Historical Exklusiv Band 63

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LADY MARYS ROMANTISCHES ABENTEUER von JARRETT, MIRANDA
Kaum legt Lady Marys Schiff in Calais an, beginnt für die schöne Tochter des Duke of Aston ein romantisches Abenteuer: Der schneidige Gentleman Lord John Fitzgerald eilt ihr zu Hilfe, als ihre Kutsche von Halunken überfallen wird! Fortan steht Mary unter seinem Schutz - denn irgendjemand scheint ihr nach dem Leben zu trachten. Und nach Johns verführerischen Küssen ist plötzlich auch ihr Herz in Gefahr …

DIE LIEBESLIST von O'BRIEN, ANNE
England, 1158: Lord Gervase Fitz Osbern ist wild entschlossen, Clifford Castle zu erstürmen - auch wenn die heißblütige Hausherrin Lady Rosamund de Longspey erbitterten Widerstand leistet. Aber mit ihrer Entschlossenheit weckt sie sein Begehren: Sobald Gervase die Burg eingenommen hat, will er auch die schöne Rosamund erobern. Er ahnt nicht, dass er einer List aufgesessen ist und geradewegs in Rosamunds Falle tappt!


  • Erscheinungstag 07.02.2017
  • Bandnummer 63
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765408
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Miranda Jarrett, Anne O’Brien

HISTORICAL EXKLUSIV BAND 63

1. KAPITEL

Aston Hall, Kent
Juni 1784

Lady Mary raffte ihre Röcke aus feinem Musselin und mischte sich im Ballsaal ihres Vaters unter die Tänzer. Der Abend war warm, und die Fenster standen weit offen, um jede frische Brise hereinzulassen. Im flackernden Schein der Kronleuchter bemühten sich die erhitzten Herren rundherum so attraktiv und galant wie möglich zu sein, während die Damen ihr Bestes taten, schön und charmant zu erscheinen. Jeder von ihnen war davon überzeugt, die Crème de la crème ihrer kleinen ländlichen Gesellschaft zu verkörpern.

Es war die einzige Art Leben, die Mary mit ihren achtzehn Jahren kannte – die einzige Art Leben, die ihr als älteste Tochter des Duke of Aston zu kennen erlaubt war. Gott sei Dank würde sich das in drei Tagen endlich ändern, für immer ändern, und Mary konnte es kaum noch erwarten.

Als die Musiker den Tanz ausklingen ließen und Marys Partner sich vor ihr verbeugte, war sie in Gedanken immer noch eifrig dabei, die letzten Details ihrer Reisevorbereitungen durchzugehen: Die neuen Kleider für die Reise waren in den messingbeschlagenen Reisekoffern verpackt, die Passagen gebucht und die Empfehlungsschreiben lagen bereit, die Landkarten und Reiseführer und …

„Lady Mary, verzeihen Sie bitte.“ Miss Wood, Marys langjährige Gouvernante und künftige Reisebegleiterin, stand in ihrem einfachen grauen Kleid neben ihr und rang die kleinen, dicken Hände. „Ein Wort unter vier Augen, wenn Sie erlauben?“

Mary nickte und ging voraus zu einer der Fensternischen, wo ihre Unterhaltung in der Musik und dem Geplauder untergehen würde. Obwohl mit ihren achtundzwanzig Jahren noch eine junge Frau, war die Gouvernante ein wahres Muster an Diskretion und Anstand, und nur eine sehr dringende Angelegenheit konnte sie in den Ballsaal geführt haben, wo sie völlig fehl am Platz schien. Seit der langen Krankheit und dem Tod der Duchess vor vier Jahren hatte Mary sehr geschickt viele der Pflichten ihrer Mutter übernommen. So war es für die Gouvernante nur normal, sich in Notfällen an sie zu wenden.

Bitte, lieber Gott, lass nicht zu, dass es sich bei Miss Woods Anliegen um etwas handelt, das die Abreise verzögert! Nur dieses eine Mal sollte er ihr verzeihen, dass sie selbstsüchtig dachte und ihre einzige Chance auf ein Leben jenseits von Aston Hall nicht aufgeben wollte.

„Worum geht es, Miss Wood?“, fragte Mary schließlich leise. Alle möglichen Katastrophen gingen ihr durch den Kopf: ein Unfall beim Personal, ein Missgeschick unter den Gästen, schlimme Nachrichten aus der Ferne. „Was ist geschehen?“

„Es geht um Ihre Schwester, Mylady“, sagte Miss Wood. „Seine Gnaden, Ihr Vater, hat sie zu sich befohlen, und ich kann sie nirgends finden.“

„Diana ist verschwunden?“ Das hätte Mary sich denken können, schließlich kannte sie ihre Schwester wie keine Zweite. Nicht, dass sie befürchtet hätte, ihrer jüngeren Schwester wäre etwas zugestoßen. Zwar geriet die schöne und fröhliche Diana häufig in Schwierigkeiten, aber sie war jedes Mal nur die Ursache, niemals das Opfer dieser unglückseligen Geschichten. Stets wirkte sie auf Männer genauso unwiderstehlich wie Männer auf sie. Sich umsichtig zu benehmen, schien ihr einfach nicht im Blut zu liegen. Wo Mary sich verantwortlich und nachdenklich zeigte, war Diana keines von beiden.

Wie oft war es Marys Aufgabe gewesen, den Zorn ihres Vaters zu besänftigen, weil ihre Schwester wieder einmal mit irgendeinem verliebten jungen Mann fröhlich durch die Landschaft spaziert war, haarscharf am Rande eines Skandals vorbei? Nie verschwendete sie auch nur einen Gedanken daran, wie durch dieses Benehmen ihre Aussichten auf einen achtbaren Ehemann schwanden. Und wie oft hatte Diana Besserung versprochen – nur um dann, wenn der nächste Galan unter ihrem Fenster auftauchte, Mary wieder zu bitten, die Dinge beim Vater in Ordnung zu bringen.

„Haben Sie überall nachgesehen, Miss Wood?“, fragte Mary und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, die Gouvernante möge sich geirrt haben. „Ich bin sicher, vor noch nicht einer halben Stunde sah ich Diana tanzen.“

Auf Miss Woods Gesicht erschien ein Hoffnungsschimmer. „Erinnern Sie sich an ihren Partner? Vielleicht ist sie bei ihm, Mylady, und wir …“

„Vater zuliebe tanzte sie mit Dr. Canning.“ Mary seufzte. Dr. Canning war mindestens siebzig. „Er ist ein äußerst netter alter Herr, aber ich glaube kaum, dass Diana mit ihm im Gartenpavillon verschwunden ist.“

„In der Laube habe ich bereits nachgeschaut, Mylady.“ Miss Wood sah über die Schulter zu Marys Vater hinüber, der bei einigen Freunden stand. Trotz der allgemeinen Fröhlichkeit um ihn herum, war er nicht glücklich. Das konnte man sehen. Er hatte Diana zu sich gerufen, und als Duke und Vater erwartete er sofortigen Gehorsam. Aber seine Tochter war nicht erschienen. Jetzt starrte er wütend zu ihnen herüber, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Ich habe das Schlafzimmer nach ihr durchsucht“, fuhr Miss Wood hastig fort, „ebenso das Schulzimmer, den Damensalon, ja selbst die Molkerei.“

„Kein Wort über die Molkerei!“ Wieder seufzte Mary. Was auch immer im letzten Sommer zwischen Diana und dem jungen Hauslehrer aus Oxford in der Molkerei vorgefallen war, es ließ Diana noch immer jedes Mal in ihre Serviette kichern, sobald bei Tisch die Butter gereicht wurde. Nein, Mary wollte nichts darüber wissen, wirklich nicht! „Vielleicht hat Diana ja nur die Toilette aufgesucht?“

Miss Wood schüttelte den Kopf. „Dort habe ich bereits nachgesehen, Mylady, und …“

„Die Ställe.“ Ein flaues Gefühl beschlich Mary; sie erinnerte sich plötzlich an die Art, wie ihre Schwester heute früh den neuen Stallburschen angelächelt hatte. Mary hatte geglaubt, weil er noch nicht lange zum Gesinde gehörte und deswegen noch nicht wusste, wo sein Platz war, hätte er Dianas Lächeln wärmer erwidert, als es schicklich war. Jetzt dachte sie allerdings anders darüber.

Mein Gott, was würde Vater sagen, sollte er je davon erfahren!

„Die Ställe, Mylady?“, fragte Miss Wood. „Glauben Sie, Lady Diana …“

„Es ist nur eine Vermutung“, erwiderte Mary rasch. „Ich mache mich auf die Suche nach Diana, während Sie Vater sagen, dass …“

„Ich bedauere, Mylady, aber das kann ich nicht erlauben“, antwortete Miss Wood in sehr bestimmtem Ton. „Nicht in die Ställe, nicht bei Nacht und allein.“

„Aber ich kann Diana finden, bevor …“

„Ihr Platz ist hier auf dem Ball, Mylady“, beharrte Miss Wood. „Sie bleiben hier bei den Gästen Seiner Gnaden, und ich schaue nach Lady Diana.“

„Sie ist meine Schwester“, entgegnete Mary und sah über den Kopf der Gouvernante zu ihrem wütenden Vater hin, „und ich werde sie selbst suchen.“

Miss Wood runzelte die Stirn. „Aber Seine Gnaden …“

„Sagen Sie meinem Vater, Diana käme gleich. Er wird noch nicht einmal bemerken, dass ich fort bin.“

Bevor Miss Wood noch länger widersprechen konnte, wandte Mary sich um und schlüpfte durch die nächste Tür in den Garten hinaus.

Sie raffte ihre Röcke, um nicht zu stolpern, lief die Steinstufen hinunter und dann über den Kiesweg. Hier draußen war es angenehm kühl. Mary atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Es war völlig ungewiss, wo, wie oder ob sie Diana finden würde.

Wenn sie ehrlich war, so hoffte Mary, ihre Schwester nicht zu finden. So, wie sie und Miss Wood sich darauf vorbereiteten, zum Kontinent aufzubrechen, bereiteten Diana und ihr Vater sich darauf vor, noch in dieser Woche nach London zu fahren. Dort sollte Diana bei Hofe eingeführt werden, wo sie mit ihrer Schönheit und ein wenig Glück den passenden Ehemann finden würde. Schon immer war es das, was Diana sich am sehnlichsten vom Leben erhoffte. Warum sie es jetzt wegen einer Liebelei mit einem Stallburschen aufs Spiel setzte, ging über Marys Verständnis.

Sie hielt sich im Schatten und achtete darauf, von niemandem bemerkt zu werden. Heute Abend füllten die Kutschen der Gäste den Hof vor den Stallungen. Die wartenden Fahrer und Diener saßen auf den Trittbrettern oder dem Rasen, redeten und lachten miteinander. Nirgendwo ein Zeichen von Diana oder dem neuen Stallburschen. Wie es schien, hatten sie sich inzwischen an einen ruhigeren Ort zurückgezogen.

Verwünschte Diana! Schon wieder brachte sie ihre Schwester in solch eine Situation! Mary hasste es, wieder einmal den Wachhund spielen zu müssen. Und sie hatte genug davon, ihre Schwester immer wieder dem Vater gegenüber verteidigen zu müssen.

Nicht, dass sie Diana nicht geliebt hätte. Nein, sie liebte sie mit all der Hingabe und Zuneigung, die zwei mutterlose Schwestern füreinander aufbringen konnten. Und das würde sich auch niemals ändern. Aber immer im Schatten ihrer schönen, leichtsinnigen Schwester zu stehen, immer bereit zu sein, sie aufzufangen, wenn sie zu stürzen drohte, oder sie zu beschützen, wenn sie in die Irre ging, war langsam zu einer aufreibenden und zermürbenden Angelegenheit geworden. Betrübt und schuldbewusst zugleich sehnte sich Mary danach, nicht nur als die Tochter Seiner Gnaden oder Lady Dianas Schwester, sondern als sie selbst zur Kenntnis genommen zu werden. Innerlich betete sie darum, es möge auf dem Kontinent, weit weg von Aston Hall geschehen.

Nun eilte sie um die Ecke der Backsteinmauer und durch die Seitentür der Stallung. Bis auf das leise Schnauben und Wiehern der vor sich hin dösenden Pferde schien der dunkle Stall leer zu sein.

„Diana?“, rief sie. „Diana, bist du hier?“

Keine Antwort. Nicht, dass Mary wirklich erwartet hätte, Dianas Kopf würde im Heuboden über ihr auftauchen, so wie früher, wenn sie als kleine Mädchen im Heu gespielt hatten. Das hier war etwas anderes – etwas ganz, ganz anderes.

Sie räusperte sich und rief lauter: „Diana, Vater fragt nach dir. Falls du dich hier irgendwo versteckst, musst du sofort ins Haus und zum Ball zurückkommen. Hörst du mich?“

Wieder keine Antwort, aber Mary war sicher, ein unterdrücktes Kichern gehört zu haben, aus einer der Boxen. Mary hatte jetzt mehr als genug von Dianas Launen. Sie nahm eine der Laternen, die nahe der Tür hingen, und ging zu der Box.

„Ich meine es ernst, Diana“, rief sie zu der Stelle hinüber. Das Licht tanzte über die mit Holzbohlen verkleideten Mauern. „Komm jetzt, oder ich werde dich heraustreiben, wie Vaters Hunde es mit einem Fuchs tun. Du wirst schon sehen!“

Bei der letzten Box angekommen, schob sie die Tür auf und hielt die Laterne wie ein Signalfeuer über den Kopf.

Und schnappte nach Luft.

Es wäre Mary schwergefallen zu sagen, welche Körperteile zu wem gehörten, so eng waren ihre Schwester und der Stallbursche miteinander verschlungen. Dianas gelbes Kleid war schamlos weit über ihre Beine hinaufgeschoben. Die braune Hand des Mannes lag besitzergreifend oberhalb des glänzenden rosa Strumpfbands auf ihrem weißen Schenkel. Sie hatte ihm das Hemd aus der Reithose gezogen und ließ die Hände über seinen breiten, nackten Rücken gleiten. Ihre Frisur hatte sich teilweise gelöst, und das blonde Haar fiel offen herunter. Mit ihren erhitzten Wangen glich sie von Kopf bis Fuß eher einem liederlichen Frauenzimmer als der Tochter eines Dukes.

„Mary!“, schrie Diana auf und klammerte sich noch fester an den Stallburschen, kroch hinter ihn, als wollte sie sich verstecken. „Was tust du hier? Spionierst du mir nach?“

„Ich spioniere dir nicht nach, Diana“, widersprach Mary, und ihr Gesicht glühte vor Verlegenheit. „Vater will dich sofort sehen, und du weißt, dass du zu ihm gehen musst. Verstehst du denn nicht, dass ich nur versuche, dich vor dir selbst zu retten?“

„Aber, aber, meine Dame, wo bleibt denn da das Vergnügen?“ Der Stallbursche hatte sich umgewandt. Während er Diana immer noch mit einem Arm umschlungen hielt, grinste er Mary anzüglich an und winkte sie zu sich. „Man muss die Feste feiern, wie sie fallen, sage ich immer. Komm her, Schätzchen, bei mir können beide Schwestern auf ihre Kosten kommen.“

Ehe Mary sich versah, hatte er sie bei der Hand gepackt, um sie auch an sich zu ziehen. Zu entsetzt, um ein Wort herauszubringen, kämpfte Mary darum, sich zu befreien. Dabei schwankte die Laterne in ihrer anderen Hand wild hin und her.

„Halt, Willam, hör auf!“, schrie Diana. „Ruhig, Mary, es ist nicht – oh, großer Gott im Himmel, Vater! Oh nein, Vater!“

Mit ängstlich klopfendem Herzen drehte Mary sich langsam um. Diana hatte nicht nur so getan als ob. Es war kein Spaß. Dort an der Tür stand der Duke, so wütend und aufgebracht, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Hinter ihm tauchten drohend Miss Wood und Robinson, der Stallmeister, auf.

Verzweifelt machte Mary einen kleinen Knicks, den besten, den sie unter solchen Umständen zustande brachte. Hätte Miss Wood doch nur alles ihr überlassen, statt auch noch Vater in die Sache hineinzuziehen!

„Vater, bitte!“, begann Diana atemlos. „Es ist nicht so, wie es den Anschein hat.“

„Nein, Vater“, stimmte ihr Mary hastig voller Verzweiflung zu. „Das ist es nicht. Überhaupt nicht.“

Der Stallbursche löste sich von Diana und tippte mit den Fingern an die Stirn. „Verzeihen Sie, Euer Gnaden, aber Ihre Ladyschaft sagt die Wahrheit. Es ist nicht so, wie es scheint, nicht …“

„Halt den Mund, du elender Narr!“ Vaters Gesicht verfinsterte sich. „Keine Entschuldigungen, von keinem von euch. Ich weiß, was ich sehe, und ich weiß, was es ist.“

„Geben Sie nicht Mary die Schuld, Vater.“ Diana zog sich die Röcke herunter und versuchte, ihr Haar glatt zu streichen. „Sie war nur …“

„Ich sage dir das Gleiche wie deiner Schwester, Diana“, sagte Vater scharf. „Keine weiteren Entschuldigungen. Von keiner von euch beiden.“

„Es sind keine Entschuldigungen, Vater“, flehte Mary. „Ich war nur – das heißt, wir waren …“

„Nichts mehr.“ Abwehrend hob er die Hand. „Richtet euer Aussehen her und kommt dann in die Bibliothek. Gleich.“

Er wandte sich auf dem Absatz um und verließ sie. Hinter ihm huschte Miss Wood hinaus in die Dunkelheit. Der Stallmeister packte den Burschen bei den Schultern. Halb zog, halb schob er ihn aus dem Stall.

Mary sah ihre Schwester an. Diana senkte den Kopf. Jetzt war es zu spät für Erklärungen, zu spät für Reue und Zerknirschung.

Alles, was sie noch tun konnten, war gehorchen.

Eine Stunde später saß Mary in der Halle auf der Bank vor der Bibliothek, die Füße eng nebeneinandergestellt, die ineinander verschlungenen Hände in den Schoß gelegt. Diana war als Erste zum Vater hineingegangen. Auch wenn Mary ihre Worte durch die geschlossene Tür nicht verstehen konnte, so hörte sie doch genug, um zu wissen, dass sich Vaters Zorn kein bisschen abgekühlt hatte.

Mary senkte den Kopf, schloss die Augen und hielt sich die Ohren zu, um ihre streitende Familie nicht hören zu müssen. Sie würde schnell genug hereingerufen werden, um sich zwischen den beiden zu stellen. Dann würde sie Vaters Zorn besänftigen und Diana überreden müssen, wieder einmal Besserung zu geloben. Einmal mehr würde sie einen zerbrechlichen Frieden schaffen und die beständig tobenden Wogen in Aston Hall glätten.

Durch die geschlossene Tür war das Klirren von Porzellan zu hören, mit dem anscheinend jemand warf, und Mary zog die Schultern hoch, wie eine Schildkröte, die in ihrem Panzer zurückkriecht. In drei Tagen würde sie nach Frankreich segeln und von alledem hier frei sein.

Nur noch drei Tage …

Die Tür flog auf. „Er ist grausam, Mary, unaussprechlich grausam zu mir und auch zu dir – zu uns beiden!“ Diana sank vor der Bank zu Boden. Sie umklammerte Marys Hand. „Oh, Mary, es tut mir so unendlich leid!“

„Reg dich meinetwegen nicht auf, Diana“, flüsterte Mary, wohl wissend, dass ihr nicht viel Zeit blieb, bis die Reihe an ihr war. „Was ärgerte ihn am meisten? Rasch, sag es mir! Was muss ich sagen, um ihn in bessere Laune zu bringen?“

Aber Diana schüttelte bloß den Kopf. Ihr Gesicht war vom Weinen immer noch gerötet. „Oh Mary, wie kannst du mir je vergeben? Ich wollte mich doch nur ein wenig amüsieren, und sieh nur, was geschehen ist! Denn Vater lässt es uns beide büßen, wenn …“

„Mary, komm“, rief Vater scharf aus der Bibliothek. „Ich weiß, dass du draußen wartest, denn du warst stets gehorsam.“

„Mach dir keine Sorgen. Ich bringe alles wieder in Ordnung“, versprach Mary und drückte noch einmal beruhigend Dianas Hände. Dann glättete sie ihr Kleid, hob den Kopf und ging zu ihrem Vater in die Bibliothek.

„Da bist du endlich, Mary.“ Er saß in seinem mit Leder bezogenen Lehnstuhl. Obwohl schon Witwer, stand er noch in der Blüte seiner Jahre, und sein Bauch unter der Weste aus chinesischer Seide war flach. Wo immer er auftauchte, erklang das nervöse Kichern der Damen, die in ihn vernarrt waren. Anders als die meisten Männer seiner Generation hatte er es vorgezogen, der neuesten Mode zu folgen. Er verzichtete auf Perücken und trug lieber sein eigenes kurzes dunkles Haar, in dem ein paar feine silberne Fäden schimmerten.

Das Erste, was Mary bemerkte, als sie jetzt vor ihm stand, war die dicke Ader, die an seiner Stirn pulsierte. Das war ein schlechtes Zeichen, wie sie nur allzu gut wusste. Er strahlte Enttäuschung und eine tiefsitzende Wut aus. Die warme Nachtluft um ihn herum schien zu vibrieren.

„Wieder hat deine Schwester mir Schande bereitet, Mary“, begann er, und in seiner Stimme lag ein zorniges Grollen. „Dieses Mal kannst selbst du sie nicht verteidigen.“

„Nein, ich will Diana auch gar nicht verteidigen“, erwiderte Mary vorsichtig und suchte nach dem besten Weg, ihn zu beruhigen. „Deswegen bitte ich auch für sie nicht um Verzeihung, sondern um Gnade.“

Er schnaubte entrüstet. „Wirklich, Mary, von dir hätte ich mehr Verstand erwartet.“

„Gnade verlangt keinen Verstand, Vater.“

„Nein, aber ich.“ Gereizt trommelte er mit kräftigen Fingern auf der geschnitzten Armlehne aus Mahagoni herum. „Wieso verteidigst du Diana überhaupt? Wie eine verdorbene Dirne hat sie sich bei diesem Lump aufgeführt, als wären ihr guter Name und meiner keinen Penny wert.“

„Sie wollte Sie nicht aufregen, Vater, da bin ich mir sicher“, sagte Mary. „Ich gebe zu, sie handelte verantwortungslos …“

„Oh ja, sie ließ sich von einem gemeinen Stallburschen die Röcke zerknittern“, knurrte er und schlug ärgerlich mit der Hand auf die Armlehne. „Und ich soll nicht das Recht haben, mich darüber aufzuregen?“

„Doch, Vater“, sagte Mary, weil sie aus Erfahrung wusste, dass das immer die sicherste Antwort war. „Natürlich haben Sie das Recht.“

„Warum bereitet mir deine Schwester dann fortwährend solche Schande?“ Wütend stieß er den Stuhl zurück und stand auf. Er wandte Mary den Rücken zu und starrte aus dem Fenster. „Höchste Zeit, dass sie heiratet. Ich bin zu alt für ihren Eigensinn. Sie braucht einen starken jungen Ehemann, der sie übers Knie legt und ihr Gehorsam beibringt. Irgendeinen jungen Löwen, der ihren Willen bricht und sie schwängert. Das ist es, was sie braucht – einen anständigen Gatten und einen Haufen Kinder.“

„Ja, Vater“, bestätigte Mary. „Wenn Diana nur einen Mann fände, den sie von Herzen lieben könnte …“

„Sprich mir nicht von solchem Unsinn, Mary“, erwiderte ihr Vater unwirsch. „Liebe! Das Letzte, was deine Schwester braucht, ist etwas von dieser Verrücktheit.“

„Nein, Vater“, sagte Mary sanft. Sie erinnerte sich, wie groß die Zuneigung ihrer Eltern zueinander einst war. Auch nach vielen Jahren der Ehe waren sie noch verliebt gewesen wie am ersten Tag. Seit dem Tod ihrer Mutter sprach der Vater allerdings nur noch voll Bitterkeit und Verachtung von der Liebe. Und er hegte keine zärtlichen Erinnerungen mehr an ihre Mutter, als wäre ihre letzte, verzehrende Krankheit ein persönlicher Affront gegen ihn gewesen. „Doch wenn sie eine gute Partie in London machen kann, eine, die Ihre Zustimmung findet, dann …“

„Nichts da mit London.“ Er verschränkte die Hände so fest hinter dem Rücken, dass sie eher Fäusten ähnelten. „Wie könnte ich Diana nach so einem skandalösen Benehmen Ihrer Majestät vorstellen?“

„Aber keiner der Gäste hat etwas davon gemerkt“, protestierte Mary. „Der Einzige, der darüber reden könnte, ist dieser Stallbursche. Ich bin sicher, Mr. Robinson wird mit ihm reden, sodass er nicht …“

„Dieser elende Stallbursche hat die nächsten drei Jahre lang Zeit zu bereuen“, bemerkte ihr Vater schroff. „Ich befahl Robinson, ihn den Werbern zu übergeben. So kann er statt meiner Tochter der Marine Seiner Majestät seine Dienste erweisen.“

„Den Werbern, die die jungen Männer zum Militärdienst zwingen!“, rief Mary aus, entsetzt über eine so schwere Bestrafung. „Vater, Sie werden doch wohl nicht auch Diana fortschicken wollen?“

„Wenn es nach mir ginge, würde ich sie im strengsten Kloster einsperren, das ich finden kann“, sagte er grimmig. „Aber du hast mich gebeten, gnädig zu sein, Mary. Also bin ich es.“

„Dann werden Sie ihr vergeben?“, fragte Mary mit neuer Hoffnung. „Sie werden sie nach London mitnehmen? Und auch an den Hof?“

„Ich sagte, ich würde gnädig sein, aber kein Narr.“ Endlich drehte er sich zu ihr um. „Ich werde sie zusammen mit dir ins Ausland schicken.“

2. KAPITEL

Calais, Frankreich

Die kleine Messingglocke oben am Türrahmen schepperte, als Lord John Fitzgerald den Laden betrat, der Dumonts Antiquitäten beherbergte. Er blieb einen Augenblick stehen, bis sich seine Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten. Da er schon oft hier gewesen war, wusste John, was ihn erwartete. Er war auf die Düsternis und den Schimmel gefasst und darauf, sich davon nicht täuschen zu lassen. Obwohl Dumont bis in seine krummen alten Knochen Franzose war, war das Ladenschild draußen in englischer Sprache geschrieben. Es sprach für die Schlauheit des Franzosen, dass er um die Bedeutung englischer Besucher für sein Geschäft wusste. Genauso, wie er erkannt hatte, dass sie ehrfurchtsvoll jedes alte Staubkorn für einen Echtheitsbeweis hielten. Seitdem der letzte Friedensvertrag zwischen Engländern und Franzosen unterzeichnet worden war und jetzt Reisen zum Kontinent wieder in Mode kamen, drängten sich Scharen englischer Damen und Herren durch Dumonts Laden, mit großen Augen und vollen Geldbeuteln. Nur zu gern waren sie bereit, auf jede Geschichte hereinzufallen, die er ihnen über seine dubiosen Waren erzählte, und für dieses Privileg auch noch zu bezahlen, was er forderte.

John jedoch kannte sich besser aus. Er hatte ein Talent dafür, das Echte vom Falschen zu unterscheiden, und er scheute sich auch nicht, sein Urteil offen auszusprechen. In einem Laden, der seinen Gewinn durch Täuschung machte, ließen ihn seine Augen und sein Wissen zu dem Kunden werden, der Dumont von allen am wenigsten willkommen war: ein englischer Gentleman, der zu gut Bescheid wusste, als dass man ihm das Fell hätte über die Ohren ziehen können.

„Ah, bonjour, Mylord“, grüßte Dumont, stöhnte griesgrämig und verdrehte die Augen. „So sind Sie also zurückgekehrt, um mich aufs Neue zu plagen?“

„Auch Ihnen einen guten Tag, Dumont“, erwiderte John und ließ den Blick auf der Suche nach irgendetwas einigermaßen wertvollem Neuen über das Durcheinander im Laden schweifen. Weil Calais oft entweder die erste oder die letzte Station auf seinen Reisen war, besuchte er häufig diesen Laden. „Ich bin wiedergekommen, weil ich hörte, Sie hätten neue Ware aus Florenz.“

„Wie ein Räuber sind Sie, Mylord. Kommen nur her, um einen armen Mann wie mich zu bestehlen.“

Unter großer Anstrengung schaffte es Dumont, sich aus dem tiefen Sessel hinter dem Ladentisch zu erheben. „Warum lassen Sie mich nicht in Frieden?“

„Weil ich irgendwann einmal in Ihrem Müllberg hier einen wahren Schatz finden werde, Dumont“, erwiderte John unbeeindruckt von der Klage des alten Mannes. Seit mehr als einem Jahr wohnte er nicht mehr in London. Nun hatte er beschlossen, Ende dieser Woche dorthin zurückzukehren. Er brauchte ein kleines Geschenk für die Duchess of Cumberland, eine äußerst treue Freundin. Die Liebelei mit ihr hatte letzten Winter in Rom begonnen und dort auch geendet, in freundschaftlichem Einvernehmen beider Beteiligten. John dachte trotzdem, dass ein kleines Mitbringsel eine hübsche Geste wäre. Ihre Gnaden hatte ihm bereits ihre Unterstützung versprochen, sollte er endgültig nach London zurückkehren. Gott allein wusste, wie nötig er nach diesem entsetzlichen Skandal letztes Jahr mächtige Verbündete brauchte. Nebenbei gesagt, liebte er es, wenn die Damen verliebt hinter ihm her seufzten. Diese Art von Aufmerksamkeit hatte ihm schon immer gefallen.

„‚Mein Müllberg‘. Oh, Sie sind grausam, Mylord, zu grausam.“

Erneut seufzte Dumont und schlurfte heran. Die Arme an den Ellbogen abgewinkelt und die Hände locker über der Brust verschränkt, ähnelte er einem alten Eichhörnchen. „Aber ja doch, ich habe einige neue Stücke. Das Unglück des einen Sammlers, ist das Glück des anderen, Mylord, und so wird es immer sein.“

„Ich hoffe, es ist kein Herr aus meinem Bekanntenkreis“, meinte John höflich. Gemälde und dergleichen wurden oft als Erstes verkauft, wenn ein Gentleman einen finanziellen Rückschlag erlitten hatte. Unter Umständen konnte John das zu seinem Vorteil ausnutzen und die Kunstgegenstände mit Gewinn wieder in London verkaufen.

Er würde sich nicht deswegen schämen. Das brauchten jüngere Söhne nicht, besonders nicht die jüngeren Söhne, die das Pech hatten, als Sechste in der Erbfolge einer irischen Peerswürde mit bankrottem Landsitz geboren worden zu sein. Oh ja, von einem entfernten Onkel erhielt er ein winziges Einkommen und hatte außerdem ziemliches Glück am Spieltisch. Und aus der Not heraus, aber auch aus Neigung, beherrschte er die Kunst der Freundschaft und genoss die Gunst seiner reicheren Freunde – und hin und wieder auch die der Damen. Wenn das Leben ihn nun einmal einen steinigen Pfad erklettern ließ – was machte das schon. Er hatte nur die ungeschliffenen Diamanten zwischen den Steinen erspäht und sie eingesammelt, und was, bitte sehr, war daran verwerflich?

„Ich erhalte mein Angebot aus vielen Quellen, sehr vielen Quellen“, erwiderte Dumont vage. „Sie können von einem Mann meines Alters kaum erwarten, dass er sich an alles erinnert. Sind Sie gekommen, weil Ihnen etwas Bestimmtes vorschwebt, Mylord?“

„Ich möchte mich ein wenig umsehen. Mal sehen, ob mir etwas gefällt.“ Auch John konnte sich vage ausdrücken, wenn er wollte. Er ließ den Blick über die voll gestopften Regale schweifen. Die Duchess of Cumberland war nicht sehr wählerisch, was Qualität betraf, aber sie verlangte, dass ihre Besitztümer – und die Geschenke, die sie erhielt – die Größe ihrer Person und ihres Ranges widerspiegelten. Irgendetwas Vergoldetes wäre vielleicht gut, eine Venus, vielleicht könnte sogar ein kleiner dicker Amor …

„Das ist das Richtige, Mylord.“ Stolz präsentierte Dumont eine kleine Bronzestatue, die Merkur darstellte. „Die hat der große Meister Benvenuto Cellini mit eigenen Händen geschaffen. Man sieht es schon an der Feinheit der Arbeit, am Überschwang der Linien, alles Merkmale eines wahren Genies des sechzehnten Jahrhunderts.“

Der Händler übergab die Figur John, legte wie im Gebet die blassen Hände aneinander und senkte ehrfürchtig die Stimme, während er um ihn herumtänzelte.

John trug die kleine Figur zum Bogenfenster des Ladens und hielt sie ins schwache Sonnenlicht. Sie war eine beachtliche Fälschung mit sorgfältig aufgelegter Patina, die ein hohes Alter vortäuschen sollte. Doch den kleinen Merkur zierte ein albernes Lächeln, er schielte, und falls er jemals das im Lauf erhobene Bein gesenkt hätte, hätte der eine geflügelte Fuß wohl gut zwei Zoll unter dem anderen gebaumelt.

Dumont missdeutete Johns Schweigen und schob sich näher heran. „Sie sind entsprechend beeindruckt, nicht wahr, Mylord? Ihnen solch etwas Geniales in die Hände legen zu können, ist ein Segen, ein Geschenk, eine Ehre, ein …“

„Ein Schwindel“, sagte John ruhig. „Sie wissen so gut wie ich, dass dieser jämmerliche kleine Schlingel froh sein kann, wenn er drei Jahre alt ist, von wegen fast dreihundert.“

Dumont riss voll gekränkter Würde die Augen auf. „Nein, Mylord, nein! Beim Kauf garantierte man mir die absolute Echtheit dieser Bronze! Dass Sie mich solch einer Täuschung anklagen würden, solch …“

„Ich klage Sie keiner Sache an, Dumont“, widersprach John. „Noch sage ich etwas, was Sie nicht sowieso bereits wissen.“

„Aber, Mylord, ich weiß nicht, wie …“

Die Messingglocke über der Tür bimmelte. Dankbar für die Unterbrechung, wandte Dumont sich um. Auch John sah zur Tür.

Und lächelte.

Wie sollte er auch nicht? Die Frau war jung und reizend, ihre Schönheit strahlend genug, um auch in diesem elenden Laden aus sich selbst heraus zu leuchten. Sie war unleugbar Engländerin und allem Anschein nach auch wohlhabend. Perlen von beachtlicher Größe zierten ihre Ohren. Ihr weiter Rock und ihre Jacke waren aus teurem Stoff, aber nicht sehr modisch und mit übergroßen Tulpen bedruckt, die jeden modebewussten Pariser hätten erschauern lassen. Tulpen, die auffallend mit ihrem cremeweißen Teint und dem dunklen, kastanienbraunen Haar kontrastierten. Sie war nicht älter als zwanzig, das verrieten ihm ihre makellose Haut, die hübsche schmale Taille und der jugendliche Tatendrang, der ihre ganze Erscheinung umgab.

John taxierte sie rasch mit Kennerblick wie den bronzenen Merkur. Doch was ihn lächeln ließ, war die Art, mit der sie energisch ihren bebänderten Sonnenschirm zuklappte und mit geradem Rücken und hoch erhobenem Kopf in den kleinen Laden gesegelt kam, einen Diener zu ihrem Schutz im Schlepptau und bereit, wie ein Admiral diesen fremden Ort zu erobern.

Dumont hüstelte vornehm und fuhr sich mit beiden Händen über seine graue Perücke. „Bitte, mich zu entschuldigen, Mylord. Ich muss die Dame begrüßen.“

„Natürlich müssen Sie das, Sie alter Gauner.“ John legte sich den Merkur bequem in die Armbeuge, bereit, aus der Nische des Bogenfensters heraus zu beobachten, wie sich die kleine Szene wohl entwickelte. „Gehen Sie, gehen Sie. Wie könnten Sie auch einer so hübschen kleinen Taube widerstehen, die nur darauf wartet, von Ihnen gerupft zu werden?“

Aber Dumont war schon bei dem Mädchen, verbeugte sich vor ihr und machte Kratzfüße, als wäre sie die Königin.

„Guten Tag, Mademoiselle“, sagte er auf Englisch. Genau wie John hatte er rasch ihre Nationalität erkannt. „Erlauben Sie mir, Sie in meinem bescheidenen Laden willkommen zu heißen. Ich selbst und mein ganzes Geschäft stehen zu Ihrer Verfügung.“

Sie nickte mit ihrem kleinen, energischen Kinn, wobei sie Dumont bereits nicht mehr anschaute, sondern den Blick über die Wände hinter ihm schweifen ließ. „Ich würde gerne sehen, was Sie an guten Gemälden haben.“

„Ich versichere Ihnen, jedes meiner Gemälde ist gut, Mademoiselle.“ Voll unbegründetem Stolz warf sich Dumont in die schmächtige Brust. „Etwas anderes würde ich gar nicht führen.“

„Zeigen Sie gefälligst Respekt“, befahl der Diener streng. „Ihre Ladyschaft ist keine Ihrer üblichen Mamsellen. Sie ist Lady Mary Farren, Tochter Seiner Gnaden des Duke of Aston.“

Das Mädchen rümpfte die Nase. „Oh, bitte, Winters, das ist nicht nötig. Dem Mann ist es gleich, wer ich bin.“

Aber Dumont war es ganz und gar nicht gleich, und John konnte buchstäblich sehen, wie sich im Kopf des Franzosen sofort die Preise erhöhten. In einem schmutzigen alten Hafen wie Calais fand man wirklich selten so eine kleine Taube wie die Tochter eines Dukes.

Und obwohl sie die Tochter eines Dukes war, war sie unverheiratet. Interessant, dachte John. Wieso war sie nicht in London, auf der Jagd nach einem passenden Mann, wie es jedes Mädchen ihres Alters und ihrer Herkunft machen würde? Sicher war sie hübsch genug, und Geld für eine Mitgift war zweifellos vorhanden. Hatte es da vielleicht irgendeinen faszinierenden Skandal gegeben, weswegen es sie jetzt an diese Küste verschlug?

Sehr interessant. Vielleicht konnte er sie dazu überreden, ihm zu helfen, sich bis zu seiner Abreise ein wenig zu amüsieren …

„Oh, Mylady, vergeben Sie mir die Unkenntnis Ihres hohen Standes!“, rief der Ladenbesitzer gerade aus. „Ihre Anwesenheit ehrt mich! Dass Sie meine Kundin sind! Wie können Sie nur glauben, es sei mir egal!“

„Schon gut, danke“, sagte Lady Mary sichtlich unbeeindruckt. „Wenn ich jetzt Ihre Bilder sehen könnte.“

Wieder lächelte John. Er mochte Frauen, die geradeheraus waren, die keine Schmeicheleien nötig hatten.

Mais oui, Mylady.“ Mit einer weiteren Verbeugung geleitete Dumont sie die Wand entlang, vorbei an einigen grimmig dreinblickenden Porträts und blieb dann vor einem Landschaftsbild mit zwei Flöte spielenden Satyrn stehen, die auf ihren Ziegenbeinen durch eine Blumenwiese tänzelten. „Also das hier ist ein Bild allerersten Ranges, Mylady. Aus der Schule des Claude, wenn nicht sogar vom Meister selbst.“

Das Mädchen antwortete nicht, sondern bückte sich, um die Oberfläche des Gemäldes besser studieren zu können. Sie runzelte skeptisch die Stirn.

Unerschrocken wagte Dumont einen Vorstoß. „Der Pinselstrich ist superb, nicht wahr, Mylady? Letzte Woche verkaufte ich ein ganz ähnliches Bild – allerdings nicht halb so schön – an einen englischen Herrn. Er war ganz entzückt, es für seinen Landsitz erworben zu haben.“

„Das wäre ich nicht“, erwiderte sie und trat einen Schritt zurück. „Ich meine, darüber entzückt, ein solches Bild zu besitzen. Wer will sich schon jeden Tag beim Tee diese schrecklichen Satyrn anschauen?“

„Ah, Ihre Ladyschaft hat einen besonderen Geschmack“, murmelte Dumont. „Ich meine, einen vornehmen Geschmack.“

„Was ich habe, ist eine Vorliebe für Qualität“, beschied sie. „Es sind nicht die Satyrn an sich, die ich nicht mag. Es ist die plumpe Art, in der sie gemalt sind. Sie verleumden Claude, guter Mann, wenn Sie behaupten, diese Schmiererei hier sei von ihm.“

„Aus der Schule des Claude, Mylady, aus der Schule“, sagte Dumont hastig und ging zu einem düsteren Stillleben aus verwelkten Blumen und faulenden Früchten. „Vielleicht bevorzugen Sie eher erbauliche Bilder, Mylady, Bilder, die Sie an Ihre Sterblichkeit erinnern und Sie vor den Folgen eines weltlichen Lebens warnen.“

„Eine Dame sollte solche Warnungen nicht nötig haben“, meinte sie. „Aber dieses Bild hier – das gefällt mir gut.“

Graziös ging sie um Dumont herum und kauerte sich vor einem kleinen Bild nieder, das an der Wand lehnte. Sie kippte den schweren goldenen Rahmen etwas nach hinten und lächelte dann triumphierend.

Dumont runzelte die Stirn. „Dieses da, Mylady? Oh, ich fürchte nein, ich fürchte, nein!“

In John erwachte die Neugier. Von seinem Platz am Fenster aus konnte er hinter den aufgebauschten Röcken des Mädchens das kleine Bild nicht sehen. Wofür mochte das Mädchen ein Auge haben? Hatte es ihr eine albern lächelnde Schäferin oder ein Hündchen mit Schlappohren angetan, wie es wohl bei den meisten jungen englischen Damen der Fall gewesen wäre, oder hatte sie etwas wirklich Wertvolles entdeckt?

Immer noch in der Hocke, mit der Hand am Bilderrahmen, blickte Lady Mary mit ungläubigem Gesicht zu Dumont auf. „Wieso, um Himmels willen, hegen Sie wegen eines solchen Bildes Befürchtungen? Es ist schön, wunderschön und überhaupt nicht schrecklich. Wieso haben Sie es mir nicht gleich gezeigt?“

Zu Johns Überraschung blickte Dumont finster darein und verschränkte abwehrend die Hände vor der Brust. „Es ist neu im Laden, Mylady, und da ich meinen Kunden gegenüber immer ehrlich bin, muss ich gestehen, dass ich weder etwas über seinen Maler noch etwas über seine Geschichte weiß. Ohne diese Informationen kann ich solch ein Bild nicht mit gutem Gewissen an Sie verkaufen.“

„Sie können es mir nicht verkaufen?“ Ihre Augen wurden schmal und sie dachte mit geneigtem Kopf scharf über diese Brüskierung nach. Dabei schwang ihr Perlenohrring leicht gegen ihre Wange. „Können oder wollen Sie es nicht?“

„Was immer Ihnen gefällt, Mylady.“ Dumont schnappte sich das Bild und schob es außerhalb ihrer Reichweite hinter den Ladentisch. „Aber zu meinem Bedauern muss ich fest bleiben. Das Bild ist nicht käuflich.“

John reichte es jetzt.

„Dumont, Dumont, was ist bloß über Sie gekommen?“, sagte er und trat aus seiner Fensternische. „Sie sind doch eigentlich zu vernünftig, um einer Dame solch einen Wunsch abzuschlagen. Ich versichere Ihnen, Mylady, normalerweise hat er bessere Manieren.“

Sofort richtete sie sich auf, und ihre Hände schlossen sich fester um den Griff des Sonnenschirms. „Verzeihen Sie, ich glaube nicht, dass ich Sie kenne.“

Dumont seufzte und wedelte gereizt mit der Hand. „Lady Mary, Lord John Fitzgerald.“

„Es ist mir eine Ehre, Mylady.“ Den Merkur immer noch im Arm, machte John eine elegante Verbeugung. „Und ich stehe Ihnen zu Diensten, bin gerne bereit, Ihr Ritter im Kampf gegen diesen Drachen zu sein.“

Dumont, der Drache, schnaubte wütend, wenn er auch kein Feuer zu spucken vermochte.

Genauso wenig schien Lady Mary belustigt zu sein.

„Mylord!“ Ihr Gesichtsausdruck blieb frostig. „Ich erinnere mich nicht, nach einem Ritter verlangt zu haben.“

„Das brauchten Sie auch gar nicht“, erwiderte er und setzte sein gewinnendstes Lächeln auf. Dass Frauen ihn derart schroff abwiesen, war er nicht gewöhnt. Erst neunundzwanzig Jahre alt und gut aussehend, wusste John, dass er hübsch genug war, die meisten Frauen zum Lächeln zu bringen, wenn er es wollte. Es weckte ein eigenartiges Gefühl in ihm, dass Lady Mary diese Reaktion nicht zeigte. Vielleicht würde sie ihm am Ende mehr Verdruss bereiten, als sie wert war. Vielleicht war das hier eine Herausforderung, der er ab jetzt besser aus dem Weg ging.

Aber nicht sofort. „Kommen Sie, kommen Sie, Dumont. Lassen Sie mich das Bild sehen, und …“

„Ich bin absolut in der Lage, dieses Geschäft selbst zu tätigen, Lord John“, unterbrach sie ihn mit glühenden Wangen. „Ich hätte mich nicht in diesen Laden gewagt, wenn ich dazu nicht fähig wäre.“

„Es handelt sich hier kaum um eine Frage der Unfähigkeit, Mylady.“ John setzte den Merkur neben sich auf dem Ladentisch ab. „Ich dachte nur, Sie würden bei Ihren Verhandlungen mit Monsieur Dumont ein wenig Hilfe benötigen.“

„Ich benötige nichts dergleichen“, erwiderte sie scharf. „Wenn ich Dinge regeln kann, die den Haushalt und den Besitz meines Vaters betreffen, bin ich sicher auch imstande, mir ein Bild nach meinem Geschmack auszusuchen.“

Zum Teufel, womit hatte er sie denn jetzt so sehr aus der Fassung gebracht? Er gab das Lächeln auf und versuchte es mit einer anderen Taktik. „Dann ist es nicht verwunderlich, dass Ihr Vater zeigt, wie sehr er Ihnen vertraut und Sie die Geschäfte allein besuchen lässt.“

Sie zuckte leicht mit den Schultern. „Mein Vater vertraut mir so sehr, dass er mich ins Ausland schickt, während er in England bleibt. Er hegt keine Zweifel an meinen Fähigkeiten.“

„Sie reisen allein?“, fragte John. Die Überraschung machte ihn fast sprachlos. Üblicherweise schleppten junge englische Damen immer Eltern, Anstandsdamen und ältere, unverheiratete Tanten mit sich herum. „Sie sind allein hier in Calais?“

„Bitte, mein Herr, keine solche Fragen“, meinte warnend der Diener und stellte sich zwischen John und Lady Mary. Er war ein riesiges Exemplar von einem Bediensteten, kam eindeutig vom Land, und John verspürte kein großes Verlangen, Streit mit ihm anzufangen. „Ihre Ladyschaft wird sie nicht beantworten.“

Doch mit einem ungeduldigen kleinen Seufzer schob sich die Dame an dem Diener vorbei und stellte sich erneut vor John.

„Ich reise mit meiner Schwester, unserer Begleiterin und einigen Dienern“, sagte sie mit ernsten dunklen Augen. „Sie sehen also, mit ‚allein‘ meinte ich ohne Vater.“

John wusste es besser. Ohne ihren Vater oder irgendeinen anderen männlichen Verwandten reiste sie so gut wie allein – und war genauso verwundbar. Aber sie schien das nicht wahrhaben zu wollen, diese hübsche Person, die anscheinend gerne Haarspalterei betrieb.

Vielleicht war sie am Ende doch keine so große Herausforderung.

„Und während der Reise sammeln Sie Kunstwerke“, stellte er fest. „Natürlich besitzen Sie dabei das Vertrauen Ihres Vaters. Aber halten Sie sich selbst auf diesem Gebiet für une connaisseuse oder nur für une dilettante?“

Ihr Gesicht drückte Zweifel aus, genau wie John es beabsichtigt hatte. „Ich weiß weder, ob ich das eine, noch, ob ich das andere bin.“

John lächelte und fand seinen Verdacht bestätigt. Natürlich waren ihr diese ausländischen Ausdrücke nicht vertraut. Wahrscheinlich beharrte sie wie jede englische Lady eigensinnig auf ihrer Unwissenheit und konnte ein Bonjour nicht von einem Buon giorno unterscheiden.

„Oh, nun, das spielt keine Rolle“, erwiderte er freundlich. „Es war unpassend von mir zu fragen.“

„Ich bin mir meiner Unwissenheit absolut bewusst, Lord Fitzgerald“, erwiderte sie, erzürnt angesichts einer Herablassung, die er nicht ganz hatte verbergen können. „Mein Vater befürchtete immer, ich könnte zu gebildet und somit für Gentlemen reizlos werden. Also habe ich all mein Wissen heimlich von Miss Wood erhalten, wie Süßigkeiten, die man in der Küche stiehlt.“

„Verzeihen Sie mir, Lady Mary“, begann er und hoffte, sie möge nicht bemerken, dass sich die gestohlenen Süßigkeiten in seiner Vorstellung mit verlorener Unschuld verbanden. „Ich hatte nicht die Absicht …“

„Ich glaube eher, dass Sie sehr wohl die Absicht hatten“, erwiderte sie. „Tun Sie nicht, als wäre dem nicht so.“

„Ich tue nicht so“, protestierte er, obwohl er wusste, wie recht sie hatte. „Ich bin absolut aufrichtig.“

„Oh ja, so aufrichtig wie Monsieur Dumont.“ Sie trommelte mit den Fingern auf den Ladentisch, als könnte sie so auf ihr Recht pochen. „Denn sehen Sie, Lord Fitzgerald, während ich durchaus Interesse daran habe, une dilettante zu werden, ist mein Vorrat an Wissen zu klein, um verstärkt diesem Interesse nachzugehen. Und was une connaisseuse betrifft – nun, solange ich nicht die Galerien in Paris und Rom besucht und die Werke der großen Meister mit meinen eigenen Augen gesehen habe, kann ich kaum behaupten, une connaisseuse zu sein.“

„Nein“, gab John zu. Sie hatte ihn in seinem eigenen Spiel geschlagen, doch gerade deswegen mochte er sie – mochte sie sogar viel mehr, als wenn sie nur eine weitere junge Dame gewesen wäre mit einer Haut wie süße Sahne, frisch vom Bauernhof. „Nicht unter diesen Umständen.“

„In der Tat nicht“, sagte sie und lächelte wenigstens dabei. „Zurzeit bin ich nichts als eine bescheidene kleine Sammlerin, kaufe eher Bilder, die mir gefallen, als solche von Wert oder Bedeutung. Und deshalb möchte ich dieses hier gerne haben.“

„Sie werden es bekommen.“ Er wollte sie noch einmal zum Lächeln bringen. Ihre Zähne waren klein und weiß, und ein Schneidezahn stand ein wenig vor den anderen. Diese kleine Unvollkommenheit faszinierte John. „Dumont, das Bild.“

Doch der Franzose schüttelte wie zuvor verbissen mit dem Kopf. „Ich bedauere, Ihnen dasselbe sagen zu müssen, Mylord. Ich kann das Gemälde nicht verkaufen, weder der Lady noch Ihnen.“

„Aber Sie können mir doch wenigstens zeigen, was Sie da vor uns verbergen.“ Mit einer schnellen Bewegung lehnte John sich über den Ladentisch und packte das Bild am Rahmen.

„Nein, nein, Mylord, ich bitte Sie, bitte!“, schrie Dumont empört. „Es ist nicht für Sie!“

„Verzeihen Sie, Mylord, aber ich habe es zuerst gesehen!“ Das Mädchen eilte rasch an Johns Seite, als fürchtete es, er könnte sich mit dem Bild davonmachen. „Ich bin bereit, jeden Preis zu zahlen, den er verlangt!“

„Natürlich sind Sie das.“ John drehte den Rahmen zum Licht. Zum ersten Mal konnte er das Gemälde sehen, und sein Anblick genügte, um ihn vor Bewunderung einen leisen Pfiff ausstoßen zu lassen. Das war keine der üblichen Fälschungen, kein Stückwerk, schnell hingeschmiert, um an irgendeinen Banausen auf seiner großen Europareise verkauft zu werden. Noch war es die sentimentale Geschmacklosigkeit, von der er vermutet hatte, das Mädchen würde sie wählen.

Unleugbar war das Bild alt, mindestens dreihundert Jahre, und auf eine Holztafel statt auf gerahmte Leinwand gemalt. Eine italienische Arbeit, wahrscheinlich aus Florenz. Kein Künstler aus dem Norden malte so. Der Engel kniete, die vielfarbigen Federn seiner Flügel über dem Rücken auseinandergefächert, und hielt ein orangefarbenes Flammenschwert in den Händen. Sein Heiligenschein war aus dickem Blattgold, seine Gewänder hatten das strahlende Blau, das man damals nur aus zerstoßenem Lapislazuli gewann. Doch das wahre Juwel war des Engels Antlitz, das kämpferische Entschlossenheit ausdrückte – ein streitbarer Wächterengel.

„Ist es nicht schön?“, fragte Lady Mary und beugte sich etwas vor, um das Bild über Johns Arm hinweg sehen zu können. „Schändlicherweise hatte man es offenbar aus etwas Größerem herausgeschnitten, vielleicht einem Altar. Der Rahmen könnte neueren Datums sein.“

John hob erstaunt eine Braue. „Würden Sie es wagen, etwas über seine Herkunft zu sagen?“

Sie war viel zu sehr mit dem Bild beschäftigt, um zu merken, dass sie geprüft werden sollte. „Sicher eine Arbeit aus Florenz, vielleicht vierzehntes Jahrhundert. Die Farbe ist aus diesem eigenartigen Eierzeug, Tempera, nicht Öl – das erkennt man daran, wie glatt die Oberfläche ist, ohne jeden Pinselstrich. Vielleicht ein Giotto oder eine Arbeit aus der Werkstatt Fra Angelicos, wenn nicht sogar vom Meister selbst.“

„Die meisten Engländer würden einem späteren Werk von Guido Reni oder Tizian den Vorzug geben. Sie empfinden frühere Gemälde wie dieses hier als zu grob.“

Sie hob das Kinn, entschlossen, nicht rechthaberisch. „Dann sind die meisten Engländer Narren.“

Eine bemerkenswerte Antwort, dachte John. „Woher wissen Sie, dass es keine Fälschung ist?“

Ihr Blick glitt vom Bild zu John. „Ich weiß es nicht“, gestand sie zögernd. „Es könnte letzte Woche von irgendeinem talentierten Kriminellen gemacht worden sein, und ich wäre auch nicht klüger. Ich weiß nur, was ich gelesen und was ich an Stichen und Holzschnitten in Büchern gesehen habe. Und ich kenne einige alte italienische Gemälde, die ein Nachbar von uns besitzt. Daher kenne ich den Unterschied zwischen Tempera und Öl.“

„Das ist alles?“, fragte er, schon wieder überrascht. Wenn das alles die Summe ihrer Gelehrsamkeit war, dann hatte sie das Bild wirklich sehr gut eingeschätzt. „Nur, was Sie aus Büchern und von wenigen Originalen gelernt haben?“

Sie nickte und lächelte wehmütig. „Wahrscheinlich werden Sie mich jetzt auslachen, wenn ich Ihnen etwas gestehe, aber das Gemälde selbst sagt es mir. Die Farben und der Gesichtsausdruck des Engels, selbst die Verzierung am Saum seines Gewandes und das Muster auf seinen Flügeln – alles erscheint mir so zauberhaft, dass ich mir sicher bin, das Bild ist echt. Wie könnte irgendjemand solch eine Fälschung anfertigen?“

John lachte nicht. Wie hätte er auch können, wenn sie ihn mit solcher Überzeugung unter ihren dichten Wimpern hervor ansah?

„Und Sie behaupten, eine unwissende Anfängerin zu sein, Mylady“, meinte er anerkennend. „Ein Bild spricht nur zu Kunstkennern. Trotz Ihrer Unerfahrenheit besitzen Sie schon die Weisheit, ihm zu lauschen.“

„Na also, Mylord, jetzt verstehen Sie, warum ich dieses Bild nicht verkaufen kann!“

Wieder unternahm Dumont einen fruchtlosen Versuch, nach dem Bild zu greifen, das immer noch außerhalb seiner Reichweite war. „Selbst diese junge Dame erkennt seinen Wert, seine Bedeutung!“

„Was diese Dame erkennt, Monsieur Dumont, ist, dass dieses Bild mein ist“, sagte sie mit erneuter Entschlossenheit. „Beziehungsweise, dass es mein sein wird, wenn wir uns über den Preis geeinigt haben.“

„Nennen Sie ihn, Dumont“, rief John. „Was immer Sie verlangen, ich zahle es und mache das Bild der Dame zum Geschenk.“

Sie schnappte nach Luft, kniff ihre Augen zusammen und sah ihn missbilligend an. „Ganz bestimmt werde ich solch ein Geschenk von Ihnen nicht annehmen, Lord John! Ich habe vor, wie es sich gehört, selbst das Bild zu kaufen!“

„Darüber können wir streiten, wenn Dumont den Preis festgesetzt hat.“ Finster blickte John auf den Franzosen hinunter und hoffte, ihn so einschüchtern zu können. Er war sich sicher, dass Dumont mit jedem Detail, das Lady Mary beschrieb, den Preis höher und höher angesetzt hatte. Jetzt war es an John, den Preis wieder herunterzuschrauben. „Seien Sie so ehrbar, wie Sie immer behaupten zu sein, Dumont. Sie wissen, dass Sie dieses Gemälde kaum mehr verkaufen werden. Die meisten Kunden werden es für so hässlich wie die Sünde halten.“

„Es ist nicht hässlich!“, protestierte Lady Mary. „Es ist …“

„Es ist altmodisch, Dumont, und Sie wissen das“, sagte John entschieden, ohne sie zu beachten. „Ihre Ladyschaft ist nur eine enthusiastische Kunstliebhaberin, und das wissen Sie ebenfalls. Ich gebe Ihnen zehn Livres dafür.“

Dumont starrte ihn finster an. „Warum wollen Sie mir nicht glauben, Mylord? Das Bild ist unverkäuflich.“

John seufzte müde. Er bot bereits mehr, als das Bild wert war, doch aus irgendeinem rätselhaften Grund war es für ihn sehr wichtig geworden, diesen Engel für das Mädchen zu kaufen. „Nun gut, Dumont. Elf Livres, und das ist ausgesprochen großzügig.“

Dumont blickte ihn immer noch böse an. „Es tut mir sehr leid, Mylord, aber ich fürchte, ich kann nicht annehmen.“

„Sie sind ein sturer alter Schurke, Dumont.“ John blickte auf das Bild. Lady Mary hatte recht: Der Engel hatte etwas Zauberhaftes. „Ich werde Ihnen zwölf Livres geben und keinen Sou mehr.“

Dumont stöhnte und senkte den Kopf. „Mylord, Mylord, ich bedauere aus tiefstem Herzen, aber ich kann nicht …“

„Ich gebe Ihnen zwanzig Louisdor für das Bild, Monsieur.“ Lady Mary hatte bereits einen prallen kleinen Beutel aus den Falten ihres Rockes gezogen und begann, die schweren goldenen Münzen auf den Ladentisch zu zählen. „Das müsste mehr als genügen. Winters, nehmen Sie das Bild von Seiner Lordschaft entgegen. Wir nehmen es mit ins Gasthaus, damit es in guter Obhut ist.“

Der Diener griff wie befohlen nach dem Bild, doch John entzog es ihm. „Also wirklich, Dumont! Was ist jetzt aus all Ihren Begründungen geworden, derentwegen Sie es nicht an mich verkauft haben?“

„Die Dame hat mit meinen Bedenken kurzen Prozess gemacht, Mylord“, seufzte Dumont schmerzlich, als hätte es je Zweifel daran gegeben, dass seine Gier triumphieren würde. Er griff schnell nach den Münzen und ließ sie in die Innenseite seiner Weste gleiten. „Ich fühle mich geehrt und bin entzückt, dass das Bild nun ihr gehört.“

„Bitte, Mylord.“ Winters griff wieder nach dem Bild, und diesmal blieb John keine andere Wahl, als es loszulassen. Lady Mary hatte den Geldbeutel bereits in ihrer Tasche verschwinden lassen, als Dumont eine schmuddelige alte Decke herbeischaffte, die er und der Diener um das Bild schlugen.

Bald würde Lady Mary aus der Tür und in das geschäftige Treiben von Calais treten und für John auf immer verschwunden sein, so wie alle Frauen, die er auf seinen Reisen traf. Sie würde eine angenehme kleine Erinnerung hinterlassen, nicht mehr.

Doch dieses Mal, mit dieser Frau, sollte es nicht so sein, wünschte sich John. Er war nie ein großer Freund von Geheimnissen gewesen. Er hatte immer handfeste Tatsachen vorgezogen und verlangte stets nach Antworten auf seine Fragen. Jetzt wollte er wissen, wieso die Tochter eines englischen Dukes ohne große Begleitung durch Calais spazierte. Er wollte herausbekommen, wie eine so junge Dame ohne große Anleitung eine solche Kenntnis über Malerei besitzen konnte. Er wollte wissen, wieso dieses altmodische kleine Gemälde ihr so viel bedeutete, dass sie es mit einer unverantwortlich hohen Summe erwarb.

Und vor allem wollte er wissen, wie er sie wieder dazu bringen konnte, ihn anzulächeln.

Dover konnte warten. Mit einem Mal schien Calais einen längeren Besuch wert zu sein.

Er bot ihr den Arm. „Lassen Sie mich Sie zu Ihrer Unterkunft zurückbegleiten, Lady Mary“, sagte er. „Für britische Reisende kann Calais ein ziemlich unwirtlicher Ort sein.“

Sie betrachtete seinen Arm, als wäre er eine große giftige Schlange.

„Aber Sie selbst sind doch auch Brite, Lord John, oder?“, fragte sie. „Sie sind kein Franzose?“

Er seufzte und wünschte, er müsste nicht schon jetzt eine so komplizierte Frage beantworten. „Ich wurde in Irland geboren, nicht weit von Kerry. Also bin ich vermutlich mehr Brite als Franzose, Spanier oder Italiener. Aber ich verließ Irland schon vor so langer Zeit, dass ich es kaum noch als meine Heimat bezeichnen kann.“

Sie neigte den Kopf zur Seite. „Jeder hat eine Heimat, einen Ort, zu dem es ihn zurückzieht.“

„Dann nennen Sie mich einen Weltbürger“, sagte er mit einer weiten Armbewegung, als wollte er die ganze Erde umfassen. „Ich bin ein Wanderer, Lady Mary. Wo immer ich zu mir selbst finde, dort bin ich zu Hause.“

In den Ohren der meisten Frauen klang das sehr romantisch. Leider gehörte Lady Mary nicht zu ihnen.

Sie runzelte die Stirn. „Wie können Sie behaupten, nirgendwo und doch überall zu Hause zu sein? Das ergibt wenig Sinn, Lord John, wirklich sehr wenig Sinn.“

„Aber es ist wahr“, entgegnete John, entschlossen, auf seinem Standpunkt zu beharren. „Ich kann Ihnen die gastfreundlichsten Tavernen in den amerikanischen Staaten nennen, oder die unangenehmsten in Ostindien, die man besser meiden sollte, und alle anderen, die irgendwo dazwischen liegen, noch dazu. Calais ist wie ein vertrautes Dorf für mich, das ich schon oft besucht habe.“

„Dann dürften Ihnen in Calais auch sicher eine Vielfalt von Unterhaltungsmöglichkeiten bekannt sein, die nicht meine Anwesenheit erfordern.“ Sie nickte dem Diener zu, der sich anschickte, seiner Herrin die Tür zu öffnen. „Guten Tag, Lord John.“

Mit einer einzigen, graziösen Bewegung spannte sie ihren Sonnenschirm auf und hielt ihn über den Kopf. Ohne John auch nur den kleinsten Blick zu schenken, ging sie.

„Verzeihen Sie mir, Mylord“, rief Dumont hinter ihm. „Aber da haben Sie wirklich kein gutes Blatt gespielt.“

„Das Spiel ist wohl kaum vorbei, Dumont.“ Durch das schmutzige Fenster konnte John sie immer noch sehen. Sie hielt den Rücken sehr gerade, ihre Schritte waren schnell und entschlossen, und die hellen Röcke wippten bei jedem Schritt. Er würde sie wiederfinden, so viel stand fest. Es würde nicht schwierig sein. Töchter englischer Dukes waren selten in Calais. Und wenn er erst ihr Gasthaus kannte – nun, dann würde er entscheiden, was er als Nächstes tun würde.

Aber bevor er all das unternahm, hatte er hier noch einige Fragen. Fragen, die, zusammen mit den richtigen Antworten, dazu führen konnten, dass Lady Mary ihm gegenüber vielleicht wunderbar dankbar sein würde. „In der Tat, ich würde sagen, das Spiel hat erst begonnen.“

„Nicht mit dieser da, Mylord.“ Dumont schniefte und wedelte mit einem grauen Tuch über die Bronzefigur des Merkurs, den John zuvor auf den Ladentisch gestellt hatte. „Eine schöne englische Dame, ja, eine reizende junge Dame. Aber auch eine, die gewöhnt ist, nichts weniger zu bekommen, als was sie will.“

Lady Mary und ihr Diener verschwanden um eine Ecke, und John wandte sich vom Fenster ab. „Dann ist die Antwort ganz einfach, Dumont. Alles, was ich tun muss, ist, dafür zu sorgen, dass sie mich will.“

Dumont verzog die Lippen.

„Sie zweifeln daran, Dumont?“

Der Franzose zuckte die Schultern.

„Erinnern Sie sich bitte daran, dass auch ich es gewöhnt bin, zu bekommen, was ich will.“ John stützte die Arme auf den Ladentisch und brachte sein Gesicht mit Dumonts auf gleiche Höhe. „Und was ich mir in diesem Moment wünsche, Dumont, ist, genau zu wissen, was mit dem Bild nicht stimmt, das Sie gerade verkauften.“

„Nicht stimmt, Mylord?“ Dumont wich vor ihm zurück und stotterte mit etwas zu großer Empörung: „Was … was sollte denn damit nicht in Ordnung sein? Sie haben die Dame selbst gehört, wie sie sich für die Echtheit verbürgte, Mylord, und ich würde nie …“

„Es ist gestohlen, nicht wahr?“, fragte John. „Wollten Sie es ihr deswegen nicht verkaufen?“

„Was sagen Sie denn da, Mylord! Solch eine Verleumdung, solch …“

„Ja oder nein, Dumont“, unterbrach John ihn, dieses Mal noch entschiedener. „Die Dame mag ihre alten Maler kennen, aber in ihrem Alter kann man kaum von ihr erwarten, die Zeichen eines Diebstahls zu erkennen.“

Die Empörung in den Augen des alten Franzosen wich der Furcht. „Mylord, ich kann nicht sagen, wie …“

„Ja oder nein, Dumont“, wiederholte John und war jetzt überzeugt, richtig geraten zu haben. „Es ist eine Sache, irgendeiner übergewichtigen Kaufmannsgattin aus Birmingham frisch gefertigten Ramsch anzubieten und zu behaupten, er habe einmal Cäsar gehört. Etwas ganz anderes ist es aber, gestohlenes Gut an die Tochter eines Dukes zu verkaufen. Ich bin mir sicher, die Burschen im Amt des Gouverneurs unten an der Straße, mit denen nicht gut Kirschen essen ist, würden mir zustimmen.“

„Bei allem, was mir heilig ist, Mylord, ich schwöre Ihnen, ich weiß nichts von einem Diebstahl, nichts von gestohlenem Gut!“, schrie Dumont heiser. „Wenn Sie mich anzeigen, werden die mir den Laden schließen und mir all meine Sachen nehmen. Ich werde mit nichts zurückbleiben, Mylord – mit nichts! Oh, haben Sie Mitleid mit einem alten Mann!“

„Sicherlich, wenn Sie mir die Wahrheit erzählen“, entgegnete John, dem Dumonts Schauspielkünste schon zu vertraut waren, um sie noch ernst zu nehmen. „Wie kamen Sie an das Bild des Engels?“

Dumont nickte bereitwillig. „Es wurde mir letzte Woche gebracht, Mylord, von einem Ausländer, vielleicht einem Holländer. Er sagte mir, es bereite ihm Kummer, ein so schönes Bild zu verkaufen, aber seine Lage sei verzweifelt. Es ist eine ganz gewöhnliche Geschichte, Mylord.“

„Das kann ich mir vorstellen“, meinte John trocken. „Wie viel gaben Sie ihm dafür?“

„Drei Livres“, antwortete Dumont so prompt, dass John überzeugt war, der unglückliche Holländer hatte nur die Hälfte der Summe erhalten. „Wie Sie selbst bemerkt haben, Mylord, ist es ein altmodisches Gemälde und nur sehr schwer zu verkaufen.“

„Warum dann, zum Teufel, haben Sie es mir nicht verkaufen wollen?“, fragte John. „Die Wahrheit jetzt.“

Zerknirscht senkte Dumont den Kopf. „Die Wahrheit, Mylord, ist, dass ich wusste, Ihre Ladyschaft würde mir für das Bild mehr bezahlen als Sie. Und das tat sie dann ja auch.“

„Die Wahrheit, die Wahrheit.“ John seufzte und richtete sich auf. Er zweifelte nicht, dass das die Wahrheit war, oder zumindest alles, was er heute von Dumont erfahren würde. Und für dieses bisschen Wahrheit würde Lady Mary ihm keine besondere Dankbarkeit zeigen. Aber die halbe Wahrheit war besser als gar keine, und ein einziges Lächeln von Lady Mary – nun das war alle Wahrheiten von Calais wert.

3. KAPITEL

Wo bist du nur gewesen?“ Erschöpft presste Diana eine Hand gegen die Schläfe, als wäre es einfach eine zu große Anstrengung für sie, ihre Schwester zu begrüßen. Es war gestern eine stürmische Kanalüberquerung gewesen, und sie hatte länger gedauert, als man ihnen gesagt hatte. Während Mary sich als wahrer Seemann erwiesen hatte, mit einem Magen aus Eisen, litten ihre Schwester, Miss Wood und ihre Zofe Deborah so sehr unter dem Wellengang, dass man sie letzte Nacht beinahe von Bord tragen musste. Und noch bevor sie sich in ihr Gasthaus zurückziehen konnten, um sich auszuruhen oder wenigstens die Kleider zu wechseln, hatten sie beim Gouverneur ihre Namen hinterlassen müssen, wie es das französische Gesetz vorschrieb. Dann waren sie zum Zoll gegangen, wo sie warten mussten, während ihr Habe durchsucht, aufgelistet und geschätzt worden war. Die Beamten erwarteten auf Schritt und Tritt ihr Schmiergeld, hielten die Hand auf, bevor sie irgendeinem Engländer erlaubten, die Stadt zu betreten. Nach solch einer Tortur war es wirklich kein Wunder, dass die drei Frauen sich diesen ganzen Tag lang zurückgezogen hatten, um sich zu erholen.

Diana lag im Bett, gegen einen Berg von Kissen gelehnt. Obwohl es schon später Nachmittag war, waren die Vorhänge immer noch geschlossen. Ein Tablett mit einer Teetasse und kaltem Toast zeigte, dass Diana wohl versucht hatte, etwas zu sich zu nehmen, es ihr aber nicht gelungen war.

Sie stöhnte und warf mit dramatischer Geste einen Arm auf die Laken. „Oh Mary, wie sehr ich dich vermisst habe!“

„Ich habe dich auch vermisst, Lämmchen.“ Mary beugte sich vor und küsste ihre Schwester auf die Stirn. „Zumindest hast du jetzt wieder ein wenig Farbe. Du musst auf dem Weg der Besserung sein.“

„Danke.“ Diana lächelte, glücklich darüber, sie wiederzuhaben. „Wenn es auch nicht einfach war, weißt du. Miss Wood und Deborah geht es sehr schlecht, und die Diener weigerten sich, etwas anderes als dieses scheußliche Französisch zu sprechen!“

„Natürlich sprechen sie Französisch, Diana. Das hier ist Frankreich. Hättest du während unseres Unterrichts bei Miss Wood besser aufgepasst, hättest du jetzt überhaupt keine Schwierigkeiten.“ Mary ging durchs Zimmer zum Fenster, zog die Vorhänge auf und ließ das schwache Sonnenlicht in den Raum. „Ich war höchstens eine Stunde fort. Als ich dich verließ, hast du tief geschlafen.“

„Aber als ich aufwachte, warst du nicht da.“ Diana hob die Hand vor die Augen, um sich vor dem Licht zu schützen. „Es scheint, du warst viel länger als nur eine Stunde fort.“

„War ich nicht.“ Eine Stunde, wunderte sich Mary. Wieso kam es auch ihr so viel länger vor? Nur eine Stunde. Die Zeiger ihrer kleinen goldenen Uhr bewegten sich weder schneller noch langsamer als gewöhnlich, und doch war in so kurzer Zeit so viel geschehen.

Diana richtete sich in ihren Kissen etwas auf. „Keiner hat erwartet, dass du überhaupt ausgehst, jedenfalls nicht allein. Du weißt, was Vater gesagt hat.“

„Das hat er auf dich bezogen, nicht auf mich“, erwiderte Mary. „Und außerdem war ich nicht allein. Ich hatte Winters bei mir.“

„Oh, das ändert natürlich alles“, meinte Diana. „Winters, der halb verblödete Diener, Hüter unserer jungfräulichen Tugend!“

„Um mich zu begleiten, genügte er sehr wohl“, sagte Mary und war dankbar, dass das Halbdunkel des Raums ihr Erröten verbarg.

Sie hatte nur vorgehabt, außerhalb des Krankenzimmers etwas Luft zu schnappen. Doch dann entdeckte sie den interessanten kleinen Laden und erlaubte sich einen Moment, sein Inneres zu erkunden. Nur ein, zwei Minuten! Doch bevor sie merkte, was sie tat, hatte sie für eine beängstigend hohe Summe ein schönes altes Gemälde gekauft. Sie hatte alle Warnungen und guten Ratschläge ignoriert, die man ihr vor der Abreise gegeben hatte, und sich in ein Gespräch mit einem Fremden eingelassen. „Ich bin nicht du, musst du wissen.“

„Schade für dich, dass du es nicht bist“, stichelte Diana. „Ein wenig von mir würde dir nicht schaden. Du hättest mehr Spaß.“

„Ich habe genug Spaß.“ Mary nahm das Gemälde vom Tisch, wo sie es bei ihrer Ankunft hingelegt hatte. Schuldbewusst versuchte sie, nicht an den Fremden zu denken, der im Laden gegen sie geboten hatte. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie erfreut Diana wäre, wenn sie von ihm erführe. „Ich habe ein Bild von einem Engel gekauft.“

Stolz hielt sie das Gemälde hoch, um es ihrer Schwester zu zeigen. Aber sie hätte es wissen müssen.

„Wie grässlich“, sagte Diana und rümpfte die Nase. „Engel sollten Seligkeit ausstrahlen. Der da sieht aber aus, als würde er dir genauso schnell ein Bein abbeißen, wie er einen Psalm singt.“

Mary drehte das Bild, dessen schweren, goldenen Rahmen sie auf der Hüfte abstützte, zu sich um. Es erschien ihr noch außergewöhnlicher als beim ersten Anschauen. Sie liebte den ernst blickenden Engel, der bereit war, mit dem Schwert seinen Glauben, oder was immer mit dem Rest des Bildes abgeschnitten worden war, zu verteidigen.

Mehr zu dem Bild als zu ihrer Schwester meinte sie: „Du zeigst nur deine eigene Unwissenheit, Diana. Für jeden, der ein Auge dafür besitzt, ist das ein sehr seltenes und schönes Gemälde.“

Der Fremde hatte sie nicht verspottet, als sie stammelnd die Anziehungskraft beschrieb, die das Bild für sie besaß. Er schien sie sogar verstanden zu haben, was für sie mehr als genügte, um ihn sofort zu mögen. Er hatte gesagt, sein Name sei Lord John Fitzgerald, und er sei in Irland geboren. Und dass er ein Weltbürger sei, was immer das bedeuten mochte. Doch es stand außer Frage, dass seine Augen sehr blau waren und voller Lachen, selbst wenn sein Mund schicklich ernst blieb. Und dass sein Kinn fest und männlich war, sein schwarzes Haar lockig und kurz geschnitten. Was seine Rede und seine Kleidung betraf, so schien er das zu sein, was er von sich behauptete: ein Gentleman. Doch dann hatte er versucht, das Gemälde zu kaufen, um es ihr zu schenken, etwas, das ein wahrer Gentleman niemals tun würde.

Aber vielleicht war das nur ein weiterer Gegensatz zwischen England und Frankreich. Möglicherweise war es hier für einen Gentleman absolut schicklich, Damen teure Geschenke anzubieten. Möglicherweise gab es in Frankreich solche Unterhaltungen und solche Großzügigkeit jeden Tag, ohne den Hauch einer Unschicklichkeit.

Und möglicherweise war der Gedankenaustausch mit so einem charmanten Herrn der eigentliche Grund, warum sie ins Ausland hatte gehen wollen – nur, dass sie leider viel zu befangen gewesen war, um die Unterhaltung zu genießen. Es war genau so, wie Diana sagte. Sie hatte vorsichtig sein wollen, zurückhaltend. Vernünftig, wie es eben ihre Art war. Deswegen hatte er sie zweifellos für eine Pedantin gehalten, die zu schüchtern und ungelenk war. Und sie würde keine zweite Chance bekommen, nicht bei Lord John. So bald wie möglich würden sie von Calais nach Paris fahren, und weil das Leben kein Roman oder Theaterstück war, würden sich ihre Wege nicht mehr kreuzen.

„Ah, Mary, Sie sind von Ihrem Spaziergang zurück.“ Miss Wood gesellte sich zu ihnen. Sie war ebenso bleich wie Diana, aber ordentlich in ihr übliches graues Kleid mit Jacke und weißer Leinenhaube gekleidet. „Sicher hätte die frische Luft hier auf festem Boden Diana und mir auch gutgetan.“

Diana stöhnte bei dieser Vorstellung und ließ sich in die Kissen fallen. „Sie ging nicht nur spazieren, Miss Wood. Sie kaufte ein hässliches Bild.“

„Es ist nicht hässlich, Diana“, protestierte Mary. „Es ist nur nicht nach deinem Geschmack. Miss Wood soll selbst ein Urteil fällen.“

Sie drehte das Bild zu der Gouvernante hin. Miss Woods bestürzter Gesichtsausdruck sagte Mary mehr, als ihre Gouvernante jemals zu äußeren gewagt hätte.

„Wichtig ist, dass das Bild Ihnen gefällt, Mylady“, sagte die Gouvernante taktvoll wie immer. „Jedes Mal, wenn Ihr Blick darauf fällt, werden Sie sich an den heutigen Tag erinnern, den ersten unseres Abenteuers.“

Mary betrachtete wieder das Bild. Tatsächlich, es würde sie an Calais erinnern, so wie der wilde Engel sie immer an Lord John erinnern würde. Aber ein Abenteuer – nein. Dumm, dumm war sie gewesen und viel zu feige, das Abenteuer zu packen, das sich ihr angeboten hatte.

„Vielleicht können Sie uns morgen zeigen, was Sie in dieser Stadt entdeckt haben, Lady Mary“, meinte Miss Wood gerade. „Bevor wir abreisen, möchte ich gerne noch das Stadttor besichtigen. Man hält es für das wichtigste Bauwerk der Stadt, müssen Sie wissen. Wenn Sie es wünschen, könnten wir sogar noch einmal zu dem Geschäft gehen, in dem Sie das Bild gekauft haben.“

„Nein, nein!“, rief Mary aus, bestürzt über diesen Vorschlag. Was, wenn sich Lord John dort aufhielt und glaubte, sie käme zurück, weil sie ihm nachlief? Oder, viel schlimmer noch, wenn sie ihn wiedersah, er dieses Mal aber nur Augen für Diana hätte? So schien es ihr ja immer zu ergehen. Sofort schämte Mary sich für diese unwürdigen Gedanken. „Es ist nur so, da ich bereits das erlesenste Stück dieses Ladens gekauft habe, habe ich keinen Grund mehr, dorthin zurückzukehren.“

Diana ließ ein Schnauben hören. „Wenn das Bild das erlesenste war, dann habe ich überhaupt keine Lust, diesen Laden zu besuchen. Es muss hier doch eine öffentliche Parade oder einen Park geben, wo sich die Gesellschaft trifft.“

„Keine Paradeplätze für uns, Mylady, und keine Offiziere“, sagte Miss Wood und verschränkte die Hände vor dem Bauch. „Ich muss Sie nicht an die Warnung erinnern, die Ihnen Seine Gnaden mitgab, bevor wir an Bord gingen. Sie reisen zur Erbauung und um sich zu bilden. Außerdem um zu lernen, Ihr Benehmen gegenüber Männern, ganz gleich welchen Ranges und Namens, zu ändern.“

Diana schlug die Hände vor die Brust, als hätte sie soeben eine tödliche Wunde erhalten. „Hässliche Bilder und blöde Tore und das über Monate und Monate und Monate. Wie soll ich das nur überleben?“

„Mit Anmut und Würde, wie es Ihrem Rang geziemt, Mylady.“ Miss Wood öffnete die Fenster und ließ eine frische Brise ins Zimmer, die nach Meer duftete. „Übrigens, ich denke, dass wir schon übermorgen Calais verlassen werden. Da dürfte kaum Zeit für irgendwelche Tändeleien bleiben, ganz gleich, wie entschlossen man sie auch plant.“

„Sie sind grausam, Miss Wood!“, schrie Diana und schleuderte eines der Kissen quer durch den Raum nach der Gouvernante. „Zu, zu grausam!“

„Das sagten Sie schon oft, Mylady.“ Gelassen hob Miss Wood das Kissen vom Boden auf und legte es ans Fußende des Bettes zurück. „Aber Sie haben meine Entscheidungen zu akzeptieren, besonders jetzt. Hier im Gasthaus wartete ein Brief auf mich. Er war von Monsieur Leclair, dem Herrn, den Seine Gnaden als unseren Fremdenführer engagiert hat. Monsieur Leclairs Mutter ist ernsthaft krank geworden. Er bittet uns um Verzeihung und um unser Verständnis, bis er diese Angelegenheit geregelt hat. Anstatt uns hier in Calais zu erwarten, wird er uns, mit unserem Einverständnis, in Paris treffen.“

„Natürlich hat er unser Einverständnis“, sagte Mary. „Arme Madame Leclair! Sie sollte ihren Sohn bei sich haben. Wir kommen auch gut allein von hier nach Paris.“

Diana lächelte Mary ironisch zu. „Du bist ja so unabhängig, Mary.“

„Das ist eine sehr nützliche Eigenschaft, Diana“, entgegnete Mary, „besonders beim Reisen.“

Miss Wood nickte zustimmend. „Das ist wahr, Mylady. Wir werden unsere zwei Tage hier in Calais genießen und dann nach Paris aufbrechen. Diese Reiseroute hat sich bei Seiner Gnaden Ihrem Vater bewährt, und wir werden ihr folgen, auch ohne dass Monsieur Leclair uns führt.“

Zwei Tage, dachte Mary mit Bedauern, und einer dieser Tage war schon fast vorüber. Miss Wood und Vater hatten klug daran getan, dafür zu sorgen, dass in Calais überhaupt keine Zeit für hinterlistige Manöver blieb. Nur in einem hatten sie sich verrechnet: nämlich darin, welche Tochter gerne ein hinterlistiges Manöver ausführen würde.

„Oh, Monsieur, ich glaube nicht, dass ich das erlauben kann“, sagte Madame Gris, die Frau des Wirtes. Sie bewachte den Eingang zum privaten Esszimmer so gewissenhaft wie eine königliche Wache. Der „Coq d’Or“ musste auf seinen Ruf als respektables Haus achten, besonders wegen der englischen Gäste. „Die junge Dame speist allein und wünscht, nicht gestört zu werden. Ihre Gouvernante und ihre Schwester – le mal de mer, die Seekrankheit, verstehen Sie?“

„Aber das ist doch ein Grund mehr, Madame, warum die Dame etwas Gesellschaft braucht.“ John sah auf das Bukett nieder, das er Lady Mary mitgebracht hatte. Es war ein Strauß aus Nelken und Rosen mit rotem Stoffband. Eben ein Bukett, wie die Franzosen es so hübsch zu arrangieren verstanden. Zu einer anderen Zeit hätte er die Blumen einfach geschickt, doch sollte sich die Sache hier im günstigen Falle zu einer kleinen Tändelei entwickeln. Es war also besser, seine kleine Aufmerksamkeit persönlich vorbeizubringen.

Aber Madame Gris schüttelte noch immer den Kopf. „Dies hier ist keines der skandalösen Häuser, in denen man Stelldicheins verabredet, Monsieur.“

„Lassen Sie die Tür offen, Madame, und lauschen Sie jedem Wort, das zwischen uns gewechselt wird“, sagte John und legte dabei die Hand aufs Herz. „Ich schwöre Ihnen, keine einzige Unschicklichkeit wird über meine Lippen kommen.“

Die Frau des Gastwirts musterte ihn ungläubig. Dann warf sie den Kopf zurück und lachte laut.

„Sie lachen über mich, Madame?“, fragte John, bemüht, verletzt zu klingen. Doch er musste in ihr Lachen einstimmen. Noch nie hatte er Ernsthaftigkeit vortäuschen können, und auch heute Morgen gelang es ihm wieder einmal nicht. „Sie lachen über meinen bescheidenen Anzug?“

„Bescheiden, ha“, sagte sie und stupste ihn mit dem Finger. „Ich wette, dass Sie noch nie in Ihrem Leben in irgendeiner Weise bescheiden waren, Monsieur! Los, gehen Sie schon. Bringen Sie der Dame Ihren Blumenstrauß und legen Sie ihr Ihr Herz zu Füßen. Aber denken Sie daran: Die Tür bleibt offen, und wenn ich von ihr auch nur einen Pieps höre …“

„Keinen Pieps, Madame“, versprach John und zwinkerte ihr verschmitzt zu, während er an ihr vorbeischlüpfte. „Und meinen zutiefst empfundenen Dank für Ihr freundliches Verständnis.“

Madame Gris lachte und versetzte John wieder einen kleinen Stoß. Ihr vergnügtes Lachen folgte ihm, während er den Flur hinunter auf den kleinen privaten Salon zueilte. Schon seit zweihundert Jahren hieß dieses Haus seine respektablen Gäste willkommen. Die breiten alten Dielenbretter knarrten unter Johns Füßen, und der weiß gekalkte Raum vor ihm schien regelrecht zu strahlen. Die Fenster mit dem rautenförmigen, bleigefassten Glas standen weit offen, und helles Sonnenlicht fiel auf das Mädchen.

Lady Mary saß, mit dem Rücken zur halb offenen Tür, in einem gedrechselten Lehnstuhl. Ihr Haar war zu einem losen Knoten aufgesteckt, und der Sonnenschein ließ einige Strähnen, die sich gelöst hatten, tiefrot schimmern. Sie trug ein einfaches, weißes Leinenkleid, dessen Schleppe hinten zu einer großen grünen Schleife gebunden war. Es stand Lady Mary gut. Die Einfachheit passte zu ihrer cremeweißen Haut, dem dunklen Haar, und der üppige Rock, der in der Sonne fast durchsichtig aussah, bauschte sich weich zu Füßen des Stuhls.

Doch was als Allererstes seine Aufmerksamkeit angezogen hatte und John noch immer fesselte, war die feine Linie ihres Halses, neben dem auf beiden Seiten die Perlenohrringe leise hin und her schwangen. Wenn sie so den Kopf leicht über ihr Gedeck beugte, erschien ihr Nacken makellos, von einer fast herzzerreißenden Verletzlichkeit.

John verlagerte sein Gewicht etwas, gerade so viel, dass die Dielen unter seinen Füßen knarrten. Mary fuhr in ihrem Stuhl herum und hielt den Atem an. Die Scheibe Marmeladenbrot in ihrer Hand schien sie vergessen zu haben.

„Sie!“, rief sie, und eine zornige Röte stieg ihr ins Gesicht. „Wie sind Sie hierher gekommen? Wie konnten Sie mich finden?“

„Bitte beruhigen Sie sich, Lady Mary! Ich bitte Sie!“, erwiderte er und machte mit der einen Hand eine beruhigende Geste, während er mit der anderen die Blumen hob. Zu Madame Gris hatte er gesagt, sie könnte das Treffen unterbrechen, wenn sie Einwände von ihrem Gast hörte. Und er zweifelte nicht daran, dass die Frau des Wirts genau das mit Vergnügen tun würde. „Ich will Ihnen nicht das Geringste antun!“

„Oh nein, nein, so habe ich das auch nicht gemeint.“ Immer noch das Brot in der Hand, erhob sie sich hastig. „Es ist nur, weil Sie mich überrascht haben, aber ich bin nicht böse. Nicht im Geringsten, nicht als … oh verflixt!“

Glänzend rote Marmelade war von dem Brot in ihrer Hand auf ihren Arm getropft. Um Haaresbreite hatte er den weißen Ärmel verfehlt. Sie legte das Brot auf den Teller, nahm die Serviette vom Tisch und legte sie über die Marmelade. Dann drückte sie das Tuch so fest gegen ihren Arm, als fürchtete sie, die Marmelade könnte vielleicht irgendwie entkommen und sie erneut blamieren.

John lächelte; nicht nur, weil er wusste, dass er der Grund für Marys Verwirrung war, sondern weil dieses Erröten und diese Fassungslosigkeit eine Seite von ihr zeigten, die er bei Dumont nicht kennengelernt hatte. Dort hatte sie sich so gut unter Kontrolle gehabt, dass sie ihm das Gemälde wegschnappen konnte. Jetzt aber – jetzt war sie völlig durcheinander und alles anscheinend nur wegen eines Tropfens Marmelade.

„Sie müssen wissen, Mylord, ich bin nicht so“, gestand sie. „Normalerweise nicht. Überhaupt nicht.“

„Ich auch nicht“, sagte er. „Zu dieser unheiligen Stunde hier aufzutauchen, Madame Gris um Einlass zu bitten, junge Damen beim Frühstück zu erschrecken – das sieht mir wirklich nicht ähnlich.“

„Natürlich nicht.“ Um sicherzugehen, dass der Tropfen Marmelade wirklich verschwunden war, rieb sie sich ein letztes Mal mit der Serviette über den Arm, knüllte sie zusammen und stopfte sie unter den Rand ihres Tellers. „Gestern wollte ich Ihnen nicht erlauben, mich zu begleiten, aber wenn Sie mich jetzt fragen würden, ob Sie mit mir frühstücken dürfen – auch wenn es nur ein mageres Frühstück ist, ohne Eier und Schinken – nun, ich wäre einverstanden.“

„Wirklich?“ Wie zuversichtlich er zuvor auch gewesen sein mochte, diese Einladung hatte er nicht erwartet. Nicht, dass er vorhatte, sie anzunehmen. Da er erwartete, ihre Gouvernante oder ihre Schwester könnten sich jeden Augenblick zu ihr gesellen, hätte er sie lieber nach draußen gelockt, fort von dem Gasthaus, dorthin, wo er sie für sich haben würde. „Sie würden schließlich doch noch mit mir spazieren gehen?“

„Ja.“ Wenigstens lächelte sie, wenn auch nur für einen Moment. „Man hat nicht oft die Gelegenheit, seine Fehler zu korrigieren. Diese Blumen sind entzückend. Sind sie für mich?“

Mit der gleichen Verbeugung, die ihm gestern nur Verachtung eingebracht hatte, überreichte er ihr die Blumen. Mit einem kleinen glücklichen Lachen nahm sie den Strauß und hielt ihn im Arm.

„Blumen nehmen Sie also an“, neckte er sie, „aber kein Bild.“

Sie betrachtete die Blumen und sah dann wieder zu ihm. „Vermutlich ist das ein Widerspruch, nicht wahr?“

Er zuckte die Achseln. „Nur ein kleiner. Das Leben ist voller Widersprüche. Keiner ist wirklich von Bedeutung.“

„Aber dieser hier schon“, erklärte sie und war wieder die ernsthafte Lady von gestern. „Das Gemälde gibt es schon seit ein paar hundert Jahren – und mit etwas Glück noch viel länger. Diese Blumen aber, auch wenn sie noch so hübsch sind, werden nicht länger als ein oder zwei Tage halten. Was sie zu einem viel passenderen Geschenk von Ihnen für mich macht.“

„Lady Mary!“ Er bemühte sich, verletzt auszuschauen. „Wollen Sie damit sagen, dass meine Bewunderung für Sie nur ein oder zwei Tage andauern wird?“

„Bewunderung, ha!“, spottete sie. „Um mich zu bewundern, müssen Sie mich kennenlernen. Und für beides werden Sie wohl kaum mehr Zeit haben. Kommen Sie ans Fenster. Sehen Sie diese Männer im Hof, dort bei dem blauen Gefährt?“

Er stellte sich neben sie, genau so, wie sie es ihm gesagt und genau so, wie er es sich gewünscht hatte. Das Fenster war schmal, und wenn er zusammen mit ihr hindurch schauen sollte, musste er so dicht bei ihr stehen, dass er ihren Duft von Lavendelseife riechen konnte.

„Ich sehe“, sagte er gleichmütig, als wäre neben ihr zu stehen, ohne sie berühren zu können, keine raffinierte Art von Folter.

„Das ist unsere Kutsche“, erklärte sie, „oder besser, die Kutsche unseres Vaters. Obwohl er sich bitter über den französischen Zoll beklagt hat, den er für das Privileg dieser Bequemlichkeit hat zahlen müssen. Sie kam in Einzelteile zerlegt mit dem Schiff aus England. Wenn die Männer sie zusammengebaut haben, sind wir bereit zur Weiterfahrt nach Paris.“

„Für weniger Geld, als ihn der Zoll gekostet hat, hätte er hier einen Einspänner mieten können.“ John hatte bereits von den wohlhabenden und wenig mutigen Engländern gehört, die lieber ihre eigenen Kutschen auf den Kontinent mitbrachten. Bis jetzt hatte er aber noch nie eine mit eigenen Augen gesehen. „Auf Ihren Kutscher wartet eine aufregende Zeit, wenn er dieses Ungetüm über die französischen Straßen manövrieren muss. Monsieur Dessin verleiht saubere Einspänner für einen Louisdor die Woche.“

Mary seufzte. „Vater hat kein Vertrauen zu Mietkutschen. Er würde noch nicht einmal eine Postkutsche benutzen. Er sagt, sie seien nicht sicher und die Polster würden Fliegen und Wanzen beherbergen.“

„Stattdessen lässt er lieber eine Kutsche ganz für Sie allein herbringen“, sagte John. Fast hatte er Mitleid mit der behüteten Mary. „Gäbe es einen besseren Weg, Ihnen jeden echten Kontakt mit den Leuten, geschweige denn mit den Wanzen eines Landes zu ersparen, durch das Sie fahren?“

„Es war Vaters Entscheidung“, erwiderte sie. John mochte die Art, wie sie zum Ausdruck brachte, dass sie in dieser Sache mit ihrem Vater nicht einer Meinung war. „Sie können sich vorstellen, wie viel Überredungskunst nötig war, bis er mir erlaubte, Kent zu verlassen, geschweige denn, allein nach Frankreich zu reisen.“

Er lächelte und dachte daran, was für einen Unterschied es da zwischen den Söhnen und Töchtern aus gutem Hause gab, besonders, wenn Reichtum diesen Unterschied noch größer machte – oder Armut. „Mein Vater hatte es so eilig, mich aus dem Haus zu bekommen, dass er mich auf ein Schiff nach Kalkutta setzte, als ich vierzehn war. Alles, was ich besaß, passte in einen einzigen Koffer.“

„Kalkutta!“, sagte sie erstaunt. „Oh, was für Abenteuer müssen Sie da erlebt haben!“

„Oh, so einige“, sagte er leichthin, denn die meisten seiner Abenteuer bei der East India Company waren nicht von der Art, dass er ihr darüber erzählen mochte. „Wahrscheinlich mehr als Sie erleben werden, wenn Sie brav in Papas Kutsche bleiben.“

„Aber ich habe schon zwei Abenteuer erlebt, Mylord.“ Wie am Tag zuvor, hob sie herausfordernd das Kinn. „Und Sie sind sogar dabei gewesen.“

„Helfen Sie mir auf die Sprünge.“

Sie lachte, und ihre Augen funkelten geheimnisvoll. „Gestern kaufte ich mein erstes Bild.“

„Oh, das Bild.“ Er musste mit ihr über dieses Gemälde reden, über seinen Verdacht und über Dumont – all das zusammen würde sicher als Abenteuer durchgehen. Das war auch der eigentliche Grund gewesen, wieso er sich erlaubt hatte, sie hier zu besuchen. Aber jetzt, wo er hier war und sie ihm Geheimnisse erzählte, sollte ihn kein Gemälde ablenken. „In Kent, vermute ich, würde man das als ein Abenteuer betrachten. Trotzdem fürchte ich mich fast, nach dem zweiten zu fragen.“

„Das sollten Sie nicht“, sagte sie, und wieder senkte sie die Stimme zu einem atemlosen Flüstern. „Mein zweites Abenteuer war mein Zusammentreffen mit Ihnen.“

„Sie schmeicheln mir, Mylady.“ Entzückt über ihre Antwort, lachte er leise. Aus welchem Grund auch immer, was das Weglaufen vor ihm betraf, so hatte sie sich eines Besseren besonnen, das war klar. Jetzt schien es, als wäre sie praktisch bereit, ihm in die Arme zu sinken – wenn auch immer noch zu ihren eigenen Bedingungen. Er nahm ihr die Blumen aus dem Arm und warf sie auf den Tisch, ohne dabei den Blick von Mary zu wenden. „Ich würde nicht sagen, dass wir ein Abenteuer miteinander erlebt haben. Noch nicht.“

„Miss Wood hat entschieden, dass wir morgen abreisen werden.“ Wehmütig sah sie wieder zu den Männern hinunter, die im Hof die Kutsche zusammenbauten. „Da bleibt nicht viel Zeit für ein … für ein richtiges Abenteuer, nicht wahr?“

Lässig strich John ihr eine Locke aus der Stirn, die sich gelöst hatte, und fuhr ihr mit den Fingerspitzen von der Schläfe hinunter zur Wange. „Das hängt davon ab, Mylady, wie verwegen Sie sind.“

„Ich will verwegen sein, Mylord“, sagte sie leidenschaftlich. „Fragen Sie mich noch einmal, ob ich mit Ihnen spazieren gehen will. Vorhin sagte ich es Ihnen bereits. Ich werde mitgehen. Ich werde mich amüsieren und Ihre Begleitung genießen.“

Ein Spaziergang. Ein Spaziergang. Das war ihre Vorstellung von einem Abenteuer. Wie brachte die englische Aristokratie es bloß fertig, sich fortzupflanzen, wenn sie immerzu dafür sorgten, dass ihre Frauen so unglaublich unschuldig blieben?

„Seien Sie verwegen, meine Liebe“, erwiderte er weich und streichelte sanft die Haut unter ihrem Kinn. „Kommen Sie mit mir, und ich verspreche Ihnen, Sie werden Abenteuer … was, zum Teufel, ist denn das?“

Mit einem erschrockenen Aufschrei zuckte Mary vor ihm zurück und eilte wieder zum Fenster. Sie hörten bellende Hunde; Männergeschrei und kreischende Frauen. Dann lautes Knirschen, Quietschen und Pferdegetrappel. Anscheinend fuhr gerade eine enorme Kutsche vor dem Gasthaus ein.

„Ich kann nichts sehen!“, rief Lady Mary verärgert und reckte den Kopf aus dem Fenster. „Was glauben Sie, was das ist, Mylord? Was kann das sein?“

„Die Diligence aus Paris“, sagte John, ebenfalls verärgert. „Es ist die französische Postkutsche, sie nimmt aber auch Passagiere mit und ist voll gestopft mit Reisenden. Vom Diener bis zum Gelehrten, jeder nimmt die Diligence.“

„Oh, das muss ich sehen!“ Sie zog den Kopf zurück. „Wenn ich schon verwegen sein will, so muss ich jetzt hinunter auf die Straße!“ Sie packte John am Arm und zog ihn hinter sich her den Gang entlang, zur Vordertür hinaus und auf die Straße.

Auf einem niedrigen Schemel neben der Tür stand ein Bediensteter des Gasthauses und schwenkte feierlich eine Bronzeglocke als eine Art Ankündigung, als wäre der übrige Lärm nicht schon Ankündigung genug. Eine kleine Menge hatte sich bereits eingefunden. Einige hatten Koffer und Bündel mit ihrer Habe dabei und warteten darauf, einsteigen zu können. Andere waren gekommen, um Passagiere willkommen zu heißen, und noch mehr Menschen in Lumpen warteten mit ausgestreckten Händen auf milde Gaben. Endlich hatte sich die schwerfällige Diligence ihren Weg durch die Menge gebahnt und kam rumpelnd vor dem Gasthaus zum Stehen. Die vier erschöpften Pferde im Geschirr waren mit Schaum und Schmutz bedeckt, und der Kutscher sah nicht viel besser aus. Teilnahmslos ließ er die Peitsche herunterhängen.

„Was für eine merkwürdige Kutsche!“, rief Mary, die jetzt neben John stand. „Solch ein Ding hätte ich nie zu sehen bekommen, wenn ich in Kent geblieben wäre!“

Es war ein wunderbares Schauspiel. Mit den dicken Holzrädern und den paarweise angespannten Pferden ähnelte die Diligence ihren englischen Verwandten. Doch die Kutsche selbst war lang und flach und nicht aus Brettern gebaut, sondern aus eng miteinander verflochtenen Latten, mit einem kleinen, überdeckten Raum, der vorne ein gewölbtes Dach besaß, das den Fahrer schützen sollte. Die Fahrgäste, die dicht gedrängt drinnen und oben drauf saßen, ähnelten Eiern, die man in einen Korb gepackt hatte, um sie zum Markt zu bringen.

Und die Fahrgäste waren auch eine bunte Schar. Da gab es halb betrunkene Seeleute, denen lange Zöpfe den Rücken hinunter hingen, und zerlumpte Soldaten, wie man sie auch an jeder englischen Küste finden konnte. Doch da waren auch zwei dicke Mönche in braunen Kutten, eine mürrisch dreinblickende Frau in einer rot gestreiften Jacke, die einen Käfig voller zwitschernder Kanarienvögel trug, ein alter Mann mit altmodisch großer weißer Perücke und einem Muff aus Kaninchenpelz, der so groß war, dass er ihm bis auf die Knie hing. Mary war umgeben von einer Flut französischer Wörter, Ausrufe und wie es schien auch von Flüchen. Und das alles in Dialekten, die kaum mit dem Französisch Ähnlichkeit hatten, das sie in ihrem Schulzimmer gelernt hatte.

„Kann die Pariser Diligence als ein weiteres Abenteuer gelten, Mylady?“, fragte John. Er lächelte ihr derart nachsichtig zu, dass sie sich eher wie ein Kind vorkam, das vor einem Schaufenster voller Süßigkeiten begeistert auf und ab sprang, als wie eine Dame von Welt, die sie sich so zu sein bemühte.

Entschlossen richtete sie sich noch gerader auf. „Es wäre ein Abenteuer, wenn ich in ihr nach Paris reisen würde. Wenn ich mir vorstelle, was Vater dazu sagen würde!“

Er lächelte ihr ermutigend zu. „Dann tun Sie es doch. Der Kutscher und die Postillione werden hier die Pferde wechseln, wenden und wieder nach Paris zurückfahren. Ich komme mit Ihnen – als Begleitung. Sie werden jede Menge Anstandsdamen haben, damit Ihre Ehre keinen Schaden erleidet. Sie können Ihr Französisch ungemein verbessern und ganz bestimmt ein richtiges Abenteuer erleben.“

Sie starrte zu ihm auf. Die Versuchung war größer, als sie es sich einzugestehen wagte. „Aber wir haben keinen Proviant, kein Essen, kein …“

„Mittag und Abendessen sind im Fahrpreis eingeschlossen“, sagte er. „Und ich garantiere Ihnen, auch diese Verköstigungen werden keinen Mahlzeiten ähneln, die Sie in Kent erhalten würden.“

„Nichts von alledem ist wie in Kent“, meinte Mary lachend. Noch nie hatte sie auch nur im Traum an so etwas Skandalöses gedacht, wie Tag und Nacht zusammen mit einem Mann, den sie kaum kannte, in einer öffentlichen Kutsche zu reisen. Und doch schien es ihr weniger skandalös als, nun, verwegen zu sein.

„Dann kommen Sie mit mir“, bat er. „Seien Sie mutig. Das hier ist Calais, nicht Ihr braves Kent. Niemand kennt Sie hier, keinen kümmert es, was Sie tun. Wann bietet sich Ihnen so eine Gelegenheit noch einmal?“

Immer noch lachend schüttelte sie den Kopf. Was war es nur, dass der lächerlichste Vorschlag, den man ihr je gemacht hatte, aus seinem Mund so schrecklich verlockend klang? Hätte es sich um Diana und einen ihrer Liebhaber gehandelt, Mary wäre entsetzt gewesen.

„Mögen Sie Erdbeeren, Mylady?“, fragte er unvermittelt. Er hob die dunklen Brauen und hielt ihr die zu einer Schale geformten Hände hin, als böte er ihr eine riesige Erdbeere zum Genuss an. „Saftig und süß auf der Zunge, frisch wie der morgendliche Tau im Mund?“

„Wie bitte?“, sagte sie und lachte wieder. Noch nie hatte sie einen Gentleman getroffen, der sie so oft und so herzlich zum Lachen bringen konnte. Wer hätte geahnt, dass sie, die vernünftige Mary, auch einen solchen Vorrat an Lachen in sich trug? „Wieso um alles in der Welt fragen Sie mich jetzt nach Erdbeeren?“

Er trat hinter sie, legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie sanft zu der Diligence um. „Weil dort gerade eine stämmige französische Bäuerin, einen Korb voller Erdbeeren in jeder Hand, vom Dach herunterklettert.“

Auch als er keinen Grund mehr hatte, seine Hände auf ihren Schultern zu lassen, nahm er sie nicht fort. Sie fühlten sich warm an. Mary empfand ihr Gewicht als angenehm, so, als würden sie auf seltsame Art dorthin gehören.

Sie drehte den Kopf, um John anzublicken. „Ich mag Erdbeeren, Lord John“, sagte sie und stellte entzückt fest, dass seine Augen vom gleichen Blau waren wie der Junihimmel über ihnen beiden.

Er zwinkerte – zwinkerte! – ihr zu und gab ihren Schultern einen zärtlichen Klaps, bevor er auf die Bauersfrau mit den Erdbeeren zulief. Sein dunkles Haar wehte in der leichten Brise.

Hätte er eben versucht, sie zu küssen, sie hätte ihn wiedergeküsst. Die Erkenntnis verwirrte sie. Noch atemberaubender war, wenn er gleich mit den Erdbeeren zurückkehrte, konnte er sie immer noch küssen – und sie ihn.

„Lady Mary!“

Stirnrunzelnd blickte sie sich um. Sie wusste nicht, wer sie beim Namen rufen konnte. Hatte Lord John sie nicht gerade daran erinnert, dass sie eine Fremde in Calais war?

„Lady Mary, hier!“ Halb verdeckt von einer Pyramide aufgestapelter Fässer, stand der Ladenbesitzer Dumont im Schatten einer Gasse neben dem Gasthaus. Er trug einen alten Schlapphut, den er tief ins Gesicht gezogen hatte. Aufgeregt blickte er nach rechts und links, um sicherzugehen, dass niemand auf ihn aufmerksam geworden war, und winkte Mary dann zu sich.

„Wenn Sie so freundlich sein wollen, Mylady, wenn Sie so freundlich sein wollen!“, rief er mit ängstlich zitternder Stimme. „Ich muss dringend mit Ihnen sprechen!“

„Worüber, Monsieur?“ Sie zögerte, denn selbst mitten am Tag mochte sie sich nicht weit von dem geschäftigen Treiben am Eingang des Gasthofes entfernen. „Wieso wollen Sie mich sprechen?“

„Das Bild, Mylady!“ Wieder winkte er sie zu sich. „Der Engel! Haben Sie ihn noch?“

Mary machte einen zögernden Schritt auf ihn zu, nicht mehr. Rasch warf sie einen Blick über die Schulter. Wo blieb nur Lord John? „Natürlich habe ich das Bild noch. Ich kaufte es doch erst gestern von Ihnen.“

„Hat irgendjemand Sie danach gefragt, Mylady?“, erkundigte er sich eindringlich. „Weiß irgendjemand, dass es in Ihrem Besitz ist?“

„Nur die Mitglieder meiner Reisegesellschaft“, erwiderte sie, und ihr Herz schlug vor Angst schneller. Worum ging es hier nur? „Monsieur, ich glaube nicht, dass irgendetwas daran Sie …“

„Sie dürfen niemandem etwas davon erzählen, Mylady“, unterbrach Dumont sie heiser. „Erzählen Sie niemandem davon, dass das Bild jetzt in Ihrem Besitz ist, oder dass Sie es von mir gekauft haben oder auch nur, dass Sie es gesehen haben!“

„So können Sie mir nicht drohen“, rief Mary aus und versuchte, tapfer zu sein. „Ich habe Sie für das Gemälde gut bezahlt. Wenn Sie hier ein übles Spiel treiben und mir drohen, damit ich es Ihnen wieder verkaufe, also, ich habe nicht die Absicht, das zu tun!“

Der alte Mann schüttelte den Kopf. „Ich würde es nicht zurücknehmen, Mylady“, sagte er ungestüm. „Es gehört jetzt Ihnen und die Gefahr mit ihm, und ich …“

„Lady Mary!“

Diese Stimme erkannte Mary sofort.

„Miss Wood!“ Froh darüber, Dumont und seine beunruhigenden Andeutungen verlassen zu können, wandte sie sich rasch um. „Oh, Miss Wood, wie freue ich mich, dass Sie sich besser fühlen!“

„Was ich fühle, Mylady, ist die unbeschreibliche Erleichterung, Sie unversehrt vorzufinden.“ Sie eilte herbei und packte Mary energisch am Arm. „Aber sehen Sie sich nur an, Mylady. Ohne Hut und Sonnenschirm, die Sie vor der Sonne schützen, sind Sie auf die Straße gelaufen! Kommen Sie jetzt herein und machen Sie sich fertig, damit wir gehen können.“

„Gehen?“, fragte Mary verwirrt. In ihrer besten Jacke war die Gouvernante nicht zum Spazierengehen angezogen, sondern reisefertig. „Wo gehen wir hin, Miss Wood? Möchten Sie das Tor von Calais besuchen?“

„Wir verlassen Calais sofort, Mylady“, rief Miss Wood. „Ich habe genug von diesem elenden Gasthof und den unerträglichen Leuten, denen er gehört. Man sagte mir, unsere Kutsche stehe bereit. Da wir jetzt nicht mehr auf Monsieur Leclair warten müssen, werden wir abreisen, sobald Sie anstandsgemäß gekleidet sind. Beeilen Sie sich, bitte. Wir sollten möglichst eine große Strecke zurücklegen, bevor die Dunkelheit hereinbricht.“

„Jetzt?“, fragte Mary matt und sah an Miss Wood vorbei, um die Straße nach Lord John abzusuchen. Die Diligence war nun leer, nur noch wenige Leute standen um sie herum. Aber wo war die Bauersfrau mit den Erdbeerkörben, und wo war Lord John?

„Was ist, Lady Mary?“, erkundigte sich die Gouvernante besorgt. „Fühlen Sie sich nicht wohl? Sie sehen aus, als hätten Sie ohne Ihren Hut hier draußen zu viel Sonne abbekommen. Ihre Wangen sind gerötet.“

„Ich erwartete einen … einen Freund, Miss Wood“, sagte sie. Vielleicht hatte er wegen der Erdbeeren der Frau hinterhergehen müssen. Vielleicht hatte sie ihm keine verkaufen wollen, und er war woandershin gegangen. Er würde sie doch nicht gleich im Stich lassen, wenn sie ihm einmal den Rücken zuwandte. „Einen Freund.“

„Einen Freund, Mylady?“ Miss Wood runzelte die Stirn. „Verzeihen Sie, Mylady, aber welchen Freund könnten Sie hier in Calais haben?“

Ja, welchen Freund? Mary schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht glauben, was sie doch mit eigenen Augen sah. Dass er nämlich nicht da war. Vielleicht war es so am besten. Sie hätte Lord John wohl kaum Miss Wood vorstellen können und noch weniger ihrer Schwester. Und so war ihrem guten Ruf eine gemeinsame Reise mit ihm in einer überfüllten Postkutsche erspart geblieben. Es würde kein Adieu gegeben und keine Gewissensbisse. Da war nur dieser kleine Stich der Enttäuschung, aber auch der würde bald vergangen sein.

Ihr Lächeln war wehmütig und ihre Gefühle bittersüß. Kein Lachen mehr, keine versprochenen Erdbeeren, die süß und saftig auf der Zunge zergingen. Keine Abenteuer.

Sie sah zu der Mauerecke hinüber, wo Monsieur Dumont sie wegen des Gemäldes gewarnt hatte. Er war jetzt auch verschwunden. Gut möglich, dass sie sich das alles nur eingebildet hatte, oder nicht?

„Kommen Sie, Lady Mary“, sagte Miss Wood und geleitete sie zum Gasthof zurück. „In der Zwischenzeit wird Deborah Ihren Koffer gepackt haben, und auch Lady Diana sollte wohl fertig sein.“

Doch gerade als sie zusammen mit Miss Wood die Treppe hinaufsteigen wollte, eilte Madame Gris herbei. Sie hielt das schöne Bukett aus Rosen und Nelken im Arm.

„Einen Moment, Mylady, bitte!“, rief sie. „Sie haben die Blumen hier im Salon vergessen, Mylady, und auch noch so schöne.“

Miss Wood warf Mary einen äußerst durchdringenden Blick zu. In ihrem Gesicht konnte man all ihre unausgesprochenen Fragen lesen.

„Es tut mir leid, Madame“, sagte Mary langsam, „aber ich fürchte, Sie irren sich. Diese Blumen waren nicht für mich.“

Die Wirtin hob die Augenbrauen. „Aber, Mylady, ich bin sicher, dass …“

„Nein, Madame“, sagte Mary. „Dieses Bukett war nicht für mich bestimmt. Genauso wenig wie der Herr.“

4. KAPITEL

John stand auf der Straße, in der einen Hand das Erdbeerkörbchen, in der anderen einen kleinen Zinneimer voll Schlagsahne. Er kam sich nicht gerade wie ein Narr vor – dazu brauchte es mehr –, aber glücklich war er auch nicht.

Wohin war Lady Mary bloß verschwunden?

Wieder warf er einen Blick zurück auf den Coq d’Or und hoffte, sie dort stehen zu sehen, wo er sie zurückgelassen hatte. Aber dieses Mal stand Madame Gris höchstpersönlich in der offenen Vordertür und befahl einem Diener mit einem Schrankkoffer, ihn hinters Wirtshaus zu tragen. Madame legte ein schroffes Betragen an den Tag, das ihre Gäste selten zu Gesicht bekamen. Doch die zu dieser Situation ganz und gar unpassenden rosa und weißen Blumen in ihrem Arm nahmen dem Befehl etwas die Schärfe. Es war dasselbe Bukett, das John kurz zuvor Lady Mary verehrt hatte.

„Madame Gris!“ Das Erdbeerkörbchen schwang hin und her, als er auf sie zustürzte. „Haben Sie Lady Mary gesehen?“

Madames Gesichtsausdruck schien leichtes Mitleid auszudrücken, kein gutes Omen.

„Ja, Mylord, ich habe sie gesehen“, sagte sie. „Sie sagte mir, sie wolle die Blumen nicht, und Sie wolle sie auch nicht.“

Er konnte es nicht glauben. Nicht, nachdem sie sich offensichtlich doch so gut unterhalten und seine Gesellschaft genossen hatte. Sie konnte das nicht nur vorgetäuscht haben. Für so eine Heuchelei war sie zu jung und zu unerfahren. Gerade das machte für ihn doch einen großen Teil ihres Zaubers aus. Aber was hatte sie dann so schnell ihre Meinung ändern lassen?

„Sind Sie sicher, Madame?“, fragte er. „Sie hat keine Nachricht für mich hinterlassen?“

„Nein, Mylord.“ Madame schob die Blumen von einem Arm in den anderen. „Aber ihre Anstandsdame war bei ihr, diese kleine, unscheinbare Frau. Sie könnte Ihrer Ladyschaft befohlen haben, mitzukommen. Sie werden gleich abreisen, in ihrer eigenen großen Privatkutsche.“

„Oh ja, die Kutsche.“ Sie würde so nach Paris fahren, wie ihr Vater es gewollt hatte, eingesperrt in einen glänzenden Kokon aus englischem Geld und Privilegien. „Natürlich.“

Madame Gris nickte wissend. „So eine vornehme englische Dame – die hat keine andere Wahl, nicht wahr? Sie muss den heiraten, den ihr Vater ihr bestimmt, nicht wahr?“

Jetzt kam er sich mit den Erdbeeren und der Schlagsahne in seinen Händen wirklich dumm vor. Lady Mary mochte mit ihm lachen und voller Begeisterung über alte Bilder reden. Sie mochte so tun, als dächte sie darüber nach, mit ihm in einer einfachen Postkutsche nach Paris durchzubrennen, und ihn dabei so sanft anlächeln, dass er sich einbildete, sie hätte noch keinen Mann je so angelächelt – doch am Ende würde sie wieder nach England zurückkehren, wo sie hingehörte.

Und nicht ihre Zeit mit dem heimatlosen Sohn eines verarmten irischen Marquis vertrödeln.

„Verzeihen Sie, wenn ich frage, Mylord, aber was soll ich mit den Blumen hier machen?“

„Was immer Sie wollen, Madame, denn ihr gefielen sie nicht.“ Er stellte das Körbchen mit den Erdbeeren und das Eimerchen voll Sahne auf die Bank neben der Tür. „Und das Gleiche machen Sie mit diesem Zeug hier. Wenn Sie mich nicht will, wird sie für die Früchte da wahrscheinlich auch keine Verwendung haben.“

Fest entschlossen, Lady Mary zu vergessen, wie sie ihn vergessen hatte, wandte er sich ohne ein weiteres Wort zum Gehen.

Mary saß, einen Fächer aus Elfenbein in der Hand, in einer Ecke der Kutsche, Diana in der anderen und ihnen gegenüber, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, war der Platz von Miss Wood. Die Lederpolster waren für die Reise mit frischer Schafswolle gestopft worden, und die modernen Stahlfedern unter der Kutsche, die das Holpern während der Fahrt dämpfen sollten, hatte man eigens eingebaut. Die Glasfenster der Kutsche waren heruntergeschoben und ließen die frische Seeluft und den sommerlich-süßen Duft der grüngelben Kornfelder herein.

Die Poststraße von Calais nach Paris war nicht schwierig zu befahren. Mary hatte die Reiseroute auf der Karte eingezeichnet, die sie mitgenommen hatte, um den Verlauf ihrer Reise aufzuzeichnen. Gasthäuser und Poststationen säumten die Straße, die alle gut ausgestattet waren, um fremde Reisende zu verköstigen.

Beim letzten Halt öffneten sie den Proviantkorb, den Miss Wood vorbereitet hatte und der wohl gefüllt war mit kaltem Huhn, köstlichem Käse und Keksen. Diana nippte auch noch am Zitronenwasser aus einem Kristallglas, das ebenfalls für sie eingepackt worden war. Auf ihrer Reise genossen sie jeden Komfort, den man sich vorstellen konnte, und doch war Mary, während sie aus dem Fenster starrte, weit davon entfernt, glücklich zu sein.

Die Diligence wäre heiß, überfüllt und unbequem gewesen, aber die Reise dafür neu und aufregend. Lord John hätte schon dafür gesorgt, und sie hätte jede laute, staubige Minute auf der Straße genossen.

Diese Kutsche hier hätte sie dagegen genauso gut von Aston Hall in die Kirche fahren können, so sehr kam sie sich wie zu Hause vor. Alles war sicher, bequem, behütet – und sehr, sehr langweilig.

Mit einem Seufzer, der bald in ein leises, pfeifendes Schnarchen überging, sank Miss Woods Kopf zur Seite, und ihre Haube mit der Krempe rutschte ihr über die Augen.

Diana kicherte und schwenkte das Zitronenwasser in ihrem Glas. „Also, Schwester“, sagte sie leise, „erzähl mir jetzt alles.“

Mary blickte demonstrativ auf Miss Wood. „Pst, Diana, du wirst Miss Wood aufwecken.“

„So leicht kommst du nicht davon, Mary“, flüsterte Diana mit funkelnden Augen. „Die Bediensteten sprachen über nichts anderes im Coq d’Or. Wer war der gut aussehende Gentleman am Frühstückstisch?“

Nachdenklich faltete Mary ihren Fächer zusammen. Je eher sie Diana die Wahrheit erzählte, desto eher würde alles wieder vergessen sein. Und außerdem war es noch nie ihre Art gewesen, Geheimnisse zu haben.

„So genau weiß ich es gar nicht“, gestand sie reumütig. „Es geschah im Vorübergehen, verstehst du? Er sagte, er sei ein irischer Lord. Aber viel mehr weiß ich nicht.“

„Ein Lord ist schon einmal eine gute Sache“, meinte Diana eifrig. „Eine sehr gute Sache. Außer er hat gelogen, natürlich. Was ihre Titel betrifft, so lügen Gentlemen immer, nur um bei den Damen Eindruck zu erwecken.“

„Gut möglich, und ich würde es nicht einmal bemerkt haben.“ Mary seufzte und kam sich einfältig vor, weil sie so vertrauensselig gewesen war. Gewöhnlich glaubte sie den Menschen, was sie ihr über sich erzählten. „Er wollte noch nicht einmal verraten, ob er ein Heim besitzt. Er behauptete, ein Weltbürger zu sein, der sich überall auf seinen Reisen wohlfühlt.“

„Überall gibt es keinen Richter, der ihn finden könnte“, sagte Diana trocken. „Doch jetzt bin ich ungerecht, nicht wahr? War er hübsch? Jung? Männlich? Voller Charme und honigsüßen Worten?“

„Oh ja“, antwortete Mary und erinnerte sich daran, wie seine Augen gelacht und gefunkelt hatten, als er sie neckte. „Und er brachte mich zum Lachen.“

Diana erhob ihr Glas und prostete Mary zu. „Das beweist deinen exzellenten Geschmack. Da du meine Schwester bist, habe ich den bei dir schon immer vermutet. Oh Mary, ich bin so aufgeregt!“

Mary schaute bedeutungsvoll zu der schlafenden Gouvernante hin. „Miss Wood weiß nichts von alledem.“

„Wie ich Miss Wood kenne, weiß sie es schon. Sie weiß alles“, flüsterte Diana verschwörerisch. „Nie kann man Geheimnisse vor ihr haben. Ihr entgeht nichts. Warum glaubst du wohl, sind wir so überstürzt aus Calais abgereist?“

Mary zog die Stirn kraus. Ihrer Meinung nach war sie, was Lord John betraf, sehr vorsichtig gewesen. Doch die Eile, mit der Miss Wood sie gezwungen hatte, Calais zu verlassen, bewies das Gegenteil. Vielleicht hatte ihre Schwester einmal recht.

Diana beugte sich näher zu ihr. „So erzähl mir doch, Mary, schnell! Wie entdecktest du diesen Vorzeige-Lord beim Frühstück? Brachte er dir Rühreier mit Speck, oder lockte er dich mit einer Kanne frischem Tee?“

„Ich traf ihn schon gestern.“ Mary lächelte versonnen. „Er versuchte, das Gemälde mit dem Engel für mich zu kaufen, aber ich wollte das nicht zulassen und überbot ihn stattdessen.“

Diana rümpfte die Nase. „Seinetwegen hast du dieses scheußliche Bild gekauft? Oh Mary, das ist eine größere Schande, als irgendein Mann ertragen kann!“

Autor

Miranda Jarrett
Hinter dem Pseudonym Miranda Jarrett verbirgt sich die Autorin Susan Holloway Scott. Ihr erstes Buch als Miranda Jarret war ein historischer Liebesroman, der in der Zeit der amerikanischen Revolution angesiedelt war und 1992 unter dem Titel "Steal the Stars" veröffentlicht wurde. Seither hat Miranda Jarrett mehr als dreißig Liebesroman-Bestseller geschrieben,...
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Anne Obrien
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