Liebespakt in den Highlands

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Verbirgt sich ein Schatz in der Burgruine von Glen Dorian? Ein mysteriöser Brief weckt Lord Kit Rossingtons Abenteuerlust und lässt ihn spontan in die schottischen Highlands reisen. Als er kaum dort angekommen von Mitgiftjägerinnen verfolgt wird, schlägt ihm die schöne Megan McNabb einen rettenden Pakt vor: Nach alter Sitte binden sie sich aneinander - aber nur dem Anschein nach und nur für ein Jahr und einen Tag. So entgeht Megan der angedrohten Zwangsheirat mit einem anderen Mann, und Kit kann in Ruhe nach dem Schatz suchen. Doch sobald er gemeinsam mit Megan die Burg betritt, fühlt er sich plötzlich auf magische Weise von ihr angezogen …


  • Erscheinungstag 30.09.2016
  • Bandnummer 89
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765330
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Glen Dorian, 1817

Ist das eine wahre Geschichte?“

Von seinem Sitzplatz am Feuer aus blickte Duncan MacIntosh das Kind durchdringend an.

„Sie ist so wahr, wie sie nur sein kann, Bursche. Sie ist keine Geschichte, sondern erzählt von der Vergangenheit deines eigenen Clans. Zweifelst du an meinem Wort?“

„Aber wie kann ein Drache ein ganzes Dorf verschlingen?“, fragte der Junge. Der finstere Blick des alten Mannes schüchterte ihn nicht einmal halb so sehr ein, wie Duncan gehofft hatte. Also hob er die Hände über den Kopf und breitete sein Plaid so aus, als habe er Flügel. Er beugte sich vom Feuer weg und ließ die Schatten ihr Werk tun, bis seine Augen glimmten und sich die Berge und Täler seines faltigen Gesichts im Licht der Flammen vertieften. „Er ist ein Drache!“, schrie der Junge zu Tode erschrocken und griff nach dem Rock seiner Mutter.

Der Seannachaidh des MacIntosh-Clans lehnte sich wieder vor bis ins volle Licht der Herdstelle und sah jetzt freundlich drein. Er legte eine knorrige Hand auf die Schulter des Jungen.

„Ach, hab keine Angst, Bursche. Die Geschichte soll die Leute nur unterhalten. Es ist die Aufgabe des Seannachaidhs, die Erzählungen des Clans zu bewahren und sie weiterzugeben, auch die fast wahren über Drachen. Willst du eine ganz ,ganz wahre Geschichte hören?“

Aufmüpfig schürzte der Junge die Lippen.

„Kommen Drachen darin vor?“

„Nein. In dieser Geschichte kommen ein hübsches Mädchen namens Mairi MacIntosh und ihr tapferer Laird vor und ein Soldat, aber keine Drachen. Nun ja, außer du zählst den fürchterlichen Duke von Cumberland dazu.“

„Wer ist das?“, fragte der Junge.

„Er war der niederträchtige Sohn eines Königs. Er wollte den Clan der MacIntoshs bezwingen und alle anderen Highlander auch.“

Die Augen des Jungen wurden groß.

„Kommen in der Geschichte Blut und Schwerter und Morde vor?“

Duncan furchte die Stirn.

„Mehr als genug davon, fürchte ich. Hast du Angst?“

Der Bursche schüttelte den Kopf.

„Wird darin geküsst?“

Die Stirn des alten Mannes glättete sich, als er lachte.

Aye, ein bisschen, aber beileibe nicht genug.“

„Wie geht die Geschichte aus?“

„Ich weiß es nicht. Bisher hat sie noch kein Ende.“

„Hast du dir noch keins ausgedacht?“, wollte das Kind wissen.

Duncan kniff den Mund zusammen.

„Wie ich schon gesagt habe: Es ist eine wahre Geschichte, keine ausgedachte. Wahre Geschichten brauchen lange, um sich zu entfalten. Man kann sich ihr Ende nicht aus der Luft greifen. Am Anfang der Geschichte geschieht etwas – manchmal etwas Furchtbares –, und dann müssen wir auf das Ergebnis warten. Verstehst du das, Bursche?“

„Ich glaube schon.“

„Gut. Dann musst du gut zuhören und dir die Geschichte merken, damit du sie eines Tages erzählen kannst. Vor dir und mir haben viele MacIntoshs in diesem Tal gelebt, und ich werde dafür sorgen, dass du über jeden von ihnen alles weißt, bevor ich die Erde verlasse. Eines Tages wirst du hier am Feuer sitzen, Bursche, und deinen Söhnen oder Enkeln die Geschichten erzählen, und sie werden es ebenso halten.“

Der Junge sah über die Schulter zum Loch von Glen Dorian hinaus, der nach den Ottern benannt war, die immer darin gelebt hatten. Sein schwarzes, tiefes Wasser schimmerte im Mondlicht.

„Werde ich herausfinden, wie die Geschichte ausgeht?“, fragte der Junge. Er ließ seine Mutter stehen, um eine Hand auf Duncans Knie legen zu können.

„Das hoffe ich. Aber jetzt solltest du erst einmal hören, wie alles angefangen hat.“ Der alte Seannachaidh hob den Jungen auf seinen Schoß, gab ihm einen Kuss auf den dunklen Schopf und sah den Rest seiner Zuhörerschaft an – ein halbes Dutzend Männer des MacIntosh-Clans und Frauen und Kinder, die an diesem Sommerabend um das lodernde Feuer saßen und unter dem Sternenhimmel Geschichten lauschten, wie es vor ihnen schon andere MacIntoshs getan hatten.

Duncan starrte ins Feuer, als sähe er darin Gesichter und Ereignisse, und die anderen beugten sich vor, als er zu sprechen begann.

„Dies ist eine Geschichte von Liebe und Hass und Krieg – und auch von Güte. Es begann vor vielen Jahren, während der Ereignisse 1745, als sich die Clans erhoben, um für Bonnie Prinz Charles aus dem Hause Stuart zu kämpfen. Damals, als sich jeder für die eine oder andere Seite entscheiden musste, geschahen viele Dinge, schreckliche, traurige Dinge, die immer noch auf diesem Tal lasten, darunter ein mächtiger Fluch.“

„Mairis Fluch“, flüsterte jemand ängstlich, und Gemurmel stieg mit dem Rauch des Feuers empor.

„Aye“, sagte Duncan. „Mairis Fluch. Hört jetzt zu! Ich werde euch alles erzählen, was ich weiß. Doch dieser Fluch lastet auf unserem Tal und wartet auf den Tag, an dem jemand kommt, um ihn aufzuheben und Liebe und Glück zurück nach Glen Dorian zu bringen.“

„Und Küsse?“, fragte der Junge.

„Küsse auch“, sagte Duncan und begann mit seiner Geschichte.

1. KAPITEL

Glenlorne, Sommer 1817

Lady Megan McNabb stand neben dem alten Turm von Glenlorne und sah aufs Tal hinab. Der Sommer war auf seinem Höhepunkt, er schwebte auf dem Scheitelpunkt zwischen frischer grüner Vollkommenheit und dem anmutigen Übergang in die goldene Pracht des Herbstes. Megan nahm jede Kleinigkeit in sich auf: den alten Turm hinter ihr, die neue Burg drunten im Tal, den Loch und wie die Wolken auf den Gipfeln der höchsten Hügel ruhten, die das Tal beschützten, und seufzte. Sie würde den Herbst hier vermissen, doch im Frühling würde sie zurückkehren und ihr Zuhause nie wieder verlassen, ganz egal, was andere von ihr erwarteten.

Sie schaute auf Glenlorne Castle hinab, und das schlechte Gewissen löste ihre trotzige Haltung ab. Sie sollte packen. Sie und ihre Schwestern würden in wenigen Stunden abreisen. Sie würden die Kutsche besteigen und nach Dundrummie Castle fahren, um dort bei ihrer Mutter zu bleiben. Die verwitwete Countess of Glenlorne hatte sich zurückgezogen, um bei ihrer ebenfalls verwitweten Schwägerin zu wohnen, nachdem ihr Stiefsohn Alec seinen Platz als Earl of Glenlorne eingenommen hatte. Alec war frisch verheiratet, und es war beschlossen worden, dass seine Schwestern einige Monate bei ihrer Mutter verbringen sollten, um den Jungvermählten die Gelegenheit zu geben, ihre Flitterwochen ungestört zu genießen.

Megan verstand, warum sie das Haus verlassen sollten. Das tat sie wirklich, schließlich war sie selbst verliebt. Doch sie konnte nicht anders, als ihren Bruder um sein Glück zu beneiden. Megans Liebster war weit fort, und sie und er konnten nicht heiraten. Jedenfalls jetzt noch nicht, und das schien höchst ungerecht zu sein.

Oh, Eachann, allerliebster Eachann! Sie hatte ihn hier an dieser Stelle zum Abschied geküsst, im Schatten des alten Turms, und ihm versprochen, auf ihn zu warten, ihre Liebe geheim zu halten, bis er zurückkehrte und offiziell um ihre Hand anhalten konnte. Sie legte einen Finger an ihre Lippen, Lippen, die er noch vor weniger als einem Monat geküsst hatte, und spürte, wie sich ihr Herz sehnsuchtsvoll zusammenzog.

Die Zeit würde bestimmt rascher verrinnen, wenn sie woanders war, wo nicht alles sie an Eachann erinnerte. Es war schwer, ihre sehnsüchtigen Seufzer zu verbergen. Doch es musste sein. Ihre Mutter würde die Partie mit dem Argument ablehnen, sie sei der Tochter eines Earls nicht würdig. Alec würde sagen, sie sei noch zu jung, um zu wissen, was sie wirklich wolle. Caroline, Alecs Ehefrau, würde ihr sanft mitteilen, sie solle noch etwas mehr von der Welt sehen, eine Saison in London verbringen, bevor sie ihre Wahl traf und sich dem Glück der Ehe überließ. Ihre Schwestern würden Megan necken, weil sie sich in den mittellosen Sohn des Jagdaufsehers von Glenlorne verliebt hatte. Nein, lieber sollte es ein Geheimnis bleiben, von dem nur sie und ihre große Liebe wussten. Sie nahm den schmalen Freundschaftsring aus der Tasche, ließ ihn über den Finger gleiten und sah den Schmuck lächelnd an. Bald, sehr bald würde Eachann zurückkommen. Reich, ein weltläufiger Mann, und dann konnte ihnen niemand mehr etwas verbieten.

Doch jetzt würde Megan nach Dundrummie fahren und dann im Frühling wegen der Saison von dort weiter nach London. Ihre Mutter erwartete von ihr, dass sie einen reichen englischen Lord bezirzte, ihn noch vor dem Sommer heiratete, um danach für immer in England zu leben. Lady Devorguilla McNabb hatte die gesamten neunzehn Jahre seit Megans Geburt und die siebzehn Jahre des Lebens ihrer Schwester Alanna und jede Minute des Lebens der zwölfjährigen Sorcha damit verbracht, die Hochzeit ihrer Töchter mit Engländern zu planen. Sie fand, Engländer – ob von einfacher oder adeliger Herkunft, ob arm oder reich – seien schottischen Männern in jeder Hinsicht überlegen.

Megan runzelte die Stirn. Ihre Mutter würde von ihrer ältesten Tochter sehr enttäuscht sein, aber eine Frau konnte nichts dagegen tun, wenn sie sich verliebte, und Megans Herz war nun einmal vergeben. Sie liebte Eachann Rennie, den Sohn des Jagdaufsehers, und war ganz sicher alt genug, um zu wissen, was sie wollte. Schon der Gedanke, einen englischen Lord zu heiraten, den ihre Mutter für sie ausgesucht hatte – einen vollkommen fremden Menschen –, und ihre Heimat nie wiederzusehen, ließ sie schaudern.

Megan betrachtete wieder das Tal, ohne es richtig wahrzunehmen. Ihr Herz segelte gemeinsam mit Eachann auf hoher See, wo er sich um ein Vermögen bemühte, damit er als wohlhabender Mann mit einem schönen goldenen Ring zurückkehren konnte. Nicht einmal ihre Mutter konnte dann noch gegen ihn etwas einwenden. Sie würden in der Kapelle von Glenlorne heiraten, ein großes Haus unten im Tal bauen und dort vergnügt bis an ihr seliges Ende leben.

„Megan!“ Sie drehte sich um, als sich Sorcha, ihre jüngste Schwester, den Hügel hochkämpfte. Ihre Zöpfe hatten sich geöffnet; rostrote Locken umrahmten ihr erhitztes, sommersprossiges Gesicht. Auf ihrem Kleid, das sie sich in den Gürtel gesteckt hatte, waren Grasflecken, ihre nackten Füße schlammig. Megan fragte sich, wie ihre Mutter aus Sorcha je die Braut eines Engländers machen würde. Andererseits war ihre kleine Schwester erst zwölf, und wenn Devorguilla sie zu ihrem Debüt nach London fortschleppen würde, wäre sie eine vollkommene Dame, passend für die Ehe mit einem Duke. Vielleicht. Sie wünschte ihrer Mutter – und dem unbekannten Lord – alles Gute mit Sorcha.

Ihre Schwester hechelte wie ein Hund, als sie nach Atem rang.

„Ich suche dich schon seit beinahe einer Stunde. Muira sagt, es sei fast Zeit, um loszufahren, und du hättest nicht einmal zur Hälfte gepackt. Wenn wir in Dundrummie sind, wirst du nichts anzuziehen haben.“

Megan schaute noch einmal ins Tal und beachtete ihre Schwester nicht.

„Ich verabschiede mich nur von Glenlorne. Jedenfalls vorläufig.“

„Man sollte sich lieber von Menschen verabschieden statt von Orten“, sagte Sorcha. „Ich war schon im Dorf und habe den Leuten dort gesagt, dass ich im Frühling zurückkomme.“ Sie lächelte ihre Schwester verschmitzt an. „Du allerdings nicht, du wirst für deine erste Saison in London sein, gelangweilt von den Aufmerksamkeiten dieser albernen englischen Lairds.“

Megan war plötzlich verärgert.

„Lords, Sorcha, nicht Lairds. Und hör auf mich zu ärgern!“, befahl sie und stolzierte den abschüssigen Pfad, der zur Burg führte, hinunter.

Sorcha pflückte eine Blume und hüpfte wie eine Bergziege neben ihre Schwester. Eine nach der anderen zupfte sie die Blütenblätter ab.

„Wie viele englische Lords wird Megan McNabb küssen?“, fragte sie und tanzte um ihre Schwester herum. „Einen …, zwei …, drei …“

„Hör auf damit!“, sagte Megan und schnappte sich die Blume. Sie würde keinen außer Eachann küssen. Doch ihre Schwester pflückte eine neue Blume.

„Wie viele englische Lords werden zu Alec kommen und um Meggys Hand bitten?“, sang sie. Doch Megan schnappte sich auch diese Blüte, bevor Sorcha erneut zu zählen beginnen konnte.

„Ich werde nicht nach London gehen und niemals einen englischen Lord heiraten“, sagte sie fest.

„Wir werden sehen, was Mama dazu sagt“, antwortete Sorcha. „Und Muira würde sagen, ‚niemals‘ sei eine sehr lange Zeit.“

Megan blieb stehen.

„Was genau hat Muira gesagt?“ Die alte Muira hatte das zweite Gesicht. Jedenfalls sagte man das über sie.

Sorcha grinste wie ein Pirat, rieb sich mit ihren schmutzigen Händen über das Gesicht und hinterließ einen dunklen Schmierfleck.

„Ich dachte, du glaubst nicht an die alten Bräuche.“

Megan verdrehte die Augen. Dann ließ sie den Blick über die sanften grünen Flanken der Hügel bis zu ihren Gipfeln schweifen und dachte an die Legenden und Erzählungen, an die alten Geschichten, den Glauben, dass die Magie hier im Tal zu Hause war.

Natürlich glaubte sie daran.

Sie glaubte sogar so sehr daran, dass sie beschlossen hatte, die Bewahrerin der Clan-Geschichten zu werden, nachdem der alte Seannachaidh von Glenlorne im vergangenen Winter gestorben war, ohne einen Nachfolger zu benennen. Sie liebte es, den alten Geschichten zu lauschen und hatte vor, sie niederzuschreiben, damit sie nicht verloren gingen. Aber jetzt – in der lästigen Gesellschaft Sorchas – hob sie nur das Kinn. Jetzt war kaum der richtige Zeitpunkt für Fantastisches.

„Natürlich glaube ich nicht an Magie. Um das zu bekommen, was man sich wünscht, ist es sehr viel nützlicher, vernünftig zu sein, als Blütenblätter zu zählen oder sich auf die Vorahnungen einer alten Frau zu verlassen.“

„Muira hat einen Engländer und einen Schatz vorausgesehen“, sagte Sorcha, die sich von Megans Gerede über Vernunft nicht abschrecken ließ. „Direkt im Rauch des Feuers, so klar wie der helle Tag.“

Megan spürte, wie ihr Mund trocken wurde.

„Für mich?“, fragte sie stockend.

„Das wusste sie nicht. Aber sicher für eine von uns.“

Megan seufzte erleichtert. Vielleicht war sie in Sicherheit. Hätte Muira doch nur Eachann gesehen, auf dem Weg nach Hause, mit leichtem Herzen und schwerer Börse.

„Das ist das Problem mit Muiras Vorahnungen. Sie sieht Dinge, weiß aber nicht, was sie bedeuten.“

„Trotzdem wäre ein Schatz nett“, zwitscherte Sorcha. „Eine Kiste mit Gold oder eine Höhle voller Perlen und Rubine …“

„Nicht, wenn ein Engländer dazugehört“, murmelte Megan.

„Och, ich mache mir deshalb keine Sorgen. Ich bin erst zwölf. Zu mir wird er nicht kommen, das ist sicher. Aber du bist schon fast zwanzig. Muira zufolge wird es allerhöchste Zeit, dass du heiratest. Muira sagt, du solltest eigentlich schon ein Dutzend Kinder haben.“

Megans Wangen glühten.

„Muira sagt“, brummelte sie. Sie und Eachann hatten über die Kinder gesprochen, die sie haben würden – vier oder fünf starke Burschen, die ihrem Vater ähnelten, und zwei oder drei hübsche kleine Mädchen. Ihr Herz schlug schneller vor Sehnsucht. Vielleicht sollte sie Muira bitten, noch einmal ins Feuer zu sehen, nur um sicher zu sein …

Sie kamen zum Pfad, der am Loch entlangführte. Er war schattig, eine kühle Oase außerhalb der Reichweite der brennenden Sonne. Megan blieb stehen, sah auf das dunkle Gewässer hinaus und fragte sich, ob Eachann auch gerade auf eine ganz andere Art Wasseroberfläche schaute und sich ebenso nach ihr sehnte wie sie sich nach ihm.

„Glaubst du, uns bleibt noch Zeit zum Schwimmen?“, fragte Sorcha und plätscherte mit ihren Zehen im Wasser. „Es ist heute ungewöhnlich heiß.“

Megan musterte das erhitzte Gesicht ihrer Schwester und bemerkte den Schmutz darauf. Morgen würden sie in Dundrummie sein, und Mama würde erwarten – nein, darauf bestehen –, dass sie sich wie Damen verhielten. Schwimmen und unbeschwert in den Hügeln herumzustreifen würde es dann nicht mehr geben. Sorcha würde drinnen bleiben und Englisch lernen müssen, und Megan und Alanna erwarteten lange Unterrichtsstunden in Tanz und Benimm. Außerdem würden sie endlose Anproben für eine große Garderobe aus steifen englischen Kleidern über sich ergehen lassen müssen – für die bevorstehende Londoner Saison – und Korsetts, die so eng waren, dass sie ein Mädchen in zwei Stücke schneiden konnten.

Der Loch winkte ihnen zu. Megan lächelte ihre Schwester an, während sie ihre Schuhe abstreifte und sich das Kleid über den Kopf zog.

Aye, warum eigentlich nicht?“, fragte sie. „Ich bin schneller als du beim schwarzen Felsen.“ Sie tauchte in das kühle Wasser und kam kurz darauf nach Luft schnappend wieder an die Oberfläche. Durch die Tropfen an ihren Wimpern sah sie die Hügel nur undeutlich. Vergnügen, das reine, süße Vergnügen!

Sie lachte und tauchte wieder unter. Was auch immer die Zukunft für sie bereithalten mochte, heute wollte sie glücklich sein.

2. KAPITEL

Bellemont Park, Derbyshire, England, Juli 1817

Lord Christopher Linwood ging im Salon von Bellemont Park auf und ab. Bellemont Park war sein liebstes und elegantestes Haus und das Heim, das er bald würde verlassen müssen.

„Bin ich nicht der Earl of Rossington und das Oberhaupt der Familie?“, wollte er von seiner Mutter wissen, die ruhig am Fenster saß und stickte.

Sie sah hoch, während sie einen Faden durch das feine Leinen zog.

„Natürlich bist du das, mein Lieber. Niemand bezweifelt das.“

Er zeigte auf den herrlichen Raum, den vergoldeten Putz, die schönen Gemälde, die teuren Teppiche, Uhren und Möbel.

„Und ist das Heim eines Mannes nicht seine Burg, sein Zufluchtsort, sein unantastbares Recht?“

Die Gräfin machte einen weiteren Stich.

„Allerdings, aber leider bist du Junggeselle, Kit.“

„Was hat das damit zu tun?“

„Ich sage nur, dass – wärest du verheiratet – deine Frau es nicht gutheißen würde, dass dich deine Geschwister so bedrängen, wie sie es tun. Du hättest Nein sagen können. Deine Frau – wenn du eine hättest – hätte es ganz sicher getan. Aber als Junggeselle ist dein Haus – beziehungsweise deine Häuser in diesem Fall – weit offen. Wozu braucht ein alleinstehender Mann ein ganzes Schloss für sich selbst, ganz zu schweigen von fünf Schlössern?“

Kit sah sie stirnrunzelnd an. Doch sie hatte ihre Aufmerksamkeit einem komplizierten Stich zugewandt und bemerkte Kits Blick nicht.

„Sie gehören mir“, sagte er. Er wusste, dass er gereizt klang, denn jetzt war es zu spät, um der Sache Einhalt zu gebieten. Das hätte er schon vor Wochen tun sollen oder genau genommen vor anderthalb Jahren, als er den Titel und das Durcheinander, das damit verbunden war, übernommen hatte. „Ich bezahle die Rechnungen und gewähre meinen Geschwistern großzügige Zuwendungen. Arabella ist verheiratet und hat ein eigenes Heim, wenn ich darauf hinweisen darf und …“

Die Countess sah ihren Sohn überrascht an und ließ ihren Stickrahmen in den Schoß sinken.

„Aber wirklich, Kit, sei vernünftig! Wie kannst du erwarten, dass deine Schwester nach einer solchen Beleidigung bei Collingwood bleibt? Ihm muss eine Lektion erteilt werden, und ein paar Wochen ohne seine Frau zurechtzukommen wird ihm ausgesprochen guttun. Tatsächlich wird es beiden guttun.“

„Sie kränken und beleidigen sich jeden Tag unverzeihlich. Aber ist ist klar, worin die Beleidigung eigentlich genau besteht. Dieses Mal schwört sie, sie werde niemals zu ihm zurückkehren, und droht damit, endgültig auf Bellemont wohnen bleiben zu wollen“, sagte Kit.

„Unsinn“, murmelte die Countess. „Sobald Collingwood sich entschuldigt, wird sie ihm erleichtert um den Hals fallen. Du musst dir keine Sorgen machen. Es wird nicht lange dauern. Schlimmstenfalls bis Weihnachten.“

Kits Augenbrauen schossen nach oben. Er unterbrach seinen Weg durch den Salon und starrte seine Mutter mit offenem Mund an.

„Ich soll mein Heim bis Weihnachten nicht mehr betreten dürfen?“

Sie sah weg.

„Nun, ich bin sicher, Arabella wird unter keinen Umständen länger als bis zum Start der Saison im nächsten Frühling bleiben.“

Kit wurde die Brust eng.

„Nächsten Frühling? Das sind wohl kaum ein paar Wochen. Bis dahin ist es fast ein Jahr.“

Die Countess lächelte gezwungen.

„Sei ein Schatz und läute nach Tee, ja? Es ist heute sehr heiß, sogar für Juli.“ Sie sah zu, wie er ihren Wunsch erfüllte, runzelte aber die Stirn, als er heftig an der Glocke riss. „Ich finde immer noch, es ist deine Schuld. Du hättest anbieten können, Frieden zwischen ihnen zu stiften, oder du könntest auf Bellemont bleiben und deine Schwester überreden, früher zu ihrem Ehemann zurückzukehren. Du bist das Oberhaupt der Familie.“

Kit runzelte die Stirn. Oberhaupt der Familie! Er war der Zweitgeborene, bis vor knapp zwei Jahren für die Armee bestimmt, nicht für den Titel. Dann hatte es einen Unfall gegeben, bei dem sowohl sein Vater als auch sein Bruder umgekommen waren. So war er Earl of Rossington geworden. Er erinnerte sich daran, wie seine Schwester in fassungslosem Staunen auf ihn gezeigt hatte.

Kit soll Earl werden?“, hatte sie gekräht und war in Lachen ausgebrochen. „Was für eine Katastrophe!“

Es war allerdings eine Katastrophe. Von einem Tag zum anderen war er von einem Sohn, der nicht groß beachtet wurde, zu einem Mann geworden, von dem erwartet wurde, dass er seine Familie nicht nur leitete und führte, sondern sich auch um alle Bedürfnisse ihrer Mitglieder kümmerte. Die Karriere in der Armee, für die er erzogen worden war, kam nicht mehr infrage. Er trug nun Verantwortung. Verantwortung war zu einem der Worte geworden, die er am wenigsten leiden mochte. Es war nicht so, dass er ein schwacher Mensch war. Zwar war er nicht zum Earl erzogen worden, dennoch kannte er seine Vorlieben und wusste, was er wollte. Es war nur so, dass seiner starken Mutter, seiner lauten Schwester und seinem hilfsbedürftigen Bruder die Stirn bieten zu müssen dem Versuch glich, einem starken Wind zu sagen, er möge sein Wehen einstellen. Er würde weiterhin wehen, egal, ob man es mochte oder nicht. Da blieb nur abzuwarten und jeden stürmischen Wind auszusitzen.

Es war ja schön und gut, dass seine Mutter vorschlug, dass er in den Zwist seiner Schwester eingreifen solle. Doch wie konnte er Arabellas Probleme lösen? Ihre ehelichen Streitigkeiten waren legendär. Sie und ihr Ehemann hatten beide ein hitziges Temperament und waren so ziemlich die stursten Vertreter des derzeit lebenden englischen Adels. Er konnte – jedenfalls nahm er das an – ihr befehlen, zu ihrem Mann zurückzukehren. Doch dann würde die Schuld für jede weitere Zwietracht zwischen den Collingwoods ihm angelastet werden. Er würde seine Hand lieber in ein Hornissennest stecken, als sich ins Zentrum ihrer Fehde zu begeben. Das war sinnlos.

„Wie du gesagt hast, Mutter, bin ich Junggeselle. Welchen Ratschlag könnte ich ihr da geben?“

Seine Mutter lächelte.

„Dann reise nach Shearwater und mach es dir für einige Wochen dort bequem.“

Sein zweites Haus, ein Schatzkästlein am Meer.

„Geht nicht. Alan verbringt dort seine Flitterwochen. Er lässt sein eigenes Haus renovieren. Es wird nicht vor November fertig sein.“

„Ja, es wäre heikel mitten in die Hochzeitsreise deines Bruders hineinzuplatzen. Nun, wie sieht es mit Linwood House aus?“, fragte sie.

„Nach London gehen? Zu dieser Jahreszeit?“, fragte Kit. „Mitten im Sommer ist es in der Stadt zu heiß und zu langweilig.“ Er ging zum Kamin und betrachtete das Gemälde darüber. Es war ein schönes Ölbild von Coalfax Castle, seinem vierten Besitz. „Es gibt immer …“

Seine Mutter sprang auf die Füße.

„Sprich es nicht aus! Coalfax gehört bis Weihnachten wie jedes Jahr mir! Ich habe schon alles vorbereiten lassen.“

„Aber das Witwenhaus auf Coalfax ist erst im vergangenen Jahr aufwendig instand gesetzt worden. Ich kann mich an die Rechnungen erinnern. Du hättest es dort sicher sehr bequem.“

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

„Das war vor zwei Jahren, und das Haus ist zu klein. Meine Cousine Winnifred wird wie immer auch kommen. Wir brauchen ausreichend Platz für uns beide, sicherheitshalber jede einen Flügel für sich.“

„Sicherheitshalber? Jedes Jahr geschieht dasselbe: Winnifred kommt an, es gibt Freudentränen und ein paar Tage, die ihr mit Klatsch und in Freundschaft und Frieden miteinander verbringt. Dann irritiert euch beide irgendeine Kleinigkeit. Kurz darauf redet ihr nicht mehr miteinander, und für den Rest ihres Besuchs wohnt ihr in verschiedenen Flügeln des Hauses. Warum bestehst du dennoch darauf, die Hälfte des Jahres mit ihr zu verbringen? Ihr streitet euch wie Katzen. Würde es nicht reichen, wenn ihr euch schreibt? Jedenfalls bleibt immer noch genügend Zeit, um ihr mitzuteilen, dass sie in diesem Jahr nicht kommen kann.“

Seine Mutter schob störrisch das Kinn vor.

„Wie gefühllos du sein kannst, Kit! Sie ist meine Cousine, und wir sind beide einsame Witwen. Natürlich müssen wir einander sehen. Deine Gesellschaft wäre uns nicht willkommen. Du wirst uns extrem langweilig finden. Was ist mit Turnstone Abbey?“

Turnstone war Kits letztes Anwesen. Es lag – versteckt in den Cheviot Hills – im Norden Englands. Er liebte es, doch zurzeit wurde es umfangreich renoviert, was dringend notwendig war, und war deshalb unbewohnbar.

Und damit blieb kein Haus übrig, in dem er sich einrichten konnte.

Er dachte noch über seine Perspektiven nach, als Swift, der treue Butler, der der Familie diente, seit Kits Vater Earl geworden war, ein Teetablett hereintrug. Swift gehörte genauso zum Inventar wie der Springbrunnen im Rosengarten, der Apollotempel auf dem Hügel und die Familienporträts in der Galerie. Er war lange genug hier, um ihn ebenso wie den Rest der Familie dort verewigen zu lassen. Swift sorgte dafür, dass alles in Ordnung war, kannte die Gepflogenheiten und Vorlieben der Familie und war dafür verantwortlich, dass jede Kleinigkeit auf Bellemont Park reibungslos lief. Kit vergötterte den alten Knaben.

„Vielleicht könnte ich einfach hierbleiben“, wagte Kit zu sagen und hielt den Blick auf das gelassene, beruhigende und ausdruckslose Gesicht des Butlers gerichtet.

„Das könntest du durchaus. Arabellas Gesellschaft wäre doch nicht so schlecht, oder? Sie bringt die Mädchen mit und hat fest vor, Gäste einzuladen. Vielleicht sogar eine potenzielle Braut für dich“, überlegte seine Mutter laut.

Sofort spürte Kit eine nervöse Anspannung. Seit er den Titel geerbt hatte, hatte seine Schwester ihm mit erschreckender Regelmäßigkeit ihre unverheirateten Freundinnen vorgeführt oder deren unverheiratete Freundinnen oder sogar geeignete Töchter flüchtiger Bekannter.

„Ich werde ihr verbieten, Gäste einzuladen“, sagte er.

Die Lippen seiner Mutter kräuselten sich bei dieser Bemerkung.

„Es ist dein Haus, Kit“, sagte sie wieder. „Du kannst die Regeln ganz nach Belieben festlegen, nehme ich an. Doch Arabella würde es nicht mögen.“

Natürlich würde sie das nicht. Sie würde ihm das Leben zur Hölle machen!

Er schlug sich mit der Faust in die Handfläche.

„Wenn sie hierbleiben will, dann werde ich dieses Mal derjenige sein, der die Regeln festlegt.“ Er beachtete das Schmunzeln seiner Mutter nicht.

Vielleicht wäre es gar nicht so übel. Bellemont war ein außerordentlich weitläufiges Haus, und es war Sommer. Bei geöffneten Fenstern und genügend Platz für sich würde er kaum merken, dass seine Schwester und ihre fünf Kinder da waren. Er würde es nicht gestatten, dass unverheiratete weibliche Gäste ihren Fuß hoffnungsvoll über die Türschwelle setzten. Er war robust, er würde das einige Wochen lang hinbekommen. Es würde nicht schlimmer sein, als wenn er in die Armee eingetreten und zu Kämpfen nach Spanien abkommandiert worden wäre und sich dort eine Unterkunft mit jemandem teilen müsste. Und der Vergleich hinkte nicht einmal: Die Bemerkungen seiner Schwester waren scharf wie Bajonette, mit denen sie ihre Opfer grausam verletzte.

Kit machte es sich in einem eleganten Lehnstuhl gemütlich, nippte an seinem Tee und griff nach einem Kirschtörtchen auf dem Tablett, das ihm der Butler anbot. Swift wusste, dass Kit dieses Gebäck am liebsten mochte. Er kaute versonnen und genoss den vornehmen Frieden und die Behaglichkeit seines Heims. Sein Heim war allerdings seine Burg, und er würde es nicht zulassen, daraus vertrieben zu werden. Nur ein paar strenge Regeln und er würde – wenn auch mehr schlecht als recht – mit seiner Schwester auskommen. Er begann, sich gemeinsame Spaziergänge am See vorzustellen, Picknicks, ruhige Schachpartien am Abend …

Die Tür flog auf, und ein Wirbelwind schoss ins Zimmer. Spitze Schreie und lautes Bellen durchschnitten die schwüle Luft. Swift wurde umgestoßen und niedergeworfen. Mit ihm sanken die Törtchen zu Boden.

Ein kleines Bündel landete auf Kits Schoß. Er ließ die Teetasse fallen, um es aufzufangen, und hörte das zarte Chinaporzellan zerbrechen.

Ein Paar blaue Augen blickten zu ihm empor.

„Hallo, Onkel Kit“, sagte seine sechsjährige Nichte, klimperte gekonnt mit den Wimpern und schenkte ihm ein Lächeln, das ihre Zahnlücken sehen ließ.

„Hallo Molly!“, brachte er heraus.

Ein Paar kleine Hände packten Mollys blonde Locken und zogen daran.

„Ich bin jetzt dran, auf Onkel Kit zu sitzen!“, sagte Rebecca.

Molly stieß ein lautes Quietschen hervor, das Kit Kopfschmerzen bescherte, und klammerte sich an dem fest, was sie am leichtesten erreichen konnte: seine Krawatte. Sie wollte ihren Platz unbedingt behalten, und es war ihr egal, ob sie ihn dafür erwürgte. Rebecca schlug nach Molly, verfehlte sie aber. Dafür traf sie Kit mit ihrer sieben Jahre alten Faust am Kinn. Seine Zähne klapperten. Wenn es Rebecca nicht gelang, erwachsen zu werden und sich gut zu verheiraten, konnte sie als Preisboxer ein Vermögen machen, dachte er.

Jetzt mischte sich Rebeccas Zwillingsschwester Rose in die Schlägerei ein und versuchte, Molly zu vertreiben, indem sie sich auf sie setzte. Das Knacken des Stuhls unter ihm hörte er zu spät. Es blieb ihm kaum Zeit, die Arme schützend um die hin und her rutschende Schar junger Drachen zu werfen, bevor der Stuhl unter ihm zusammenbrach. Seine Mutter schrie auf. Ihre Sorge galt natürlich ausschließlich den Mädchen. Dass sie ihm die Lunge zusammenquetschten und lebenswichtige Organe zerstörten, war ihr egal. Kit schloss die Augen und hoffte, sein Bruder werde seine Sache als Earl besser machen als er und fühlte sich in seinen Flitterwochen durch Kits unverhofftes Ableben nicht allzu sehr belästigt.

„Ist das die angemessene Art, seine Nichten zu begrüßen?“, fragte Arabella. Er öffnete die Augen, zwang Luft in seine Lungen und schaute zu seiner Schwester hinauf, die sich über ihm erhob. „Wirklich, Kit, du solltest endlich erwachsen werden. Es wird allerhöchste Zeit. Solche Spiele sind zu rau für junge Damen.“ Sie klatschte in die Hände. „Mädchen, geht sofort ins Kinderzimmer!“

Es überraschte ihn nicht, dass der Nachwuchs seiner Schwester nicht gehorchte. Stattdessen begannen die Mädchen, die Überreste der Törtchen vom Tablett herunterzuschlingen, während sich Swift langsam aufrappelte und sich die schlimmsten Krümel und zerdrückte Kirschen von den Kleidern wischte.

„Swift, vielleicht könnten Sie mehr Tee bringen?“, fragte seine Mutter. Sie warf einen Blick auf die Reste der Kirschtörtchen, die den Butler wie Blutflecke nach einer Schlacht besudelten. „Natürlich erst, nachdem Sie die Kleidung gewechselt haben.“

Swift verbeugte sich leicht.

„Natürlich, Mylady“, sagte er hoheitsvoll, bevor er das verwüstete Tablett nahm und zur Tür humpelte.

„Sind die Jungs nicht dabei?“, fragte die Countess ihre Tochter.

Arabella warf den Kopf zurück.

„Sie sind bei Collingwood. Er besteht darauf, dass sie den Sommer unter seiner Aufsicht mit ihrem Tutor verbringen. Als könne ich sie hier nicht beaufsichtigen oder Kit bitten, ihre Stunden zu überwachen. Wer könnte die Erziehung eines künftigen Earls wohl besser lenken als ein anderer Earl?“

„Ich?“, fragte Kit und schaute von den Überresten des kaputten Stuhls auf. Niemand sonst schenkte dem zersplitterten Holz oder Kits eigenem Zustand Beachtung. Er berührte vorsichtig sein geprelltes Kinn. „Ich stimme Collingwood zu. Der fragliche Earl sollte der Vater der Kinder und nicht ihr Onkel sein.“ Das gefährliche Funkeln in Arabellas Augen sah er zu spät.

„Wenn du eigene Söhne hast, Christopher Linwood, wirst du es verstehen.“

Es krachte in einer Ecke. Kit blickte auf und sah seine Nichten auf einem Regal mit seltenen Büchern und chinesischem Porzellan herumklettern. Er fragte sich, ob Arabella nur deshalb gekommen war, weil ihr Nachwuchs ihr eigenes Haus zerstört und unbewohnbar gemacht hatte. Ihm tat ihr Butler leid.

Während seine Mutter ihre Stickutensilien aus der Gefahrenzone brachte, überlegte Kit, ob er noch einmal läuten sollte, um zu fragen, wo sich das Kindermädchen versteckte. Er stellte sich die arme Frau vor, wie sie verstört brabbelnd unter einer Treppe saß, von ihrer Last erdrückt, ein zitterndes Wrack.

„Vielleicht sollte das Kindermädchen sie nach oben bringen …“, begann er diplomatisch.

„Wir befinden uns gerade zwischen zwei Kindermädchen“, unterbrach ihn Arabella. „Meine Zofe kümmert sich bis auf Weiteres um sie. Doch sie packt gerade meine Sachen aus.“

Sie schien vollkommen blind für die Tatsache, dass ihre Kinder nun auf die Fensterbank gestiegen waren und offensichtlich in den Garten entschwinden wollten, wo es Bienen und dornige Rosen und einen tiefen Teich voll griesgrämiger Aale gab.

Er ging durchs Zimmer und läutete selbst. „Ich werde eins der Mädchen holen lassen“, sagte er.

„Wie du wünschst, Kit. Es ist immer noch dein Zuhause“, sagte Arabella, und plötzlich empfand Kit eine tiefe Zuneigung für den Mann seiner Schwester.

Swift öffnete vorsichtig die Tür und trug wieder ein Teetablett herein. Sein Hemd war tadellos, seine Haare gekämmt; die Mädchen quietschten. Die Augenlider des freundlichen Dieners zuckten.

Kit schwor sich, dass er nicht heiraten würde, bevor er nicht dazu gezwungen war, weil er einen Erben zeugen musste. Wenn die Zeit gekommen war, würde er sich eine sanftmütige, ruhige Frau suchen und als Hochzeitsgeschenk ein sechstes Anwesen kaufen. Dort würde er sie unterbringen und nur an sie denken, wenn es unumgänglich war – und wie oft konnte das, bitte sehr, schon sein?

Er winkte den Butler herbei.

„Swift, sorgen Sie dafür, dass meine Koffer vom Dachboden geholt werden, und bitten Sie meinen Kammerdiener, sofort nach oben zu kommen“, flüsterte er.

Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg nach Turnstone Abbey.

3. KAPITEL

Dundrummie Castle, Juli 1817

Megan unterdrückte einen Fluch, als die Näherin schon wieder eine Nadel durch den Musselin in ihre Haut stach. Sie warf der Frau einen scharfen Blick zu und stieg von dem Hocker, auf den man sie gestellt hatte.

„Dafür ist es zu heiß!“, sagte sie. Wie gerne sie jetzt im Loch von Glenlorne geschwommen wäre!

„Du musst vorbereitet sein, Megan“, beschied sie ihre Mutter, die friedlich auf ihrem Stuhl saß und der Prozedur zusah. Ihr eigenes Kleid war einfach perfekt: rosa und gekräuselt und nach der neuesten französischen Mode geschnitten. „Du musst noch viel lernen, bevor wir im kommenden Frühjahr nach London reisen, und du brauchst Dutzende von Kleidern.“

„Dutzende?“, keuchte Sorcha, und Megan versuchte sich vorzustellen, wie lange es wohl dauern würde, so viele Kleidungsstücke anzuprobieren.

„Morgenkleider, Teekleider, Ausgehkleider, Abendkleider, Umhänge, Hauben, Nachtkleider …“, zählte die Näherin auf. Sie sprach undeutlich, denn sie hatte den Mund voller Nadeln.

„Den ersten Eindruck kann man nie wiederholen“, sagte ihre Mutter.

Megan seufzte, bestieg wieder den Hocker und stand still. Sie hatte versprochen, eine Stunde im Dorf zu verbringen, die Einheimischen zu besuchen, ihre Geschichten aufzuschreiben und sie ihrer wachsenden Sammlung hinzuzufügen. Natürlich würde ihre Mutter das weder verstehen noch unterstützen. Megan hatte ihr erzählt, sie wolle die Kranken und Alten besuchen und für die Bedürftigen Körbe voll Essen mitnehmen. Das war nach Ansicht ihrer Mutter bewundernswert – sogar englisch! –, während sie das Sammeln von Clan-Geschichten für Zeitverschwendung hielt.

„Stell dich gerade hin, Margaret“, befahl ihre Mutter. Sie benutzte die englische Version von Megans Namen. Das war eine der Änderungen, auf denen sie – in Vorbereitung ihres Londoner Aufenthalts – bestanden hatte. Sorcha und Alanna – Sarah und Alice – sahen Megan mitfühlend an, während sie kläglich darauf warteten, selbst mit Musselin und Nadeln gepiesackt zu werden. Wenigstens würde Alanna, die nur ein Jahr jünger war als Megan, ihre ältere Schwester im Frühjahr begleiten und dieselben englischen Bälle und Partys besuchen.

„Ich weiß, dass du gerade erst angekommen bist, doch wir müssen mit den Vorbereitungen fortfahren“, sagte Devorguilla. „Es wird einen strikten Stundenplan geben. Morgens wirst du dich mit der Näherin zur Anprobe treffen. Du wirst natürlich eine vollständige Garderobe erhalten, sobald wir in London sind. Doch jetzt müssen ein Dutzend neuer Kleider für jede von euch reichen.“ Sie schürzte die Lippen. „Ich würde sagen, dass Miss Carruthers, deine neue Gesellschafterin, und die Zofe, die sie mitgebracht hat, dafür sorgen, dass dein Haar immer tadellos in Ordnung ist und es von jetzt an auch bleibt.“

Megan fasste vorsichtig nach ihrem hochgekämmten Haar, das so lange sorgfältig gelockt und festgesteckt und zurechtgemacht worden war, bis sie geglaubt hatte, schreien zu müssen. Sorcha hielt ihre Zöpfe fest, während sie einen erschrockenen Blick auf die Frisur ihrer Schwester warf.

„Für den Rest unseres Lebens?“, fragte sie. „Es dauert Stunden!“

Devorguilla warf ihrer jüngsten Tochter einen Blick zu, und Megan wünschte sich, sie wäre in Sorchas Alter. Megan sah wehmütig aus dem Fenster auf die purpurrote Heide auf den Hügeln, den blauen Himmel und einen Adler, der im warmen Wind dahinglitt. Er konnte wahrscheinlich bis zum Meer sehen, bis zu den Inseln, die im strahlenden Sonnenschein dalagen, bis zu Eacha…

„Margaret McNabb, hörst du mir zu?“, wollte ihre Mutter wissen.

„Natürlich. Wir sprachen über Haare“, murmelte Megan. Sie dachte an die alte Geschichte, die ihr Arran McNabb erzählt hatte, über das Mädchen mit den schönen Haaren und wie sie sie als Schlinge benutzt hatte, um ihre wahre Liebe zu fangen und ihn aus den Armen einer falschen Frau zu befreien.

„Wir sind inzwischen zum Tanzen übergegangen“, sagte Alanna leise.

„Gestern ist Monsieur LaValle angekommen“, fuhr Devorguilla fort. „Er wird euch das Tanzen beibringen. Miss Carruthers wird darauf achten, dass ihr sauberes Englisch sprecht und englische Manieren lernt.“

„Aber das kann uns doch sicher auch Caroline beibringen“, wandte Megan ein.

Devorguilla runzelte die Stirn. „Ich ziehe es vor, euren Unterricht selbst zu überwachen. Caroline ist jetzt mit eurem Bruder verheiratet und hat auf Glenlorne zu tun.“

„Ich musste ihr versprechen, ihr jeden Tag zu schreiben. Ich soll auf Englisch schreiben, und sie antwortet dann auf Gälisch, damit wir beide etwas lernen“, sagte Sorcha. Doch Devorguilla ignorierte sie.

„Gibt es weitere Regeln?“, fragte Alanna.

„Wir werden Englisch sprechen“, sagte Devorguilla. „Und wir werden englisches Essen zu uns nehmen. Ich habe einen englischen Koch und einen englischen Butler angestellt. Eure zukünftigen englischen Ehemänner werden wissen wollen, ob ihr einen Haushalt mit angemessener Grazie und Würde führen könnt.“

Englisch. Megan hatte das Wort in den zwei Tagen, die sie inzwischen auf Dundrummie waren, hassen gelernt.

Würde ein schottischer Ehemann nicht dieselbe Würde und Grazie von seiner Frau erwarten? Megan wusste, dass es klüger war, diese Frage nicht laut zu stellen. Sie schaute wieder aus dem Fenster, sah, wie die Wolken die Hügel erreichten und auf der anderen Seite verschwanden. Ihr Herz war hier in den Highlands, und kein englischer Lord würde es je gewinnen.

Dessen war sich Lady Megan McNabb absolut sicher.

4. KAPITEL

Kit erwachte urplötzlich, als etwas Schweres in dem Raum über seinem Bett zu Boden fiel und Staub auf ihn herabrieselte. Nun ja, nicht seinem Bett – er hatte es sich auf der betagten Polsterbank im Herrenzimmer von Turnstone Abbey bequem gemacht. Der Rest des Hauses war unbewohnbar. Er befand sich in verschiedenen Zuständen von Abriss oder Aufbau, wurde verputzt, gestrichen oder neu hochgemauert. Es war unmöglich, von einem Zimmer ins andere zu gehen, ohne sich unter ein Gerüst und Abdecktücher bücken zu müssen.

Kit strich sich übers Gesicht und schaute zur Decke. Er hoffte, seine Mutter, sein Bruder und seine Schwester hatten es in seinen Häusern bequem. Er rutschte tiefer unter die Decke, die er vergangene Nacht aus seiner Kutsche gerettet hatte.

„Morgen, Mylord“, sagte ein frohgemuter Arbeiter, während er einen Kasten an der Polsterbank vorbeitrug, als sei es nichts Besonderes, dort einen unausgeschlafenen Earl vorzufinden. Anzuklopfen hatte er nicht für nötig gehalten. Allerdings gab es auch nichts, woran er hätte klopfen können, denn die Türen waren ausgehängt worden, um die Möbel leichter in diesen Teil des Hauses bringen zu können.

„Was ist das?“, fragte Kit, den Blick auf die Last des Mannes gerichtet. Er war dabei, die Kiste auf den Boden zu stellen, zwischen den Rest der von ihren Plätzen vertriebenen Schätze der Abbey. Gemälde lehnten an der Wand, Statuen drängten sich in den Ecken, Tische, Schränke und Sekretäre aus dem ganzen Haus stapelten sich, und überall standen Bücher, Tabletts, Fässer und Kästen.

Die anderen Kästen waren mit Elfenbein, Silber und Perlmutt eingelegt. Diese aber war aus einfachem, ramponiertem Leder.

Der Arbeiter warf einen Blick darauf.

„Das hier? Wir haben sie oben im Dachgeschoss gefunden, Mylord, in den Zimmern, die auf den Garten hinausgehen. Wir wollen heute die Decke einreißen. Es musste da weg.“

Kit stand auf und trat auf den Arbeiter zu. Seine Decke trug er mit derselben Selbstverständlichkeit wie einen ganz normalen Rock – jedenfalls hoffte er das. Der Mann starrte ihn trotzdem an. Sie betrachteten gemeinsam den ramponierten Kasten, und Kit beugte sich hinab, um die Messingplakette über dem Schließband, das die Kiste zusammenhielt, zu lesen. Captain Nathaniel Linwood, Cobham-Dragoner.

„Vorfahre von mir“, murmelte Kit. Er beugte sich vor und versuchte, das Schließband zu öffnen. Doch es war festgerostet oder verschlossen.

„Ich geh mal besser wieder arbeiten“, sagte der Mann, schob sich eine Locke aus der Stirn und ging auf demselben Weg zurück, den er gekommen war. Der alte Koffer interessierte ihn nicht.

„Mein Großonkel“, informierte Kit das Porträt, das über dem Kamin hing. Dann fiel ihm ein, dass der Mann auf dem Gemälde das bereits wusste. Natürlich, er war schließlich Nathaniels Neffe. Mit finsterem Blick schaute er auf das Durcheinander unter ihm herab.

Kit kannte Nathaniel Linwood nicht, er war in dem Jahr gestorben, in dem Kit auf die Welt gekommen war. Einer von Kits Vornamen war sogar Nathaniel, zur Erinnerung an den Tod des Großonkels. Nathaniel hatte nie geheiratet oder ein Kind hinterlassen oder ein Vermögen oder überhaupt etwas, soweit Kit wusste. Er war Soldat gewesen, der zweite Sohn des vierten Earls of Rossington. Sein Name war nichts weiter als eine kurze Notiz im Familienstammbaum: geboren 1709, gestorben 1785, Soldat.

Aber hier war Nathaniels Kiste, eine abgenutzte Militärtruhe, die eine Menge mitgemacht hatte. In Kit weckte sie Gedanken an kühne Abenteuer, Schlachten, Scharmützel und Feldzüge.

Kit fühlte ein leichtes Bedauern. Er wäre gern auf einen Feldzug mitgegangen, wenn sein Leben anders verlaufen wäre und er nicht den Titel geerbt hätte. Nach der Militärzeit hätte er Forschungsreisen unternehmen und reisen können. Er hatte von solchen Dingen gelesen: Seereisen zu seltsamen Inseln; Reisende, die gemeinsam mit Karawanen, die Seide transportierten, Wüsten durchquert hatten und dabei auf Kamelen geritten waren; Entdecker, die in Ägypten antike Schätze ausgruben. Er strich mit der Hand über das verschrammte Leder und fragte sich, was für Abenteuer Nathaniel wohl erlebt und was er in seinem Koffer hinterlassen hatte.

Wieder zog Kit am Schließband, doch es weigerte sich, sich zu rühren und die Geheimnisse, die die Truhe bewahrte, preiszugeben.

Kit fragte sich, wo der Schlüssel sein mochte. Hatte der alte Nathaniel ihn mit ins Grab genommen? Er war hier in Turnstone begraben, wo er die letzten Jahre seines Lebens verbracht hatte.

Ein lautes Donnern ließ die Decke über seinem Kopf erzittern. Kit wich zurück und schaute nach oben. Er war spät am vergangenen Abend angekommen, und das örtliche Gasthaus war von den Männern belegt, die bei der Renovierung halfen. Es war ihm nichts anderes übrig geblieben, als entweder die Nacht in der Kutsche zu verbringen oder das Beste aus der Situation zu machen und sich zwischen den Tüchern und Gerüsten von Turnstone ein Plätzchen zu suchen. Er hatte sich für Letzteres entschieden, sich eine Decke genommen und seinen Kutscher und den Kammerdiener fortgeschickt, um nach einem angenehmeren Aufenthaltsort für sich zu suchen.

Kit fragte sich, wie oft Nathaniel wohl schlecht geschlafen hatte, während er auf den Beginn einer Schlacht wartete, oder erschöpft war nach dem Ende eines Kampfes. Er schloss die Augen. Das Hämmern im Haus konnte auch der Klang der Trommeln sein. Die Rufe der Arbeiter könnten auch Offiziere sein, die Befehle brüllten. Das – die Armee und nicht die Umbauten – hätte sein Leben sein können …

Kit legte den Kopf schräg und musterte erst die Seiten der Kiste und dann die Rückwand. Die Wahrscheinlichkeit, den Schlüssel zu finden – selbst, wenn er sich noch an der Stelle befand, wo ihn Nathaniel zuletzt hingelegt hatte –, war verschwindend gering. Kit war bisher noch niemals irgendwo eingebrochen oder hatte ein Schloss geknackt. Dazu brauchte man etwas Scharfes und Dünnes, soweit er wusste.

Er zog die Schublade der nächstgelegenen Kommode auf, um nach etwas Kleinem, Spitzem zu suchen, so etwas wie einen Brieföffner. Er fand nur ein Löschhütchen. Er legte es zurück und wandte sich zum Schreibtisch – dem wahrscheinlichsten Ort, an dem man einen Brieföffner aufbewahrte. Doch alle Schubladen waren durch Stapel anderer Dinge blockiert, unter anderem von einem Gemälde mit einem kleinen Engel, der den Möchtegern-Schlossknacker Kit mit mildem Schrecken ansah. Neben dem Schreibtisch fand er eine Schachtel mit muffigen, verknitterten Damenumhängen und verschiedene Hauben, deren einst stolze Federn nun schlaff herabhingen. Er warf sie beiseite, doch eine vergessene Hutnadel, die lang und scharf wie ein Dolch war, stach ihm in die Hand. Und trotz der Blutstropfen, die entlang des Kratzers herausquollen, zog er die Nadel triumphierend aus der Haube und ging zum Koffer zurück.

Er fummelte immer noch an dem Schloss herum, als die Sonne emporstieg und das Zimmer mit sommerlicher Hitze erfüllte. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und bemerkte, dass er über und über von Gips und Staub bedeckt war. Er wackelte ein letztes Mal mit der Haarnadel im Schloss, und endlich öffnete es sich mit einem Klicken.

Kit schlug den Deckel nach oben.

Das Erste, was er sah, war ein langer Dolch mit einer dünnen Klinge und einem juwelenbesetzten Griff. Dieses Ding, dachte Kit, als er es hochnahm, hätte kurzen Prozess mit dem Schloss gemacht. Er legte den Dolch beiseite.

Unter dem Messer lag ein sorgfältig zusammengefalteter Uniformrock aus scharlachroter Wolle, blau eingefasst und mit schwarzen Messingknöpfen, die nach einer Politur schrien. Die Ärmelaufschläge waren abgewetzt und zeugten von den Kämpfen, ein Ärmel wies sogar ein schwarz gerahmtes Einschussloch auf. Kit steckte einen Finger hindurch. Wenn die Kugel Nathaniel nur ein Stückchen weiter links getroffen hätte, wäre sein Großonkel auf dem Schlachtfeld gestorben statt hier in einem bequemen Bett. Der Kasten enthielt noch mehr Überreste aus dem Leben des Captains: ein ledergebundenes Buch, das ebenso verschrammt war wie die Truhe selbst, eine silberne Trinkflasche mit dem Wappen der Familie Linwood, einen kleinen Beutel mit Münzen, Manschettenknöpfe und eine Uhrkette.

Er nahm das Buch und betrachtete es. Ein Stück verblichenes blaues Band hielt es zusammen.

Kit löste es, und sofort fielen verschiedene Dinge in seinen Schoß: eine gepresste Blume – ein Heidezweig, wenn er recht vermutete – und außerdem ein zerfetztes Stück Plaid in den Farben Rot-Orange, Blau und Grün. Außerdem war da noch ein Brief, vom Alter vergilbt und noch versiegelt. Die Tinte war feucht geworden und hatte die Adresse verwischt, doch sie war immer noch lesbar: „Connor MacIntosh, Gefängnis von Inverness“. Kit las sie laut. Er runzelte die Stirn. Warum hatte Nathaniel einen Brief, der an einen anderen Mann – anscheinend an einen Schotten – gerichtet war, behalten, ihn aber niemals gelesen?

Nach einem Moment des Zögerns brach Kit das Siegel und entfaltete den Brief. Die Tinte war an einigen Stellen verlaufen. Vielleicht hatte sein Verfasser geweint, vielleicht hatte es aber auch mit dem Alter des Dokuments zu tun. Die Schrift war ein wenig zittrig, als sei der Schreiber von seinen Gefühlen überwältigt worden. Er las die Unterschrift – Mairi – und runzelte erneut die Stirn. Es gab keine Mairi in der Familienüberlieferung, dessen war er sich sicher. Er nahm den Brief mit zur Polsterbank und begann zu lesen.

Glen Dorian, Mai 1746

Mein Geliebter!

Ich bete dafür, dass dieser Brief dich wohlbehalten antrifft und du bald nach Hause kommst. Captain Linwood hat herausgefunden, dass du mit den anderen Gefangenen nach der Schlacht von Culloden ins Gefängnis in Inverness gebracht worden bist. Ruairidh ist bei mir und in Sicherheit. Der Captain hat ihn mir zurückgebracht. Es tat ihm leid, dass er nur einen von euch in den schrecklichen Momenten nach der Schlacht retten konnte. Sie wollen mir nichts von deiner Gefangennahme erzählen und auch nicht davon, was du im Gefängnis erleiden musst. Deshalb kann ich es mir nur vorstellen und mich davor fürchten. Ich habe gehört, viele Verwundete müssen sterben, weil sich niemand um sie kümmert. Diese Nachricht hat uns sogar hier in Glen Dorian erreicht. Linwood hat mir versprochen, dass er sich um deine Freilassung kümmern will und dich zu mir zurückbringt, weil du unschuldig bist. Er will beschwören, dass du nicht an der Schlacht teilgenommen hast.

Ich hoffe, du kannst Ruairidh vergeben. Mein Bruder ist ein dummer Junge. Er hat geglaubt, es wäre aufregend, eine Schlacht zu beobachten. Er weiß jetzt, dass es falsch war, und er weiß auch, dass du dich ohne ihn nicht einmal in der Nähe von Culloden Moor aufgehalten hättest, sondern bei mir in Glen Dorian in Sicherheit gewesen wärest. Ich weiß nicht, was Ruairidh in seinem Versteck am Rande des Schlachtfelds gesehen hat, denn er kann oder will nicht darüber reden. Vielleicht hat ihn der Captain aber auch davor gewarnt, es mir zu sagen, um mich zu schonen. Es nicht zu wissen macht es schlimmer. Auch Linwood will mir keine Einzelheiten der Schlacht nennen, nur, dass die Jakobiten verloren haben und sich nie wieder erheben werden. Charles Stuart ist geflohen. Sie werden ihn zur Strecke bringen, wenn sie ihn finden. Die Regierungssoldaten kommen in die Dörfer und Täler und suchen überall nach ihm und jedem anderen Highlander, um uns zu bestrafen.

Captain Linwood ist gekommen, um uns zu sagen, dass wir fliehen müssen. Wir sind in Gefahr, sogar hier in Glen Dorian. Ich werde alle mitnehmen, die mir folgen wollen, und mich verstecken. Linwood hat gesagt, ich dürfe den Ort hier nicht nennen, aber du kennst ihn ja ohnehin.

Der Captain wartet, während ich diesen Brief an dich schreibe, und hat versprochen, dafür zu sorgen, dass er ankommt. Wie sehr ich mir wünsche, ihn dir selbst übergeben zu können, deine Hände zu küssen, dich zu sehen und zu wissen, dass es dir gut geht.

Ich hoffe, du kehrst bald zu mir zurück, Connor. Das musst du. Unseren Schatz habe ich dort versteckt, wo die englischen Diebe niemals nach ihm suchen werden. Wieder wirst du wissen, von welchem Ort ich rede.

Ich werde auf dich warten und jeden Tag nach dir Ausschau halten und alles bewahren, was dir und mir teuer ist, bis ich dich wieder in meine Arme schließen kann.

Mairi

Kit starrte den Brief an. Nathaniel hatte ihn offenbar nicht überbracht. Kit runzelte die Stirn. War Connor MacIntosh zu Mairi zurückgekehrt? Falls nicht, dann war in Glen Dorian – ein Ort, von dem Kit noch nie gehört hatte – ein Schatz verborgen. Mairi – wer immer sie auch gewesen war – hatte das getan, was Frauen nach einer Schlacht taten: Sie hatte die Wertsachen der Familie versteckt und war geflohen. Hatte Nathaniel etwas von dem Schatz gewusst? Er hatte den Brief offenbar nicht gelesen, aber gewartet, während sie ihn schrieb. Er stellte sich seinen Großonkel vor, wie er hinter ihr gestanden, den Brief gelesen und sie angetrieben hatte.

„Aber du warst ein Offizier der Kavallerie und dazu ein Engländer. Warum hast du Briefe einer schottischen Frau, die an einen jakobitischen Gefangenen gerichtet waren, überbracht?“, murmelte er vor sich hin. Er fragte sich, ob der alte Nathaniel vielleicht ein Verräter gewesen war. Wäre er als solcher zu Hause willkommen geheißen worden? Hätte man ihm erlaubt, in Turnstone zu wohnen?

Kit wandte seine Aufmerksamkeit dem Tagebuch zu, sah sich das Stück Plaid an und den getrockneten Heidezweig, hielt das Buch an die Nase, roch Papier und Alter und einen ganz leichten Anflug des Blumendufts.

„Ist sie davongekommen?“, fragte er das Buch leise.

„Wie bitte, Mylord?“ Kit schaute auf und sah seinen Diener Leslie in der Tür stehen. Er trug einen Deckelkorb. „Vergeben Sie mir, aber es gibt keine Tür, an die man klopfen könnte. Haben Sie zu mir gesprochen?“ Leslie setzte den Korb ab und öffnete ihn. Darin waren eine Flasche Bier, ein Laib Brot, Käse und Früchte.

Kit faltete den Brief zusammen, steckte ihn in das Buch zurück und stand auf.

„Ah, Leslie, genau zur richtigen Zeit. Ich habe schon geglaubt, ich müsse in dieser Ruine verhungern. Welche Neuigkeiten bringst du mit? Gibt es in der Nähe ein anderes Gasthaus oder ein Haus, das ich mieten kann?“

„Ich bin so früh gekommen, wie ich konnte. Doch es tut mir leid, ich bringe schlechte Nachrichten, Sir. Ich konnte keine passende Unterkunft in der Nachbarschaft finden. Alle sind den Sommer über auf dem Land, und es gibt nichts mehr zu mieten. Ich kann weiter weg suchen, aber …“ Er sah sich zweifelnd in der unordentlichen Umgebung um. „Gibt es hier überhaupt ein verwendbares Schlafzimmer, eine Küche, Wasser, Diener?“, fragte er.

Kit klopfte sich den Putz von der Hose und grinste. Leslie fiel die Kinnlade herunter, als er seinen Herrn in einem so desolaten Zustand erblickte. Kit konnte sich lebhaft vorstellen, was sein Diener sah: den Earl of Rossington, wie er ihn nie zuvor gesehen hatte, unordentlich, unrasiert, einen, der dringend ein Bad und saubere Kleidung brauchte. Seine Haare standen sicher, vom Schlaf zerzaust, in Büscheln zu Berge. Er grinste seinen Diener an.

„Das macht nichts, Leslie. Wir fahren nach Schottland.“

Die Hände seines Kammerdieners begannen zu zittern, und er vergoss das Bier, das er gerade eingoss. Es sickerte in den Staub.

Schottland, Mylord?“, krächzte er.

„Ja, Schottland. In einen Ort namens Glen Dorian, irgendwo in den Highlands. Ich glaube, er liegt in der Nähe von Inverness.“ Er bemerkte, wie sich die Miene seines Kammerdieners von ‚nur besorgt‘ in ‚tödlich erschrocken‘ verwandelte. Kit brach sich ein Stück Käse ab und biss hinein.

„Sie müssen nicht so grimmig gucken. Es ist ein Abenteuer.“ Eine Schatzsuche, um genau zu sein.

Leslie fingerte nervös an seiner Krawatte.

„Ich habe noch nie ein Abenteuer erlebt, Mylord. Ich gehöre nicht zur abenteuerlichen Sorte Mensch. Ich hatte gehofft, alt zu werden und in einem bequemen Bett zu sterben und zwar genau hier in England und mit intakten Gliedmaßen.“

Kit nahm Nathaniels Buch, legte es in den Kasten zurück und schloss den Deckel.

„Soweit ich weiß, ist Schottland sehr schön und um diese Zeit kühler als London. Denken Sie an die Geschichten, die Sie Ihren Enkelkindern erzählen können.“ Er machte sich mit Nathaniels Kiste unter dem Arm auf den Weg aus dem Raum.

Leslie blinzelte kurz, dann beeilte er sich, seinen Herrn einzuholen.

„Enkelkinder, Mylord? Aber ich bin ja nicht einmal verheiratet.“

5. KAPITEL

Megan erklomm den Gipfel eines Hügels und spürte, wie der Wind ihre Haare zerzauste und ihren Umhang emporwehte. Einen Moment lang hatte sie das Gefühl zu fliegen. Die Luft war vom süßen Duft der Heide erfüllt, und sie schloss die Augen, froh, den endlosen Anproben und Lektionen und Vorträgen entflohen zu sein. Sie war nach dem Frühstück hinausgeschlüpft, während sich die Näherin mit Alanna beschäftigte und Sorcha Englischunterricht hatte. Ihre Mutter lag noch im Bett.

Megan war sicher, dass sie sich in England nicht einmal an die Hälfte der Dinge erinnern würde, die in der vergangenen Woche in ihren Kopf gestopft worden waren. Genauso wenig würde sie wissen, welches Kleid man zu welcher Tageszeit tragen musste und wie man eine Baroness im Unterschied zur Frau eines Bischofs anredete. Was, wenn sie alles durcheinanderbrachte? Fürchtete ihre Mutter nicht am meisten, dass ihre Töchter sich – und sie – blamierten, indem sie beim Abendessen die falsche Gabel benutzten oder zwischen ihren englischen Konkurrentinnen nicht hübsch und schlagfertig genug waren?

Megan war sich ebenfalls sicher, dass die feinen englischen Lords und Ladies sie auslachen und sich über ihren schottischen Akzent und ihre seltsame Art zu gehen lustig machen würden. Sie lief, als wäre sie ihr Leben lang in Hügeln und Tälern umhergestreift – was sie auch getan hatte. Sie sah jetzt auf ihre Füße hinunter, die in robusten Schuhen steckten und dafür gemacht waren, auf unebenem Untergrund zu gehen. Sie wusste, ihre Schritte waren zu groß und sie ging zu schnell. Würde sie es je schaffen, diese kleinen anmutigen Schritte einer englische Lady zu machen?

Autor

Lecia Cornwall
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