Orientalische Nächte

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Isabelle fürchtet, dass sie einen großen Fehler macht, als sie die Geliebte des geheimnisvollen Tony Kalinsky wird. Was sucht er in dem kleinen Dorf in Syrien, in dem sie Teppiche kaufen wollte? Ist Tony ein Drogenhändler? Fragen über Fragen, die dunkle Schatten aus Isabelles Glück werfen …


  • Erscheinungstag 28.07.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733758349
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Der alte, bärtige Händler in dem langen weißen Gewand und der gewickelten Kopfbedeckung strich mit einem dunklen Finger über den Teppich und sagte energisch: „Nein, nein. Unmöglich. Dieser Preis würde mich ruinieren.“

Isabelle beobachtete verstohlen, aber trotzdem sehr genau, den Alten. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie viel von Teppichen verstand und gerade diesen einen unbedingt haben wollte. Also spielte sie die harmlose Touristin und musterte scheinbar interessiert die übrigen Teppiche, die in verschiedenen Größen aufgestapelt waren. Dann schaute sie den Araber unschuldig und bittend aus großen grauen Augen an. Diesem Blick konnte kein Mann widerstehen – nicht einmal ihr Vater –, wie sie seit ihrer Kindheit wusste.

„Aber dieser Teppich ist mir zu teuer. Haben Sie keinen ähnlichen wie den hier, etwa in den gleichen Farben?“

Der Händler schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist der Einzige. Ein sehr Besonderer.“

Und das stimmte in der Tat. Es war ein feiner türkischer Teppich von hervorragender Qualität. Isabelle hatte nicht damit gerechnet, so etwas in diesem kleinen syrischen Dorf vorzufinden. Sie musste ihn einfach erstehen.

„Könnten Sie mir einen anderen zeigen? Was ist mit dem dort?“ Sie zeigte auf einen halb aufgerollten Teppich und dachte: Wenn ich zusätzlich noch einen nehme, geht der Mann wahrscheinlich von dem hohen Preis für den türkischen Teppich herunter. Daheim im Geschäft würde sie sicherlich vier oder fünf Mal so viel dafür bekommen. Es kam auf geschicktes Handeln an.

„Den da meinen Sie?“ Der Alte schnippte auf ihr Nicken mit den Fingern und rief: „Hassan!“ Ein schmächtiger Junge sprang flink auf und breitete den zweiten Teppich vor Isabelle aus.

Sie trank langsam einen Schluck des tiefschwarzen, aromatischen Kaffees und lächelte scheinbar begeistert. Obwohl sie sich nicht sehr für diesen Teppich interessierte, würde sie ihn nehmen und weiterverkaufen – falls sie ihn zusammen mit dem Ersten günstig erstehen konnte. Sie und ihre Geschäftspartner brauchten dringend Bargeld. Ihr blieb gar nichts anderes übrig, als wahre Schnäppchen heimzubringen, denn sonst gäbe es die Firma „Zauberteppiche“ vielleicht bald nicht mehr. Zurzeit machten sie keinen großen Umsatz und hatten dadurch einige Finanzierungsprobleme.

„Gib bloß nicht zu viel Geld aus!“, hatte Melanie vor Isabelles Abflug bedrückt geraten. „Wir sind gezwungen, an jedem Teppich eine Menge zu verdienen, wenn wir die nächsten sechs Monate überleben wollen.“

„Wer hat denn die beste Witterung für ein echtes Schnäppchen?“, war Isabelles freche Antwort gewesen. „Hüte deine Zunge, Melanie, wenn du mit der Chefeinkäuferin sprichst. Rick könnte nicht einmal einen alten Belutschisten von einem billigen Vorleger aus der Fabrik unterscheiden. Und du auch erst, wenn ich ein Schildchen angeklebt habe.“

Beim Handeln mit den Verkäufern half es Isabelle sehr, dass sie nicht wie eine erfahrene, gewitzte Geschäftsfrau aussah, sondern eher wie eine unbedarfte, harmlose Touristin. Diesen Eindruck unterstrich sie noch, indem sie sich entsprechend kleidete. Sie trug auch jetzt weite gestreifte Hosen, ein loses T-Shirt und viele silberne und türkisfarbene Armreifen und Ringe, die alle keinen großen Wert hatten. Mit ihrer kurzhaarigen Ponyfrisur, der zarten Haut und der schlanken Gestalt wirkte Isabelle sowieso wie ein jungenhafter Teenager. Und der viele Schmuck sollte den Eindruck erwecken, dass sie gern Souvenirs sammelte.

Bis jetzt hatte noch kein Händler vermutet, dass sie in Wirklichkeit eine 23-jährige gerissene Geschäftsfrau war; vor allem nicht, wenn sie mit Tränen in den Augen – wegen angeblich zu hoher Preise – vor ihnen stand. Dabei war der größte Teil des Geldes, das in die Firma floss, Isabelles Geschick zu verdanken, überall die besten Gelegenheitskäufe ausfindig zu machen. Zum Glück ahnte niemand, welch hohe Intelligenz und geradezu geniale Begabung, stets die Preise zu drücken, sich hinter dem unschuldigen Aussehen verbargen.

Der syrische Händler schaute Isabelle an, und sie unverwandt ihn. „Dieser gefällt Ihnen?“, fragte er in recht gutem Englisch.

„Oh ja.“ Scheinbar bewundernd befühlte sie den Teppich. Doch das tat sie nur, um ihn auf Fehler und die Anzahl der Knoten zu überprüfen. Es war ein durchaus guter Teppich, ihr aber lag vor allem an dem anderen. Selbst zu dem Preis, den der Alte dafür verlangte, wäre es eine Gelegenheit, wie sie sich im Leben nur sehr selten bot.

Dass sie dieses Theater spielte, bedrückte Isabelles Gewissen nicht. Wenn sie dieses Schnäppchen nicht machte, würde es ein anderer tun. Und sie konnte sich bei dem schlechten Zustand ihrer Firma wahrlich keine Gefühlsduseleien leisten.

„Freunde daheim haben mich gebeten“, fing Isabelle zu lügen an, „ihnen einen hübschen Teppich zu besorgen. Der da würde ihnen sicherlich gefallen. Doch sie können nicht viel Geld dafür ausgeben. Also, was verlangen Sie?“

Er nannte eine Summe.

Scheinbar erschrocken rief Isabelle: „Nein, das ist viel zu viel.“ Nun nannte sie eine niedrigere Zahl und lachte, als der Syrer wieder behauptete, sie würde ihn ruinieren. „Ich verstehe zwar nichts von Teppichen“, schwindelte sie mit unschuldigem Blick, „aber Ihr Preis kommt mir schrecklich hoch vor. Und ich möchte meinen Freunden so gern sagen, wie gut ich für sie eingekauft habe.“

Der Syrer sah auf einmal irgendwie misstrauisch aus, und sie beschloss, ihre Schauspielerei nicht zu übertreiben. Schließlich hatte sie den absolut schönsten und feinsten Teppich herausgesucht, und der Alte würde womöglich nicht an einen Zufall glauben.

In diesem Moment merkte Isabelle, dass ihnen noch jemand zuhörte und zuschaute. Nur wenige Schritte entfernt stand vor der verfallenen Hütte mit dem Teppichladen ein hochgewachsener Mann. Trotz seines schwarzen Haars und der scharfgeschnittenen Gesichtszüge hielt sie ihn eigentlich nicht für einen Einheimischen.

Isabelle hatte nicht vermutet, in diesem abgelegenen Dorf einen Fremden vorzufinden. Sie wusste nicht einmal genau, wo sie sich eigentlich befand. Höchstens, dass der Ort – laut Karte – einige Meilen östlich von Aleppo lag. Ein älterer Araber hatte sie in seinem Auto bis hierher mitgenommen. Er war ihr durch den Manager des kleinen Hotels, in dem sie in Aleppo übernachtet hatte, vermittelt worden. Sie fuhr öfter mit jemandem mit, weil das die Reisekosten sehr verringerte.

Neugierig betrachtete Isabelle den Fremden. Er trug helle Jeans und ein loses Jackett und musste Anfang dreißig sein. Aber vor allem fiel ihr die Augenklappe auf, die sein linkes Auge bedeckte. Das rechte, von einem seltsamen Blaugrün wie altes Flaschenglas, starrte sie an. Der Mann lächelte weder noch grüßte er, worüber sie sich wunderte. Nach einigen Sekunden wandte sie sich wieder dem Händler zu.

„Lassen Sie mich noch einmal die anderen Teppiche sehen“, bat sie und spielte die unentschlossene Touristin. Insgeheim bewunderte sie die Geduld des Syrers, denn Isabelle hasste die unentschlossenen Kunden, mit denen sie manchmal in ihrem Londoner Geschäft zu tun hatte. Doch daran sollte sie jetzt nicht denken, sondern sich auf den nächsten Schritt ihres Verhandelns konzentrieren. Wieder rief der Alte den Jungen herbei, der gleich sämtliche Teppiche vor ihr ausbreitete.

Isabelle bemühte sich, nicht auf den einen zu blicken, der ihr besonders am Herzen lag, denn sie durfte sich nicht verraten. „Ach, ich weiß nicht so recht“, sagte sie dann. „Dieser vielleicht … oder nein, diesen hier.“ Das war der zweitbeste und ebenfalls ein recht guter. Falls sie beide Teppiche kaufte, würde es ihr schwerfallen, sich später von ihnen zu trennen. Dass ging ihr immer so.

„Angenommen, ich kaufe beide, einen für meine Freunde und den anderen für mich“, schien sie laut zu denken. „Dann können meine Freunde sich einen aussuchen, und ich behalte den zweiten. Mir steht allerdings nur ein bestimmter Betrag zur Verfügung, doch…“

„Kann ich Ihnen helfen?“, mischte sich auf einmal der Fremde ein. Isabelle, die auf dem Boden hockte, blickte an schier endlosen Beinen hinauf zum Gesicht mit der Augenklappe.

„Vielen Dank, aber alles ist okay.“ Isabelle lächelte ihn liebenswürdig an, obwohl sie sich furchtbar ärgerte. Warum musste sich dieser Typ ausgerechnet jetzt einschalten und ihr womöglich alles verderben. „Ich bin Ihnen gern behilflich, denn ich habe einige Erfahrung in solchen Dingen.“ Der Mann schätzte sie mit seinem gesunden Auge ab, wie sie deutlich merkte. Sein Englisch war perfekt.

Sie zögerte, weil sie ja kaum erwidern konnte: Ich auch. Damit wäre sie sich selbst in den Rücken gefallen. Schließlich versicherte sie ihm: „Das brauchen Sie wirklich nicht. Alles ist bestens.“ Sie musterte ihn genauer. Komisch, dass ein Auge viel bedrohlicher wirkte als zwei. Und was mochte mit dem bedeckten sein? Woher stammte dieser Mann mit dem perfekten Englisch? Trotz seines scharfgeschnittenen Profils und des blauschwarzen Haares war er bestimmt kein Araber.

„Wie viel würden Sie für den Teppich bieten?“, erkundigte sich der Fremde beiläufig.

Weil sein Benehmen und seine Einmischung Isabelle aufregten, vergaß sie sich und platzte unbedacht heraus: „Das geht Sie nichts an.“ Aber sofort riss sie sich zusammen. Sie musste doch die unerfahrene Touristin spielen. „Ah … ich meine … also, vielen Dank, aber ich denke, ich komme schon allein zurecht.“ Sie hoffte inbrünstig, dass es nicht zu unecht geklungen hatte.

Er störte sich überhaupt nicht daran, dass sie ihn sehr deutlich zurückgewiesen hatte. Im Gegenteil, er hockte sich ebenfalls hin und überprüfte peinlich genau die Rückseiten sämtlicher Teppiche.

Isabelle machte Höllenqualen durch. Dieser Fremde war im Begriff, ihr alles zu verderben!

Sie zwang sich, weiterzulächeln und betete stumm, dass der Händler den Preis für ihren besonderen Teppich nicht erhöhen würde, weil sich nun auch dieser Fremde dafür interessierte.

Zum Glück scheint er nichts von Teppichen zu verstehen, dachte sie erleichtert. Der Mann hatte nämlich den feinen türkischen zurückgeklappt und einen anderen hervorgezogen, der nicht halb so gut war.

„Warum nehmen Sie den hier nicht?“, wandte der Augenklappenmann sich an Isabelle. „Die Farben sind ähnlich wie bei dem anderen, sieht auf dem Fußboden bestimmt ebenso gut aus und ist wahrscheinlich viel billiger.“

Hatte sie ihn denn um seine Meinung gebeten?

„Wie viel?“, fragte er nun den Händler, der eine Zahl nannte. „Ich gebe Ihnen die Hälfte.“

Da war es mit ihrer Beherrschung aus. „Hören Sie, Mister“, sagte Isabelle scharf. „Handeln Sie mit Ihrem oder meinem Geld? Falls Sie sich auch für den Teppich interessieren, warten Sie gefälligst ab, bis Sie an der Reihe sind. Dieser Gentleman und ich waren gerade dabei, uns zu einigen.“ Gerade dabei, stimmte natürlich nicht. Isabelle wusste nur zu gut, wie lange in den arabischen Ländern solche Verhandlungen dauerten. Aber dieser Typ wusste es womöglich nicht.

Er hockte noch immer auf dem Boden und warf ihr einen schnellen Blick zu. Für ein, zwei Sekunden hielten sich sein und ihr Blick gefangen, und in diesen kurzen Sekunden wurde Isabelle sich noch einiger anderer Dinge bewusst. Der Mann hockte viel zu dicht bei ihr. Sie brauchte nur die Finger auszustrecken, um seinen sehnigen, braun gebrannten Arm zu berühren, und das machte ihr ziemlich zu schaffen.

Was hatte sie vorhin in seinem unbedeckten Auge gelesen? Eine Frage? Eine Herausforderung oder was? Plötzlich schoss heiß das Blut durch Isabelles Adern, und sie vergaß die Teppiche. Ihr Herz hämmerte. Doch gleich versuchte sie sich einzureden, dass sie nur deshalb so aufgeregt war, weil dieser Mann sich im ungünstigen Moment einmischte. Etwas anderes konnte es nicht sein. Feindselig schaute sie ihn an, nahm sich jedoch sofort zusammen. Sie musste vorsichtig sein. So leicht ließ der sich bestimmt nicht abwimmeln oder hinters Licht führen.

„Ach ja?“, bemerkte er ein wenig spöttisch. „Nach meinen Erfahrungen gelangt man nicht so schnell zu einem Abschluss.“

Liebend gern hätte sie ihm mitgeteilt, dass sie wahrscheinlich größere Erfahrung hatte als er. Aber eine innere Stimme riet Isabelle, besser den Mund zu halten.

„Welchen Teppich möchten Sie denn haben?“ Er fragte es derart väterlich und herablassend, als sei sie wirklich so dumm, wie sie sich stellte. „Wie wäre es mit dem hier?“

Er deutete mit dem Kopf auf „ihren“ Teppich, und sie zuckte entsetzt zusammen. Dieser widerliche Kerl! Er ruinierte ihre Chancen auf ein gutes Geschäft. Was sollte sie nur tun?

Sie unterdrückte den Zorn und hob scheinbar lässig die Schultern. „Ich bin mir nicht sicher. Eigentlich wollte ich nur einen für meine Freunde. Aber diesen könnte ich vielleicht für mich kaufen. Mir gefallen die Farben.“

„Also, wie ist es mit dem hier?“, wiederholte der Fremde. Der syrische Händler sagte nichts und schaute nur zu. Hassan, der in einer Ecke saß und offenbar der Sohn des Händlers war, blickte immer wieder auf seinen Vater.

„Nehmen Sie den hier für Ihre Freunde und den anderen für sich selbst. Wenn Sie beide kaufen, holen wir wahrscheinlich einen günstigen Preis heraus.“ Der Mann lächelte überraschenderweise. Aber er fuhr fort, Isabelle mit seinem einen Auge scharf zu beobachten. Das nervte sie entsetzlich. Kalt wie grünes Glas, dachte sie gereizt.

„Das ist sehr nett von Ihnen, Mister…“, fing sie energisch an.

„Tony“, stellte er sich vor.

„Mr. Tony. Aber ich glaube nicht…“

Er unterbrach sie.

„Wie ich Ihnen bereits sagte, helfe ich Ihnen gern.“ Auf einmal schenkte er ihr ein so strahlendes Lächeln, dass ihn jede Zahnpastafirma mit Wonne für ihre Werbung genommen hätte. „Ich verstehe mich nämlich ein bisschen aufs Feilschen.“

Darauf könnte ich wetten, dachte Isabelle erbost. Er sah nach ihrer Ansicht wie ein Mann aus, der sich mit modernem Sklavenhandel befasste. Wahrscheinlich kaufte er zahlreiche hübsche Mädchen für die arabischen Scheichs ein – oder sogar für sich selbst. Und er hatte etwas gefährlich Raubtierhaftes an sich, das ihr Angst einflößte.

Von diesem Moment an musste Isabelle gewissermaßen an zwei Fronten kämpfen. Zum einen gegen den Fremden, der sich immer wieder in die Verhandlungen einschaltete, und zum anderen gegen den Syrer, der allerdings weniger zu Wort kam. Manchmal war sie schon drauf und dran, mit der Rolle als naive Touristin aufzuhören und diesen Tony in die Schranken zu weisen. Aber dann atmete sie jedes Mal tief durch und spielte weiter. Es war einfach ihr persönliches Pech, ausgerechnet diesem merkwürdigen und anscheinend wohl wollenden Mann zu begegnen, der sie völlig verwirrte.

„Vielleicht möchte der Herr den Teppich für sich selbst kaufen“, sagte sie zu dem Syrer. Damit wollte sie ihn wieder in das Verkaufsgespräch verwickeln und Tony andeuten, dass sie auf seine Hilfe verzichtete.

„Nun, wenn die Dame nicht länger interessiert ist, steige ich ein“, wandte Tony sich an den Händler. „Ich biete Ihnen mehr als sie.“

Einige Sekunden brachte Isabelle kein Wort heraus. Was fiel diesem Kerl ein? Und wie sollte es jetzt weitergehen? Sie durfte sich nicht auf einen Machtkampf einlassen, denn wenn sie siegte, müsste sie viel mehr bezahlen, als sie vorgehabt hatte. Außerdem würde er ihr während des Feilschens bald anmerken, dass sie sich mit Teppichen auskannte.

„Ich dachte, Sie wollten mir helfen“, jammerte sie und versuchte, an Tonys Ritterlichkeit zu appellieren. Leider gelang es ihr nicht, auch noch ein paar Tränen herauszupressen. Diese Fähigkeit hatte Isabelle verloren, als sie entdeckte, dass Tränen auf ihre älteren Brüder durchaus nicht wirkten.

Plötzlich fiel ihr ein neuer, ziemlich gefährlicher Schachzug ein. Sie wollte den Preis hochtreiben, indem sie Tony ständig überbot, um dann im allerletzten Moment auszusteigen. Das bedeutete allerdings, ihren schönen Teppich zu verlieren. Aber den würde sie jetzt sowieso nicht mehr günstig bekommen. Abgesehen davon lag ihr auf einmal viel mehr daran, Tony eins auszuwischen.

Natürlich war sie sich bewusst, dass auch er dieses Spielchen mit ihr spielen könnte, und dann säße sie in der Falle. Doch es reizte sie ungeheuer, sich mit diesem Mann zu messen. Beide würden sie versuchen, die Gedanken des anderen zu erraten, um rechtzeitig zu erkennen, wann der Gegner nicht mehr weiterbieten wollte.

Im Geist überschlug Isabelle, wie viel sie daheim an diesem Teppich verdienen könnte. Sie nahm sich vor, bis ungefähr zu diesem Betrag mitzubieten und dann aufzuhören. Dann müsste Tony für den Teppich fast genauso viel hinblättern wie in einem normalen Großstadtgeschäft.

Erstaunt betrachtete der Händler die beiden Fremden, die anfingen, sich gegenseitig zu überbieten. Aber nach einiger Zeit begriff er, dass sich da etwas abspielte, was nichts mehr mit dem Teppich zu tun hatte. Sie trieben den Preis immer höher, bis Isabelle instinktiv spürte, dass Tony gleich aussteigen würde.

„Er gehört Ihnen“, sagte sie hastig. „Ich kann es mir nicht leisten, derart viel für einen Teppich zu zahlen. Dafür müsste ich zwei haben, die ich verschenken will.“

Tony schien überrascht zu sein. Offenbar hatte er geglaubt, sie würde weitermachen.

„Warum haben Sie denn überhaupt so hoch gesteigert?“, fragte er nach einer Weile kühl.

„Und warum haben Sie vorgetäuscht, mir zu helfen, wenn Sie in Wirklichkeit den Teppich selbst wollten?“, konterte sie und atmete erleichtert auf, dass sie gerade noch rechtzeitig aufgegeben hatte.

„Weil ich später den Eindruck gewann, dass Sie nicht mehr an ihm interessiert gewesen sind.“

„Ich war durchaus daran interessiert. Sonst hätte ich doch wohl nicht mitgesteigert“, schwindelte sie frech. Doch sie wurde das unangenehme Gefühl nicht los, dass er ihr kein Wort glaubte, sondern sie durchschaut hatte.

Im nächsten Moment lächelte Tony sie an. Es war dieses blitzende Zahnpastalächeln, das sie unter anderen Umständen höchst attraktiv gefunden hätte. Und dann sagte er, als ob es tatsächlich nur ein verrücktes Spielchen gewesen wäre: „Okay. Warum beginnen wir nicht noch einmal ganz von vorn? Betrachten wir das als lehrreiche Übung, einverstanden?“ Ohne auf Antwort zu warten, wandte er sich an den Syrer und sprach auf Arabisch zu ihm.

Isabelle ärgerte sich, denn der Händler lachte, und sie verstand kein einziges Wort. „Was haben Sie gesagt?“, verlangte sie barsch zu wissen.

„Ich erklärte ihm, dass dieses gegenseitige Hochsteigern nur so etwas wie… wie ein Scherz zwischen uns gewesen ist. Aber vielleicht könnten Sie doch noch zu Ihrem Teppich kommen, wenn auch zu einem höheren Preis, als ich ursprünglich geplant habe.“

Wie gut, dass ich mir nichts anmerken ließ, dachte Isabelle viel später, als Tony sich weiterhin einmischte. Sie war fest entschlossen, die richtigen Teppiche zu erstehen, was ihr auch schließlich gelang. Über den geforderten Preis konnte sie sich eigentlich nicht beschweren. Allerdings glaubte sie fest daran, dass sie weniger bezahlt hätte, wenn sie allein geblieben wäre. Und genau das wollte sie diesem aufdringlichen Fremden mitteilen, wenn der syrische Händler außer Hörweite war.

Nach mehreren Tassen Kaffee und einigen klebrigen Süßigkeiten waren die Verhandlungen erfolgreich beendet, und auch der Alte schien zufrieden zu sein. Offensichtlich kannte er den wahren Wert des Teppichs nicht, den er, wie er erzählte, bei einem Touristen für einige handgewebte syrische Läufer eingetauscht hätte.

Einfältiger Tourist, dachte Isabelle zufrieden. Weder er noch der syrische Händler hier im Dorf wissen anscheinend, was der Teppich wirklich wert ist. Nun, das ist mein Glück, selbst wenn ich wegen dieses verrückten Tony mehr für dieses Prachtstück bezahlen musste …

Und dann machte sie sich darauf gefasst, lange auf den Araber zuwarten, der sie in seinem Lastwagen zurückbringen sollte. Wie sich jedoch herausstellte, hatte der unerwünschte Fremde etwas anderes mit ihr vor.

„Wann wollte Ihr arabischer Freund Sie abholen?“, fragte Tony, während sie Kaffee tranken.

„Nicht vor sieben“, gab Isabelle unwirsch zu. Bestimmt war Tony in seinem eigenen Auto hergekommen und würde ihr womöglich vorschlagen, sie mitzunehmen. Sie überlegte angestrengt. Zum einen wäre es ihr lieb, früh wieder im Hotel zu sein, weil sie am nächsten Morgen zur türkischen Grenze wollte. Aber zum anderen lag ihr nichts daran, das Zusammensein mit diesem schrecklichen Mr. Tony zu verlängern.

„Warum fahren Sie nicht mit mir? Ich habe in Aleppo ein Auto gemietet und möchte nur noch kurz in ein anderes Dorf, nicht weit von hier. Wir werden wesentlich früher als der Araber im Hotel sein.“

Der höchst misstrauische Blick, mit dem sie Tony bedachte, entging ihm nicht, denn er bemerkte lachend: „Was ist? Haben Sie Angst, zu einem Fremden in den Wagen zu steigen? Sie sind ja bereits ein Risiko eingegangen, als Sie mit einem Fremden hierher fuhren – oder? Ich bin Engländer und ein Gentleman. Das sollte Sie eigentlich beruhigen.“

Fast hätte sie gesagt: „Sie sehen weder wie ein Engländer noch wie ein Gentleman aus.“ Aber weil so etwas wie ein belustigtes Lächeln in seinen Augen stand, verkniff sie es sich.

Obgleich Isabelle sich naiv gab, wenn es ihr nützlich erschien, war sie eine gute Menschenkennerin und eine erfahrene Reisende. Sie wusste, dass sie sich auf ihren Instinkt verlassen konnte. Und bei diesem Mann hatte sie eigentlich nicht das Gefühl, dass er eine ernsthafte Gefahr für sie bedeuten würde.

„Warum interessieren Sie sich für ein anderes Dorf?“, fragte sie. „Und wieso sind Sie in das hier gekommen, das normalerweise kaum von jemandem besucht wird?“

„Dieselbe Frage könnte ich Ihnen stellen. Ich bin nur ein ganz normaler Tourist auf der Suche nach schönen Handarbeiten. Bei Ihnen bin ich mir nicht so sicher. Ich halte Sie nicht für eine gewöhnliche Touristin und auch nicht für naiv.“

„Das trifft genauso auf Sie zu. Ich brauche ja nur daran zu denken, wie Sie mich beinahe meinen Teppich gekostet hätten.“

Bei dieser Bemerkung warf er Isabelle einen höchst amüsierten Blick zu, und sie musste unwillkürlich lächeln. Dass dem Mann eine Locke ins Gesicht fiel, mochte sie irgendwie, auch wenn sie sich über ihn ärgerte. Plötzlich merkte sie, dass sie ihn anstarrte. Hastig schaute sie weg.

„Also, was ist? Kommen Sie mit oder nicht?“, fragte er betont geduldig. „Ich möchte nämlich gleich losfahren.“

„Nun, vielleicht sollte ich es tun“, erwiderte sie nicht sehr liebenswürdig. „Ich müsste sonst schrecklich lange auf Farouk warten.“

Tony musterte sie durchdringend mit seinem einen Auge. „Wie Sie wollen“, sagte er schließlich. Dann verabschiedete er sich von dem Händler.

Auch Isabelle schüttelte ihm die Hand. Der brave Hassan verstaute ihre Teppiche hinten im zerbeulten Kombiwagen, den Tony gemietet hatte, und sie stiegen ein.

2. KAPITEL

Kaum hatten die beiden das Dorf verlassen, da raste Tony mit halsbrecherischer Geschwindigkeit – so kam es jedenfalls Isabelle vor – hinaus in die Wüste. Das Auto, in dem es keine Sitzgurte gab, krachte von einem Schlagloch ins andere.

„Wieso reisen Sie hier ganz allein durch die Gegend?“, erkundigte Tony sich nach einer Weile.

Isabelle ärgerte sich noch immer, dass er sich vorhin eingemischt und ihre so sorgfältig ausgeklügelten Pläne ruiniert hatte. Es lag ihr auf der Zunge, ihm mitzuteilen, dass sie eine erfahrene Teppichhändlerin war. Aber sie beschloss, damit noch zu warten. Vielleicht könnte es ihr zu einem späteren Zeitpunkt nützlicher sein.

„Auch wenn Sie es nicht glauben, bin ich eine schlichte Touristin. Ich reiste zunächst mit jemandem nach Damaskus. Aber dann dachte ich mir, ich sollte es auf eigene Faust versuchen. Heute ist mein letzter Tag, und ich wollte in die Wüste. Der Manager des Hotels, in dem ich wohne, verschaffte mir die Mitfahrgelegenheit mit einem seiner Freunde. Und der erzählte mir von dem Teppichhändler hier im Dorf.“ Zumindest einiges stimmte an dieser Geschichte. „Hey! Müssen Sie unbedingt so schnell fahren?“, rief Isabelle gleich darauf. „Ich schlage mir noch den Schädel ein.“ Sie wusste nicht, ob sie sich am Sitz fest halten oder ihren schmerzenden Kopf schützen sollte.

„Der Wagen hat keinen dritten Gang“, erwiderte Tony ohne jedes Mitgefühl. „Wir müssen entweder rasen oder im zweiten Gang weiterkriechen.“

„Du lieber Himmel! Wieso haben Sie überhaupt diese Klapperkiste gemietet? Jeder Mensch sieht doch auf den ersten Blick, dass der alte Kasten nichts taugt.“

Autor

Lucy Keane
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