeihatte.

Das kommt davon, wenn man nicht vorausdenkt – wie zum Beispiel in der Sache mit Becky. Das hätte nie passieren dürfen.

Früher hatten sie völlig unschuldig miteinander geflirtet. Becky war niedlich, lustig und charmant gewesen – und total verwöhnt. Ihr Bruder hatte sie „Prinzessin in Ausbildung“ genannt. Später war sie dann nicht mehr niedlich, sondern strahlend schön, nicht mehr lustig, sondern bezaubernd, und nicht mehr charmant, sondern hinreißend gewesen. Dunkelbraunes gelocktes Haar fiel ihr auf den Rücken und schien förmlich darum zu bitten, von einem Mann verwuschelt zu werden. Die großen braunen Augen wirkten rätselhaft, und ihr Mund war unverschämt verlockend. Allerdings kam sie aus einer anderen Welt. Und Carters Familie hatte stets dafür gesorgt, dass er die Grenzen kannte und respektierte.

Jahrelang hatte er es dennoch als Fehler betrachtet, keine Beziehung zu ihr gesucht zu haben. Vor drei Monaten, nach Davids Hochzeit, hatte er dann aber einen weiteren Fehler begangen.

Seither konnte er nicht mehr schlafen und versuchte vergeblich, nachts die Erinnerungen zu verscheuchen. Auch wenn er es sich nur ungern eingestand, war Becky ihm doch tief unter die Haut gegangen.

Allerdings hatte er nur vor, sich zu entschuldigen, nichts weiter.

Wieso hatte er sie bloß in seine Wohnung mitgenommen? Mittlerweile betrachtete er die unterschiedliche Herkunft zwar nicht mehr als Hindernis, aber nach einer gescheiterten Ehe und aufgrund seines hektischen Lebensstils strebte er keine Beziehung an. Becky hingegen war eine Frau, die einen Ehemann brauchte und sich nicht mit einer Affäre begnügen würde.

Ihn konnte sie nicht mit ihrer sorglosen und scheinbar ungezwungenen Art täuschen. Sie sah wie eine Verführerin aus und verhielt sich auch so, doch er kannte die Wahrheit. Becky Roth war bodenständig und häuslich wie Apfelstrudel – oder in ihrem Fall „Apfelkugel“.

Tatsache war aber auch, dass sie ihn verführt hatte.

Und genau deshalb kam er sich wie der letzte Schuft vor. Er hätte sie abweisen sollen.

Drei Jugendliche in Mänteln und mit Schals und Handschuhen kamen aus einem Haus gelaufen. Einer der ungefähr Sechzehnjährigen warf einen Schneeball nach dem etwas jüngeren Mädchen. Das Mädchen kreischte, die beiden Jungs lachten.

„Ihr kommt euch wohl stark vor, was?“, rief das Mädchen und revanchierte sich mit einem Schneeball gegen die Schulter des größeren Jungen.

„Deine Schwester wirft wie ein Profi!“, rief der Junge seinem Freund zu.

Einen Moment lang war Becky dieses junge Mädchen, und der größere Junge war ihr Jugendschwarm Carter, der beste Freund ihres Bruders. Sie schloss die Augen und versuchte, sich an die sorglose Jugend zu erinnern, als man noch tat, was von einem erwartet wurde.

Ein Schneeball traf sie an der Stirn. Sie verlor das Gleichgewicht, rutschte aus und im nächsten Augenblick saß sie auf dem Bürgersteig. Die Strumpfhose war gerissen, und am Schienbein hatte sie eine Schürfwunde, die ziemlich schmerzte. Es blutete zwar nicht, aber die Haut brannte.

„Ist was passiert?“, fragte der größere Junge besorgt. „Tut mir leid, Ma’am, ich habe Sie nicht gesehen.“

Ma’am? Hatte er sie soeben Ma’am genannt? Da dachte sie, es könnte heute gar nicht mehr schlimmer kommen, doch dann wurde sie durch einen Schneeball von den Füßen geschossen, und zu allem Überfluss nannte der Junge sie nun auch noch „Ma’am“.

„Er wollte mich treffen“, erklärte das Mädchen entschuldigend. „Randy, du Dummkopf, steh nicht herum. Hilf ihr!“

Becky schloss die Augen, um den Schmerz zu verdrängen. Der Trick hatte gewirkt, als Jordan sie verließ. Sie hatte nicht geweint und hinterher weitergemacht, als wäre nichts passiert. Letztlich war auch nichts weiter passiert, als dass sie aus dem Bereich ihres Mannes in den ihrer Eltern zurückgekehrt war, in dem sie nun schon seit neun Monaten wie in der Schwebe lebte.

„Nisch ahir un nisch aher“, wie Bubbe immer sagte – weder hier noch dort.

Dieses Mal wirkte der Trick nicht. Becky lief eine Träne über die Wange. „Mein Bein“, stöhnte sie, „verdammt, tut das weh.“

„Ich kümmere mich um sie“, sagte eine tiefe Männerstimme.

Becky riss die Augen auf und zuckte zusammen, aber nicht vor Schmerz. Carter! Vor ihr stand Carter Prescott III., der beste Freund ihres Bruders, ihr Jugendschwarm. Carter Prescott III., der Vater ihres ungeborenen Kindes!

Vor ihren Augen drehte sich alles, doch nicht von dem Sturz. Breite Schultern, schmale Taille, ein muskulöser Körper, perfekt in den Proportionen – dazu kamen graue Augen, helles Haar und ein attraktives Gesicht. Bei seinem Anblick hatte sie stets Herzklopfen bekommen, und zu allem Überfluss trat er auch noch so energisch und stolz auf, als würde ihm die ganze Welt gehören.

Becky hatte stets eine Schwäche für bestimmende Männer gehabt, und Carter Prescott III. bildete darin keine Ausnahme. Als Jugendliche hatte sie unschuldig mit ihm geflirtet. Damals war sie die kleine Schwester gewesen, fünf Jahre jünger als ihr Bruder David und zu jung für Carter.

Und was hatte der Dummkopf getan? Er hatte eine ältere Frau geheiratet. Gut, sie war nur zwei Jahre älter gewesen als er, doch es hatte sich um die hochwohlgeborene Wendy St. Claire gehandelt, deren Blut blau wie Tinte war.

„Nimm meine Hand, Becky“, verlangte Carter. „Ich helfe dir beim Aufstehen.“

Sie mochte stets eine Schwäche für bestimmende Männer gehabt haben, doch das würde von jetzt ab anders sein. Auf keinen Fall ließ sie sich jemals wieder von ihm anfassen. Darum stieß sie seine Hand weg und stemmte sich alleine hoch. „Au!“ Das Bein tat so weh, dass sie fluchend gegen Carter fiel.

„Was für Ausdrücke aus dem Munde eines netten jüdischen Mädchens“, bemerkte er und hielt sie fest. „Deine Mutter wäre entsetzt.“

„Lass mich los“, verlangte Becky und wagte einen Schritt. „Es ist nur ein Kratzer. Nichts gebrochen, nicht mal verstaucht.“

Die Jugendlichen waren sichtlich erleichtert. „Da hast du Glück gehabt“, sagte das Mädchen zu Randy. „Sie hätte dich verklagen können. Wenn sie klug ist, verklagt sie dich trotzdem wegen tätlichen Angriffs.“

„Ich zeige dir gleich einen tätlichen Angriff!“ Randy scharrte Schnee zusammen und warf ihn nach dem Mädchen, das kreischend weglief.

„Schönen Tag noch, Ma’am!“, rief der andere Junge und folgte den beiden.

Das sollte ein schöner Tag sein? Becky wandte sich seufzend an Carter. „War ich auch mal so jung?“

„Ich sage dir etwas, du alte Frau“, erwiderte er und legte ihr den Arm um die Taille. „Betrachte mich als Pfadfinder, der dir über die Straße hilft. Mein Wagen steht dort drüben.“

„Gut, du darfst mich nach Hause fahren“, lenkte sie erschöpft ein. „Aber ich kann alleine gehen. Ich dachte, du wärst irgendwo in der Wildnis und würdest dort mit Bauklötzen spielen. Was machst du denn hier?“

„Wir sind heute wohl leicht gereizt, was? Nur zu deiner Information: Phoenix ist keine Wildnis, und der Bau eines Hotels hat nichts mit Bauklötzen zu tun.“

Dank ihres Bruders wusste Becky sehr genau, was Carter die ganze Zeit getan hatte. Das gab sie allerdings nicht zu. „Und wieso bist du nun ausgerechnet hier?“, fragte sie und hinkte neben ihm her. „Verfolgst du mich?“

„Ob ich dich verfolge? Du hast vielleicht Nerven. Hältst du mich für so verzweifelt, nur weil du mich nach der Nacht verlassen und dann meine Anrufe nicht beantwortet hast? Tut mir leid, Prinzessin, aber ich bin nicht hinter dir her. Ich wollte zu meiner Mutter und habe einen kurzen Abstecher zum Diner gemacht. Chrissy hat mir erzählt, dass dir gekündigt worden ist. Also bin ich weitergefahren, wurde Augenzeuge deines Sturzes und bin dir als barmherziger Samariter zu Hilfe geeilt.“

Chrissy? Meinte er Christina? Bestimmt hatte Carter sie erst vorhin kennengelernt, aber er hatte bereits einen Kosenamen für sie. Christina – Chrissy – war schließlich eine hübsche Frau, noch dazu eine Blondine, und Carter hatte schon immer für große vollbusige Blondinen geschwärmt.

„Nicht mir wurde gekündigt, sondern ich habe gekündigt“, entgegnete sie gereizt. Daraufhin sah er sie skeptisch an. „Ja, gut, nicht ich habe gekündigt. Sagen wir, der Besitzer des Diners und ich haben uns getrennt.“

„Aha. Er hat sich nicht nach dir gerichtet, und du hast dich von ihm getrennt.“ Carter öffnete ihr die Wagentür und ließ sie einsteigen. „Bestimmt frierst du mit den dünnen Strümpfen. Wieso bist du zu Fuß gegangen?“

„Vielleicht, weil ich mir kein Auto leisten kann“, fauchte sie ihn an. „Und weil Middlewood keinen hervorragenden öffentlichen Nahverkehr zu bieten hat. Außerdem sind es vom Diner bis zu meiner Wohnung nur knapp zwei Kilometer, und heute Morgen schneite es noch nicht.“

Er zog sein Jackett aus, legte es ihr über die Beine und streifte dabei die aufgerissene Stelle. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich, als Becky zusammenzuckte.

Sie merkte, dass sie rot wurde, weil sie nicht aus Schmerz zusammengezuckt war, sondern wegen der aufregenden Wärme, die sich bei der Berührung in ihr ausbreitete. Sie hatte allerdings nicht die Absicht, sich diesem herrlichen Gefühl ein zweites Mal hinzugeben. An den Folgen des ersten Fehlers würde sie ihr Leben lang zu tragen haben.

„Du hast mir nicht wehgetan. Es geht mir schon besser.“

„Dann hast du also vor Widerwillen gezuckt. Ich kann dich beruhigen. Bisher ist noch keine Frau an meiner Berührung gestorben. Trotzdem wird es nicht mehr vorkommen. Den Fehler wiederhole ich nicht.“

Sie wartete mit der Antwort, bis er sich ans Steuer setzte. „Wie waren deine genauen Worte? ‚Hoffentlich glaubst du nicht, dass das etwas zu bedeuten hat.‘ Ein wundervoller Satz. Für wen hältst du dich eigentlich?“

„Ich gebe zu, dass das ziemlich hart war, und es tut mir leid. Ich hätte mich schon viel früher entschuldigt, aber du hast mir keine Gelegenheit dazu gegeben. Du bist diejenige, die mitten in der Nacht weggelaufen ist und sich geweigert hat, darüber zu sprechen.“

Und du bist derjenige, der mich allein und schwanger zurückgelassen hat, dachte sie. Dabei wusste sie, dass sie nicht fair war. Er hatte ihr erzählt, dass er nach Phoenix ging, und er hatte nicht gewusst, dass sie schwanger war. Es machte sie allerdings zornig, dass er so ruhig und gefasst wirkte.

„Zuerst lockst du mich in deine Wohnung, dann verführst du mich, und danach schickst du mich wie ein Haremsmädchen weg. Und jetzt wirfst du mir auch noch vor, ich hätte dich verlassen!“

„Wovon sprichst du? Du hast mir praktisch im Aufzug die Kleidung vom Leib gerissen! Wir haben es nicht mal bis ins Schlafzimmer geschafft.“ Carter seufzte. „Ich wollte heute mit dir nicht streiten, sondern vernünftig mit dir reden, wie Erwachsene es tun. Ich habe dir schon gesagt, dass mir die schroffe Bemerkung leidtut. Ich weiß, wie das auf dich gewirkt haben muss, aber ich kann es erklären.“

„Wieso stimmen Männer nach dem Sex immer das alte Lied von den Bindungen an, die sie nicht haben wollen? Ich verrate dir etwas. Dieses Lied kenne ich, und wenn du Verständnis erwartest, bist du bei mir an der falschen Adresse.“

Er murmelte etwas in sich hinein und fuhr los. Nach einer Weile blinkte er und bog in ihre Straße ein. „Wieso glauben Frauen, dass nur sie sich einen Moment der Schwäche erlauben dürfen? Ich weiß, dass du an dem bewussten Abend verwundbar warst, und ich hätte dein Angebot nicht annehmen sollen, aber …“

„Mein Angebot! Du egoistischer, eingebildeter, egoistischer …“

„Du wiederholst dich.“

Na und? Spielte er sich jetzt auch noch als Sprachwächter auf? „Und ob ich verwundbar war. Du hast das ausgenutzt. Ich dachte, du bietest mir Trost. Bevor wir zu deiner Wohnung gefahren sind, habe ich klargestellt, dass ich nicht mit dir schlafen werde.“

„Dein Gedächtnis lässt dich im Stich, Prinzessin“, bemerkte er amüsiert. „Du hast gesagt, du würdest nur mit mir schlafen, wenn wir vor einem Schneesturm Zuflucht in einem alten Stall suchen müssten und sicher wären, den nächsten Morgen nicht mehr zu erleben. Dann würden wir uns aneinanderschmiegen und uns der Leidenschaft überlassen.“

Offenbar genoss er die Situation. „Mach dich nicht über mich lustig, Carter. Ich war an diesem Abend extrem sensibel.“

„Ich würde es beschwipst nennen. Nur zwei Fragen“, fuhr er fort. „Wo steht denn dieser alte Stall genau?“

„Keine Ahnung. Irgendwo. Was spielt das für eine Rolle?“

„Eine große. Erstens, in der Nähe eines Stalls gibt es ein Farmhaus und einen Farmer, der uns ein Dach über dem Kopf bieten kann. Zweitens, warum sollten wir überhaupt in einem Schneesturm unterwegs sein?“

„Vielleicht kommen wir von einer Geschäftsreise zurück, aber ich verstehe nicht …“

„Welches Geschäft sollten wir denn wohl gemeinsam betreiben? Du bist damit beschäftigt, andauernd deine Arbeit zu verlieren, und ich bin meines Wissens nach Architekt.“

„Das ist schon die dritte Frage. Warum machst du das dauernd? Warum führst du alles weiter? Ich wollte mit der Geschichte nur sagen …“

„Ich weiß, was du sagen wolltest. Du hast von Leidenschaft gesprochen und davon, dass wir uns aneinanderschmiegen. In Wahrheit hast du mich verführt. Ich bin nicht unschuldig. Ich hätte mich wehren sollen. Jetzt möchte ich, dass wir es hinter uns bringen, damit ich meine Freundschaft mit David nicht gefährde.“

Also ging es ihm nur um David. Männer!

„Mach dir deshalb keine Gedanken“, sagte sie, als er in ihre Einfahrt bog. „Mein Bruder würde dich nie mit einem Gewehr jagen.“

Carter verzog das Gesicht. „Nein, aber vielleicht dein Vater.“

Beinahe hätte sie laut gelacht, als sie sich vorstellte, ihr sanftmütiger Vater könnte Carter mit vorgehaltener Waffe zur Heirat zwingen. Außerdem hätte sie sich auch mit einer Waffe nicht zwingen lassen, Carter oder einen anderen zu heiraten.

Seufzend betrachtete sie ihn von der Seite. Er war und blieb der Vater ihres Kindes, das sie allein großziehen wollte. Trotzdem hatte er ein Recht, von der Schwangerschaft zu erfahren. Und den damit verbundenen Schock gönnte sie dem Mistkerl.

Sie holte tief Atem. „Ich muss dir etwas sagen.“

„Entschuldigung angenommen.“

„Nein, du verstehst mich falsch.“

Ihre Haustür öffnete sich, und David trat auf die Veranda heraus. Carter kurbelte das Fenster herunter. „He, Roth, wie geht’s?“

David lief durch den Schnee zu ihm. „Pres, alter Junge! Wann bist du zurückgekommen? Komm auf ein Glas herein, und bleib zum Essen. Es ist schon lange her, dass du die Küche meiner Großmutter genossen hast. Entweder ziehst du durchs Land, oder du hast eine Verabredung. Bubbe hat Hühnersuppe, Rostbraten und Kartoffelknisches gemacht, und du kannst ihren Gefilten Fisch nicht ablehnen.“

Becky krampfte sich der Magen zusammen.

„Danke, ein anderes Mal“, lehnte Carter ab. „Ich muss zu meiner Mutter. Wenn ich mich nicht bei ihr zeige, bleibt sie wahrscheinlich die ganze Nacht wach und überlegt sich neue Methoden, um mich zum Wahnsinn zu treiben.“

So sind Mütter eben, dachte Becky und öffnete die Wagentür.

Gertie kam in ihrem Lammfellmantel auf die Veranda. „David!“, rief sie und winkte hektisch. „Zieh eine Jacke an! Es ist kalt!“

Becky wandte sich an Carter. „Danke fürs Mitnehmen.“

„Warte, ich bringe dich zum Haus.“

„Ich schaffe das schon allein.“ Bevor Carter etwas einwenden konnte, war sie ausgestiegen und hinkte zur Veranda.

„Wo sind deine Stiefel?“, tadelte Gertie. „Bei diesem schrecklichen Wetter trägst du keine Stiefel? Und warum hast du keinen Hut? Geh ins Haus, bevor du dir eine Lungenentzündung holst. Was ist los mit dir? Siehst du nicht, dass es schneit? Das ist kein Schneesturm, das ist eine Katastrophe!“

Autor

Elissa Ambrose
Elissa Ambrose kommt ursprünglich aus Montreal, Canada. Jetzt lebt sie mit ihrem Ehemann und 2 Töchtern in Arizona. Sie hat einen College – Abschluss in Englischer Literatur und arbeitete danach als Software – Entwicklerin. Immer noch sucht sie nach der Verbindung beider Berufsfelder aber sie glaubt, nach all den Jahren...
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