Weiche Knie und heiße Küsse

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Eine Kreuzfahrt vor den Kanaren - und das auch noch kostenlos? Da kann Lilo wohl kaum Nein sagen. Dumm nur, dass sie ausgerechnet an Bord Christian wiedersieht, in den sie vor Jahren heftig verliebt war. Ob sie es diesmal schafft, ihn von ihren Vorzügen zu überzeugen?


  • Erscheinungstag 27.07.2014
  • ISBN / Artikelnummer 9783733788131
  • Seitenanzahl 123
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Lilo konnte sich kaum bewegen. Auf ihrem Schoß balancierte sie einen monströsen Reisekoffer, der ihr bei jeder Kurve unsanft einen Kinnhaken verpasste. Ihre Füße fühlten sich nach der ganzen Rennerei am Flughafen an, als hätte sie den Himalaya auf High Heels durchwandert, zudem blies ihr die Klimaanlage so tornadoartig in die Augen, dass sie tränten.

„Mach dich mal nicht so breit hier, Prinzessin“, knurrte Nils schläfrig, der dabei war, seinen Lockenkopf an Lilos Schulter zu parken.

„Mein Koffer braucht grade mal halb so viel Platz wie dein Ego, außerdem wird jetzt nicht geschlafen, wir sind gleich da!“

Lilo betrachtete die karge Landschaft durchs Busfenster. Die Sonne brannte auf die paar vereinzelten Kakteen, die am Straßenrand standen. Überhaupt wuchsen hier die Pflanzen völlig wild in der Gegend herum, die bei ihren Eltern daheim in Makramee-Blumenampeln gepflegt und gehätschelt wurden. In München hatte Schnee gelegen, als sie mit Nils gerade noch rechtzeitig am Flughafen angekommen war. Lilo hatte im Münchener Winter einfach immer wieder das Gefühl, langsam von innen Moos anzusetzen. Sie verbrachte entweder Stunden in der Badewanne, bis ihre Haut ganz runzlig war, oder kehrte täglich in Nils’ plüschiger Bar ein, um bei heißer Schokolade und Portwein ordentlich den Winterblues zu zelebrieren. Zwischendurch mal zu arbeiten wäre auch nicht das Schlechteste gewesen, aber Lilo bekam gerade nichts auf die Reihe.

„Komme ich eigentlich in die Hölle, wenn ich mich drüber freue, dass deine Mutter sich das Bein gebrochen hat?“

„Dann treffen wir uns da und haben einen Haufen Spaß! Du glaubst gar nicht, wie großartig ich das finde, mit dir eine Kreuzfahrt zu machen, Prinzessin!“

Nils braune Knopfaugen blitzten vergnügt, und sein Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen.

„Wir wären doch das perfekte Paar, mein Hase“, meinte Lilo seufzend, „was ist denn bloß an Jungs so aufregend?“

„Sie sehen gut aus, denken nicht so kompliziert und haben selten Bindegewebsschwäche – war es das, was du hören wolltest?“

Lilo zog eine Grimasse, klemmte seine Nase zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte sie um. Nils war einfach der beste Freund, den man haben konnte. Vor ein paar Jahren war sie an einem trüben Winterabend in seiner Bar gelandet, hatte sich fürchterlich mit ihm verquatscht, und als es draußen wieder hell wurde, hatte sie einen neuen Freund. Nils war nie um einen dummen Spruch verlegen, hatte ein Herz groß wie die Taiga und beherrschte die Disziplinen Problemlösungsstrategien, Shoppingberatung und gemeinsames Tatort-Gucken wie kein Zweiter. Zudem war er ein williger Begleiter, wenn bei Lilo mal wieder ein kleiner Schaulauf mit einem attraktiven Mann anstand. Nils hingegen interessierte sich für Frauen ungefähr so, wie ein Verhaltensforscher für seine Laborratten – neugierig, leicht befremdet und mit der entspannten Gelassenheit, auf der anderen Seite des Käfigs zu sein.

Dass Nils eindeutig schwul war, hatte Lilo die ersten paar Wochen zwar sehr bedauert, aber dann schnell festgestellt, dass er mit seinen Allüren und seinem Hang zu wilden Affären doch eindeutig besser als Freund geeignet war.

„Wenn ich mit dir verheiratet wäre, würde ich dir Gift in den Kaffee schütten, Prinzessin!“, hauchte er Lilo mit lasziver Stimme ins Ohr.

„Und wenn ich mit dir verheiratet wäre, würde ich ihn trinken, mein Hase“, entgegnete Lilo sanft und lächelte.

Der Bus war inzwischen am Hafen von Santa Cruz de La Palma angekommen. Er hielt auf einem riesigen, betonierten Parkplatz auf einer kleinen Anhöhe, von dem aus es nur noch ein paar Minuten bis zum Schiffsanleger zu gehen war, wie der Busfahrer in gebrochenem Deutsch über Mikrofon versicherte. Lilo wuchtete den schweren Koffer von ihren Beinen, drückte ihn Nils in die Hand, und gäbe es für möglichst elegantes Verlassen eines Verkehrsmittels einen Preis – Lilo hätte ihn sicher gewonnen. Sie strich ihr knallrotes Sommerkleid glatt, warf ihre langen, blonden Haare schwungvoll in den Nacken, und während sie die Stufen des Ausstiegs mit der Grandezza einer Liz Taylor herunterschritt, schob sie ihre riesige schwarze Sonnenbrille über die Augen. Das Kleid und die passenden leuchtendroten Sandalen hatte sie schon in München angezogen und während des Fluges grausam gefroren.

„Jetzt kurz frieren, nachher weniger transpirieren“, hatte sie Nils knapp entgegnet, als der die Augen verdrehte, „eine Kreuzfahrt ist ja schließlich keine Bustour in den Harz, und wenn ich schon zuhause grade nichts hinkriege, will ich mich wenigstens im Urlaub so fühlen, als hätte die Gala eben erst ein Sonderheft über mich gemacht.“

Wenn Lilo sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, halfen weder Vernunft noch gute Worte, das wusste Nils inzwischen und hatte sich jeden Kommentar verkniffen. Jetzt schleppte er zwei tiefgaragengroße Koffer ächzend hinter Lilo her.

„La Palma – 30 Grad – die Frisur sitzt“, kommentierte er Lilos großen Auftritt.

Die Sonne strahlte Anfang Februar so unverschämt warm vom Himmel, und die beiden standen plötzlich mitten in einer Postkarte: Vor ihnen breitete sich eine Bucht mit einem kleinen Hafen aus, das Wasser an der Mole schimmerte türkis, unzählige weiße Häuser schmiegten sich an einen grün bewachsenen Hügel, der sanft ins Meer auslief, das weiter hinten tiefblau im Horizont endete. Lilo musste unwillkürlich an eine Modelleisenbahn-Landschaft denken, so perfekt sah das alles aus. Sie atmete die laue Luft so gierig ein, dass Nils befürchtete, sie könnte gleich in Ohnmacht fallen. Auf einem Stein neben ihnen lag eine dicke Katze und döste vor sich hin.

Und wie mit einem Bildbearbeitungsprogramm in die Idylle hineinkopiert, lag mitten im Hafen ein majestätisch großes, blitzweißes Schiff. „MS Fortuna II“ war in dunkelblauen Lettern seitlich auf den Rumpf gemalt. Lilo zählte insgesamt fünf Decks, auf denen blau-weiß gestreifte Sonnenschirme und passende Liegen standen.

„Glaubst du, das ist unser Schiff? Wow, da kann ja eine ganze mittelhessische Kleinstadt mitfahren!“

„Und alle können auch noch ihre Kühe und Schafe mitnehmen“, ergänzte Nils. „Apropos Kühe, hast du die gesehen?“

Er zeigte auf ein Paar, das direkt hinter ihnen mit ihren Koffern hantierte. Die Frau bestand zum größten Teil aus Bauch und war unübersehbar schwanger, was so weit noch in Ordnung war. Allerdings trug sie einen bierzeltgroßen Jogginganzug, der über und über mit Häschen, Bärchen und anderem Getier bedruckt war. Auf ihrem Kopf saß ein pinkfarbenes Basecap, auf dem das Wort „Mutterschiff“ prangte. Ihre Haare waren zu Zöpfen geflochten, die unter der Mütze hervorlugten. Sie lachte schrill und kiekste, dass sie das alles hier „voll süß“ fände. Der dazu gehörige Mann war das, was man landläufig als „halbes Hemd“ bezeichnen würde. In seinem Lehrlingsgesicht wuchs ein zarter Oberlippenflaum, seine Augen waren von einer blau getönten Pilotenbrille bedeckt. Er trug ein Paar fleischfarbene Bermuda-Shorts, dazu ein staubgraues Poloshirt, und um seinen Hals baumelte ein zartes Silberkettchen mit Sternzeichenanhänger. Der Mann filmte den Begeisterungsausbruch mit dem Camcorder und tätschelte dabei den tierchenübersäten Bauch.

„Eigentlich wollte ich auch mal Kinder, aber wenn ich das sehe, dann überleg ich’s mir noch mal – glaubst du, es wächst einem quasi genetisch bedingt so ein Bärchen-Strampelanzug?“

„Dir bestimmt nicht, Prinzessin! Nur wenn ich so drüber nachdenke, könntest du auch zu den Muttis gehören, die ihren Kinderwagen so kampfbereit vor sich herschieben, als wäre es ein Panzer.“

„Was willst du denn damit sagen?“

„Dass ich gerne noch etwas länger was von dir hätte, so wie du bist, ohne Fläschchen und Lätzchen und ’nem Kerl an deiner Seite, der deinen Bauch filmt.“

Lilo lachte. Sie blickte in Nils’ verschmitztes Gesicht und war jetzt gerade einfach nur glücklich, hier zu sein, gleich das Schiff zu betreten und unter diesem knallblauen Himmel übers Meer zu schippern. Die Luft war weich und leicht wie ein seidener Morgenmantel und schmeckte nach Salz. Über allem lag ein Duft von warmem Asphalt und Hibiskusblüten.

Im Grunde war Lilo mit ihrem jetzigen Leben ganz zufrieden. Sie hatte den besten Freund an ihrer Seite, den man nur haben konnte, einen prima Job als Illustratorin für Kinderbücher und ein eigenes kleines Büro, in dem sie tun und lassen konnte, was sie wollte. Alles in allem also gar nicht so schlecht – aber irgendwie lief es nicht richtig rund. Lilo hatte sich in den letzten Monaten immer wieder einmal ein bisschen einsam gefühlt. Meistens am Abend, wenn sie nach Hause kam. Dann war sie oft noch mal in Nils’ Bar gegangen, obwohl sie müde war, hatte ein bisschen geplaudert, ihren heiß geliebten spanischen Kakao getrunken und andere Paare beobachtet. So hatten sie und Robert wohl auch in der Endphase ausgesehen – muffig, voneinander gelangweilt und völlig lustlos.

Robert – mein Gott, war sie froh, diesen Typen endlich los zu sein! Dann lieber allein, als einen, der von heute auf morgen verschwand, weil er noch mal ganz dringend durch Indien trampen musste, bevor er vierzig war. Der sich wochenlang nicht meldete, dann plötzlich wieder auf der Matte stand, ohne Entschuldigung, in einer albernen Batikhose und einer Armee exotischer Krabbeltierchen im Rucksack. Den Kammerjäger hatte natürlich Lilo bezahlt. Robert war der letzte in einer Reihe totaler Vollidioten gewesen, in die Lilo sich – anscheinend in jahrelanger geistiger Umnachtung – verliebt hatte. Davor hatte es den Herzchirurgen gegeben, weil Lilo dachte, sie bräuchte mal was Solides. Der wiederum hatte sie entweder mit seinen detailgetreuen Operationsgeschichten gelangweilt oder stumpf eine Arztserie nach der anderen angeschaut. Oder sie ständig gefragt, ob sie nicht mal „was Vernünftiges“ arbeiten wolle, „Kinderbilder zu malen sei doch schließlich kein richtiger Beruf.“ Von seiner Vorliebe für kurze Krankenschwesterkittelchen ganz zu schweigen.

Lilo fragte sich immer wieder, ob sie noch mal einen Mann treffen würde, mit dem es anders sein könnte. Mit dem es einfach passte, leicht war, ohne dass er sich nach ein paar Monaten die nette Maske vom Gesicht pellte und darunter das geballte Neurosensträußchen zum Vorschein kam.

Inzwischen waren sie am Anleger angekommen. Das Schiff stand vor ihnen wie eine weiße Kulissenwand mit unzähligen kleinen Balkonen, auf denen jeweils ein Tisch und zwei Liegestühle standen. Nils hievte die beiden Koffer auf einen goldfarbenen Gepäckwagen, den ein tief gebräunter Schönling im weißen Overall durch die Menschenmenge manövrierte. Er drückte Nils einen mit Schnörkelschrift bedruckten Gepäckschein in die Hand und schaute ihm dabei tief in die Augen. Nils pfiff durch die Zähne und zog vielsagend eine Augenbraue nach oben, als der Schöne mit seinem Wagen weiter zog.

„Finger weg vom Personal“, raunte Lilo ihm zu.

Eine professionell lächelnde Dame im blau-weißen Kostüm mit akkuratem Pferdeschwanz begrüßte die Gäste und wies ihnen den Weg zu einem kleinen Container direkt am Anleger, in dem sich der Check-in befand.

Lilo und Nils reihten sich in die Schlange ein, die sich vor dem kleinen Häuschen gebildet hatte.

„Guck dich doch mal um – ich befürchte, wir sind mit Abstand die Jüngsten auf dem Schiff!“, flüsterte Lilo Nils ins Ohr.

Hinter ihnen stand ein Grüppchen älterer Herrschaften, die so aussahen, als würden sie den lieben langen Tag nichts anderes tun, als in karierten Ohrensesseln zu sitzen und ihren Enkeln mit gütiger Miene Karamellbonbons anzubieten. Dann waren da ein paar stilbewusste Freizeitkapitäne, die Damen ganz in Weiß gekleidet, mit Zentnern Goldschmuck behangen und alles andere als dezent geschminkt, die Herren in karierter Golfhose, Halstüchlein und mit Elbsegler auf dem Kopf. Auf Jacken, Taschen und Mützen waren maritime Motive stark vertreten – Anker, Segelschiffe und Ähnliches. Die dritte Gruppe, die Lilo ausmachen konnte, waren die Sportlichen – sehnige Rentner in Multifunktionsjacken und mit wettergegerbten Gesichtern, die allerlei Sportgeräte mitschleppten.

„Ja, mit 32 bist du ja auch noch ein richtiges Küken“, lästerte Nils. „Na prächtig! Und ich dachte schon, ich könnte hier ’nen netten Kerl kennenlernen – einen zum Knutschen, nicht zum Beerben!“

„Was genau war das noch mal für ein Preisausschreiben, das deine Mutter gewonnen hat?“, fragte Lilo.

„Ich glaube, das war eins von ihrer Krankenversicherung … Auwei, jetzt wird mir einiges klar – wir sind auf einem Rentnerschiff!“

Nun waren Lilo und Nils an der Reihe. Die freundliche Dame am Check-in bat beide um ihre Pässe und blätterte in ihren Unterlagen.

„Ich finde hier keine Frau Ahrens, nur Frau und Herrn Westphal“, sagte sie mit angestrengtem Gesichtsausdruck.

„Ich hatte Ihnen ein Fax geschickt und auch mit einer Kollegin von Ihnen gesprochen, dass statt meiner Mutter Frau Ahrens mitfährt. Ist das nicht bei Ihnen angekommen?“ Nils wurde unruhig.

„Was machen wir, wenn die mich jetzt nicht mitnehmen?“, fragte Lilo fast schon ängstlich.

„Wir regeln das schon, Prinzessin, keine Angst! Zur Not hängen wir dich einfach mit einem Schlauchboot hinten dran!“ Nils strich ihr sanft übers Haar.

Die uniformierte Dame am Schalter bat Nils in eine kleine Kabine hinter dem Check-in, um mit ihm die Buchungsformalitäten noch einmal ganz genau zu klären.

Lilo trat inzwischen nervös von einem Bein aufs andere.

„Nils, ich müsste da mal ganz dringend, so richtig dringend … Verstehst du? Ich bin kurz draußen und komme sofort wieder rein, ja?“, rief sie ihm zu und raste aus dem Container.

Neben dem Check-in stand ein kleines Toilettenhäuschen, das nicht gerade besonders vertrauenswürdig aussah, aber Lilo war im Moment alles egal. Drinnen waren zwei Kabinen, auf denen jeweils die Zeichen für Männer und Frauen abgebildet und die nur durch eine wacklige, unten offene Pappwand voneinander getrennt waren. Aus der Nebenkabine hörte sie die Spülung und sah unter der Trennwand ein Paar blank geputzte Herrenschuhe. Nachdem Lilo sich unter akrobatischsten Verrenkungen – Tasche halten, Kleid nach oben raffen, mit dem Po keinesfalls die fremde Klobrille berühren – erleichtert und gespült hatte, bemerkte sie, dass es kein Toilettenpapier mehr gab. Mit gebeugten Knien und in Skigymnastikhaltung kramte sie in ihrer Handtasche nach Taschentüchern, verlor dabei das Gleichgewicht, torkelte, konnte sich gerade noch vor einem Sturz auf die alles andere als klinisch reinen Fliesen retten und – platsch! Ihre Sonnenbrille, die sie sich in die Haare geschoben hatte, fiel ihr rückwärts vom Kopf und mitten in die Toilettenschüssel.

„Mist, das darf doch nicht wahr sein!“, fluchte sie laut und unvermittelt.

„Ist irgendwas passiert?“, fragte eine Männerstimme aus der Nachbarkabine. Irgendwie kam Lilo diese Stimme bekannt vor. Außerdem war der Besitzer eindeutig Deutscher, Lilo konnte keinen fremden Akzent ausmachen. War das etwa ein Exfreund? Nein, so viele waren es schließlich nicht gewesen, und an deren Stimmen hätte sie sich sicher erinnert. Die Stimme klang angenehm und freundlich, aber etwas daran behagte Lilo ganz und gar nicht. Woher zum Teufel kannte sie bloß diese Stimme?

„Hallo, kann ich Ihnen irgendwie helfen? Was ist denn passiert?“, rief es hinter der Pappwand.

„Nein, ja, das kann ich gerade nicht erklären … Sagen Sie, haben Sie zufällig einen Kleiderbügel oder eine Stange bei sich? Oder vielleicht wenigstens eine Plastiktüte?“, fragte Lilo, die es nicht übers Herz brachte, mit der bloßen Hand in das Toilettenbecken zu greifen und nach ihrer Brille zu fischen, die ganz unten am Boden lag. Und Nils würde sie sicher auch schon suchen, vielleicht legte das Schiff auch inzwischen ab und … herrje! Warum musste ihr das ausgerechnet jetzt passieren?

„Können Sie mir vielleicht mal verraten, was Sie da drüben treiben?“

„Ich kann Ihnen das gerade nicht erklären“, stammelte Lilo, „ich wäre nur sehr dankbar, wenn Sie zufällig eine Plastiktüte für mich hätten.“

„Zufällig habe ich eine, keinen Schreck kriegen, ich reiche Sie Ihnen kurz rüber.“

Lilo hörte es rascheln und wenig später erschien eine sehr gepflegte Männerhand unter der Abtrennung und schob ihr eine Tüte entgegen. Die Tüte hatte einen deutschen Aufdruck und stammte von einem Schuhgeschäft, das Lilo gut kannte.

„Wer kann das denn bloß sein?“, grübelte Lilo angestrengt und wagte einen vorsichtigen Blick unter der Trennwand hindurch in die andere Kabine. Dicht vor ihr schauten sie zwei strahlend blaue Augen an. Sie sah blonde, strubbelige Haare, ein leicht abstehendes Ohr und eine schmale Nase, die eine kleine Narbe zierte. Lilo schreckte zurück.

Um Gottes Willen! Das darf doch nicht wahr sein! Das ist eindeutig Christian Koch! Was macht ausgerechnet der hier?

Lilo konnte es kaum fassen. Christian Koch! Dieser grauenvolle Angeber, mit dem sie damals in Mittelhessen in der Schule gewesen war! Dem sie jahrelang verliebte Briefchen auf den Fahrradgepäckträger geklemmt hatte, der sie nie, wirklich nie auch nur eines Blickes gewürdigt und stattdessen seine komplette Freizeit mit seinen Handballkumpels verbracht hatte.

„Lieselotte?“, rief es leise aus der Nachbarkabine. „Bist du das etwa?“

„Ich weiß nicht, wen Sie meinen!“, erklärte Lilo barsch, die tatsächlich mit vollem Namen Lieselotte hieß, was ihr aber entsetzlich peinlich war. In München hatte sie es geschafft, auch vor Nils ihren eigentlichen Namen und ihre provinzielle Herkunft geheim zu halten. Dort war sie Lilo, erfolgreiche Illustratorin und basta! Und jetzt hockte in diesem verdammten spanischen Klohäuschen, ein Kerl neben ihr, der sie kannte, als sie noch dick und unglücklich war, hessisch sprach und eine alberne Dauerwelle auf ihrem Kopf spazieren trug.

„Ich dachte nur … Sie sehen jemandem sehr ähnlich, den ich kenne … Dann habe ich Sie wohl verwechselt“, klang es etwas zerknirscht von nebenan.

Lilo schwieg. Sie stülpte sich die Plastiktüte über die Hand und versuchte, ihre Sonnenbrille aus der Schüssel zu fischen, was ihr auch gelang.

Die muss ich erst vom Max-Planck-Institut untersuchen lassen, bevor ich sie wieder aufsetze. Oder gleich einen Exorzisten bestellen, dachte sie.

Wenn das nebenan tatsächlich Christian Koch war, woran sie so gut wie keine Zweifel hatte, hatte er sich kaum verändert. Er sah immer noch richtig gut aus, soweit Lilo das nach einem sekundenkurzen Blick feststellen konnte. Die Strahleaugen waren eindeutig dieselben. Und der Rest …? Wie unglaublich peinlich, ihm ausgerechnet hier wieder über den Weg zu laufen! Sie musste jetzt erst mal hier raus und verschwinden, bevor er sie zu Gesicht bekam.

In der Nachbarkabine war es völlig still. War er etwa inzwischen gegangen, und sie hatte es unter Tütengeraschel einfach nicht gehört? Lilo hätte ihn ja gerne noch mal gesehen, einfach nur, um sich einen Eindruck zu machen, ob er immer noch der ignorante Sunnyboy war, den sie in Erinnerung hatte. Aber sie unterdrückte diesen Wunsch und schüttelte die Tüte von ihrer Hand. Ein kleines Plastikkärtchen fiel auf den Boden. Mit spitzen Fingern hob Lilo es auf und betrachtete das Foto, das darauf zu sehen war. Daneben stand das Geburtsdatum. Kein Zweifel – das war eindeutig Christian Koch. Und was noch schlimmer war – dieses Kärtchen war ein Bordausweis der MS Fortuna II!

Lilo würde also die ganze Reise unentspannt und auf der Flucht vor Christian Koch verbringen, sie würden sich letztendlich doch begegnen und er würde Nils furchtbare Geschichten aus ihrer Vergangenheit erzählen – alles würde schrecklich werden! Sie musste zugeben, dass er auf dem Foto wirklich verdammt gut aussah, und auch seine Stimme hatte sehr nett geklungen. Trotzdem!

Lilo steckte das Kärtchen in ihre Handtasche, stürmte aus der Kabine und bemerkte nicht, dass sich ihr Kleid hinten in ihrem Slip verheddert hatte. Mit kaum bedecktem Po stolzierte sie hinaus in die Sonne. Christian öffnete leise die Tür und sah ihr nach.

Draußen atmete Lilo erstmal kräftig durch. Sie bemerkte die Blicke der anderen Passagiere, drückte ihren Rücken durch und schwang die Hüften.

So was Junges habt ihr wahrscheinlich schon seit Jahren nicht mehr gesehen, dachte sie und lächelte.

Nils rannte ihr schon von weitem entgegen.

„Wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt, Prinzessin? Ich suche dich schon seit einer halben Stunde!“

„Du hättest mich doch auf dem Handy anrufen können!“ Kaum hatte Lilo das ausgesprochen, fiel ihr auch wieder ein, dass ihre beiden Handys im Schließfach am Münchener Flughafen lagen. Sie hatten sich vor dem Abflug gegenseitig geschworen, dass sie sich im Urlaub nicht von Anrufen nerven lassen und einfach mal nicht erreichbar sein wollten. Lilo fragte sich gerade, ob das wirklich eine gute Idee gewesen war …

„Dann hättest du nächste Woche auf deiner Mailbox gehört, dass ich gerade auf La Palma auf der Suche nach dir bin – klingt sinnvoll … Wo warst du denn jetzt?“

„Ich erklär dir alles nachher in Ruhe, mein Hase. Sag mal – hast du das Buchungsproblem gelöst? Darf ich jetzt mit aufs Schiff?“ Lilo schaute ihn erwartungsvoll an.

„Alles geklärt!“ Nils wedelte vor Lilos Nase mit den Tickets herum. Dann blieb sein Blick an ihrem Kleid hängen.

„Prinzessin – soll das eigentlich so sein?“ Er zupfte an Lilos Hinterteil. Lilo fasste mit der Hand an die gleiche Stelle und lief rot an.

„Hoffentlich hast du hier nicht ein paar Herzschrittmacher zum Stillstand gebracht!“ Nils lachte, bis ihm Tränen übers Gesicht liefen. Dann zückte er Lilos Pass aus der Tasche.

„Und was es mit Lieselotte auf sich hat, die laut Pass in Hessen wohnt – das musst du mir gleich bei einem Gläschen Champagner erklären!“

2. KAPITEL

Verwirrt trat Christian in die Sonne hinaus und schaute sich um.

Das eben kann nur Lieselotte Ahrens gewesen sein, so sicher war ich mir noch nie, dachte er. Beinahe hätte er ihr „Lieselotte, die dicke Motte“ hinterhergerufen, nur um zu sehen, ob sie vielleicht reagierte. Das konnte er sich gerade noch mal verkneifen.

Das letzte Mal hatte er Lieselotte beim Abi-Ball gesehen. Da hatte sie sich in ein blau glänzendes Rüschenkleid gezwängt und war immer wieder um ihn herumgetanzt. Wie eine Presswurst in Geschenkpapier hatte sie ausgesehen. Und er war den ganzen Abend auf der Flucht gewesen. Seitdem waren sie sich nie wieder begegnet. Insgeheim hatte ihm Lieselotte ziemlich leidgetan, weil er sah, wie sehr sie sich um ihn bemühte. Wie sehr sie sich überhaupt bemühte, gemocht zu werden. Er hatte sie trotzdem nicht netter behandelt: Schließlich war es mit 18 verdammt wichtig, cool zu sein und eine sexy Freundin zu haben. Dabei konnte er sich noch gut daran erinnern, wie fasziniert er gewesen war, als er Lieselotte einmal beim Zeichnen auf dem Schulhof beobachtet hatte. Sie porträtierte ihre beste Freundin, und das Bild hatte der Freundin tatsächlich sehr ähnlich gesehen. Ob sie wohl noch immer so gerne zeichnete?

Gedankenverloren fuhr er sich mit der Hand durch sein honigblondes Haar. Er war groß und schlank und hatte wohl ein paar verdammt gute Gene mit auf den Weg bekommen. Er konnte feiern und die Nächte durchsumpfen – man sah ihm einfach nichts davon an. Das letzte Mal Feiern war allerdings schon ein Weilchen her – abgesehen von den Kollegen und durchdiskutierten Nächten mit dem Barkeeper – mit wem hätte er auch sonst trinken sollen?

Er war vor einem knappen Jahr auf die MS Fortuna II gekommen, am Anfang eher aus Spaß und um einmal auszuprobieren, wie es sich als Schiffspianist so lebt. Es gefiel ihm, auch wenn es inzwischen kein wirkliches Abenteuer mehr war. Jeden Abend mit freundlicher Miene die Rentner klimpernd zur Conga-Polonaise zu animieren – das war es nicht, was er bis an sein Lebensende tun wollte. Wohin es stattdessen mit seinem Leben so gehen sollte? Diesen Gedanken konnte er inzwischen schon so routiniert im Ansatz abwürgen wie einen Anruf seiner Mutter. Seine Handballkarriere hatte damals sehr hoffnungsvoll angefangen, Profiliga, schönes Geld, es hatte für ihn immer nur den Sport gegeben. Nach der Schule zum Training, dann ein Sportstudium, Turniere am Wochenende – sein Leben war so geradlinig verlaufen wie eine deutsche Autobahn. Alle seine Freunde waren ebenfalls Sportler, teilten mit ihm den Ehrgeiz und die Lust am Gewinnen.

Obwohl er sehr umschwärmt war und die Mädels schon zu Schulzeiten vor der Turnhalle herumlungerten, während er drinnen trainierte, hatten ihn Frauen nie sonderlich interessiert. Na ja, natürlich schon irgendwie, aber wirklich Platz in seinem Leben hatten sie nicht. Da hatte es eigentlich nur Steffi gegeben, mit der er neun Jahre lang zusammen war. Steffi war süß, keine Frage. Sie war so unglaublich in ihn verliebt, dass er sich fast schon schämte, ihr so wenig zurückgeben zu können. Steffi war jahrelang jedes Wochenende mit ihm zu seinen Spielen gefahren, hatte Daumen gedrückt und Wasserflaschen gereicht und ihr komplettes Leben um seins herumgebaut. Steffi war eine Spielerfrau wie aus dem Bilderbuch – immer niedlich, immer nett, immer dabei –, ihren vorwurfsvollen Blick, wenn er einfach nur mal auf dem Sofa liegen und nicht reden wollte, hatte er kaum ausgehalten. Sie hatte nie mit ihm gestritten, immer nur still in sich hineingeschmollt, und als er vor knapp fünf Jahren eines Abends nach Hause kam, waren ihre Sachen verschwunden, Steffi war weg. Einfach weg – so still und unauffällig, wie sie neben seinem Sportlerleben existiert hatte, war sie wieder verschwunden. Er hatte sich fast erleichtert gefühlt, obwohl er sie natürlich vermisste. Nach ein paar Wochen hatte sie ihn angerufen und ihm sachlich mitgeteilt, dass sie jetzt mit ihrem neuen Lover zusammenlebte, mit dem sie sich schon eine Weile über die einsamen Abende ohne Christian hinweggetröstet hatte – übrigens ein ehemaliger Handballspieler aus seinem alten Verein.

Er selbst trainierte daraufhin nur noch verbissener, arbeitete tagsüber erfolgreich als Berater und Coach für junge Profisportler, verbrachte die Abende in der Handballhalle und entschied, dass für Frauen in seinem Leben fürs Erste kein Platz war. Von außen betrachtet, führte er ein ausgefülltes Leben, aber innen fühlte es sich immer öfter leer und beliebig an. Und dann kam der Unfall … Christian mochte sich nicht wieder daran erinnern, zog seine auffallend dunklen Brauen zusammen und versuchte, den Gedanken daran zu verscheuchen. Ab dann hatte sich sein Leben komplett verändert. Es war viel passiert, und jetzt war er hier.

Wenn diese Traumfrau wirklich Lieselotte Ahrens war, dann werde ich ab heute Buddhist und benutze jeden Tag Zahnseide, dachte Christian, immer noch erstaunt. Er scannte alle umstehenden Passagiere mit prüfendem Blick. Die Blondine aus der Toilette war nirgendwo zu sehen.

In Christian war jetzt die Neugier geweckt. Er musste einfach herauskriegen, ob sie es tatsächlich war! Mit schnellen Schritten lief er zum Schiff. Routiniert suchte er in seiner Tasche nach dem Bordausweis, ohne den ihn der Typ an der Einlasskontrolle nicht aufs Schiff ließ. Christian wusste, dass er ihn inzwischen zwar ganz genau kannte, ihm aber jedes Mal erneut ein desinteressiert-abweisendes Gesicht hinhielt und so tat, als hätte Christian ihm gerade Handlesen zum Sonderpreis angeboten. Christian kramte zunehmend nervöser und schüttelte seine Hosentaschen aus – nichts! Der Bordausweis war weg. Er rannte zurück zum Toilettenhäuschen, beide Kabinen waren besetzt, davor hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Die Schiffshupe ertönte, und Christian wusste genau, was das bedeutete.

„Bitte, bitte, darf ich vor? Ich habe quasi meine Existenzberechtigung verloren, es geht auch ganz schnell, ja?“, erklärte er im charmantesten Tonfall, den er gerade zur Verfügung hatte. Bei den Passagierinnen wirkte das immer, so viel wusste er inzwischen. Das Jahr auf dem Schiff war wirklich eine gute Schule gewesen. Mittlerweile hätte er sich auch problemlos als Heiratsschwindler selbstständig machen können. Aber warum stand nicht einmal eine Lady auf ihn, die die Wechseljahre noch vor sich hatte?

Autor

Kim Phillip
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