Sex oder Liebe?

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Liebe steht nicht im Drehbuch, ebenso wenig wie Mord. Trotzdem gerät Sydney beim Filmen in einem versunkenen Indianerdorf in Lebensgefahr! Retter in höchster Not ist Reece Henderson. Ein unverschämt attraktiver Mann - und der Einzige, der nicht an einen Unfall glaubt …


  • Erscheinungstag 09.12.2015
  • ISBN / Artikelnummer 9783733743062
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Die Arme um ihre Knie geschlungen, saß Sydney, überflutet vom silbernen Licht eines Sommermonds, auf einem der Kalksteinvorsprünge, die das Chalo River Reservoir säumten. Obwohl sie die Bewegung nicht sehen konnte, wusste sie, dass der Wasserpegel in dem riesigen Staubecken stetig sank.

Noch sechsunddreißig Stunden, schätzte sie, wobei ihr ein erwartungsvoller Schauer über den Rücken rieselte, höchstens achtundvierzig. Dann würde das sagenumwobene, geheimnisvolle Dorf, das sie zum ersten Mal als Kind gesehen hatte, aus den dunklen Fluten des Staubeckens auftauchen.

Einmal alle zehn Jahre wurde der Stausee für Reparaturarbeiten an der Staumauer trockengelegt. Einmal alle zehn Jahre tauchten die alten Ruinen aus der Versenkung auf. Dies war das Jahr, der Monat, die Woche.

Erregung pulsierte durch Sydneys Adern, Erregung und eine schmerzliche Trauer, die ihr das Herz schwer machte.

„O Dad“, murmelte sie leise, „wenn du doch nur noch ein paar mehr Monate gehabt hättest …“

Nein, sie durfte nicht schon wieder damit anfangen! Sie schüttelte den Kopf, um das schmerzliche Verlustgefühl abzuwehren, das ihr mittlerweile so vertraut war, dass sie es manchmal kaum noch wahrnahm. In Anbetracht der Schmerzen, die ihr Vater gehabt hatte, konnte sie sich nicht ernsthaft wünschen, dass er auch nur einen Tag oder eine Stunde länger hätte leben sollen. Sein Tod war eine Erlösung gewesen von Qualen, die selbst das Morphium nicht mehr hatte dämpfen können. Sie würde jetzt nicht um ihn trauern. Stattdessen würde sie diese ruhigen, vom Mondlicht erhellten Stunden nutzen, um sich die Zeit in Erinnerung zu rufen, die sie zusammen gehabt hatten.

Mit der perfekten Klarheit eines Kameraobjektivs ließ Sydney ihre Verwunderung Revue passieren, als ihr Vater ihr zum ersten Mal die nassen, glänzenden Ruinen gezeigt hatte, die, versteckt unter einem Felsvorsprung, in diesem Teil des Chalo Canyons lagen. Damals wie heute auch hatte sie eine Gänsehaut bekommen, als sie das Pfeifen des Windes gehört hatte, das genauso klang wie die weinende Frau aus einer Legende, die sich die Einheimischen erzählten. Sie besagte, dass in lange zurückliegender Zeit ein Anasazi-Krieger eine Frau von einem anderen Stamm entführt und sie in einem Steinturm in seinem Dorf gefangen gehalten hatte. Die Frau hatte um ihren verlorenen Liebsten geweint und war in den Tod gesprungen, weil sie sich dem Mann, der sie entführt hatte, nicht unterwerfen wollte.

Als sie nach Chalo Canyon gezogen waren, wo ihr Vater eine Stelle als Fisch- und Jagdaufseher in dem Naturschutzgebiet bekommen hatte, von dem der Stausee hinter dem Damm umgeben war, hatte Sydney, ein Kind damals noch, diese Legende zum ersten Mal gehört. Ihr Dad hatte sich über das Märchen lustig gemacht, aber die Fantasie seiner Tochter hatte es nicht losgelassen. Es hatte sie so sehr beschäftigt, dass sie die Jahre zählte, bis sie endlich die Ruinen für ein Spezialprojekt ihrer Filmklasse auf einem Videofilm festhalten konnte.

Seufzend stützte Sydney das Kinn auf die Knie. Wie jung sie damals gewesen war. Wie unglaublich naiv. Eine neunzehnjährige Studentin, die diesem Filmprojekt ihre gesamte Collegezeit hindurch entgegengefiebert hatte. Sie hatte den Sommer und die geplante Trockenlegung des Auffangbeckens gar nicht erwarten können. Pop war an diesem Tag auch bei ihr gewesen, er hatte das Boot gesteuert und im Gleichgewicht gehalten, während sie, die Videokamera auf der Schulter, herumgeturnt war, um das aus dem Wasser auftauchende Dorf aus jedem nur erdenklichen Blickwinkel zu filmen. Sydney war so in Hochstimmung gewesen, so fest überzeugt, dass dieses Projekt der Beginn einer großen Karriere sein würde.

Und dann hatte sie sich Hals über Kopf in den gut aussehenden, charmanten Jamie Chavez verliebt.

Selbst nach all diesen Jahren wand Sydney sich bei dem Gedanken daran innerlich immer noch vor Beschämung. Ihre atemlose Inbrunst hatte den älteren, lebenserfahreneren Jamie amüsiert und erfreut … sehr zum Leidwesen seines Vaters. Die Tochter des örtlichen Fisch- und Jagdaufsehers passte nicht in den Lebensentwurf, den Sebastian Chavez für seinen einzigen Sohn entworfen hatte.

Im Nachhinein konnte Sydney über ihre unglaubliche Naivität nur den Kopf schütteln. Jamie hatte sich lediglich mit ihr amüsieren wollen, während seine Verlobte in Europa war. Selbst heute noch würde sie bei dem Gedanken an die Nacht, als Sebastian sie im Bett seines Sohnes erwischt hatte, am liebsten im Erdboden versinken. Es war keine schöne Szene gewesen. Schlimmer noch, die Geschichte hatte ihren Vater die Stellung gekostet. Eine Woche später waren sie weggezogen, und keiner von ihnen war jemals wieder nach Chalo Canyon zurückgekehrt.

Bis jetzt.

In wenigen Stunden würde Sydney die Ruinen zum dritten Mal aus der Versenkung auftauchen sehen, und diesmal würde sie, die inzwischen eine mit Preisen überhäufte Dokumentarfilmerin war, einen ergreifenden Film daraus machen. Die Vorarbeiten dafür hatten sie fast ein Jahr Arbeit gekostet, und das Endprodukt würde sie dem Mann widmen, der ihr die Schönheiten und Geheimnisse des Chalo Canyons gezeigt hatte.

Zu hoffen stand, dass der Film ihre Produktionsfirma aus den roten Zahlen herausbringen würde. Die lange Krankheit ihres Vaters hatte sowohl Sydneys Herz als auch ihr Bankkonto arg gebeutelt. Selbst der warme Geldregen, der mit den Oscars einhergegangen war, hatte zusammen mit ihren Ersparnissen nicht ausgereicht, um die Unkosten aufzufangen, die ihr bei der Gründung ihrer eigenen Produktionsfirma entstanden waren. Dieses Projekt jetzt würde sie entweder sanieren oder vollständig ruinieren.

Sie schlug nach einer lästigen Schnake an ihrem linken Ohr, während sie an all die Hindernisse dachte, die sie hatte überwinden müssen, um dorthin zu kommen, wo sie jetzt war. Mit den Vorbereitungsarbeiten zu dem Film hatte sie angefangen, als die Leukämie ihren Vater ans Bett gefesselt hatte. Dort hatte sie dann stundenlang gesessen und jeden einzelnen Schritt mit ihm durchgesprochen. Das Konzept, das Treatment, so wie sie es sich vorstellte. Sie hatte einen Finanzierungsplan ausgearbeitet. Dann hatte sie ihre Idee dem HISTORY Channel, PBS und einem halben Dutzend freier Produzenten unterbreitet.

Pops Tod hatte Sydney in ihrem Entschluss noch bestärkt … obwohl Sebastian Chavez sich derart auf die Hinterbeine gestellt hatte. Nachdem er von dem geplanten Projekt erfahren hatte, war ihm jedes Mittel recht gewesen, um es zu Fall zu bringen. Er hatte ihr den Zugang zum Drehort durch sein Land verweigert. Seiner Einmischung war es zu verdanken, dass sie so lange keine Dreherlaubnis bekommen hatte. Er hatte sogar verschiedene Indianergruppierungen aufgehetzt, gegen die Ausbeutung ihrer heiligen Ruinen zu protestieren. Offensichtlich hatte sich auch nach zehn Jahren sein tief sitzender Groll immer noch nicht gelegt.

Ein letzter Versuch, das Projekt doch noch zu blockieren, hatte darin bestanden, dass Chavez versucht hatte, den für die Reparaturarbeiten am Staudamm verantwortlichen Ingenieur in die Auseinandersetzung hineinzuziehen, indem er ihn dazu überredet hatte, sich gegen jede Aktivität in dem Sperrgebiet hinter dem Staudamm auszusprechen.

Sydney hatte schamlos alle ihre Beziehungen von Los Angeles bis Washington D.C. ausgenutzt, um Reece Hendersons Unterstützung für ihr Projekt zu bekommen. Schließlich war es ihr auf diese Weise tatsächlich gelungen, ihn auf ihre Seite zu ziehen.

Um zu verhindern, dass die Reparaturarbeiten durch die Dreharbeiten gestört wurden, hatte er seine Einwilligung jedoch an die Bedingung geknüpft, dass Sydney sich jeden Tag mit ihm abstimmte. Hendersons kurz angebundene Faxe auf ihre anfänglichen Bitten hatten ein Zähneknirschen bei ihr ausgelöst, aber sie dachte gar nicht daran, sich von irgendeinem Holzkopf ihren dicht gedrängten Zeitplan durcheinanderbringen zu lassen. Sie hatte nur zwei Wochen, um eine Legende auf Videofilm festzuhalten … und den Zauber ihrer Jugend einzufangen.

Für einen Moment fielen ihr die Augen zu. Sie sollte ins Motel zurückfahren und zusehen, dass sie ein paar Stunden Schlaf bekam, bevor der Rest der Crew eintraf. Im Lauf der Jahre hatte sie gelernt, wie wichtig ausreichende Ruhe gerade in Stresssituationen war. Und noch wichtiger war, dass sie ihre fünf Sinne beisammenhatte und in der Lage war, ihren Charme spielen zu lassen, wenn sie morgen früh diesen Henderson kennenlernte.

Sie beschloss, sich noch ein paar Minuten zu gönnen. Noch ein kleines bisschen Frieden, bevor die Hektik begann. Noch einen Moment der Stille mit ihrem Vater und ihren Träumen.

Weniger als eine halbe Stunde später wurde diese Stille durch ein Donnerrumpeln erschüttert. Viel zu schnell verschwand der Mond hinter einer Zusammenballung schwarzer Gewitterwolken.

Sydney hob den Kopf und kaute an ihrer Unterlippe, während sie zu den Blitzen aufschaute, die die Wolken von innen heraus erhellten. Verdammt, schon wieder drohte einer der für diese Jahreszeit unüblichen Stürme, unter denen der Südwesten in diesem Sommer zu leiden hatte.

Diese Unwetter konnten ihr ihren gesamten Zeitplan durcheinanderbringen. Als der Nachthimmel von dem nächsten Blitz erhellt wurde, bedachte sie die schwarze Wolkenwand mit einem bösen Blick, dann stand sie auf und ging im Laufschritt zu ihrem gemieteten Chevy Blazer. Die Blätter der Pappeln, die den Canyonrand säumten, raschelten. Der Wind hatte ihr ein paar Strähnen ihrer nerzbraunen Haare, die sie sich aufs Geratewohl unter ihre Baseballkappe gestopft hatte, herausgezerrt und peitschte sie gegen ihre Wange.
 Plötzlich fuhr Sydney mit Herzklopfen auf dem Absatz herum. Da war es! Der Wind heulte durch den Canyon.

Aiiiii. Eee-aiiii.

Sie stand wie erstarrt da und lauschte dem lang gezogenen Ton, der ihr durch Mark und Bein ging. Sie konnte fast die Verzweiflung darin mitschwingen hören, die unaussprechliche Traurigkeit.

Wieder fuhr ein Windstoß durch den Canyon und durch die Blätter der Pappeln. Das Wehklagen steigerte sich zu einem durchdringenden Geheul, bei dem sich Sydneys Nackenhaare aufstellten.

Langsam, ganz langsam legte sich der Wind, und das unheimliche Klagelied wurde leiser.

„Du meine Güte“, murmelte sie und rieb sich die nackten Arme, die mit einer Gänsehaut bedeckt waren. „Das war ja ein echter Tonleckerbissen. Ich wünschte, Albert hätte ihn aufgenommen.“

Ihr Tontechniker würde nicht vor morgen Mittag aus L. A. eintreffen, zusammen mit der Kamerafrau und der Hilfskraft, die sie für diesen Job angeheuert hatte. Nur Sydney und ihr Assistent Zack waren einen Tag früher gekommen – Sydney, um für ein paar Stunden alten Erinnerungen nachzuhängen, bevor das kontrollierte Chaos der Dreharbeiten einsetzte, und Zack, um mit dem Motel alles klarzumachen und die Termine zu bestätigen, die er schon vor Wochen telefonisch vereinbart hatte.

Sydney konnte jetzt nur noch hoffen, dass sich der Sturm bis morgen Nachmittag gelegt hatte, wenn sie die ersten Außenaufnahmen drehten … vorausgesetzt natürlich, dieser Reece Henderson gab ihr morgen grünes Licht.

Während die ersten dicken Regentropfen auf sie niederfielen, runzelte sie erneut die Stirn. Sie hatte schon genug Dokumentarfilme gedreht, um zu wissen, wie schwierig es bisweilen war, eine Dreherlaubnis zu bekommen, aber die Bedingung, ihren Terminplan bis aufs i-Tüpfelchen mit diesem Henderson abstimmen zu müssen, ärgerte sie. Hoffentlich war er wenigstens ein bisschen kooperativer, als er es per Fax gewesen war.

Als sie in den Blazer einstieg, goss es bereits in Strömen. Sydney grub in den Taschen ihrer Armeehose, die sie in einem der unzähligen Armeeläden im Süden von Los Angeles erstanden hatte, nach dem Zündschlüssel. Die ausgebeulte Tarnhose war zwar nicht gerade der letzte Schrei, aber Sydney fand vor allem die vielen Taschen ausgesprochen praktisch.

Sie stieg auf Kupplung und Bremse zugleich, startete den Motor und legte eine Hand um den Schaltknüppel, wobei sie sich sehnlichst wünschte, Zack daran erinnert zu haben, dass sie ein Auto mit Automatik wollte. Aus dem Krachen der Gangschaltung ließ sich schließen, dass sich der Blazer dasselbe wünschte.

„Entschuldigung“, brummte sie und startete einen zweiten Versuch.

Nach einem weiteren empörten kkkrrrrchchch war der Gang glücklich drin. Der Regen prasselte auf das Autodach, als Sydney den Blazer auf die Straße lenkte. Die Canyon Rim Road, die nur wenig mehr als ein Feldweg war, schlängelte sich meilenweit um den Canyonrand, bevor sie in die Staatsstraße mündete, die auf den Damm führte. Die Felsvorsprünge, die auf der linken Seite in die Straße hineinragten, machten jede Kurve zu einem Abenteuer, und der Steilhang zur Rechten erhöhte den Kitzel noch. Die Sintflut, die jetzt vom Himmel kam, machte die Sicht nicht besser. An der Unterlippe nagend, schaltete Sydney in den ersten Gang und nahm im Schneckentempo eine Haarnadelkurve.

Ein paar quälende Kurven später sah sie sich gezwungen zuzugeben, dass sie die Fahrt wohl besser bei Tageslicht gemacht hätte. Aber sie hatte diese Zeit allein mit ihren Erinnerungen gebraucht. Und am Abend hatte es keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass es eine stürmische Nacht …

„Was zum …“

Sie stieg auf die Bremse. Oder auf das, was sie für die Bremse hielt, denn ihr Fuß landete auf der Kupplung, und der Blazer fuhr geradewegs auf einen riesigen Steinbrocken zu, der von einem überhängenden Felsen abgebrochen und auf die Straße gestürzt war.

Eine Verwünschung ausstoßend, riss Sydney den Fuß hoch und das Lenkrad herum. Mit der Felswand zur Linken und dem steilen Abgrund zur Rechten war kein Platz, um dem Hindernis auszuweichen. Der Blazer kam ins Schleudern und brach zu weit nach rechts aus, bevor sie endlich die Bremse fand.

Zu ihrem Entsetzen spürte sie, wie der Straßenrand unter dem Gewicht des Blazer abzubröckeln begann. Der Motor bockte, dann ging er aus. Verzweifelt schaltete Sydney in den Leerlauf und drehte den Zündschlüssel herum.

„Komm! Los, komm doch schon!“

Das Auto sprang genau in demselben Moment an, in dem erneut ein Stück vom Rand nachgab. Es neigte sich bedenklich zur Seite und kam ins Rutschen.

„O Gott!“

Bevor er ganz umkippte, drückte Sydney mit der Schulter die Tür auf und warf sich aus dem Wagen. Sie krachte mit dem Hüftknochen auf einen Stein, überschlug sich und suchte auf dem regennassen, glitschigen Boden verzweifelt Halt. Der Blazer neben ihr imitierte auf eine schauerliche Art und Weise den Untergang der Titanic. Metall knirschte gegen Sandstein. Mit der Kühlerhaube voraus und in den Himmel gerichteten grellen Scheinwerfern, die den dichten Regenvorhang durchbrachen, versank er wie der riesige Luxusdampfer im Zeitlupentempo in seinem dunklen Grab.

Das Echo seines Aufpralls am Grund den Canyons hallte Sydney noch in den Ohren, als der Sandstein und die schlammige Erde unter ihren Fingern nachgaben und sie dem Blazer über den Rand folgte.

Reece Henderson presste sich den Telefonhörer ans Ohr und ließ eine zusammengerollte Skizze des Chalo-River-Damms klatschend auf seinen Oberschenkel niedersausen, während er darauf wartete, dass am anderen Ende der Leitung endlich jemand abnahm. Nach mehr als einem halben Dutzend Freizeichen war seine Geduld erschöpft. Er wollte eben auflegen, als sich der Teilnehmer am anderen Ende – wenn auch unter beträchtlichen Schwierigkeiten – schließlich doch noch meldete. Reece nahm das Gebrumm, das einen Moment später ertönte, für ein Hallo.

„Wo ist sie?“

„Was?“

„Wo ist Scott?“

„Wer is’n da?“

Reece umklammerte den Hörer fester und starrte finster auf den Wandkalender, auf dem fein säuberlich seine Termine festgehalten waren.

„Hier ist Henderson, Reece Henderson. Chefingenieur des Chalo-River-Damm-Projekts. Wo ist Ihre Chefin?“

„Weiß nich.“ Durch den Hörer kam ein herzhaftes Gähnen. „Wie spät is’ es’n?“

„Acht Uhr sechsundvierzig“, gab Reece ungehalten zurück. „Sie sollte um acht hier sein.“

Seine Verärgerung hatte um 8.05 Uhr zu sieden angefangen, jetzt kochte sie über. Er trödelte hier herum und wartete auf diese verdammte Frau, dabei könnte er jetzt schon seit einer Stunde draußen auf dem Damm bei seinen Leuten sein.

„Ham Sie’s schon mal auf ihrem Zimmer versucht oder so?“ Immerhin brachte der reizende Bursche am anderen Ende mittlerweile einen halbwegs zusammenhängenden Satz zustande.

„Ja. Zwei Mal. Es meldet sich niemand. An der Rezeption sagte man mir, dass Sie ihr Assistent sind und wüssten, wo sie ist.“

Tatsächlich hatte Martha Jenkins, die Besitzerin des Lone Eagle Motels, Reece mit mehr Detailwissen versorgt, als er haben wollte oder brauchte. Martha war zwar nicht da gewesen, als Sydney Scott und ihr grünhaariger, kaugummikauender, vielfach gepiercter Assistent Zachary Tyree gestern am späten Nachmittag angekommen waren, aber in einer Stadt von der Größe Chalo Canyons sprachen sich die Dinge schnell herum.

„Bleiben Sie dran.“

Der Hörer fiel klappernd auf eine harte Oberfläche. Dem Rascheln von Laken folgte das Ratschen eines Reißverschlusses, dann hörte man, wie jemand barfuß durchs Zimmer tappte. Eine Weile später klapperte es wieder.

„Sie ist nicht in ihrem Zimmer.“

Reece verdrehte die Augen. Diese Tatsache hatte er seines Wissens nach bereits festgestellt.

„Schön, wenn Sie antanzt, sagen Sie ihr, dass ich extra ihretwegen vorzeitig die Hochzeitsfeier meines Bruders verlassen habe und die halbe Nacht durchgefahren bin, nur damit ich es pünktlich zu dem Termin schaffe, den einzuhalten sie sich nicht die Mühe gemacht hat. Sie soll sich hier melden, ich rufe sie dann zurück, wenn …“

„Sie haben mich nicht verstanden, Mann. Sie ist nicht da.“

Reece spürte die letzten Reste seiner Geduld rapide dahinschwinden. „Sagen Sie ihrer Chefin …“

„Sie hat heute Nacht überhaupt nicht in ihrem Bett geschlafen.“

Die Stimme des Jungen war vor Besorgnis deutlich höher geklettert. Ein gänzlich anderes Gefühl bewirkte, dass Reece seine Zähne noch ein bisschen fester zusammenbiss.

Gott! Er hörte diesen Klatsch über diese Scott jetzt schon seit Wochen. Wie sie sich vor zehn Jahren Jamie Chavez an den Hals geworfen hatte. Wie Jamies Vater sie aus dem Bett seines Sohnes gezerrt hatte. Wie ihr Vater Chavez sen. am nächsten Tag einen Tritt in den Hintern gegeben hatte. Jetzt war sie eine bedeutende Filmemacherin in Hollywood, die nach Chalo River zurückkam, um sich mit ihrem Erfolg zu brüsten … und erneut ihr Glück bei Jamie zu versuchen.

Reece konnte den Widerwillen, der in ihm aufstieg, nicht unterdrücken. Die Frau war erst gestern in der Stadt angekommen, und schon hatte sie die Nacht irgendwo anders als in ihrem Hotelzimmer verbracht. Ganz schön schnelle Arbeit, selbst für eine bedeutende Filmemacherin aus Hollywood.

Nun, Reece war der Bitte seines Vorgesetzten nachgekommen. Er hatte mit der Frau kooperiert oder es zumindest versucht. Jetzt war Ms. Sydney Scott am Ball, und seinetwegen konnte sie von jetzt bis Weihnachten ihre Beziehungen spielen lassen, es kümmerte ihn nicht. Er wollte gerade auflegen, als ihn die unüberhörbare Besorgnis, die in der Stimme des Jungen mitschwang, innehalten ließ.

„Syd ist gestern Nachmittag gleich nach unserer Ankunft in den Canyon gefahren. Vielleicht ist sie ja immer noch dort oder so.“

„Was?“

Reese’ Verärgerung verwandelte sich in Wut. Er hatte Ms. Scott per Fax unmissverständlich darauf hingewiesen, dass weder sie noch irgendjemand von ihrer Crew das Sperrgebiet hinter dem Damm ohne seine Zustimmung betreten durften.

„Syd wollte sich schon mal ein bisschen einstimmen. Sie hat gesagt, ich soll nicht aufbleiben und auf sie warten. Sie kann sich doch nicht verlaufen haben oder so?“

„Soweit ich weiß, hat Ms. Scott früher hier gelebt. Sie sollte sich eigentlich auskennen.“

„Das ist zehn Jahre her, Mann.“

„Mein Name ist Henderson.“

„Ja richtig, Henderson. Könnten Sie nicht vielleicht mal ’n bisschen durch die Gegend fahren und nach ihr Ausschau halten oder so? Wenn sie in Gedanken mit ’nem Projekt beschäftigt ist, ist sie manchmal so zerstreut, dass sie nicht mal weiß, was für ein Tag gerade ist. Ich würd’s ja selber machen, aber ich kenn mich hier nicht aus, außerdem hat Syd den Blazer und so.“

Reece hätte dem Jungen liebend gern gesagt, was er und seine Chefin ihn mal konnten oder so, aber er hatte nun einmal die Verantwortung für dieses Projekt und alle Kopfschmerzen, die damit einhergingen, übernommen. Einschließlich Sydney Scott, wie es schien. Wenn sie in das Sperrgebiet gefahren war und nach dem Wolkenbruch letzte Nacht im Schlamm stecken geblieben war, war sie leider sein Problem.

„Also gut. Ich sehe zu, was ich tun kann. Schreiben Sie sich meine Handynummer auf. Wenn sie antanzt, rufen Sie mich an.“

„Danke, Mann!“

2. KAPITEL

„Hey! Sie da unten! Sind Sie okay?“

Das Gebrüll veranlasste Sydney, den Kopf zu heben. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so etwas Wunderbares gehört wie diese tiefe, barsche Stimme. Sie umklammerte den Stamm der verkrüppelten kleinen Föhre, die vor sieben Stunden ihren Sturz in die ewigen Jagdgründe aufgehalten hatte, noch ein bisschen fester und schrie zu dem dunkelhaarigen Cowboy, der vorsichtig über den Rand der Schlucht spähte, hinauf: „Ich bin okay. Nichts gebrochen, soweit ich sehe. Haben Sie ein Seil dabei?“

„Ja. Bin gleich wieder da. Bewegen Sie sich nicht.“

Nicht bewegen. Richtig. Als ob sie vorhätte, ihren Klammergriff nur um ein Jota zu lockern oder ihren Körper nur einen Zentimeter von der winzigen Stelle in der Felswand wegzubewegen, in der sie mit den Schuhspitzen Halt gefunden hatte.

Schwindlig vor Erleichterung, lehnte sie ihre Stirn gegen den Baumstamm. Aber vielleicht hatte der Schwindel ja auch etwas damit zu tun, dass sie gerade sieben Stunden eingeklemmt zwischen einem Baum und einer Felswand in schwindelerregender Höhe verbracht hatte.

Sie hatte sich schon darauf eingestellt, sogar noch mehr Zeit hier zu verbringen, weil nicht anzunehmen war, dass Zack vor zehn oder elf aus den Federn kommen würde. Ganz zu schweigen davon, dass er zu dieser unchristlichen Tageszeit noch kaum in der Lage sein könnte, eine Rettungsaktion für seine vermisste Chefin einzuleiten. Wenn er seinen Motor erst einmal angeworfen hatte, war ihr Assistent seine 140 Pfund in Gold wert, aber um ihn morgens aus dem Bett zu bringen, brauchte es unter Umständen ein halbes Dutzend Anrufe, die alle erdenklichen Tricks, angefangen von Schmeicheleien über Gebettel bis hin zu offenen Morddrohungen und der Drohung mit fristloser Entlassung, beinhalteten. Gott sei Dank war dies einer seiner seltenen Schnellzündertage!

Ein dumpfes Geräusch, von dem sich alsbald herausstellte, dass es ein Seil war, das gegen den Felsvorsprung schlug, veranlasste sie, gerade rechtzeitig nach oben zu schauen, um die Ladung aus Geröll und Dreck, die sich durch das Seil gelöst hatte, voll ins Gesicht zu bekommen. Sydney zuckte zusammen und wandte schnell den Kopf ab, was zur Folge hatte, dass der Baum bedenklich ins Schwanken kam und sie entsetzt aufschrie.

„Verdammt, nicht bewegen!“, brüllte ihr Retter barsch. „Ich ziehe das Seil ein bisschen rüber, damit Sie es erwischen können.“

Den Baumstamm mit beiden Armen umklammernd, versuchte sie vergeblich, sich den Staub aus Augen und Haaren zu pusten. Ihre Baseballkappe hatte während dieser Dreisekundentalfahrt über den Rand denselben Weg wie der Blazer genommen. Sydney konnte nur hoffen, dass eine Baseballkappe und ein Auto den Canyongöttern als Opfer ausreichten.

Mit Herzklopfen schaute sie zu, wie sich das dicke Seil Zentimeter für Zentimeter ihrem prekären Standort näherte. Erst als es in Reichweite war, entdeckte sie, dass ihre Arme völlig taub waren. Sie schien nicht in der Lage, sie von dem Baumstamm zu lösen.

„Packen Sie das Seil.“

Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und versuchte es erneut. „Noch eine Minute“, krächzte sie zu ihrem Retter hinauf. „Ich kann meine Arme irgendwie nicht fühlen.“

„Okay, ist in Ordnung.“ Die schroffe Stimme über ihr war ein bisschen sanfter geworden. „Machen Sie sich keine Sorgen deswegen.“

„Du hast gut reden“, brummte Sydney mit Blick auf das rettende Seil, das nur wenige Zentimeter von ihr entfernt baumelte. Plötzlich verschwand es aus ihrem Blickfeld.

„Hey!“

„Halten Sie durch, ich komme runter.“

Er nahm seinen Hut ab, band sich das Seil wie ein Bergsteiger um die Taille und machte sich dann an den Abstieg. Nur wenig später war er neben ihr. Schwarze zerzauste Haare. Ruhige blaue Augen in einem sonnengebräunten Gesicht. Breite, beruhigend muskulöse Schultern. Alles in allem wirkte er groß, stark und wunderbar kräftig gebaut.

Auf den zweiten Blick war Sydney sich nicht mehr so sicher, ob groß und kräftig wünschenswerte Körpermerkmale bei einem Mann waren, dessen einzige Verbindung mit dem festen Boden ein gedrehtes Hanfseil war. Sie schluckte und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, während er, mit seinen Stiefelspitzen in der Felswand abgestützt, mit einer Hand lässig eine Schlaufe in das Seilende schüttelte, das hinter ihm baumelte.

„Kopf runter. Ich werfe jetzt das Seil über Sie.“ Er sprach langsam, seine tiefe Stimme klang ruhig und zuversichtlich. „Lassen Sie rechts jetzt ganz kurz los. Gut. Geht es? Okay, jetzt links. Ruhig. Ganz ruhig.“

Die Schlaufe glitt an ihrem Oberkörper nach unten, zog sich um ihre Taille zusammen und nahm ihr fast die ganze Luft. Der harte muskulöse Arm des Fremden, der sich um sie legte, gab ihr den Rest.

„Ich habe Sie. Lassen Sie jetzt los. Dann klettern wir zusammen nach oben. Sind Sie bereit?“

Selbst mit dem Seil und dem muskulösen Arm um ihre Taille war es ein beträchtlicher Vertrauensbeweis, den Baumstamm loszulassen. Sie schluckte schwer.

„Keine Angst. Ich lasse Sie nicht fallen.“

Sie bewerkstelligte ein zittriges Lachen. „Versprochen?“

„Ich stehe zu meinem Wort.“ Sein warmer Atem strich über ihr Ohr.

Sie hoffte es. Sie hoffte es wirklich.

„Bereit?“

Sie atmete tief durch. „Bereit.“

Sie kraxelten an der Felswand nach oben, ihr Po drückte sich in seinen Bauch, seine Arme waren fest um ihren Oberkörper geschlungen. Fünf Schritte, sieben, acht, dann eine Hand auf ihrem Hinterteil und ein kräftiger Schubs.

Sydney flog bäuchlings über den Rand. Keuchend robbte sie auf Händen und Knien noch ein Stück weiter, bis sich der Boden fest genug anfühlte, dass sie es wagen konnte, sich umzudrehen. Sie streckte ihrem Retter eine Hand hin, doch ihr Arm war immer noch so taub, dass er sofort wieder herunterfiel.

Nicht, dass er den Eindruck erweckt hätte, Hilfe zu benötigen. Ein geschmeidiger Klimmzug, und er hatte leidlich festen Boden unter den Füßen. Er trat ein paar Schritte von dem abbröckelnden Rand zurück, befreite sie beide von dem Seil und schlenderte dann zu dem Jeep, an dem er das andere Ende befestigt hatte. Sydney gab ein erfreutes Krächzen von sich, als er einen Moment später mit einer Flasche Wasser vor ihr in die Hocke ging. Sie trank gierig, dann setzte sie die Flasche ab und holte tief Luft. Nach ein paar weiteren Schlucken war ihre Kehle wieder so weit offen, dass sie ohne zu krächzen sprechen konnte.

Autor

Merline Lovelace
Als Tochter eines Luftwaffenoffiziers wuchs Merline auf verschiedenen Militärbasen in aller Welt auf. Unter anderem lebte sie in Neufundland, in Frankreich und in der Hälfte der fünfzig US-Bundesstaaten. So wurde schon als Kind die Lust zu reisen in ihr geweckt und hält bis heute noch an.
Während ihrer eigenen Militärkarriere diente...
Mehr erfahren