Ein höchst verführerischer Gentleman

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Mit großer Hoffnung im Herzen begibt Miss Lavinia Tempest sich in die Saison. Einen Ehemann will sie finden! Doch es ist wie verhext: Sie schliddert von einem Skandal in den nächsten. Schon bald wird die unerfahrene Schönheit vom Lande von der Gesellschaft gemieden. Nur einen Gentleman gibt es, der entschlossen scheint, ihr zu helfen. Alaster "Tuck" Rowland bemüht sich sehr, Lavinia sowohl Umgangsformen als auch Tanzschritte beizubringen, und mit jedem ihrer verschwiegenen Treffen werden Lavinias Gefühle für ihren adligen Retter zärtlicher. Sie ahnt nichts von dem grausamen Geheimnis, das hinter Tucks Bemühungen um sie steckt …


  • Erscheinungstag 09.03.2018
  • Bandnummer 102
  • ISBN / Artikelnummer 9783733779795
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

London, 1811

Lavinia ging durch den Mittelgang der Kirche und ließ den Blick durch jede Bank schweifen.

„Suchen Sie den?“ Am Altar stand die Putzfrau, die sich gleich nach der Trauung an die Arbeit gemacht hatte, jetzt jedoch einen schmucken Strauß rosa blühender Pfingstrosen in den Händen hielt.

Einen Brautstrauß, um genau zu sein.

„Oh ja, ein Glück! Haben Sie vielen Dank. Es ist mir schleierhaft, wie wir den vergessen konnten“, rief Lavinia und eilte nach vorn, um den verlorenen Schatz zu bergen.

„Sind ja schon ein paar Tränchen geflossen“, meinte die alte Frau. „Hab selbst ganz feuchte Augen bekommen. Da kann man diese Schätzchen im Eifer des Gefechts schon mal vergessen.“ Sie lächelte gerührt. „Glauben Sie mir, ich hab so einiges gesehen, und wenn reihum die Taschentücher gezückt werden, ist es fast immer eine Liebesheirat.“

„Eine Liebesheirat? Oh ja, ganz gewiss“, pflichtete Lavinia bei und nahm den verlegten Strauß entgegen.

„Und so prächtige Pfingstrosen will man ja auch nicht umkommen lassen“, meinte die Alte und schien sich nicht einmal daran zu stören, dass ein paar Blütenblätter auf ihren frisch gefegten Boden fielen. „Ach, Rosen“, meinte sie mit einem versonnenen Lächeln. „Überall hat man die Blätter rumliegen, nicht wahr – wie Blütenkonfetti, aber hübsch sind sie ja. Manchmal nehm ich mir von hier welche mit nach Hause, zum Trocknen. Hat man lange was davon.“

Lavinia nickte höflich und schnupperte an der Blütenpracht.

Und sowie der liebliche Rosenduft ihr in die Nase stieg, kamen ihr schon wieder die Tränen. Verflixt aber auch! Sie fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen; zwei Taschentücher hatte sie schon ruiniert.

„Ach Kindchen“, sagte die alte Frau freundlich. „Hochzeiten rühren einem wirklich ans Herz, was? Ich weiß noch, wie meine Schwester geheiratet hat, da hab ich eine Woche nur noch geheult.“

„Wirklich?“, fragte Lavinia. „Vermutlich bin ich einfach vollkommen durcheinander. Es ging alles so schnell, wissen Sie? Als wir vor ein paar Wochen nach London kamen, hat meine Schwester gar keinen Hehl aus ihrer Absicht gemacht, niemals zu heiraten. Und jetzt …“

Lavinia schaute zum Altar.

„Solange es nur Freudentränen sind“, meinte die alte Frau. „Bei einer Hochzeit sollten bloß Freudentränen fließen. Ihre Schwester schien so glücklich zu sein, als sie Seiner Lordschaft das Jawort gab. Und er war kaum wiederzuerkennen – völlig hingerissen von seiner Braut, hab ich recht?“

Lavinia nahm den Strauß von einer Hand in die andere und sah beiseite. „Oh ja“, sagte sie, „die beiden sind wirklich füreinander bestimmt.“ Und prompt bekam sie wieder feuchte Augen.

Zum Kuckuck aber auch! Würde der Tränenfluss denn nie versiegen? Louisa hatte ihren geliebten Piers geheiratet … und sie …

„Das sind doch Freudentränen, oder?“, bohrte die Alte weiter.

Herrje, was war die Frau doch neugierig! Aber Lavinia kam vom Land, und in Kempton wimmelte es von alten Jungfern, die auch ständig ihre Nase in die Angelegenheiten anderer steckten, weshalb ihr die Geschwätzigkeit der alten Putzfrau weniger aufdringlich, als seltsam tröstlich und vertraut erschien.

Und so war es vielleicht nicht verwunderlich, dass sie sich zu einem Geständnis hinreißen ließ. „Ich muss gestehen“, sagte sie und senkte die Stimme, „dass meine Gedanken, als meine Schwester dem Viscount angetraut wurde, nicht nur freudiger Natur waren und meine Tränen auch mir selbst galten.“

Die Putzfrau nickte mitfühlend. „Kommen Sie, mein Kind, der alten Tildie können Sie es ruhig erzählen“, entgegnete sie, ließ sich auf die vordere Bank sinken und klopfte auf den Platz neben sich.

Lavinia schaute den Gang hinab zum offenen Portal. Draußen strahlte die Maiensonne, lockte sie hinaus. „Ich sollte jetzt wirklich gehen. Gewiss wartet man auf mich …“

„Ach, die warten auch noch etwas länger, da machen Sie sich mal keine Sorgen. Kommen Sie, tun Sie einer alten Frau den Gefallen und erzählen Sie mir mal die ganze Geschichte.“ Sie zwinkerte Lavinia zu, und in ihren Augen blitzte der Schalk. „Ich hab den Kuss doch gesehen und würd’ meinen Besen fressen, wenn das mal keine schön skandalumwitterte Romanze war.“

Lavinia musste lächeln, denn Tildie hatte völlig recht. Die überstürzte Hochzeit war nicht minder skandalträchtig wie die Tage und Wochen davor. Skandalträchtig und romantisch, das vor allem.

Und … verwirrend.

Was konnte es also schaden, die Neugier einer einsamen alten Frau zu befriedigen und ihr kurz den Gang der Ereignisse zu schildern?

Lavinia versuchte ihre Gedanken zu sammeln und überlegte, wo sie am besten beginnen sollte.

„Alles hat damit angefangen“, meinte sie schließlich zu ihrem aufmerksamen Publikum, „dass Louisa und ich vor ein paar Wochen nach London kamen. Lady Charleton, unsere Patentante, hatte uns eine Saison in London versprochen und wollte uns unter ihre Fittiche nehmen. Zumindest dachten wir das.“ Sie hielt einen Moment inne. Denn stattdessen hatten sie bei ihrer Ankunft in London erfahren müssen, dass die Baronin bereits vor über einem Jahr verstorben war und der Sekretär an ihrer Stelle alle Arrangements getroffen hatte – so auch, ihnen mit Lady Aveley eine geeignete Anstandsdame zur Seite zu geben.

Doch all das tat im Grunde nichts zur Sache, oder, wie ihre Mentorin und geschätzte mütterliche Freundin Lady Essex stets zu sagen pflegte, wenn ihr eine Erzählung gar zu langwierig geriet: „Spann mich nicht auf die Folter, Mädchen!“

Weshalb Lavinia auch gleich zum Wesentlichen kommen wollte. „Unser Schicksal sollte sich an jenem Abend entscheiden, als wir Almack’s besuchten und Mr. Rowland sich unserer Gesellschaft anschloss …“

Bei der Erwähnung von Lord Charletons Neffen und Erben hellte die Miene der alten Frau sich auf. „Oh, das ist ja vielleicht ein Hübscher … Das war er doch, vorn am Altar, der Trauzeuge Seiner Lordschaft?“ Als Lavinia nickte, seufzte Tildie, und ihr Lächeln war so verklärt wie das einer schmachtenden Debütantin. „So ein fesches Mannsbild. Ein richtiger Spitzbube“, fügte sie versonnen hinzu, bedachte dann doch die Wahl ihrer Worte und meinte eilig: „Hätte meine Mutter jetzt gesagt.“

Tildie schien da aber ganz ihrer Meinung zu sein.

„Und wie recht sie damit hätte“, bekräftigte Lavinia, denn es gab wohl keinen schlimmeren Spitzbuben als Mr. Alaster Rowland. „Hätte Mr. Rowland nicht mitten im Almack’s beim Tanz meine Hand losgelassen, wäre all das nämlich nicht passiert. Alles wäre ganz anders gekommen. Alles.“ Sie senkte den Blick auf den Brautstrauß in ihren Händen, ehe sie mit ihrer Geschichte fortfuhr.

Sie wollte Tildie schließlich nicht länger auf die Folter spannen. Und im Grunde erzählte sie es nicht nur der alten Frau, sondern auch sich selbst.

Denn alles war so schnell gegangen, dass sie es noch immer kaum begreifen konnte.

Für eine junge Dame, die sich Anstand und Dekorum auf die Fahnen geschrieben hatte, fand Miss Lavinia Tempest sich reichlich oft in der Bredouille.

Der Zimmerbrand auf Foxgrove. Das Malheur mit den Wimpeln beim Mittsommerball anno ’08. Ganz zu schweigen von all den zertrampelten Herrenfüßen im Jahr darauf.

Auch wenn Sir Roger stets beteuerte, seine beiden Zehen nicht allzu schmerzlich zu vermissen.

Nichts als ein Scherz, natürlich. Er hatte sich diesen Zehen sehr verbunden gefühlt.

Am schlimmsten jedoch war, dass in einem so kleinen Dorf nichts vergessen wurde, und jedes Mal, wenn Lavinia einen Ball, eine Soiree oder auch nur die wöchentlichen Treffen der Gesellschaft zur Besserung und Bekehrung Kemptons besuchte, fühlte sich irgendjemand (meist Mrs. Bagley-Butterton) berufen, die Anwesenden mit einer Schilderung ihrer jüngsten Ungeschicklichkeiten zu erheitern.

Nahm es da Wunder, dass Lavinia alle Hoffnungen auf London gesetzt hatte? Als sie die heiligen Hallen des Almack’s erblickte, hatte sie sich geschworen, noch einmal ganz von vorn zu beginnen.

Hier war sie ein unbeschriebenes Blatt.

Und zunächst hatte sich auch alles sehr vielversprechend angelassen. Keine der Damen brachte ihre Rocksäume in Sicherheit, als sie Lavinia nahen sah, aus Angst, sie könne mit ihren beiden linken Füßen darauf trampeln oder gar den Spitzenbesatz abreißen. Kein Getuschel hinter vorgehaltenem Fächer, keine Wetten darauf, wen sie bis zum Ende des Abends alles zu Fall gebracht haben und was zu Bruch gegangen sein würde.

Nichts dergleichen. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie einfach nur Miss Tempest, Tochter des durchaus angesehenen Gelehrten Sir Ambrose Tempest.

„Genau so hatte ich es mir vorgestellt“, sagte sie voller Ehrfurcht, als sie und ihre Schwester Louisa ihre Einladungen vorzeigten. Genau der richtige Ort, um den Sprung in die Höhen der Londoner Gesellschaft zu schaffen.

Nicht umsonst hatte sie den halben Nachmittag mit der Planung ihres großen Auftritts verbracht (wenn sie nicht gerade in ihrem liebsten Miss Darby – Roman geschmökert hatte, zugegeben).

Angefangen bei dem neuen Kleid, das sie trug, einem züchtigen und respektablen Modell, das dabei doch der neuesten Mode entsprach. Welch Glück, dass es gerade en vogue war, sich wieder etwas bedeckter zu halten! Zwar hätte sie auch ein tiefblauer Seidenstoff gereizt, in den sie sich im Atelier der Modistin verliebt hatte, aber für ein Debüt war eine solche Farbe natürlich völlig ausgeschlossen.

Denn Lavinia wusste, was sich gehörte, sie kannte alle Regeln und eben jene war Punkt drei auf ihrer Liste:

Anstandsregel Nº 3

Eine unverheiratete junge Dame trägt stets zarte, sittsame Farben, beispielsweise Weiß. Oder helles Gelb. Auch Apfelgrün mag angehen, wenn es dem Anlass entspricht.

Die saphirblaue Seide konnte daher nur von fern bewundert werden, und Lavinia hatte sich mit hellem Musselin begnügt, denn an diesem alles entscheidenden Abend war Schicklichkeit gefragt.

Zumindest wenn sie die höchste Zier erlangen wollte, die einer jungen Dame am Ende ihrer ersten Saison in London in Aussicht stand. Auch diesen Punkt hatte sie auf ihrer Liste festgehalten, und zwar gleich an erster Stelle:

Anstandsregel Nº 1

Einen respektablen, soliden und gutsituierten Gentleman zu heiraten, sollte das erklärte Ziel einer jeden anständigen jungen Dame sein.

Bislang, fand Lavinia, lief alles nach Plan: Sie hatte das richtige Kleid, war zum Dreh- und Angelpunkt des Londoner Heiratsmarkts vorgedrungen, jetzt galt es den Abend nur noch ohne größere Zwischenfälle hinter sich zu bringen.

Aber da sie nun mal Lavinia Tempest war, dürfte das leichter gesagt als getan sein.

„Denk dran: nicht tanzen“, raunte Louisa ihr zu, als Lady Aveley ihre beiden Schützlinge ins Getümmel der mittwöchentlichen Gesellschaft lotste. Verstohlen streckte ihre Schwester die Hand aus, wackelte mit dem kleinen Finger, und Lavinia hakte den ihren kurz ein, womit die Sache besiegelt war.

Nicht tanzen.

Natürlich war es anders gekommen, auch wenn man zu Lavinias Verteidigung sagen musste, dass sie ihr Versprechen in bester Absicht gegeben hatte. Sie hatte wirklich vorgehabt, sich am Rand der Tanzfläche zu halten und keinen Fuß aufs Parkett zu setzen.

Sie hatte Lord Ardmore einen Korb gegeben, ihn höchst charmant wissen lassen, dass dies ihr erster Besuch bei Almack’s sei und sie viel zu aufgeregt zum Tanzen.

Selbst die Aufforderung des schmucken Baron Rimswell hatte sie ausgeschlagen, auch wenn es ihr schon schwerer gefallen war, und das nicht nur, weil der Baron so umwerfend gut aussah, sondern auch, weil gerade ein einfacher Reel angestimmt wurde, was sie sich durchaus zutraute, doch ein Blick auf die blank gewienerten Stiefel von Lord Rimswell, und sie hatte sich eines Besseren besonnen und war ihrem Vorsatz treu geblieben.

Nicht tanzen, sie hatte es versprochen.

Doch niemand schien Mr. Alaster Rowland davon in Kenntnis gesetzt zu haben, dass sie nicht tanzte. Dazu kam, dass seine Stiefel so gar nicht glänzten und er schon recht beschwipst zu sein schien von einer nicht genauer zu bestimmenden Menge Brandy, will sagen, selbst wenn sie ihm auf die Füße trat, war er betrunken genug, um den Schmerz vermutlich kaum zu spüren.

Dies nur zu ihrer Verteidigung.

„Kommen Sie, Miss Tempest, mein Onkel erwartet, dass ich mit einer von Ihnen tanze“, ließ er sie charmant wissen, als er schon leicht unsicheren Schrittes auf sie zukam. „Sie können nicht den ganzen Abend bloß hier herumstehen.“

Sie schaute sich nach ihrer Schwester um, nach Lady Aveley, nach irgendjemanden, der sie aus diesem Dilemma retten könnte. „Ich … oh je. N…nein, Mr. Rowland, ich glaube nicht …“, stammelte sie, als Mr. Rowland ihre Hand ergriff, als wäre er sich seiner Sache schon ganz sicher.

So etwas war ihr noch nie passiert, was schlichtweg daran lag, dass Kempton wie gesagt ein kleines Dorf war und jeder wusste – der unermüdlichen Mrs. Bagley-Butterton sei es gedankt –, dass ein Tanz mit Lavinia einem Todesurteil für die eigenen Zehen gleichkam. Und wenn schon nicht alle Umstehenden zehn Zehen kürzer gemacht wurden, so ging doch zumindest etwas vom Mobiliar zu Bruch. Oder fackelte gar ab.

Kurzum, mit Lavinia zu tanzen war verheerend.

Mr. Rowland indes war sich kein bisschen bewusst, in welche Gefahr er sich und große Teile der Londoner Gesellschaft stürzte, als er sie bei der Hand nahm und mit sich aufs Tanzparkett zog. Ihre Einwände verhallten ungehört.

„Nein, Sir, das erscheint mir sehr unklug“, versuchte sie es dennoch und meinte es genau so. Wobei unklug noch eine Untertreibung war.

Aber leider zeitigten ihre diplomatischen Warnungen keine Wirkung bei Mr. Rowland, Schuft, der er war …

Hatte sie das schon erwähnt? Dass Mr. Alaster Rowland, mutmaßlicher Erbe des Barontitels seines Onkels, ein ganz schlimmer Schuft war? Dann sollte sie es. Man konnte es gar nicht oft genug erwähnen.

Leider sah er auch teuflisch gut aus. Lavinia war noch nie einem so gut aussehenden Mann begegnet. Geschweige denn, dass er ihre Hand gehalten oder sie mit einem durchtriebenen Funkeln in den Augen angelächelt hätte.

Nie zuvor hatte Lavinia in so verheißungsvolle braune Augen geblickt, und was sie verhießen, ließ sie so köstlich erschauern, dass sie sich gleich an Ort und Stelle vornahm, bei der erstbesten Gelegenheit ihre Liste um einen weiteren Punkt zu ergänzen:

Anstandsregel Nº 83

Ein anständiger Gentleman sollte einem nicht so wunderliche Empfindungen bescheren.

Denn, es musste leider gesagt werden, als Mr. Alaster Rowland seine Hand an ihre Taille legte und mit der anderen ihre Hand nahm, geschah Lavinia etwas ganz und gar Unanständiges.

Zumindest vermutete sie, dass es unanständig sein müsse, denn anständig war es ganz sicher nicht.

„Mr. Rowland, bitte, ich kann nicht“, machte sie noch einen letzten Versuch, als auch schon die Tanzkapelle einen Kotillon anstimmte.

Sie hörte es mit Schrecken. Einen Kotillon hatte sie zuletzt bei Lady Essex getanzt, auf Foxgrove. Damals, als sie auch den Saal in Brand gesetzt hatte. Nein, derlei musste sich nicht wiederholen.

Aber Mr. Rowland ahnte ja nichts davon und lachte bloß. „Sie schaffen das schon“, flüsterte er so dicht an ihrem Ohr, dass sie seinen warmen Atem spürte.

Es war wie eine Berührung, als hätte er ihr mit den Fingern sacht über den Hals gestrichen. Es fühlte sich so innig und vertraut an – so verheißungsvoll –, dass Lavinia schier die Sinne schwanden.

Dabei war sie eigentlich gar nicht so. Lavinia hatte ihre Sinne beisammen. Sie war eine junge Dame, die genau wusste, was sich schickte – und was nicht. Niemand kannte sich besser aus mit Anstand und Dekorum als sie. Wenn alles sich in gewohnten Bahnen bewegte, wusste sie stets, was zu tun war und wie sie sich zu verhalten hatte. Jetzt jedoch drohte unbekanntes Terrain, und schon wollte ungebührliches Verlangen sie mitreißen wie ein tosender Fluss.

Zumindest dachte sie, dass es Verlangen sein musste, denn was sollte es sonst sein, das ihr da so gefährlich warm durch die Glieder rauschte?

Das war das eine – doch noch etwas anderes war wunderlich: Ihre Füße, sonst so linkisch, als wären sie zwei Nummern zu groß und überhaupt falsch eingehängt, schienen auf einmal genau in den Takt zu finden. Gerade so, als hätte Mr. Rowlands Berührung, sein neckender Blick, sein Zutrauen in sie eine bislang verborgene Anmut in ihr geweckt.

Lavinia nahm Haltung an, bis jede Bewegung sich ganz von selbst ergab, und entsann sich einer längst vergessen geglaubten Ermahnung jenes Tanzlehrers, den Lady Hathaway vor Jahren in bester Absicht engagiert hatte.

Tanzen ist allein eine Frage der Eleganz.

Damals hatte es wenig gefruchtet, doch jetzt auf einmal verstand Lavinia, was gemeint war. Sie kam sich tatsächlich elegant vor. Und das nicht nur, weil ihr Kleid so schick und schicklich war oder weil sie sich auf dem Parkett des Almack’s fand (auch wenn beides erheblich dazu beitrug), sondern weil ihr Tanzpartner sie mit dem Respekt und Raffinement eines wahren Gentlemans fasste und führte, statt sie mit schreckensstarrem Blick auf Armeslänge von sich zu halten.

Und ehe Lavinia Tempest es sich versah, tanzte sie.

Anmutig und perfekt, wie eine Dame. Es war so einfach! So wie Mr. Rowland sich im Takt der Musik bewegte, tat es auch Lavinia. Eigentlich brauchte sie nur einzustimmen und sich von seinen Schritten, von denen des ganzen Saals, mittragen zu lassen.

Und sogar in die richtige Richtung!

Als sie sich vom ersten Schreck erholt hatte, strahlte sie vor Freude. Sie konnte tanzen, sie konnte es wirklich! Und noch dazu einen Kotillon. Es war unglaublich, aber wahr: Hier, in den heiligen Hallen des Almack’s hatte Lavinia Tempest ihr wahres Talent entdeckt.

„Ich tanze“, entfuhr es ihr, als sie eine weitere Figur absolviert und noch immer niemand vor Schmerz aufgeschrien hatte, nichts zu Boden gekracht und in tausend Stücke gesprungen war.

„Warum auch nicht?“, fragte Mr. Rowland, dessen Augenmerk jedoch von ihr auf etwas gelenkt wurde, das am anderen Ende des Saals geschah.

Lavinia wagte nicht, seinem Blick zu folgen, denn noch traute sie dem Frieden nicht so recht und rechnete jederzeit damit, dass ein winziger Fehltritt die Katastrophe heraufbeschwören konnte. „Ja, warum nicht?“, erwiderte sie vage, denn sie wollte das Schicksal nicht herausfordern, indem sie ihm in Erinnerung rief, dass sie das hier besser hätte bleiben lassen.

Und so tanzten sie weiter, schritten und kreisten durch den Saal, und inmitten einer Drehung entdeckte sie Louisa, die sie mit schreckensweitem Blick beobachtete.

Aber ihre Sorge war völlig unbegründet. Jahrelang hatte sie sich vergebens gemüht, war von einem Malheur ins nächste geschliddert.

All das war nur Vorbereitung auf diesen einen Tanz gewesen, und alle Mühe hatte sich gelohnt. Wenn sie den Kotillon gleich mit Bravour gemeistert hätte, könnte sie sich sicher sein, dass ihre Saison in London ein voller Erfolg würde. Sie war auf dem allerbesten Weg.

Doch sollte Lavinia gleich darauf feststellen, dass Hochmut vor dem Fall kam, und zwar wortwörtlich und auf der Stelle. Manchmal entscheidet ein einziger, schicksalhafter Moment über Gedeih und Verderben einer Debütantin.

Ein einziger Blick des Erkennens in einem vollen Ballsaal. Das erste Mal, dass ein Gentleman ihre Hand hält.

Auch ein heimlicher Kuss mochte dazu zählen.

Für Lavinia sollte es der Moment werden, in dem Mr. Rowland plötzlich einen beherzten Fluch ausstieß und, schlimmer noch, sie unvermittelt losließ.

Und schon war er weg, schob sich durch das Gedränge auf dem Tanzparkett, während Lavinia noch mit rudernden Armen versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten.

Was ihr indes nur gelang, indem sie gegen Lord Pomfrey prallte, der in Folge Lady Kipps mit sich riss und so fort, bis die ganze Londoner Hautevolee am Boden lag. (Wobei alle natürlich übertrieben war, aber Lavinia kam es so vor, und im Grunde machte es auch keinen Unterschied, ob fünf oder fünfhundert.) Wie die Kegel kippten sie um, einer nach dem anderen.

Es war ein Desaster.

Und dass Lady Jersey dabei ihre Röcke über den Kopf flogen, machte die Sache nicht besser.

„Oh je, sie hätte wirklich mehr darunterziehen sollen“, merkte Lavinia zu niemand bestimmtem an. Auch dies könnte ein Punkt für ihre Liste sein, wenngleich es vielleicht ein wenig unfair war, denn wer konnte das denn ahnen? Nur weil sie, Lavinia, dank reichlicher Stolpererfahrung immer bestens für ein solches Malheur präpariert war, konnte man das wohl kaum zum Maßstab nehmen.

Und manchmal halfen auch alle Listen nichts, denn nichts, aber wirklich gar nichts, hätte Lavinia Tempest auf das vorbereiten können, was dann geschah.

Noch ehe Mr. Alaster Rowland – oder Tuck, wie nicht nur seine Freunde, sondern eigentlich alle Welt ihn nannte – sich im White’s einfand, hatten die verheerenden Geschehnisse im Almack’s schon die Runde gemacht. Manche konnten aus erster Hand berichten, andere schmückten das Gehörte lediglich aus, um sich nicht lumpen zu lassen.

„Lady Jersey mit gelüfteten Röcken!“, rief einer der Herren lachend. „Den Anblick hätte ich mir was kosten lassen.“

„Die meisten von uns kostet es keinen Pfifferling“, merkte Lord Budgey liebenswürdig an. „Aber gut möglich, Procter, dass Sie – bei Ihrer Reputation – die Dame durchaus entlohnen müssten.“

Reihum lautes Gelächter auf Kosten des armen Procter. Dem jungen Baron blieb weiterer Spott nur dadurch erspart, dass der Mann der Stunde persönlich sich just die Ehre gab.

„Rowland!“, jubelte die versammelte Runde und hob die Gläser.

Tuck erwiderte die Begrüßung mit huldvoller Geste und bedeutete einem der Diener, ihm einen Drink zu bringen. Mehr brauchte es nicht, denn jeder der Bedienten wusste, was Lord Charletons Erbe wünschte.

Sein Glück, musste man sagen, denn er war bereits derart beduselt, dass ihm nur noch der Sinn danach stand, Nägel mit Köpfen zu machen und sich heillos zu betrinken.

„Jetzt lassen Sie mal Ihre Version hören“, forderte Lord Ardmore ihn auf. „Ich habe gerade schon meine Fassung der Geschichte zum Besten gegeben – hätte ja um ein Haar selbst mit einem der Trampel tanzen müssen. Das war knapp, verdammt knapp. Verraten Sie uns doch, wie haben Sie das unbeschadet überstanden?“

„Sollte man nicht vielmehr fragen“, warf Lord Budgey ein, „was zum Henker ihn überhaupt zu Almack’s verschlagen hat?“

Eine Frage, die von eingefleischten Junggesellen wie von Wüstlingen gleichermaßen mit einem nachdrücklichen Nicken begrüßt wurde. Manch einer konnte bei der Erwähnung des unseligen Ortes gar ein Stöhnen nicht unterdrücken.

„Ich habe lediglich meine Pflicht getan“, erwiderte Tuck wahrheitsgemäß. Sein Onkel hatte ihn ja praktisch dazu verdonnert.

„Stimmt es, dass Wakefield auch dort war?“, fragte Procter, der nicht nachtragend war und die vorherigen Spitzen gut verschmerzt zu haben schien.

„Ja, war er“, bestätigte Tuck, und dabei wollte er es belassen, denn er und Piers Stratton, Viscount Wakefield, kannten einander seit Kindertagen. Auch wenn jüngst Zwietracht zwischen ihnen herrschte, fühlte er sich dem Mann doch noch immer in alter Freundschaft verbunden.

Piers mochte das anders sehen, aber für ihn, Tuck, war Stratton nach wie vor der beste Freund, den er jemals hatte.

„Wakefield und Rowland bei Almack’s“, sinnierte Lord Budgey und schüttelte behäbig wie eine Bulldogge den Kopf. „Was ist bloß aus der Welt geworden? Mir stünde fast der Sinn danach, meinen Hut zu nehmen.“

Auch das wurde mit allgemeiner Erheiterung goutiert. Tuck ließ alle Scherze und allen Spott gutmütig über sich ergehen und setzte sich an einen der kleinen Tische.

„Wo hat Ihr Onkel die beiden Füllen denn aufgetrieben?“, erkundigte sich ein Gentleman und zwinkerte anzüglich in die Runde. „Zwei linke Füße mögen sie wohl haben, aber einem entzückenden Mädchen verzeiht man ja manches, nicht wahr?“

Tuck musterte den Mann abschätzig. Dessen Ton und Manieren gefielen ihm ganz und gar nicht, und er merkte, wie sich – sehr zu seiner Verwunderung – ritterliche Gefühle in ihm regten. „Die beiden sind Lady Charletons Patentöchter“, erwiderte er in jenem kühlen Ton, mit dem nicht zu scherzen war.

Das nahm den Herrschaften etwas den Wind aus den Segeln, denn Lady Charleton war weithin geschätzt und verehrt worden.

Während hier und da Gläser zu einem stummen Toast auf die verblichene Baroness erhoben wurden, fragte Tuck sich, woher bloß dies seltsame Bedürfnis rührte, den Schützlingen seines Onkels zur Seite zu springen.

Im Grunde ging ihn das überhaupt nichts an – Onkel Charleton und Lady Aveley waren für die beiden zuständig, und ihm sollte es gerade recht sein. Außerdem entsprach es überhaupt nicht seinem Wesen, den holden Ritter zu spielen, aber dieses eine Wort – entzückend – rief etwas ihn ihm wach.

Denn entzückend war sie doch wirklich, oder nicht?

Er sah wieder ihr dunkles Haar und ihre anmutige Gestalt vor sich, lebhafte Erinnerungsbilder, auf die er mit Empfindungen reagierte, die keinen Zweifel daran ließen, dass ihm die Kleine in der Tat recht einnehmend erschienen war.

Aber wenn er sie so hübsch fand, warum hatte er sich dann jäh von ihr abgewandt und sie ganz und gar ungalant übers Parkett purzeln lassen?

Tuck hielt sich die Stirn. Halbe Sachen waren immer ein Problem – wäre er sturztrunken gewesen, hätte ihm das alles nichts mehr ausgemacht; wäre er lediglich angeheitert gewesen, hätte er die Antwort auf die Frage gewusst und sich nicht sinnlos den Kopf zermartern müssen.

Nur gut, dass sein Brandy endlich gebracht wurde und ihn weiterer Sorgen enthob. Er leerte das Glas in einem Zug, hielt es für das Beste, den Abend ganz aus seinem Gedächtnis zu tilgen, und winkte nach der ganzen Flasche.

Während er begann, sich um Sinn und Verstand zu trinken, wurden um ihn her die Geschichte der Tempest-Schwestern und das Fiasko im Almack’s weiter genüsslich zerlegt.

Lord Ardmore hielt es nicht länger auf seinem Sitz, er sprang auf und ergötzte die Gentlemen mit einem szenischen Vortrag. „… so müssen Sie es sich vorstellen, meine Herren – genau so! Nachdem der arme Ilford mit einer der beiden getanzt hatte, schwor er Stein und Bein, er müsse sich neue Stiefel machen lassen! Sie hat ihm die seinen mit ihrem linkischen Getrampel völlig ruiniert.“

Seine kleine Darbietung wurde mit neuerlichem Gelächter belohnt.

„Was ist mit Ihren Stiefeln, Tuck? Sind sie auch hinüber?“, fragte Ardmore.

Tuck lachte und streckte sein Schuhwerk vor. „Noch in derselben kläglichen Verfassung wie zu Beginn des Abends. Ich würde sie liebend gern einmal Ihrem Kammerdiener vorbeibringen, Ardmore, aber der arme Falshaw sähe sich vermutlich in seiner Ehre gekränkt, wenn ich ihn so hinterginge.“

Einige Lords nickten anerkennend. Kein Gentleman, der seinen Namen verdiente, würde seinem Kammerdiener eine solche Kränkung zuteilwerden lassen.

„Nur gut, dass Sie die Grazie beizeiten losgelassen haben, Tuck“, merkte Lord Budgey an. „Ein gutes Paar Stiefel sollte man nicht sinnlos opfern – zumal, da Sie vermutlich nur dieses eine besitzen.“

Neuerliches Gelächter, aber Tuck ließ ihm auch das durchgehen.

„Die eigentliche Frage ist doch aber, warum Sie Miss Tempest überhaupt losgelassen haben, Rowland.“ Diese Bemerkung kam von einem jungen Herrn, der neu zu ihrer Gesellschaft gestoßen war, und als Tuck sich nach ihm umwandte, blieb ihm schier das Herz stehen.

Poldie.

Und doch nicht Poldie, natürlich nicht. Der junge Mann, der im Türrahmen stand, war dessen jüngerer Bruder, Bradwell Garrick – jetzt Lord Rimswell, hatte er doch den Titel seines Bruders geerbt, nachdem Poldie auf dem Rückzug nach La Coruña sein Leben gelassen hatte.

Verdammt, der Bursche war seinem Bruder wirklich wie aus dem Gesicht geschnitten! Sein Anblick ließ Tuck jedes Mal zusammenzucken.

Wie ertappt fühlte er sich. Ich hätte da sein sollen. Ich hätte bei ihm, in Spanien sein sollen.

Aber auch wenn er es versprochen hatte, so war er doch nicht mit seinen Freunden in den Krieg gezogen. Er war in England geblieben, als Piers und Poldie in See gestochen waren. Und nur einer der beiden war heimgekehrt: Piers, gebrochen und verbittert, ein Schatten seiner selbst, hatte er sich von der Welt zurückgezogen und niemanden mehr in sein Haus, geschweige denn in sein Leben gelassen.

So gesehen hatte Tuck gleich beide Freunde verloren.

Doch von Äußerlichkeiten abgesehen, war Brody kein bisschen wie sein älterer Bruder. Er war viel gesitteter und vernünftiger, als Poldie es je gewesen war, und so war es auch nicht verwunderlich, dass er die ausgelassene Runde mit leiser Missbilligung betrachtete. „Ich wüsste es wirklich gern: Warum haben Sie Miss Tempest so unvermittelt losgelassen?“

Es machte den Eindruck, als wollte Brody auf Teufel komm raus den Galan geben und Tuck herausfordern.

Aber Tuck würde sich nicht provozieren lassen. Ihm stand nicht der Sinn nach einer weiteren Auseinandersetzung. Eine reichte für den Abend völlig, sogar ihm.

Dachte er zumindest.

Denn während er noch nach einer Erwiderung suchte, die Brodys ritterlichem Ehrgefühl einerseits genügen, den jungen Mann aber samt all seiner Wohlanständigkeit in die Wüste jagen würde, mischte Ardmore sich neuerlich ein.

„Ach, kommen Sie schon, Brody“, rief der junge Lord. „Haben Sie denn nicht ihre Schwester mit Ilford tanzen sehen? Kann man Rowland kaum verübeln, dass er sich nicht sein einziges Paar Stiefel ruinieren wollte.“

Es folgte johlendes Gelächter, in das weder Tuck noch Brody einstimmten.

„Wenn man vom Teufel spricht“, meinte Budgey und zeigte zur Tür. „Da ist Ilford ja. Warum lassen wir uns nicht alles brühwarm von ihm erzählen?“

Tuck stöhnte. Nicht schon wieder! Der Marquess of Ilford war wirklich der Letzte, den er jetzt sehen wollte.

In Anbetracht der schmählichen Niederlage, die Piers ihm Stunden zuvor beigebracht hatte, erstaunte es Tuck gelinde gesagt, dass der Mann sich überhaupt im Klub blicken ließ.

Kurz klärte sich der Nebel in seinem Kopf, denn ja, das war es!

Piers war mit dem Marquess of Ilford in Streit geraten, und dann … dann … Dann war Tuck aus einem Impuls heraus seinem Freund zur Seite gesprungen, ganz wie in alten Zeiten.

Ja, genau, so war es gewesen! Und in seiner Hast hatte er Miss Tempest jäh ihrem Schicksal überlassen, was in Folge zu reichlich Unruhe auf dem Tanzparkett geführt hatte. Tuck nickte zufrieden, weil ihm des Rätsels Lösung doch noch eingefallen war. Dummerweise entsann er sich nach dieser ersten Erinnerung auch wieder daran, wie, nachdem er seinem Freund zu Hilfe geeilt war, alles ganz fürchterlich schiefgegangen war.

Oh nein, nicht dieses elende Spektakel auf dem Tanzparkett, das meinte er nicht. Sondern Piers. Zunächst hatte es den Anschein gehabt, als wären sie versöhnt, doch im nächsten Moment schon waren sie wieder im Zwist gelegen.

Wegen Poldie. Und Spanien. Wegen Fragen, die Tuck nicht gewillt war zu beantworten.

Weil er sie nicht beantworten konnte.

„Rowland“, bemerkte Ilford abfällig im Vorbeigehen. „Noch immer ein Glas in der Hand. Überrascht mich nicht.“ Dann schnippte er mit den Fingern und bedeutete Lord Budgey – der nur Viscount war und dem Marquess somit im Rang unterlegen –, seinen Platz zu räumen.

Was Budgey, der von nachsichtigem Naturell war, auch anstandslos tat.

Ilford war der wohl arroganteste Adelsspross, den man sich denken konnte. Einst würde er den Herzogstitel seines Vaters erben, und schon jetzt ließ er keine Gelegenheit aus, alle Welt um seine erhabene Stellung wissen zu lassen. Er nahm den geräumten Platz mit großem Tamtam ein und maß die Runde mit dem Blick des Tyrannen. Die beabsichtigte Wirkung litt indes etwas darunter, dass er nur aus einem Auge schauen konnte; das andere war zugeschwollen.

Oh ja, der Marquess schien sehr erzürnt zu sein – und nach einem Opfer zu suchen, an dem er seinen Zorn auslassen konnte.

„Sieht aus, als hätten Sie ordentlich was abbekommen“, bemerkte Ardmore zu Ilford. „Riskante Sache, sich mit Wakefield anzulegen. Der Mann ist nicht ganz bei Trost, weiß doch jeder. Hätte wirklich ins Auge gehen können. Ha ha ha!“

Außer Tuck zuckte jeder der Anwesenden bei dieser unsäglichen Bemerkung zusammen. Andererseits, was wollte man von Ardmore erwarten? Der Hellste war er nun nicht gerade. Ein ganz kleines unter den kleinen Lichtern.

„Gemeingefährlich, der Mann“, winkte Ilford verächtlich ab. „Weiß der Henker, warum er auf mich losgegangen ist – es gab keinen Anlass, nicht den geringsten. Einsperren sollten man so jemanden.“

Tuck, dem man gern alle Vernunft absprach, hakte wider besseres Wissen nach: „Warum haben Sie ihn dann herausgefordert?“, fragte er und füllte sich erneut das Glas. „Oder möchten Sie sich an diesen Teil des Abends lieber nicht erinnern?“

Einen Moment senkte sich Schweigen über die Runde, dann huschte ein grausames Lächeln über Ilfords Lippen. „Ich würde niemals einen Feigling herausfordern.“

Was eine glatte Lüge war, denn im Eifer des Gefechts, hatte Ilford den Viscount sehr wohl herausgefordert. Aber da bekanntlich er der Feigling war, breitete er wohl lieber den Mantel des Schweigens über seinen Lapsus.

Doch dabei würde Tuck es nicht belassen. Er wollte gerade aufstehen, als eine Hand sich schwer auf seine Schulter legte und ihn zurückhielt.

Er hob den Blick und fand den Brodys eindringlich auf sich gerichtet.

Ilford, der sich unangreifbar glaubte, fuhr derweil fort: „Der arme Wakefield kann einem leidtun. Wir wissen doch alle, warum er in diesem beklagenswerten Zustand aus Spanien heimkehrte. Aber was will man machen? So ergeht es jenen, die nicht ihren Mann stehen und den Kampf scheuen.“

„Gottverdammt“, fluchte Tuck und schüttelte Brody ab. „Sie machen einen Rückzieher, weil Sie genau wissen, Wakefield würde Sie eiskalt erschießen, wenn es drauf ankommt – nicht feige daneben zielen, wie Sie es vermutlich von den Memmen gewohnt sind, von denen Sie sonst Satisfaktion fordern. Wenn Sie denn überhaupt zu besagter Stunde auftauchen …“

Den Rest ließ er ungesagt; jeder wusste, was gemeint war.

So auch der Marquess, der ihm einen vernichtenden Blick zuwarf. „Und das von Ihnen, Rowland? Wer hat sich denn gebrüstet, nach Spanien in den Kampf ziehen zu wollen, und dann …“ Ilford rieb sich nachdenklich das Kinn. „Hm. Wenn ich mich recht entsinne, sind Sie lieber daheim geblieben, haben Ihre Freunde allein in den Krieg ziehen lassen. Habe ich recht, Rimswell?“ Er schoss einen Blick auf Brody ab. „Hätte Rowland nicht an der Seite Ihres Bruders sein, ihm in seiner letzten Stunde beistehen sollen?“

Von der anderen Seite des Raums trat ein hochgewachsener Gentleman dazu, als wollte er die Welle kalten Zorns abfangen, die aus Tuck und Brody herauszubrechen drohte. Lord Howers war einer von der alten Garde, hochangesehen und geschätzt in Regierungskreisen, weshalb er kein großer Freund von Skandalen war. „Rimswell“, meinte er jovial, „da sind Sie ja. Hathaway und ich wären dann so weit. Kommen Sie.“

Es war indes keine höfliche Aufforderung, sondern ein Befehl, und Tuck sah, wie Brody die Zähne zusammenbiss und tat, wie ihm geheißen.

„So ist’s recht, Rimswell“, rief Ilford ihm spöttisch hinterher. „Immer schön bei Fuß. Genau wie sein dämlicher Bruder.“ Er schaute sich beifallheischend um, doch das Echo blieb diesmal eher verhalten.

Chaunce Hathaway, den Tuck nur dem Vernehmen nach kannte, nahm derweil Brodys Platz ein. Ungefragt bediente er sich vom Brandy, goss sich ein Glas ein und trank einen Schluck. „Er will Sie nur provozieren. Tun Sie ihm den Gefallen nicht.“

Tuck wusste, dass Chaunce recht hatte. Trotzdem fiel es ihm verdammt schwer, sich das unverschämte Geschwätz des Marquess tatenlos anzuhören. Ihm klingelten förmlich die Ohren, als er hörte, womit der Marquess sein Publikum nun erfreute.

„… mir beim besten Willen nicht erklären, was Charleton sich dabei gedacht hat. Binnen zwei Wochen werden die Tempest-Mädchen nicht mehr zu halten sein. Die Mutter war bekanntlich ein ziemlich lockerer Vogel, und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Ilford legte eine Kunstpause ein und schaute zu Tuck hinüber. „Vermutlich war der kleine Skandal im Ballsaal erst der Anfang. Wollten Sie schon mal das Terrain sondieren, Rowland? Schauen, welche der beiden sich leichter zu Fall bringen lässt?“

Hier und da wurde betreten gelacht.

Aber Tuck hatte genug. „Kein Wort mehr, Ilford.“

„Ganz ruhig, Rowland“, sagte Hathaway mit gesenkter Stimme.

Doch einen kühlen Kopf bewahren, war bekanntlich nicht Tucks Stärke. Erinnerungen wurden in ihm wach. Plötzlich sah er wieder Miss Tempest vor sich, mit Augen so blau wie die Glockenblumen, die im Frühjahr selbst in London überall dort blühten, wo man es am wenigsten erwarten würde. Und welch hinreißende Figur sie in seinen Armen abgegeben hatte! So anmutig und geschmeidig, dass er wortwörtlich etwas aus dem Tritt geraten war.

Und nein, es hatte nicht allein am Brandy gelegen.

Ein Rausch ganz anderer Art hatte ihn befallen. Ein Rausch, der sich nicht einfach so ausschlafen ließ.

Er stand auf und geriet leicht ins Schwanken. „Die Mädchen haben niemandem etwas getan, Ilford. Sie sind arglos und unbedarft, respektable junge Damen. Ich verbitte mir solche unverschämten Unterstellungen.“

Ilford lachte höhnisch. „Mein Wort gilt mehr, als Sie glauben. Schon morgen werden die beiden sich nirgends mehr zeigen können, verlassen Sie sich drauf“, tat er so vernehmlich kund, dass alle Anwesenden ihn hörten. „Die Mutter hat sich den Ruf ruiniert, den Töchtern wird es nicht anders ergehen. Nach allem, was ich gehört habe, ist Sir Ambrose nicht mal ihr Vater! Ich bitte Sie, so was kann sich doch nicht in guter Gesellschaft sehen lassen. Für solche Mädchen gibt’s nur eins …“

„Das reicht, Ilford!“, rief Tuck und hieb mit der Faust auf den Tisch.

„Ach herrje“, murmelte Chaunce und erhob sich ebenfalls.

„Die Mädchen haben sich nichts zuschulden kommen lassen! Ihre Unterstellungen sind haltlos“, beschied Tuck dem Marquess. „Mein Onkel hätte sie wohl kaum für die Saison bei sich aufgenommen, wenn auch nur irgendetwas an Ihren Behauptungen wäre.“

Ilford lachte. „Ihr Onkel macht sich zum Narren, Rowland. Er wird sich noch wundern, wie kurz die Saison für seine reizenden Schützlinge wird. Die Mädchen sind ruiniert, die bekommen hier keinen Fuß mehr auf den Boden.“

Sie machen sich hier zum Narren, Ilford. Man wird sich um die Tempest-Schwestern reißen. Und ich werde es Ihnen beweisen.“

Ardmore spitzte die Ohren. „Oh, wenn ich hier mal keine Wette wittere …“

Und ausnahmsweise hatte der Mann den Ernst der Lage voll und ganz begriffen.

2. KAPITEL

Als Alaster Rowland am nächsten Tag erwachte, plagten ihn ein höllischer Kater und die dunkle Ahnung, dass eine Katastrophe unmittelbar bevorstand.

Mit anderen Worten, ein Tag wie jeder andere.

Er hatte sich kaum gerührt, da kam auch schon sein Kammerdiener geeilt.

„Wo brennt es, Falshaw?“, fragte Tuck, als er sich den dampfenden Kaffeebecher vom Tablett nahm. Er war kein Freund zartduftigen Tees und zog es vor, die Lebensgeister mit Stärkerem zu wecken.

Meist bedurfte es dessen auch.

„Ihr Onkel, Lord Charleton, hat eine Nachricht geschickt“, klärte der Bursche ihn auf.

„So schlimm?“

„Es hat den Anschein, ja“, sagte Falshaw mit einem tadelnden Unterton. Ein richtiger Kammerdiener würde sich derlei niemals anmaßen, aber Tuck konnte sich nun mal keinen richtigen Kammerdiener leisten. Dafür hatte Falshaw andere Talente, das musste man ihm lassen. So konnte er beispielsweise Gläubiger hinhalten und mit den wenigen vorhandenen Mitteln über die Runden kommen, war mit anderen Worten also genau der richtige Mann für den Posten. „Und eine Wette haben Sie auch abgeschlossen.“

Das wäre ja nichts Neues, dachte Tuck, als er sich seinen Morgenrock überwarf und ans Fenster trat.

„Eine Wette über zwei junge Damen“, fügte Falshaw hinzu und begann das Zimmer zu richten.

Auch das nicht überraschend, dachte Tuck und zog den Vorhang ein wenig zurück. Draußen strahlte die Maiensonne. Ein herrlicher Tag, wenngleich etwas … hell. Er ließ den Vorhang wieder fallen. Was hatte er nicht schon alles auf Tänzerinnen und Soubretten gesetzt. Einmal gar hatte er …

„Ich sagte Damen“, wiederholte Falshaw, als hätte er seine Gedanken lesen können. Und diesmal war der tadelnde Unterton kaum zu überhören.

Damen? Tuck wandte sich um und warf seinem Diener einen zweifelnden Blick zu.

„Eine Wette auf Lady Charletons Patentöchter, um genau zu sein“, half der Bursche ihm auf die Sprünge.

Damen? Patentöchter? Du liebe Güte, wie respektabel das alles klang! Schnell trank er einen Schluck Kaffee – und verbrannte sich prompt. Patentöchter! Nun, zumindest erklärte das die Nachricht von seinem Onkel.

„Ganz genau“, meinte Falshaw und klang ein wenig gar zu selbstgefällig.

Tuck beschlich bisweilen der Verdacht, dass es Falshaw mit heimlicher Genugtuung erfüllte, seinen Dienstherrn ab und an vom einzig vorzeigbaren Verwandten zur Räson gebracht zu sehen.

„Dann stecke ich vermutlich ziemlich in der Klemme, was?“

Im Grunde war es keine Frage, sondern eine Feststellung, aber Falshaw antwortete dennoch mit diebischer Freude: „Oh ja, Mylord, es sieht ganz danach aus.“

Lord Charletons Butler, der gute alte Brobson, wollte Tuck kaum ins Haus lassen. Oder wenn, dann nur in die Eingangshalle, keinen Schritt weiter. „Ihr Onkel wird Sie gleich empfangen“, beschied er und eilte davon, als hätte er einen Aussätzigen ins Haus gelassen.

Ganz recht, so schlimm stand es.

Während Tuck also wartete und sich ein wenig die Beine vertrat, ließ etwas ihn aufhorchen. Er hielt inne und lauschte.

Doch, da weinte jemand … gefolgt von einem derart geräuschvollen Naseputzen, dass man Mitleid mit dem armen Taschentuch bekommen konnte.

Tuck schaute sehnsüchtig zur Tür – wohlgemerkt jener, die aus dem Haus hinausführte, auf die Straßen Londons und weit, weit fort. Vielleicht sollte er noch einmal ganz von vorn anfangen? Er könnte zum Zirkus gehen oder auf einem Schiff anheuern und in die Welt hinaussegeln. Oder sich in der Themse ertränken.

Mit einem kurzen Schütteln seines Brummschädels verwarf er sämtliche Möglichkeiten. Er war kein großer Freund des Reisens – all das Ungemach und die Unannehmlichkeiten, wenn man auf sein eigenes Bett verzichten musste! Und leider Gottes war er ein ausgezeichneter Schwimmer.

Das Weinen war indes lauter und heftiger geworden, ein regelrechtes Heulen, das ihm unter die Haut ging.

Vermutlich hätte jeder Mann so empfunden, aber ihm griff es nachgerade ans Herz. Er hätte es niemals zugegeben, nicht einmal dann, wenn ihm im Gegenzug all seine Schulden erlassen würden, aber die Tränen einer Frau waren seine Achillesferse.

Wider besseren Wissens näherte Tuck sich der Bibliothek – von dort kam einem Sirenengesang gleich das Schluchzen –, öffnete die Tür und trat ein.

Und wünschte sogleich, er hätte es nicht getan.

Zugegeben, er war gestern Abend nicht mehr ganz nüchtern gewesen, aber das würde er ganz gewiss nicht vergessen haben. Wie hätte er?

Ein rot verquollenes Gesicht. Das hässliche biedere Kleid, die zerzausten Haare.

Man musste der Dame immerhin zugutehalten, dass sie langsam am Ende ihres Gefühlsausbruchs angelangt zu sein schien, denn jede weitere vergossene Träne hätte den Teppich ins Verderben gestürzt.

Langsam klärte sich ihr Blick, als begriffe sie allmählich, dass sie nicht mehr allein war. Und dann blitzte solcher Zorn aus ihren Augen, dass Tuck erschrocken zurückwich.

„Sie!“, zischte sie und stürzte wie eine Furie auf ihn. Schlimmer noch – auf halbem Wege schnappte sie sich eine Vase vom Tisch und hob sie drohend.

Alaster Rowland war so einiges, aber dumm war er nicht. Er wusste, wann man besser den Rückzug antrat. Und das tat er – bis er mit dem Rücken an die Wand stieß, da er sich mit der Richtung dann dummerweise doch etwas verkalkuliert hatte.

Er saß also in der Falle und vor ihm das blanke Entsetzen. Eine verquollene, tränennasse Schreckensgestalt, die noch dazu vor Wut kochte und potentiell tödlichen Hausrat schwang.

„Vorsicht, die Vase … in Ihrer Hand …“, stammelte er.

„Eine falsche Bewegung, und ich werfe“, kam die Antwort.

„Tun Sie das nicht. Ich würde mich sowieso ducken, und dann wäre es ganz umsonst um die arme Vase geschehen.“

„Keine Sorge, ich treffe schon“, zeigte sie sich zuversichtlich.

„Ach ja?“

„Niemand zielt so gut wie ich. Daheim in Kempton reißt man sich beim Kricket um mich.“

Da war das Glück ihm ja wieder mal hold! Hier fand er sich einer aufgebrachten jungen Dame gegenüber, mit der nicht zu scherzen zu sein schien und die noch dazu ein Faible für Kricket hatte.

Konnte es noch schlimmer kommen?

Er versuchte es mit einer anderen Taktik. „Sie wissen vermutlich, dass dies die Lieblingsvase meines Onkels ist? Unersetzlich und meines Wissens sehr kostbar.“

Auch wenn er sich für beides nicht verbürgen konnte, genügten seine Worte, um sie zur Vernunft zu bringen. Nach kurzem Zögern stellte sie die Vase sorgsam zurück an ihren Platz.

Sollte das wirklich die junge Dame von gestern Abend sein? Unmöglich, sagte Tuck sich, denn er hatte sie eigentlich als sehr … nun ja, liebreizend in Erinnerung. Wohingegen diese …

„Sie elender Schuft! Wie konnten Sie mich loslassen, einfach so?“

Ah, sie war es also. Unglaublich. Dabei war er so betrunken doch gar nicht gewesen.

Oder?

„Wie konnten Sie bloß?“, tobte sie weiter und hieb ihm mit dem Finger vor die Brust.

Sollte sie. Alles war besser, als eine Vase über den Schädel zu bekommen. Dachte er, bis sie ihm ihre nächste Anschuldigung ins Gesicht schleuderte. „Sie haben mich ruiniert!“

Mit einem Schlag war Tuck hellwach. Sie ruiniert? Auch wenn er sich nur schemenhaft an den gestrigen Abend erinnerte, so genügte doch ein Blick auf die aufgelöste Person vor ihm, ihn in der Überzeugung zu bestärken, dass nichts dergleichen sich zwischen ihnen zugetragen hatte. Ganz sicher nicht.

So betrunken konnte er gar nicht gewesen sein, sich diesen Medusenspross ins Bett geholt zu haben.

Mit einem bebenden Schluchzer schluckte sie die letzten Tränen hinunter und bemühte dann wieder das arme, arglose Taschentuch, trompetete in das Linnen wie ein sterbender Schwan. Tuck verzog das Gesicht bei diesem Laut, der noch Tote zum Leben erweckt hätte, zumindest aber seinem Kater arg zusetzte.

„Miss Tempest, nicht wahr?“, vergewisserte er sich, die Hand an der Stirn, die Augen geschlossen ob des pochenden Schmerzes, der seinen Schädel malträtierte.

„Natürlich Miss Tempest, wer denn sonst?“, herrschte sie ihn an. „Wir sind uns gestern Abend erst begegnet.“

Er riskierte noch einen Blick, konnte aber auch jetzt keine Spur des anmutigen Geschöpfs erkennen, an das er sich zu erinnern meinte.

Mit großen Augen sah sie ihn an, als es ihr dämmerte: „Sie erinnern sich nicht an mich!“ Und schon schoss ihr Blick wieder zur Vase.

„Oh nein, so würde ich das nicht sagen“, versuchte er sie schnell auf andere Gedanken zu bringen. „Es ist nur … Sie waren so … äh, anders. Ich meine, Sie trugen ein anderes Kleid.“ Zumindest wollte er das hoffen, denn jenes, das sie jetzt trug, war einfach nur scheußlich.

Sie schnaubte bloß. „Warum haben Sie mich losgelassen? Mitten im Tanz!“

Mitten im Tanz. Wenn es doch nur das gewesen wäre! Er hatte eine Wette am Hals, bei der es um so viel mehr ging.

Eine Wette, über die Falshaw ihn fast schadenfroh in Kenntnis gesetzt hatte.

„Sie haben mich ruiniert, einfach so“, hörte er sie sagen.

„Das wage ich doch sehr zu bezweifeln“, erwiderte er und versuchte, sie nicht anzusehen.

Aber es war unmöglich. Er musste einfach hinschauen. Wie bei einem Unfall, wenn man sich wider besseres Wissen kaum losreißen konnte von dem Bild des Grauens.

War es wirklich nur das?

Nicht dass die junge Dame sich ignorieren ließe. „Sie haben mich los-ge-las-sen“, wiederholte sie und betonte jede Silbe einzeln.

Ganz ehrlich, konnte man es ihm verdenken?

„Und jetzt …“, begann sie und wurde erneut von Schluchzern und Schniefern heimgesucht. „Und je…je…jetzt …“

Von der Aussichtslosigkeit ihrer Lage übermannt, ließ sie sich aufs Kanapee fallen und fing abermals zu weinen an; er stand derweil etwas verloren herum und wusste nicht recht, was tun. Aus dem Tränenschwall brachen unzusammenhängende Klagen hervor, was sie alles verloren habe – eine gute Partie, eine respektable Heirat und allerlei mehr, was für sie von größter Bedeutung schien. Auch eine Liste wurde immer wieder erwähnt. Er verstand kein Wort.

„Miss Tempest, glauben Sie mir, ich bin wirklich …“, setzte er an, damit sie endlich Ruhe gab. Ihm schwirrte schon der Kopf.

„Oh ja, ich weiß, was Sie sind!“ Schnief.

Nun, da ist sie nicht die Einzige, dachte er und hätte es beinahe gesagt. Ganz London dachte schließlich so von ihm.

Aber sie war noch nicht fertig. „Wir sind ruiniert – alle beide.“ Schnief. „Meine Schwester und ich.“ Schluchz, schluchz, schnodder, schnief. „Wir werden nach Hause geschickt, ganz gewiss.“ Seufz. Schluchz. „Gleich morgen, wenn nicht schon heute.“

Wegen der unschönen Geräuschkulisse hatte er nur mit halbem Ohr hingehört, aber das ein oder andere war dennoch zu ihm vorgedrungen.

Allen voran „nach Hause geschickt“.

Nach Hause geschickt? Tuck riss entsetzt die Augen auf. Nein, nein, nein, das durfte nicht geschehen. Auf keinen Fall! Angst stieg in ihm auf.

„Zwei Wochen, Sir“, hatte Falshaw ihn wissen lassen. „Sie haben zwei Wochen Zeit, um zu beweisen, dass die Schützlinge ihres Onkels tatsächlich Damen sind. ‚Ungeschliffene Rohdiamanten erster Güte‘ haben Mr. Hathaway und Lord Rimswell es ausgedrückt, als sie Sie nach Hause brachten … Sie nach Hause getragen haben, Mylord.“

Aber wenn die Tempest-Schwestern jetzt London verließen … Wie sollte er dann seine Wette gewinnen? Sie zu verlieren konnte er sich nicht leisten.

„Nach H…hause?“, stammelte er, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und begann unruhig auf und ab zu gehen. „Dazu sehe ich wirklich keinen Grund. Und mein Onkel wäre wohl kaum so hartherzig, Sie so bald schon wieder …“

„Ihm bleibt keine andere Wahl“, fiel sie ihm ins Wort und gestikulierte mit dem ramponierten Taschentuch in der Luft herum; Tuck wünschte wirklich, sie würde das lassen. „Haben Sie vielleicht, als sie eben hereinkamen, auf dem Tablett in der Halle auch nur einen einzigen Brief, auch nur ein einziges Billett gesehen?“

„Ähm, nein …“ Auf derlei zu achten hatte er sich schon lange abgewöhnt. In der Regel flatterten bloß Rechnungen ins Haus. Mahnungen. Ab und an kaum verhüllte Drohungen gehörnter Ehemänner. Schuldscheine, die beglichen werden wollten.

Nein, die Post war nicht sein Freund. Und wie es aussah, hatten sie beide da etwas gemein.

„Es ist leer“, ließ sie ihn mit Grabesstimme wissen. „Ganz und gar leer!“

Aha, hier lag der Hase im Pfeffer! In seinem Haus wäre das Ausbleiben von Post ein Grund zur Freude gewesen, doch hier schien das genaue Gegenteil der Fall zu sein.

„Mr. Rowland, wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dass meine Schwester und ich ruiniert sind, so spricht das leere Brieftablett eine deutliche Sprache. Wir sind nicht mehr wohl gelitten. Niemand will uns haben!“

Von irgendwoher schlichen sich Ilfords Worte in sein Bewusstsein. Schon morgen werden die beiden sich nirgends mehr zeigen können, verlassen Sie sich drauf.

Tuck ließ sich neben sie aufs Kanapee fallen. Plötzlich hatte er das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Wenn er diese Wette verlor, wäre er gezwungen …

Nein, er wollte gar nicht daran denken.

Diesmal hätte Charleton kein Nachsehen mehr. Er würde ihm den Geldhahn abdrehen, ihn enterben, ihm ganz allein die Schuld geben an diesem Desaster, genau wie Miss Tempest es jetzt tat.

Womit sie im Grunde recht hatten, und genau deshalb musste er die Sache schleunigst wieder in Ordnung bringen. Koste es, was es wolle.

Schon in seinem eigenen Interesse. Er warf einen verstohlenen Blick auf die junge Dame, die sich abermals in einer Aufzählung all dessen verlor, was ihr nun auf immer versagt bliebe – eine respektable Partie, ein eigener Hausstand –, und mit einem Schlag wurde ihm klar, dass diese vermaledeite Wette, zu der er sich hatte hinreißen lassen, weit gefährlichere Fallstricke barg als geahnt.

Und was wusste er, ausgerechnet er, davon, wie man eine junge Dame vom Land in einen Diamanten des ton verwandelte? Ihr gar eine respektable Partie fand? Oder überhaupt anständige Gesellschaft?

Bislang hatte er sich um derlei herzlich wenig geschert.

Doch jetzt stand er plötzlich unter Zugzwang und musste ihr all diese Götzen des Dekorums und der Wohlanständigkeit aus dem Hut zaubern, wollte er seine Wette nicht verlieren.

Oder die junge Dame ins Unglück stürzen.

Er holte Luft und nahm, wie es sich für den guten Spieler, der er (meistens) war, gehörte, seine sieben Sinne zusammen.

„Noch ist nichts verloren, Miss Tempest. Man soll die Hoffnung niemals aufgeben, das Blatt kann sich jederzeit wenden“, hörte er sich die oft gehörten Worte seines Onkels Hero laut sagen. Oh weh, es musste schlimm stehen, wenn er sich schon vom Zitatenschatz des Honorable Hero Worth bediente!

Ein Mann voller Widersprüche, angefangen bei seinem Namen.

„Ich wüsste nicht, wie …“, begann sie und brach gleich wieder in Tränen aus. Als ihr durchnässtes Taschentuch seinen Zweck nicht mehr erfüllte, griff sie nach seinem Ärmel, um sich die Augen abzutupfen. In ihrer Verzweiflung schien sie gar nicht zu merken, was sie da tat.

Und Tuck, in seiner eigenen Verzweiflung gefangen – immerhin war das sein einziger anständiger Rock! –, zog seinen Arm rasch zurück und gab sich den Anschein, ein wahrer Experte auf dem Gebiet des gesellschaftlichen Parketts zu sein. „Meine liebe Miss Tempest, der Londoner ton ist launisch und unberechenbar wie das Wetter im April: Scheint man eben noch in Ungnade gefallen zu sein, wird man plötzlich schon als neuestes Original gehandelt, als Diamant, um den alle sich reißen.“

„Als Diamant?“, fragte sie ungläubig und verschluckte sich fast an dem Wort. In ihren Augen blitzte es kurz auf, oder vielleicht waren es auch nur die letzten Tränen, die noch immer darin standen, bereit, jederzeit überzufließen? Wie dem auch sei, dieses kurze Aufblitzen – so winzig und flüchtig es auch sein mochte – vermochte es, die dunklen Abgründe seines Herzens zu erhellen, die er für gewöhnlich mit einer Flasche Brandy zu tilgen suchte.

Denn dieser kleine Funken, den er kaum „Hoffnung“ zu nennen wagte, brachte weitere Erinnerungen an den vorigen Abend zum Vorschein.

Aber ja, sie war es, und bei Gott, sie konnte tatsächlich recht einnehmend sein! Man musste einfach nur über die gerötete Nase und das verquollene Gesicht hinwegsehen.

Oder den Schnodder auf seinem Ärmel.

Sei’s drum, in ihren rot verheulten Augen sah er noch etwas anderes.

Entschlossenheit.

„Miss Tempest, Sie müssen nur an sich glauben“, sagte er und stand auf. „Vertrauen Sie mir …“

„Ihnen vertrauen?“, fragte sie in so entgeistertem Ton, dass es jeden anderen wohl hätte kränken können.

Gewiss, wo sie recht hatte, hatte sie recht … Aber bisweilen heiligte der Zweck die Mittel, und vielleicht war es an der Zeit, für sie beide, noch einmal ganz von vorn zu beginnen.

„Sie müssen mir vertrauen“, wiederholte er geduldig. „Denn glauben Sie mir, ich werde das alles wieder in Ordnung bringen. Seien Sie unbesorgt.“ In seine Worte legte er eine Zuversicht, die er nicht einmal annähernd empfand.

Wie auch? Ihm blieben gerade einmal zwei Wochen, dieses Wunder zuwege zu bringen!

„Ich wüsste nicht, wie …“

„Warten Sie einfach ab, Sie werden schon sehen“, versprach er ihr und ergriff ihre Hand. „Überlassen Sie das einfach mir. Ich nehme an, Sie sind nach London gekommen, um eine treffliche Partie zu machen?“

„Nun ja …“, druckste sie mit einem Mal herum.

„Und es wäre doch wirklich schade, wenn Sie, kaum hier, schon wieder abreisen müssten.“

„Allerdings, ja“, sagte sie und seufzte. „Zumal noch nicht einmal all meine neuen Kleider geliefert wurden.“

„Nein!“ Er schüttelte den Kopf. „Das wäre doch wirklich ein Verbrechen. Und wie hübsch Sie dann erst aussehen müssen. Die Herren werden sich auf der Tanzfläche um Sie reißen.“

„Ach, von wegen“, wehrte sie ab. „Ich kann ja doch nicht tanzen. Wozu dann der Aufwand?“

„Wenn das alles ist, lassen Sie das nur meine Sorge sein“, beruhigte er sie. „Ein guter Tanzlehrer behebt das im Handumdrehen. Binnen eines Nachmittags werden Sie tanzen, als hätten Sie nie etwas anderes getan.“

Sie schüttelte den Kopf und sah beiseite, aber ihm entging doch nicht ihr zweifelnder, verzagter Blick.

„Jetzt kommen Sie schon, Miss Tempest“, sagte er sanft und wartete, bis sie ihn wieder ansah. „Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mir erlaubten, Ihnen bei der Suche nach einer guten Partie behilflich zu sein.“

Alles, was Lavinia sich immer gewünscht hatte, war in diesen magischen drei Worten zusammengefasst: eine gute Partie.

Wie oft hatte sie sich ausgemalt, wie es geschehen würde: Sie trug ein helles, nach der neuesten Mode geschnittenes Musselinkleid – sittsam, aber fashionabel –, ganz ähnlich jenem vom Abend zuvor. Oh ja, so weit hatte sich alles gut angelassen. Aber ihr Traum verlief natürlich gänzlich anders! Sie stünde inmitten des Saals, umgeben von eleganten und distinguierten Gästen.

Und dann träte er aus der Menge. Er käme auf sie zu und würde darum bitten, ihr vorgestellt zu werden. Freudiger Glanz stünde in seinen Augen, wenn er in den Kreis ihrer Vertrauten vorgelassen würde. Und dann würde er ihr die Hand reichen und um einen Tanz bitten. Oder nein, er würde darauf bestehen, mit ihr zu tanzen!

Hier indes tat sich ein kleines Problem in ihrem Wunschtraum auf, der sie stets wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholte.

Das mit dem Tanzen war ein kleiner Stolperstein, sozusagen.

Dennoch war sie sicher, sofort zu wissen, dass er derjenige welcher war, denn seine Berührung würde ihr wohlige, wonnige Schauer über den Rücken jagen.

So war es zumindest immer in den Miss Darby – Romanen.

Und nicht nur dort.

Genau das geschah ihr hier und jetzt. Ohne es zu merken, war auch sie wieder aufgestanden, sodass sie jetzt vor ihm stand, ihre Hand in der seinen.

Aber das konnte doch gar nicht sein, oder? Es konnte, nein, es durfte nicht! So gehörte es einfach nicht, es war falsch: Sie trug ihr ältestes Kleid, und du liebe Güte, sie mochte gar nicht dran denken, wie sie aussah, nach all den Tränen!

Und doch lief ihr ein wohliger Schauer über den Rücken. Genau wie gestern Abend im Almack’s.

Als eben dieser Mann ihre Hand gehalten hatte.

Nein, das konnte nicht sein.

Doch ein Blick auf ihre Hand in seiner und sie fühlte sich sogleich zurückversetzt an den Abend zuvor.

Jener Moment, da sich seine Hand um die ihre geschlossen und ihr so köstliche Empfindungen beschert hatte, dass ihr schwindelte.

So wie jetzt. Da war es wieder, dieses Gefühl der Wärme, das befremdliche Verlangen, ihm nah zu sein. Es war ihr jetzt so unerklärlich wie am Abend zuvor, weshalb ihr auch das frostige „Nein, danke, Sir“, das sie eigentlich auf der Stelle hätte erwidern sollen, im Halse steckenblieb.

Nun, da ihr Blick auf Mr. Rowlands Hand ruhte, welche die ihre noch immer hielt, ließ sich nicht länger leugnen, dass es seine Wärme war, sein Charme oder was immer da in seinen Augen blitzte, das ihr so sehr die Sinne benebelte, dass sie gar erwog, sein unsägliches Angebot anzunehmen.

Was wirklich dumm wäre. Genauso dumm wie der Wunsch, dem Schuft noch näher zu kommen.

„Nein“, brachte sie schließlich heraus, auch wenn ihr das Wort so schwer über die Lippen ging wie eine Ladung Steine, die man bergauf karrte. Aber was hätte sie sonst sagen sollen? Sie war ja nicht so naiv, um Lady Essex’ steter Ermahnung nicht Glauben zu schenken: Einmal ruiniert, immer ruiniert. Merken Sie sich das, junge Dame. Und so sagte sie ihm denn auch: „Ich kann Ihr Angebot nicht annehmen. Es ist unmöglich.“

So leid es ihr tat, aber es gab nichts, was Alaster Rowland für sie hätte tun können.

Und hatte er nicht schon genug angerichtet? fragte sie sich, was abermals ihren Zorn weckte und ihren Blick gen Vase schweifen ließ.

Die, bei genauerer Betrachtung, längst nicht so kostbar und unersetzlich aussah, wie Mr. Rowland ihr weismachen wollte.

„Sagen Sie das nicht“, erwiderte er und wandte sie so, dass sie der Vase den Rücken zukehrte. „In London ist nichts unmöglich. Alles kann hier geschehen, wirklich alles.“

London. Allein das Wort ließ sie noch immer erschauern. Genau wie seine Berührung.

„Das ist wohl wahr.“ Sie entzog ihm ihre Hand und setzte sich wieder, strich ihre Röcke glatt und meinte nach einigem Zögern: „Doch hatte ich mir London schöner vorgestellt. Verheißungsvoller.“

Mr. Rowland ließ sich neben ihr nieder, griff erneut nach ihren Händen und hielt sie, bis sie es endlich wagte, ihn anzusehen. „Und das ist es, Miss Tempest – voller Verheißung und ungeahnter Möglichkeiten. Verzagen Sie nicht, überlassen Sie das einfach mir.“

Sich ihm überlassen? Diesem Wüstling, diesem Schuft?

„Ganz gewiss nicht!“, rief sie und entriss ihm ihre Hände, denn schon huschten ihr wieder diese elend verräterischen Schauer über die Haut.

„Welch vorschnelle Entscheidung, Miss Tempest. Sie haben mich nicht einmal bis zu Ende angehört.“

„Das brauche ich auch nicht. Ihr Ruf spricht für sich, Mr. Rowland.“

Sie warf einen verstohlenen Blick auf sein markantes Gesicht und ahnte, dass ihre Liste einer umgehenden Ergänzung bedurfte.

Anstandsregel Nº 84

Vor allzu gut aussehenden Männern sollte eine Dame stets auf der Hut sein.

„Mein Ruf? Nun, das will ich meinen“, erwiderte er, fast schon stolz. „Zumindest heißt man mich gern willkommen. Meistens.“

„Meistens?“, fragte sie nach. „Heute auch?“

Er schaute sich um. „Zugegeben, heute mag nicht mein bester Tag sein. Aber Ihrer vermutlich auch nicht.“

„Vermutlich? Ich wurde vorige Nacht ruiniert!“

„Das sagten Sie bereits, aber nein.“ Er schüttelte den Kopf, stand auf und trat einen Schritt zurück. „Ruiniert, Miss Tempest, meint in aller Regel etwas mehr, etwas Vertrauteres, als linkisches Benehmen und ein bisschen Klatsch und Tratsch.“

Vertraut.

Hatte er das jetzt auch noch sagen müssen? Denn das Wort weckte etwas in ihr, hallte leise flüsternd wider. Es war genauso wie sein spitzbübischer Charme. Verlockend.

Und unanständig.

Oder?

Definitiv nicht anständig.

Alaster Rowland war einer jener bestrickend charmanten Teufel, vor denen Lady Essex sie bei den allwöchentlichen Treffen der Gesellschaft zur Besserung und Bekehrung Kemptons eindringlich gewarnt hatte.

Ein gut aussehender Mann braucht eine Dame nur anzusehen und schon …

Und schon was? hatte Lavinia immer fragen wollen, doch leider war Lady Essex in ihren Ausführungen stets vage geblieben.

Aber plötzlich ging die Fantasie mit ihr durch, und Lavinia meinte, sich den Rest sehr wohl ausmalen zu können. Sie sah es so deutlich vor sich, dass ihr das Bild gar nicht mehr aus dem Sinn wollte. Ein Zimmer im Halbdunkel, schwache Glut im Kamin.

Ein Kleid, das leise raschelnd zu Boden fiel. Kein helles Baumwollkleid, oh nein. Dunkler Samt. Ein Kleid, wie sie es sich insgeheim immer gewünscht hatte. Blau. Aber nicht irgendein Blau, sondern ein tiefdunkles Nachtblau.

Und dann seine Hände … seine Lippen …

Lavinia presste die ihren zusammen und versuchte, ihren wunderlichen Anwandlungen Einhalt zu gebieten.

Was war nur an diesem Mann, dass er sie derart von ihrer durch und durch anständigen Liste abzubringen vermochte?

„Kommen Sie, Miss Tempest“, versuchte er es erneut. „Ein einziger Abend sollte nicht über den weiteren Verlauf Ihres Lebens entscheiden, oder? Sie dürfen sich nicht so schnell entmutigen lassen.“

Sie schüttelte den Kopf, mehr noch, um ihre unziemlichen Gedanken loszuwerden, denn als Antwort auf seine Frage, aber Mr. Rowland missverstand sie, natürlich, denn es kam seinem Anliegen ja nur entgegen. „Sie werden sehen, Miss Tempest, ich mache Sie zum Stadtgespräch“, versprach er ihr, als könnte er ihr so ihre Zweifel nehmen.

„Das haben Sie bereits, Mr. Rowland“, erwiderte sie ihm in jenem kühlen Ton, den sie sich bei verschiedensten Gelegenheiten von Lady Essex hatte abschauen können.

Doch statt ihn einzuschüchtern, erreichte sie das Gegenteil.

Er grinste sie an.

Nein, kein spitzbübisches Lächeln.

Anerkennend eher. Komplizenhaft.

„Dann wird es vielleicht Zeit, dass wir ihnen neuen Gesprächsstoff liefern“, meinte er und reichte ihr erneut die Hand.

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen erwachte Lavinia vom munteren Gebimmel der Türglocke. Sie schlug die Augen auf und schöpfte Hoffnung.

Vielleicht hatte Mr. Rowland doch recht gehabt. Die schreckliche Stille, die das Haus den Tag zuvor erfüllt hatte, war nur ein vorübergehender Rückschlag gewesen.

Denn heute traf wieder Post ein, und Post verhieß Einladungen. Lavinia seufzte vor Erleichterung.

Es bestand kein Anlass zur Sorge, und auch wenn Mr. Rowland ihr so überaus großzügig angeboten hatte, sie zum Stadtgespräch zu machen, so hatte sie doch gut daran getan, sein Ansinnen auszuschlagen.

Glücklicherweise war Lord Charleton dann kurz darauf in die Bibliothek gekommen, sodass sie sich hatte empfehlen können, ehe sie doch noch Mr. Rowlands Charme erlegen wäre.

Sie hegte nämlich den Verdacht, dass Lord Charletons Erbe eine Dame zu beinahe allem überreden konnte.

Anstandsregel Nº 7

Eine Dame ist sich immer ihres Umgangs gewahr.

Genau das war die Regel der Stunde, die sie stets im Gedächtnis halten sollte. Zumal es nahezu unmöglich sein dürfte, den richtigen Gentleman zu finden, wenn sie stets in Begleitung des falschen war.

Und dass Mr. Alaster Rowland der falsche war, stand völlig außer Frage.

Unten klingelte es erneut, und Lavinia konnte kaum aufhören zu lächeln, als sie aus dem Bett kletterte und sich flink anzog. Auf der Fensterbank hockte Hannibal, der Höllenkater ihrer Schwester, und musterte sie aus seinem einen verschlagenen Auge. Sie ließ Louisa schlafen, denn es hätte sonst nur viele dumme Fragen gegeben, und schlich sich leise aus dem Zimmer, um zu schauen, welch freudige Kunde sie unten erwartete. Mit einem Satz sprang Hannibal von seinem Fensterplatz und heftete sich an ihre Fersen.

Tatsächlich fanden sich auf dem Brieftablett in der Halle eine Handvoll Nachrichten, eine davon an sie adressiert.

Miss Lavinia Tempest.

Die energische Männerschrift ließ sie stutzen.

Nein, von einem Mann hatte sie noch nie eine Nachricht bekommen. Sie warf einen verstohlenen Blick auf Hannibal, der zu ihren Füßen saß und sie mit seinem üblichen missbilligenden Blick beäugte. Nach kurzem Zögern fasste sie sich ein Herz und schnappte sich die Nachricht von dem fein säuberlich arrangierten Stapel.

Kaum hielt sie das Schreiben in den Händen, jagte ihr ein Schauer den Arm hinauf. „Nein, nein, nein“, tadelte sie sich. Mr. Rowland war nicht derjenige welcher. Außerdem, wie kam sie überhaupt darauf, dass die Nachricht von ihm sein könnte? Und warum pochte ihr das Herz schon wieder ganz wundersam?

Nicht einmal er würde es wagen, nachdem sie gestern doch sehr deutlich gewesen war.

Nein, Mr. Rowland, ich gedenke nicht, mich auf Ihren törichten Plan einzulassen.

Kurz erwog sie gar, das Billett ungeöffnet dem Kaminfeuer zu überantworten, doch ihre Neugier – die ihr schon oft zum Verhängnis geworden war –, ließ sie das schlichte Siegel erbrechen.

Und ja, Mr. Rowland wagte es tatsächlich.

Miss Tempest, bevor Sie diese Zeilen in die Glut werfen, hören Sie mich bitte an.

„Ich dachte, das hätte ich bereits“, murmelte sie. Und verflixt, woher wusste er, was sie mit seinem Brief zu tun gedachte?

Vermutlich sprach er aus Erfahrung.

Nun, da Sie Zeit hatten, mein Angebot zu überdenken …

Zeit, sein Angebot zu überdenken? Was bildete er sich eigentlich ein, dieser Schuft, dieser elende?

… habe ich ganz hervorragende Neuigkeiten: Es ist mir gelungen, einen der besten Tanzlehrer Londons zu verpflichten – Monsieur Ponthieux.

Lavinia runzelte grimmig die Stirn, als sie sich seiner Worte vom Tag zuvor entsann.

Ein guter Tanzlehrer schafft das im Handumdrehen. Binnen eines Nachmittags werden Sie tanzen, als hätten Sie nie etwas anderes getan.

Ein Tanzlehrer, dass sie nicht lachte!

Mr. Rowland ahnte ja nicht, wie schlimm es stand. Er hatte nie mitanhören müssen, wie Mrs. Bagley-Butterton sie als einen so hoffnungslosen Fall bezeichnete, dass nicht einmal eine ganze Armada wendiger Tanzlehrer ihr oder Louisa auch nur einen einfachen Reel hätte beibringen können.

Mit einem tiefen Seufzer und wider besseres Wissen las sie weiter.

Ich erwarte Sie um halb zwölf vor Wakefields Haus. Rowland.

Das war alles – einfach so? Er erwartete sie? Nachdem sie ihm unmissverständlich klargemacht hatte, dass sie nichts mit ihm zu tun haben wollte? Welch eine Arroganz, welche Anmaßung!

Da wusste sie aber Besseres. Mit spitzen Fingern, als handelte es sich um einen von Hannibals Beutefängen, hielt sie den Brief von sich und wollte geradewegs den Kamin im Speisezimmer ansteuern, als sie von drinnen Lord Charletons Stimme vernahm. „Aber Amy, so schlimm wird es schon nicht sein.“

Lavinia blieb vor der Tür stehen und hielt sich mucksmäuschenstill. Hannibal schaute sie einen Moment fragend an und stolzierte dann davon Richtung Küche.

Lauschen war anscheinend unter seiner Würde.

Aber was sollte Lavinia anderes tun, wenn Lady Aveley nun auch noch einen gar leidgeprüften Seufzer hören ließ? „Es ist sogar noch schlimmer“, sagte sie. „Keine einzige Einladung mehr seit …“

Oh, die gute Dame brauchte den Satz gar nicht zu beenden. Lavinia wusste genau, worum es ging.

Seit Almack’s.

Sie warf einen Blick zum gut sortierten Brieftablett. So schlimm konnte es wohl kaum stehen, wenn wieder Einladungen eintrafen.

Oder?

Eine Erkenntnis begann ihr zu dämmern, die sie mit einem Schlag ernüchterte.

Was, wenn die heutigen Nachrichten gar keine Einladungen waren?

Lavinia ließ sich neben der Tür an die Wand sinken. Und wenngleich sie natürlich wusste, dass es sich nicht gehörte, zu lauschen, und sie sich den beiden bemerkbar machen sollte, ließen Lady Aveleys nächste Worte sie doch wie angewurzelt dort verharren.

„Wer sich überhaupt noch meldet, hat seine Einladung zurückgezogen.“

Lavinia stockte der Atem. Sie hatte es geahnt, aber es nun bestätigt zu finden, war ungleich ärger.

„Sie haben sie ausgeladen?“, fragte Lord Charleton mit einer solch gerechten Entrüstung, dass Lavinia ihn hätte küssen können.

Drinnen hörte sie es rascheln, als Lady Aveley sich vermutlich noch einmal die bereits eingetroffenen Schreiben vornahm. „Oh, so unverblümt sagt es natürlich niemand, sie haben allesamt gute Ausreden, aber letztlich läuft es immer darauf hinaus, dass Louisa und Lavinia nicht erwünscht sind.“

„Das ist doch wohl die …“, begann der Baron sich zu ereifern.

„Ja, so scheint es“, fiel Lady Aveley ein, um Lord Charletons Zorn Einhalt zu gebieten. „Es ist genau, wie ich befürchtet habe.“

„Schlimmer, wenn du mich fragst“, lenkte er ein. „Diese heimtückischen, missgünstigen Biester.“

Lady Aveley pflichtete ihm mit einem resignierten Seufzer bei.

Autor

Elizabeth Boyle

Bereits für ihren ersten historischen Roman erhielt Elizabeth Boyle den RITA Award für das beste Debüt. Auszeichnungen und Bestseller-Nominierungen für weitere siebzehn Romane folgten. Inzwischen hat Elizabeth Boyle ihren Job als Rechtsanwaltsfachangestellte aufgegeben, um hauptberuflich zu schreiben. Die New-York-Times-Bestsellerautorin, die in ihrer Freizeit gern gärtnert, strickt, liest, reist und Rezepte...

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