Unter dem schottischen Liebesstern

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Schottland, 1500. Maßloser Ärger, unerklärliches Verlangen … Laird Keir MacNeil, mächtiger Kommandeur der königlichen Flotte, ist nicht länger Herr über seine Gefühle. Was hat die schöne Lady Raine sich nur dabei gedacht, sich an Bord seiner Black Raven zu schmuggeln! Er segelt schließlich in gefährlicher Mission zur Isle of Lewis, wo er einen Todfeind Schottlands an den Galgen bringen will. Nun muss er auch noch Raine vor Gefahr bewahren - und ihren aufsässigen Mund wieder und wieder mit heißen Küssen zum Schweigen bringen! Und dann erfährt der Highlander auch noch, dass seine Geliebte nach demselben Mann sucht wie er …


  • Erscheinungstag 27.01.2017
  • Bandnummer 92
  • ISBN / Artikelnummer 9783733767921
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Juni 1504

Archnacarry Manor

Westliche Highlands

Geh morgen mit mir fort, Nina“, beschwor sie der dunkelhaarige Mann. „Bei Tagesanbruch treffen wir uns hier und fliehen zusammen. Liebste, komm mit mir, wenn du mich liebst.“

Zärtlichkeit im Blick seiner tiefbraunen Augen, zog er das schöne Mädchen fest an sich und gab ihm einen sanften Kuss auf die Stirn. Dann wischte er mit einem Zipfel des gelb-schwarzen, an seiner Schulter befestigten Tartans ihre Tränen ab.

„Laird Cameron hat meinem Vater angeboten, mich zu heiraten“, entgegnete Nina mit vor Angst zitternder Stimme. „Wenn ich mit dir fortgehe, Torcall, werden meine Eltern mir womöglich nie vergeben. Doch wenn wir sie gemeinsam bitten, verstehen sie vielleicht, wie sehr wir uns lieben.“

„Ich kann nicht länger warten, Liebste“, sagte Torcall. „Der König hat meinen Vater zum Verräter erklärt und mit ihm unseren gesamten Clan. Ich muss gehen und helfen, unser Heim und unser Land zu verteidigen.“

Nina umklammerte seine starke Hand mit beiden Händen und hob seine Finger an die Lippen. Ihr Haar, von verblüffender rot-goldener Farbe, glänzte im gesprenkelten Sonnenlicht des Waldes. „Ach, Torcall, ich liebe dich so sehr.“

„Hab keine Angst, geliebtes Mädchen“, sagte er, und der Optimismus der Jugend schwang in seiner Stimme mit. „Wir gehen nach Steòrnabhagh. Die Burg meines Vaters auf der Isle of Lewis ist uneinnehmbar. Dort werden wir heiraten. Eines Tages bin ich das Oberhaupt des Clans MacMurchaidh, Nina, und kann dir alles geben, was ich dir so gern geben möchte.“

Sie lächelte, und wieder füllten sich ihre blauen Augen mit Tränen. „Deine Liebe ist alles, was ich brauche, Liebster, und alles, was ich will.“

Torcall nahm sie fest in die Arme, neigte den Kopf und küsste sie behutsam auf den Mund. „Dann treffen wir uns morgen früh hier?“, fragte er. „Du gehst mit mir fort?“

Nina nickte mit einem Lächeln auf den Lippen. „Aye, ich fliehe mit dir, Torcall. Wir treffen uns hier, unter dieser hohen Kiefer, wenn morgen die Sonne aufgeht.“

Im schwachen Licht des folgenden Morgens schien das Tal, in dem das Pärchen gestanden hatte, in stiller Vorfreude den Sonnenaufgang zu erwarten …

Raine erwachte ruckartig und mit hämmerndem Herzen und blickte auf zu dem Baldachin über ihr. Den Traum hatte sie zum ersten Mal gehabt, als sie vierzehn Jahre alt gewesen war. Im Jahr nach dem Mord am ihrem Vater, Gideon Cameron. Raine wusste, dass es kein gewöhnlicher Traum war. Es war eine Vision von ihrer Mutter und Raines leiblichem Vater.

1. KAPITEL

Du hast dich also entschieden“, sagte Tante Isabel.

Raine hob den Blick von ihrem Gepäck, als ihre Tante das Schlafgemach betrat und rasch die Tür hinter sich schloss.

Isabels Augen blitzten schelmisch. „Ich kann dich wohl nicht an dieser tollkühnen Eskapade hindern?“

Raine wandte sich wieder ihrer Beschäftigung zu und schob ihr Büchlein mit Rezepten für Heilmittel gegen alles von Gicht bis zu schmerzhaften Regelblutungen zu den Kräuterelixieren in den Lederbeutel. „Du sagst doch nichts, bevor ich fort bin?“

Isabel zuckte leicht mit den rundlichen Schultern, doch das Lächeln auf ihren Lippen versicherte Raine ihrer Absicht, ihre Meinung für sich zu behalten. Für den Augenblick zumindest. „Was genau hast du geplant, meine Liebe?“

Jetzt war es an Raine, mit den Achseln zu zucken. „Fest steht nur, dass ich meinen Vater finden muss.“

„Dein Vater liegt auf dem Friedhof der Kirche begraben“, schalt Isabel ihre Nichte sanft. „Er war ein mutiger, aufrechter Mann.“

„Gideon Cameron war mutig und aufrecht und edel“, pflichtete Raine ihr bei. „Einen besseren Vater kann sich niemand wünschen. Aber, Isabel, du und ich, wir wissen doch, dass dein älterer Bruder nicht der Mann ist, der mich gezeugt hat.“ Raine ging in die Knie, griff unter das Bett und zog eine Segeltuchtasche hervor.

„Hast du noch einmal versucht, deine Mutter zu befragen?“, forschte Tante Isabel.

Raine schnaubte leise. Sobald sie das Thema ansprach, reagierte Lady Nina prompt mit Ermahnungen und rügte Raine wegen der bloßen Andeutung, dass Gideon nicht ihr Vater sein könnte. Zwar liebten sie einander von Herzen, doch diese Frage hatte zu einer gewissen Entfremdung zwischen Mutter und Tochter geführt.

„Was sollte ich sagen?“, fragte Raine. „Ach, übrigens, Mama, ich bin mir ziemlich sicher, dass du deinen ehrenhaften Ehemann betrogen hast und dass ich als Bastard aus deiner treulosen Affäre hervorgegangen bin?“

„Urteile nicht zu streng über deine Mutter, Liebes“, mahnte Isabel. „Wir Sterblichen können uns nicht aussuchen, in wen wir uns verlieben. Nun, selbst das Feenvolk beweist nur höchst begrenzte Willenskraft, wenn es um Liebesabenteuer geht.“

„Mag sein. Aber wir können uns für ein Handeln in Ehre und Würde entscheiden. Wir sind nicht Sklaven unserer niederen Bedürfnisse.“

Isabel setzte sich auf die weiche Matratze, nahm ein Samtgewand zur Hand und begann, es zusammenzulegen. Ihre Schultern waren mit Hafermehl bestreut, um das Feenvolk fernzuhalten. Kleine Bröckchen rieselten auf den weichen roten Samt. „Wo willst du mit deiner Suche beginnen, Raine? Hattest du wieder eine Vision?“ Sie ließ sich neben ihrer Nichte auf dem Bett nieder.

Raine hockte sich auf die Fersen und schloss die Augen. „Eine Vision eigentlich nicht. Oder doch, gewissermaßen.“ Sie senkte den Kopf und barg das Gesicht in den Händen. „Ich weiß nicht recht, was ich gesehen habe.“ Sie schaute wieder auf und fing den besorgten Blick ihrer Tante auf. „Aber in einer Sache bin ich mir ganz sicher. Wenn ich jetzt nicht gehe, wird es zu spät sein. Dann werde ich meinen Vater nie kennenlernen.“

Isabel nickte verstehend. „Du könntest dich in Gefahr begeben, Kind“, warnte sie. „Wenn du in einer Vision etwas voraussiehst, heißt das ja nicht, dass du es abwenden kannst. Eher im Gegenteil.“

„Ich werde mit einer Gruppe von Klarissen reisen, die heute Morgen vom Kloster St. Margaret aufbricht. Sie sollen in Inverness ein Hospital zu Ehren von Sankt Kolumba gründen. Zum Schutz tragen sie einen Fingerknochen der Heiligen bei sich.“

Erleichterung zeigte sich auf Isabels rundem Gesicht. „Trotzdem“, sagte sie, „solltest du vielleicht einen kräftigen Diener als Leibwächter mitnehmen.“

„Die Nonnen reisen in Begleitung eines Dienstbotengefolges“, erklärte Raine. „Sollte es notwendig werden, kann ich in Moray Firth einen Leibwächter anheuern, bis ich an Bord des Schiffs gehe. Aber an meinem Ziel kann mich nur ein einziger Mann beschützen.“

Isabel nickte, Mitgefühl im Blick. „Du sprichst natürlich von Keir MacNeil.“

Raine schluckte krampfhaft. Sie erstickte beinahe an der Vorstellung, das Oberhaupt des Clans MacNeil um Hilfe bitten zu müssen. „Natürlich.“

„Tja, Liebling meines Herzens, wenn du eine sinnliche Frau mit fragwürdigem Ruf wärst, würde MacNeil dir höchstwahrscheinlich gern zur Hilfe eilen. Mindestens für einen Abend hättest du seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Aber so, wie es ist …“

Es war überflüssig, dass Lady Isabel auf Raines Mangel an den Rundungen hinwies, die vom anderen Geschlecht so bewundert wurden. In stiller Überlegung zog ihre Tante die Brauen hoch. „Da ihr zwei euch nie gut verstanden habt, muss ich mich fragen, wieso du glaubst, er wird dir bei der Suche nach deinem Erzeuger behilflich sein.“

„Pah“, konterte Raine. Sie schürzte die Lippen und furchte die Stirn. „Wer versteht sich denn schon mit Keir MacNeil? Er ist laut und derb und ein Aufschneider. Er ist völlig anders als seine Halbbrüder, Rory und Lachlan. Außerdem glaubt der sture Esel überhaupt nicht an Zauberei.“

Isabel schmunzelte. „Nun, Keir ist wirklich keine Schönheit, da gebe ich dir recht. Im Hinblick auf umwerfend gutes Aussehen und höfische Manieren kann er Lachlan MacRath nicht das Wasser reichen. Und schon gar nicht Rory MacLeans königlicher Ausstrahlung.“

Raine wandte sich ab, um ihre Gefühle vor ihrer scharfsichtigen Tante zu verbergen. Seit dem Sommer, in dem sie siebzehn geworden war, kämpfte Raine gegen die unerklärliche Anziehungskraft, die Keir MacNeil auf sie ausübte. Es war eine rein körperliche Angelegenheit. Die zu unterdrücken sie fest entschlossen war, denn der berüchtigte Weiberheld verführte seine Mätressen und legte sie wieder ab wie andere Männer ihre schmutzigen Hemden.

Raine erhob sich und warf die Segeltuchtasche neben ihre Tante aufs Bett. „Spar dir die Mühe, dieses feine Kleid zusammenzulegen, Tantchen“, sagte sie mit einem kläglichen Lächeln. Sie biss sich auf die Unterlippe und blinzelte die Tränen fort, die ihr plötzlich in die Augen traten. „Dort, wohin ich gehe, wird nicht getanzt. Ein paar schlichte Kleider reichen mir.“

„Trotzdem“, erwiderte ihre Tante liebevoll lächelnd, „wenn eine Dame auf Reisen geht, ganz gleich, wohin, sollte sie immer ein paar hübsche Kleider im Gepäck haben.“

Raine nickte und stopfte das rote Samtgewand und noch einige weitere Kleider in ihre Tasche.

„Bitte, Süße, hab keine Angst“, sagte Isabel in gedämpftem Ton. „Ich glaube, es ist dein Schicksal, dass du die Identität deines leiblichen Vaters aufdeckst und erfährst, warum er deine Mutter verlassen hat, als sie schwanger mit seinem Kind war. Sei mutig, Nichte, und zögere nicht.“

Raine setzte sich wieder neben Lady Isabel, die ihr sogleich den Arm um die Schultern legte. „Manchmal“, sagte Raine, „manchmal denke ich, es ist dumm, ihn zu suchen, zumal er doch nie einen Versuch gemacht hat, mich zu finden. Vielleicht weiß er nicht einmal, dass es mich gibt. Womöglich streitet er ab, dass ich seine Tochter bin.“

„Die Wahrheit wirst du nie erfahren“, meinte Isabel, „wenn du nicht den Mut aufbringst, nach der Antwort zu suchen.“

Der Morgen dämmerte gerade erst. Ein schwaches Licht lugte durch die teilweise geschlossenen Vorhänge. Raine beabsichtigte, einen frühmorgendlichen Ausritt vorzuschützen, um vor Sonnenaufgang das Gutsgelände verlassen zu haben. Ihr wurde bang ums Herz. Womöglich kam sie von diesem Ausritt nie wieder zurück.

Sie würde sich mitten ins Auge eines Sturms begeben.

Krieg hatte die Highlands überzogen.

Sechs Monate zuvor war Donald Dubh, der uneheliche Sohn Alexander MacDonalds, des letzten High Chief der Inseln, aus seiner Gefangenschaft in der Festung von Innischonnaill gerettet worden. Eine Schar von Angehörigen des Clans MacDonald war unbemerkt mitten durchs Land der Campbells vorgestoßen und lautlos über Loch Awe gerudert, um den neunzehnjährigen Gefangenen zu befreien. Unverzüglich wurde er zum Lord of the Isles ernannt. Die gesamten Hebriden unterstützten seine Sache. Nahezu jeder MacDonald in den Highlands und auf den Inseln und mit ihnen ihre Verbündeten rebellierte gegen James Stewart.

Der König von Schottland hatte Laird Keir MacNeil zum Herrn und Kommandeur eines Geschwaders der königlichen Flotte bestimmt. Der König hatte ihn beauftragt, bei der Zerschlagung des Aufstands zu helfen. Keirs erklärtes Ziel war, die Verräter zu stellen und nach Edinburgh zu bringen, um sie vor Gericht zu stellen und hängen zu lassen. Einer dieser Verräter war der Mann, den Raine für ihren leiblichen Vater hielt: Torcall MacMurchaidh.

Sie musste ihn vor Keir aufspüren.

„Ich möchte dir etwas geben“, sagte Tante Isabel mit einem aufmunternden Lächeln. Sie legte einen glatten, wie ein Herz geformten Stein in Raines Hand. Vor unzähligen Jahren war etwas in einer uralten Sprache, die den meisten Menschen mittlerweile unverständlich war, in diesen Stein eingraviert worden. Nur jemand, der vertraut war mit den Rätseln und Zaubersprüchen der Túatha Dé Danann – des Feenvolks – konnte die Bedeutung erfassen.

Raine strich mit dem Daumen über die fremdartigen Symbole. „Was steht da geschrieben?“

„Es ist ein Zauberspruch, der dich schützt, meine Liebe. Trage den Stein stets bei dir.“ Isabel nahm einen reich bestickten Beutel voller Münzen vom Bett. Sie löste die Schnur und füllte eine Handvoll weiterer Münzen in den Beutel. „Hier hast du noch ein paar goldene Unicorns, meine Liebe.“

Raine nickte, verstaute den Runenstein sorgfältig in ihrem Beutel und befestigte ihn an ihrem Gürtel. Sie holte tief Luft, erhob sich vom Bett und streckte die Hände aus. Ihre Tante ergriff sie und ließ sich aufhelfen.

„Wenn du die Insel Lewis erreicht hast“, sagte Isabel, „musst du die Stehenden Steine bei Calanais ansehen. Ich habe dir viel von ihnen erzählt, doch du solltest den Tempel der Mutter des Universums persönlich aufsuchen.“ Isabel fasste Raine bei den Schultern und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Auch ich hatte eine Vision, meine Liebe. Ich glaube fest, dass du in Sicherheit bist, solange du bei Keir bleibst. Es ist überaus wichtig, dass du während deiner Reise nicht von ihm getrennt wirst.“

Raine schüttelte bedächtig den Kopf. „Ich glaube nicht, dass der Chief des Clans MacNeil es schätzen würde, wenn ich wie eine Heulsuse an seinem Rockzipfel hänge.“

Bei der Vorstellung mussten beide lachen.

Laird Keir MacNeil war der furchterregendste Krieger von ganz Schottland. Und darüber hinaus.

2. KAPITEL

Juni 1504

Inverness in den schottischen Highlands

Lady Raine für dich, Laird“, verkündete Macraith.

Auf die Worte seines Onkels hin hob Keir erstaunt den Blick von der Seekarte und sah Raine Cameron ins Zimmer treten. In einer Hand trug sie einen Lederbeutel, in der anderen eine Tasche aus Segeltuch, die sie ohne viel Federlesens einfach zu Boden fallen ließ. Dann faltete sie die behandschuhten Hände und blickte Keir mit unerschütterlicher Gemütsruhe an.

Macraith MacNeil stand stocksteif da und hielt noch immer die Tür offen. Es widerstrebte ihm ganz augenscheinlich, sich das faszinierende Schauspiel eines ungeladenen weiblichen Gasts in den Privaträumen des Chiefs des Clans MacNeil entgehen zu lassen. Der fragende Ausdruck auf Macraiths zerfurchtem, wettergegerbtem Gesicht spiegelte Keirs Fassungslosigkeit.

Keir legte Lineal und Kompass beiseite, ließ von seinen mathematischen Berechnungen ab und schaute das dunkeläugige Mädchen an. Dann blickte er über ihren Kopf hinweg, in der sicheren Erwartung, Lady Nina oder Laird Alex – oder beide – hinter ihr zur Tür hereinkommen zu sehen.

Raine ließ Keir keine Gelegenheit, etwas zu sagen, und nahm eilig direkt vor ihm Aufstellung, als hätte sie Angst, er könnte aus dem Zimmer stürzen, bevor sie sich hatte äußern können. Als weder ihre Mutter noch ihr Onkel auftauchten, setzte ein Kribbeln in Keirs Nacken ein.

„Was zum Teufel willst du hier, Raine?“

Sie rümpfte die Nase über seine grobe Sprache, dann seufzte sie, als hätte sie nichts anderes als eben diese Derbheit von ihm erwartet.

„Ich besuche dich“, antwortete sie auf ihre aufreizend entschlossene Art. Sie zog die schön geschwungenen schwarzen Brauen hoch und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Beim ungemachten Bett in der Ecke und der fast leeren Weinkaraffe vom Vorabend auf dem Nachttisch verweilte sie kurz. Die Reste eines Frühstücks lagen auf dem kleinen Esstisch verstreut. Als sie Keir wieder in die Augen sah, zuckte ein kleines Lächeln um ihre Lippen. „Hoffentlich störe ich dich nicht“, fügte sie hinzu.

Zum Glück hatte seine Gespielin dieser Nacht schon vor einer halben Stunde das Gasthaus mit einer Handvoll Silbermünzen verlassen.

„Nein, du störst nicht.“

„Hm.“ Macraith stieß hörbar den Atem aus –, ob aus Bewunderung für Raines Scharfblick oder als Tadel für Keirs ruppiges Verhalten war nicht ersichtlich.

Mit einer ruckartigen Kopfbewegung bedeutete Keir seinem Onkel, dass er gehen könne. Macraith grinste gutmütig über die knappe Verabschiedung, blieb jedoch wie festgewachsen stehen.

„Charmant wie immer, Laird MacNeil“, erwiderte Raine. „Darf ich Platz nehmen?“

„Du darfst n…“

Bevor Keir ausreden konnte, übertönte schon ein schrilles Scharren seine folgenden Worte, als sein Onkel einen dreibeinigen Hocker von seinem Platz am Tisch über die nackten Bodendielen heranschob. „Mylady“, sagte Macraith mit seiner tiefen, kratzigen Stimme.

„Danke, Sir. Sehr freundlich.“

Raine nickte dankend und setzte sich. Sie hob die Kapuze ihres leichten Reiseumhangs an und ließ die blauen Falten auf ihre Schultern sinken. Ein dicker schwarzer Zopf thronte eingerollt auf ihrem Kopf. In aufrechter Haltung, wie eine Prinzessin, wie immer umgeben von dieser verflixten Aura unbeschwerter Selbstsicherheit, saß sie auf dem Hocker und wartete seelenruhig ab. Das Ungehörige ihres plötzlichen Auftauchens im Gasthaus, allein und ohne Schutz, schien ihr nicht bewusst zu sein.

Mit jedem Mal, wenn Keir sie sah, war Raine noch schöner geworden. Als er ihr im vergangenen Sommer auf der königlichen Hochzeit begegnet war, hatten ihre Anmut und ihr Charme ihm wieder einmal den Atem geraubt. Sie war umringt gewesen von einer Gruppe ausgelassener junger Herren, die um ihre Aufmerksamkeit gebuhlt hatten. Keir jedoch hatte sich gut unter Kontrolle gehabt und sich unverzüglich aus ihrer Nähe entfernt, um die liebedienernden Grünschnäbel nicht wie Kegel auf dem gewienerten Fußboden zu verteilen.

„Wo ist Lady Nina?“, fragte Keir grob. Ein unangenehmer Verdacht ließ ihn die Zähne zusammenbeißen, und seine Worte hatten barscher geklungen als beabsichtigt. Schließlich war Raine nichts weiter als ein Mädchen, wenn auch ein eigensinniges. Viel zu eigensinnig für eine Frau. Doch selbst eine eigensinnige Frau würde sich hüten, ohne Begleitung durch die nördlichen Highlands zu reisen. Und genau das hatte sie getan.

„Meine Mutter und Onkel Alex sowie Tante Isabel sind in Archnacarry Manor geblieben“, bestätigte sie seine Vermutung.

„Du bist doch nicht allein hierhergekommen?“, fragte er argwöhnisch.

Sie besaß den Anstand zu erröten, doch sie wandte den Blick nicht ab. „Falls du wissen willst, ob ich allein nach Inverness gekommen bin, Laird MacNeil, lautet die Antwort Nein. Ich bin von Archnacarry aus mit einer Gruppe Klarissen gereist. Falls du fragst, ob ich im Augenblick allein bin, muss ich mit Ja antworten.“

„Herrgott“, brummte Keir. „Die Nonnen haben dich mitgenommen, ganz ohne die Begleitung eines Dienstboten oder Leibwächters?“

„Die frommen Schwestern haben geglaubt, ich wollte mich als Postulantin beim Franziskanerorden vorstellen. Was sie zu dieser Annahme verleitet hat, kann ich nicht sagen.“

Er schnaubte ungläubig. „Das könntest du ganz sicher sagen, wenn du wolltest.“

Keir fing den erschrockenen Blick aus den braunen Augen seines Onkels ein und erkannte das Unbehagen, das die Nachricht ihnen beiden bereitete. Als er Raines Erklärung hörte, hatte Macraith leise die Tür hinter sich geschlossen und stand nun breitbeinig und mit verschränkten Armen da.

Raine reckte das Kinn. „Ich bin von der Herberge der Nonnen geradewegs hierher ins Gasthaus gekommen und habe mich keinen Moment in Gefahr befunden.“

Keir sah sie aus schmalen Augen an. „Deine Mutter weiß nicht, dass du hier bist, stimmt’s?“

„Aber sicher doch“, widersprach Raine und hielt seinem vorwurfsvollen Blick stand.

Eine steile Falte auf der Stirn stemmte er die Hände in die Hüften. „Ich glaube nicht, dass Lady Nina dir gestattet hat, ohne die Begleitung eines Familienmitglieds von Archnacarry bis nach Inverness zu reisen. Oder zumindest ohne bewaffneten Beistand zu deinem Schutz. Jedermann weiß doch, dass auf den Hebriden Aufruhr herrscht.“

„Nun, wir sind hier nicht auf den Hebriden“, erklärte sie.

Lady Raine Cameron erhob sich von ihrem Hocker und umrundete bedächtig den großen Mann, der sie so grimmig anfunkelte. Sie trat an das rautenförmige Fenster und blickte hinaus auf die drei prachtvollen Kriegsschiffe, die im Hafen vor Anker lagen.

Mit Vorräten beladene Beischiffe glitten zwischen Anleger und Sea Dragon, Black Raven und Sea Hawk hin und her. Sie sah die Mannschaftsmitglieder auf dem Anleger umherschwirren, Kisten und Fässer abladen und in den Schiffsräumen verstauen.

Keir war zu ihr ans Fenster getreten. Jetzt stand er direkt hinter ihr und schnitt ihr einen möglichen Fluchtweg ab, falls sie schwach werden und Angst bekommen sollte. Den finsteren Koloss zu sehen, war nicht nötig, um zu wissen, dass er verärgert war. Raine kannte den Chief des MacNeil-Clans recht gut.

Den Schotten war er – nach dem Namen seines Schiffs – als Schwarzer Rabe bekannt; seine Feinde nannten ihn – nach seinem berüchtigten Vater – die Ausgeburt des Schwarzen Unholds. Der schreckliche Mann war weit über eins achtzig groß. Sein Brustkorb war gewaltig, und die Muskeln seiner Schultern und Oberarme drohten sein Leinenhemd zu sprengen. An diesem Tag trug er Kniehosen und kniehohe Piratenstiefel. Doch Raine hatte ihn schon oft im schwarz-grünen Karo der MacNeils gesehen, im Kilt, der um seine kräftigen Waden schwang.

Seine folgenden Worte drangen wie ein tiefes, drohendes Knurren an ihr Ohr. „Du willst behaupten, deine Mutter sei einverstanden?“

Raine beging nicht den Fehler, sich zu ihm umzudrehen. Keir MacNeil war der wildeste Mann, den sie kannte. Und sie kannte ihn, seit sie denken konnte. Er war der Jüngste von drei Halbbrüdern. Zufällig waren diese „Schottischen Höllenhunde“ enge Freunde ihrer Familie. Raine hütete sich, Keir MacNeil gegenüber auch nur eine Spur von Ängstlichkeit zu zeigen. Wortgefechte hatte sie sich schon früher mit ihm geliefert. Seine Tiraden konnten schmerzen wie ein Peitschenhieb.

Was nicht bedeutete, dass irgendwer jemals die Hand gegen sie erhoben hätte.

„Mama wusste, dass ich wohlbehütet mit den Klarissen reise“, erwiderte sie. „Ich habe ihr gesagt, dass ich mich mit dir in Inverness treffen und mich in deinen Schutz begeben würde.“

Was hast du ihr gesagt?“ Seine Stimme ließ die Dachbalken erbeben, seine Worte hallten in dem kleinen Zimmer nach.

Raine riskierte einen Blick über die Schulter. An Keirs Schläfe trat eine Ader hervor. Sein Gesicht war rot vor Zorn. Er packte sei beim Ellenbogen und wirbelte sie zu sich herum.

„Herrgott, Raine! Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht? In ein paar Tagen setze ich Segel und ziehe in den Krieg. Ich kann die Verantwortung für dich nicht übernehmen.“

„Ich selbst bin für mich verantwortlich“, versprach sie und wappnete sich gegen den durchdringenden Blick seiner grünen Augen. Mit diesem Blick hätte er sie erdolchen können, doch sie wollte sich nicht von ihm entmutigen lassen. „Ich muss an Bord der Black Raven sein, wenn du den Moray Firth verlässt. Ich muss so schnell wie möglich nach Steòrnabhagh.“

„Was zum Teufel gibt es in Steòrnabhagh, außer einem Nest von Verrätern?“

Raine biss sich auf die Unterlippe und gab die Antwort zum Besten, die sie sich auf dem Weg nach Inverness zurechtgelegt hatte. „Eine Cousine von mir lebt in dem benachbarten Dorf Tolm auf der Insel Lewis. Lavinia MacAlistair ist schwanger und wird in ein paar Wochen niederkommen. Sie hat einen flehentlichen Brief an Tante Isabel geschrieben und sie gebeten, sie bei der Geburt zu betreuen. Doch wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die Reise für meine Tante zu beschwerlich ist und dass ich sie vertrete.“

Keir forschte in den großen, dunklen Augen des Mädchens nach einem Hinwies darauf, dass es log. Raine musste einfach lügen. Es war nicht zu glauben, dass ihre Mutter und ihr Onkel einem derart haarsträubenden Plan zugestimmt hatten. Und wenn doch, dann hätten sie ihm geschrieben, ihn um seine Hilfe ersucht.

Lady Isabel allerdings traute er einen solchen Wahnsinn durchaus zu. Jedermann wusste, dass die Frau mit ihren Elixieren und Zaubersprüchen halb verrückt war. Sie hatte Raine Cameron mit ihrem irrwitzigen Glauben an Elfen und Feen angesteckt, als diese noch ein Kind gewesen war. Keir hielt Isabels Einfluss für die Ursache der Entfremdung Raines von ihrer liebevollen Mutter. Lady Nina war viel zu vernünftig, um etwas auf die selbsterklärten Zauberkräfte ihrer Schwägerin zu geben.

Das zweite Gesicht.

Zum Teufel. Was für ein verdammter Unsinn.

Keir schüttelte den Kopf und durchquerte das Zimmer. Er stellte einen Fuß auf eine geschnitzte Seekiste vor dem zerwühlten Bett und blickte auf die Wand gegenüber. Eines war gewiss. Er trug jetzt die Verantwortung für Raine. Schon zu Zeiten vor seiner Geburt waren die Camerons enge Freunde seiner Familie gewesen. Gideon Cameron, der verstorbene Vater des Mädchens, hatte Keirs ältesten Bruder, Rory, in die Lehre genommen. Raine ihrem Schicksal zu überlassen, das kam für Keir nicht infrage. Er fing den selbstzufriedenen Blick des Mädchens auf. Verflucht noch mal. Sie wusste es auch. Sie hatte es sogar so geplant.

„Nur, um eines klarzustellen, Raine“, sagte er, „Ich glaube dir deine absurde Geschichte nicht. Ich glaube kein Wort davon. Aber offensichtlich bin ich jetzt für deine Sicherheit verantwortlich, ob ich es will oder nicht.“

Keir wandte sich Macraith zu. „Lass zwei Pferde hierher zum Gasthaus bringen. Ich werde mich um meine kleine Schutzbefohlene kümmern, während du unseren Kurs aus dem Meeresarm hinaus auf die Nordsee berechnest. In vier Stunden sehen wir uns an Bord der Black Raven. Mit der Flut laufen wir aus.“

„Aye, Aye, Captain.“ Keirs Onkel ließ sein breites Grinsen aufblitzen und eilte zur Tür hinaus.

„Wohin gehen wir jetzt?“, fragte Raine besorgt.

„Du brauchst einen wärmeren Umhang“, erklärte Keir. „Und seetaugliche feste Stiefel.“

Ihre dunklen Augen glänzten, und sie lächelte triumphierend. „Gute Idee! Einige Dinge habe ich zu Hause nicht kaufen können.“

„Zweifellos.“

Keir hätte über ihre Naivität gelacht, wenn er nicht so wütend über ihr Auftauchen gewesen wäre. Für wie einfältig hielt sie ihn denn?

Derartige Dinge hätte sie in Archnacarry nicht besorgen können, ohne dass jemand sie fragte, ob sie eine Seereise plante.

Im Sattel einer kräftigen braunen Stute blickte Raine auf zu der karreeförmigen steinernen Festung hoch oben auf einem Felsen über dem Firth of Moray. Wie versprochen hatte Keir MacNeil sie zum Marktplatz von Inverness begleitet, wo sie mehrere Läden längs der verschlungenen Kopfsteinstraßen aufsuchten. Sie hatte einen schweren kirschroten Mantel mit Zobelfellbesatz an der Kapuze erstanden, feste Stiefel und ein Paar pelzgefütterte Lederhandschuhe. Alles hatte sie sorgfältig in der Segeltuchtasche verstaut, die jetzt zusammen mit dem Lederbeutel auf ihrem Pferd festgeschnallt war.

Keir war wieder aufgesessen und hatte Raine aus der von Bergen umgebenen Hafenstadt geführt, die am östlichen Ende von Glen Mór am Meer gelegen war. Die gemütliche Stadt erstreckte sich beidseitig des Flusses Ness und erhob sich am Ufer des großen Loch Ness.

Sie galoppierten Seite an Seite eine Straße entlang, die dem Steilhang einer Klippe folgte. An den Hängen blühte Heidekraut. Der Duft schottischer Kiefern erfüllte die frische Luft. Weiter oben reckte sich ein Fichten- und Lärchenwald dem blauen Himmel entgegen.

„Wohin reiten wir?“, fragte Raine, obwohl sie schon ahnte, dass der hochragende Wohnturm vor ihnen ihr Ziel war. Sie griff die Zügel fester, als ein Gefühl des Unbehagens sie überkam. „Du hast gesagt, wir stechen mit der Abendflut in See.“

„Das da ist Inverloch Castle“, erwiderte Keir auf seine gewohnt barsche Art. „Ich muss Laird MacSween sprechen, bevor ich an Bord gehe. Er hat mir versprochen, während meiner Abwesenheit mein Pferd unterzubringen.“

Als sie die Festung erreicht hatten, gab Keir den Wachen am Haupttor ein Zeichen. Einer der Männer erkannte den Chief des Clans MacNeil und winkte ihn unverzüglich durch. Als im kopfsteingepflasterten Hof plötzlich Hufgetrappel zu hören war, eilte ein junger Pferdebursche aus dem Stall und übernahm die Pferde.

Keir saß ab und trat zu Raine. Er umfasste ihren gestiefelten Knöchel und drückte ihn warnend. „Sei ein braves Mädchen und achte auf dein Verhalten, solange wir hier sind. Und lass Lady MacSween um Himmels willen nicht wissen, dass du von Archnacarry nach Inverness ohne anständigen Geleitschutz gereist bist.“

„Die Nonnen waren mein Geleitschutz“, widersprach sie. „Anständiger hätte er kaum sein können!“

Er grinste freudlos und hob sie aus dem Sattel. „Ohne Erlaubnis von zu Hause fortzugehen, kann wohl kaum als anständig betrachtet werden, Raine. Von niemandem. Nicht einmal von deiner närrischen Tante.“

„Tante Isabel ist entschieden klüger, als du ahnst, Laird MacNeil“, entgegnete sie. „Und wenn du mich ansprichst, dann bitte mit meinem Titel. Ich bin kein Kind mehr.“

Er zuckte mit den Achseln. „Wenn du dich benimmst wie eine Erwachsene, Raine, dann spreche ich dich auch wie eine Lady an.“

Keir geleitete sie über den Hof ins fensterlose, mit Vorräten angefüllte Erdgeschoss. Er redete leise mit einem älteren Diener, der Getreide aus einem Fass in einen großen Topf schöpfte. Auf die Einladung des weißhaarigen Mannes hin folgten sie ihm die Treppe zum ersten Stock hinauf in den Palas.

Raine sah sich in dem riesigen Saal um. Der Wohnturm war offenbar gut gerüstet für eine Belagerung. Lochaber-Äxte, Spieße und Zweihandschwerter zierten die Wände, umgeben von Bahnen blau-weißen Tartans. In der Vergangenheit hatten die Lords of the Isles vom Clan MacDonald die Stadt Inverness geplündert und niedergebrannt und die Einwohner hingerichtet.

Raine und ihr mürrischer Begleiter warteten nur kurz im Saal, bevor der Laird und die Lady der Burg zu ihrer Begrüßung erschienen. Laird MacSween hatte einen dichten braunen Bart und eine Glatze. Zwar war er kein Muskelpaket wie Keir MacNeil, doch der Mann in den mittleren Jahren wirkte so kampfbereit wie seine Burg. Seine Frau war groß und stämmig gebaut; ihr Gesicht war mit Sommersprossen übersät. Strähnchen von ergrauendem roten Haar lugten unter ihrem altmodischen Kopfputz hervor. Doch ihr breites Lächeln verriet ein sonniges Gemüt.

Die beiden Männer reichten einander die Hand, dann wandten sie sich ihren Gefährtinnen zu.

„Keir!“, rief Lady MacSween. „Welch eine Überraschung, dich zu sehen! Wir dachten, du hättest längst die Segel gesetzt.“ Der neugierige Blick ihrer blauen Augen huschte fragend zu Raine und wieder zurück zu Keir.

Keir beehrte seine Gastgeberin mit einem äußerst knappen Lächeln. „Darf ich dir meine junge Schutzbefohlene vorstellen, Lady Raine Cameron?“

Finn MacSween hieß Raine mit einem breiten Lächeln willkommen. „Ich habe deinen Vater sehr bewundert, Lady Raine“, sagte er und küsste ihre Hand. „Gideons viel zu früher Tod hat mich schwer erschüttert. Wie geht es deiner lieben Mutter?“

„Ich habe Lady Nina bei guter Gesundheit zurückgelassen“, sagte Raine leise, verwundert darüber, dass ihr Gastgeber ihre Eltern kannte. Sie war Laird MacSween nie zuvor begegnet.

Keir verneigte sich vor der liebenswürdigen Burgherrin. „Vielleicht möchten die Damen sich miteinander unterhalten, während ich mit deinem Gatten unter vier Augen die Angelegenheiten des Königs bespreche.“

„Aber sicher“, stimmte der stattliche Mann sogleich zu. Er strich sich mit dem Fingerknöchel über sein bärtiges Kinn und entließ seine Frau mit einer Kopfbewegung.

„Welch ein entzückender Vorschlag“, erklärte sich Lady MacSween einverstanden. Mit einem ermutigenden Lächeln ergriff sie Raines Hand und zog die junge Frau sanft mit sich. „Komm, meine Liebe, wir setzen uns in den Garten. Während die Männer reden, nehmen wir eine Erfrischung zu uns.“

Obwohl Raine Keir MacNeil äußerst ungern auch nur für einen Moment aus den Augen ließ, konnte sie die freundliche Einladung der Gastgeberin wohl kaum ausschlagen. Als sie und Lady MacSween sich zurückzogen, warf Raine einen Blick über die Schulter und sah, wie der große Krieger ihren Abgang wohlgefällig verfolgte. Selten hatte sie Keir MacNeil so selbstzufrieden gesehen. Was natürlich bedeutete, dass sie ihm nicht trauen durfte. Zweifellos brütete er über einem schlauen Plan, um sie loszuwerden.

Keir sah den beiden Frauen nach, dann wandte er sich Finn MacSween zu. „Lady Raine ist mit einer Gruppe Klarissen, die dort ein Krankenhaus gründen wollen, nach Inverness gereist“, sagte er. „Sie hat mich mit ihrem Besuch überrascht.“ Keir hakte beide Daumen unter seinen Schwertgurt und furchte die Stirn. „Laird, ich muss dich um einen Gefallen bitten.“

Finn nickte und zwinkerte wissend mit den Augen. „Aye, und ich habe so eine Ahnung, dass ich bereits weiß, worum es geht. Komm, mein Freund, lass uns einen Schluck Ale trinken, während du mir darlegst, wie das junge Mädchen von Archnacarry sich unter deinen Schutz begeben konnte, während du doch gerade im Begriff bist, in den Kampf zu ziehen.“

Sie setzten sich an einen langen Tisch vor einem riesigen Kamin und warteten, bis ein Diener zwei Kelche mit Ale brachte und auf der nackten Holzplatte abstellte.

Keir schilderte mit knappen Worten, wie Raine am Morgen unerwartet und ohne Geleitschutz von Verwandten oder Leibwächtern im Gasthaus aufgetaucht war. Finn gegenüber gab er zu, dass sie vermutlich tatsächlich, wie sie behauptete, mit einer Gruppe von Nonnen nach Inverness gereist war. Doch obwohl sie es abstritt, nahm Keir an, dass sie ihr Zuhause ohne Erlaubnis verlassen hatte.

„Ich hoffe“, sagte Keir mit einem zaghaften Lächeln, „dass du und deine liebe Frau ihr den Schutz von Inverloch Castle anbietet, bis ihr Onkel kommt und sie heimholt. Ich werde Laird Cameron eine Nachricht schicken und ihn über ihren Aufenthalt in Kenntnis setzen, bevor ich an Bord der Raven gehe.“

Laird MacSween fuhr sich mit seinen dicken Fingern über die Glatze. „Aber sicher. Ich biete Lady Raine gern unseren Schutz an. Aber was hat das Mädchen sich in Gottes Namen dabei gedacht, mit weiter nichts als ein paar frommen Frauen als Begleitung eine so gefährliche Reise zu unternehmen?“

Keir schüttelte den Kopf. „Ich will verflucht sein, wenn ich solch mutwilliges Verhalten erklären könnte, bis auf den Umstand, dass ihre Tante Isabel wohl die Hand im Spiel hat. Diese heimlichtuerische Frau befasst sich mit Zaubersprüchen und Elixieren. Ihre Narrheiten haben sich anscheinend auf das Mädchen übertragen. Raine behauptet, sie habe das Zweite Gesicht.“

Finn schürzte die Lippen und stieß einen leisen Pfiff aus. „Vielleicht hat sie es wirklich“, sagte er und zuckte mit den Achseln. „Ein entfernter Verwandter von mir ist dafür bekannt, dass er Dinge sieht, bevor sie eintreten. Willem hat seinen Vater einen Monat vor dem Tod des alten Mannes auf dem Sterbebett gesehen.“

Keir ließ einen skeptischen Laut vernehmen. „Alte Männer pflegen bekanntlich zu sterben. Eher früher als später. Ich gebe nichts auf Raines angebliche besondere Kräfte. Sie ist ja fast noch ein Kind.“

„Welchen Grund gibt das Mädchen für diese erstaunliche Eskapade an?“

„Sie sagt, sie will auf die Insel Lewis, wo eine Cousine ihre baldige Niederkunft erwartet“, antwortete Keir. „Da Lady Isabel auf Grund ihres fortgeschrittenen Alters dem Hilferuf nicht Folge leisten konnte, hat Raine sich entschlossen, an ihrer Stelle zu gehen. Was ein unverheiratetes Mädchen allerdings von Geburtshilfe weiß, bleibt offen.“

Finn nickte nachdenklich. „Aye, aber wer weiß schon, wie der Verstand einer Frau arbeitet? Insbesondere, wenn es mit dem Geheimnis der Geburt zu tun hat.“ Er hob den Zinnkelch und trank einen großen Schluck. Mit einem Poltern stellte er ihn wieder ab und wischte sich mit dem Handrücken über das bärtige Kinn. „Jetzt berichte von dem Aufstand, Junge. Was sind deine Pläne? Wie willst du die Unruhen auf den Inseln in den Griff bekommen?“

„Ich segle mit der Raven und den beiden Schiffen meiner Brüder unter meinem Kommando zur Insel Lewis. Der König hat mich beauftragt, die Burg von Steòrnabhagh zu belagern, wo Torcall MacMurchaidh unseres Wissens Donald Dubh MacDonald beherbergt. Ich werde beide Verräter in Gewahrsam nehmen und nach Edinburgh bringen.“

Laird MacSween stützte die Ellenbogen auf den Tisch. „Da steht dir ein gutes Stück Arbeit bevor, mein Junge. Castle Murchaidh ist nahezu uneinnehmbar. Die Bollwerke sind zehn Fuß dick und längs der gesamten Ufermauer mit Geschützstellungen ausgerüstet.“

„Wir haben selbst ausreichend Kanonen“, sagte Keir, „mit schwenkbarer Lafette und Büchsenmeister zu ihrer Bedienung. Die Festung wird in knapp einer Woche fallen. Danach stoßen wir in Calgarraidh Bay auf die königliche Flotte.“

MacSween schnalzte in düstere Überlegungen versunken mit der Zunge. „Das ist eine schlimme Sache“, sagte er mit einem bedauernden Kopfschütteln. „Wirklich schlimm. Zu viele Menschenleben werden einer unnützen Sache geopfert, die von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Sicherlich lässt sich doch mit den anderen aufständischen Clan-Chiefs ein Kompromiss schließen, sobald Donald Dubh und MacMurchaidh verhaftet sind.“

„Das würde ich gern glauben, aber ich bezweifle es.“ Keir leerte seinen Kelch. Dann stand er auf. „Ich schreibe die gesamte Schuld dem Earl of Argyll zu. Hätte er nicht seinen eigenen Enkel auf Jahre hinaus gefangen gesetzt, wäre mittlerweile bestimmt eine wie auch immer geartete Einigung erzielt worden. Donald Dubh dürfte schäumen vor Verbitterung und Hass. Als Erbe des Lords of the Isles ist der Junge in der Lage, einen Aufstand des gesamten MacDonald-Clans und seiner Verbündeten anzuführen.“

Finn nickte zustimmend. „Und währenddessen ist Argyll anscheinend versessen darauf, all diesen Aufruhr, das Gemetzel und Sterben, zu seinem Vorteil zu nutzen. Meines Erachtens hofft der habgierige Schweinehund darauf, am Ende den Handelsweg nach Irland unter seine Kontrolle zu bringen, ganz gleich, ob er ein Jahr oder zwanzig Jahre dafür benötigt.“

Keir musste ihm beipflichten. „König James hat einen schweren Fehler begangen, als er Argyll zum Königlichen Hausmarschall ernannte. Er und die anderen Ratgeber hatten es eilig, die Bemühungen des Königs um eine Versöhnung mit den Chiefs der Inseln zu untergraben. Stattdessen verfolgten sie eine Politik des Zwangs, die den alten Hass wieder aufwühlen musste.“

Laird MacSween stand ebenfalls auf und legte Keir eine Hand auf die Schulter. „Du willst dich sicher von Lady Raine verabschieden, bevor du dich auf den Weg machst.“

„Nein, Laird, da irrst du dich“, sagte Keir und schüttelte den Kopf. „Ich werde Raine Cameron nicht mitteilen, dass ich sie hier bei dir und Lady Dorothea zurücklasse. Und ich wäre dir dankbar, wenn du noch ein wenig wartest, bis du Raine von meiner Abreise informierst.“

Finn MacSween brach in dröhnendes Gelächter aus. „Oh, aye“, rief er zwischen Lachsalven, „ich weiß, was du denkst, mein Junge. Kanonendonner ist leichter zu Ertragen als das Gekreische einer empörten Frau.“

Keir klärte seinen Freund nicht über seinen Irrtum auf, dass Raine versuchen würde, ihren Willen mittels Kreischen durchzusetzen. Doch Keir wusste es besser. Das Problem bestand nämlich darin, dass Raines Familie in ihrer übergroßen Liebe ihr ein Leben lang ihren Willen gelassen hatte.

Keir beabsichtige, an Bord der Raven zu sein und aus dem Firth of Moray zu segeln, bevor Lady Raine Cameron erfuhr, dass sie übertölpelt worden war. Zum Teufel, sie kannte ihn fast ihr ganzes Leben lang. Sie hätte wissen müssen, dass er keinesfalls die Absicht hatte, sie mitzunehmen. Doch wenn ihr erst einmal aufging, dass er ohne sie fortgesegelt war, würde sie schon zur Vernunft kommen und bereitwillig darauf warten, dass ihr Onkel Alex nach Inverloch Castle kam und sie abholte.

Keir und Raine waren auch früher schon aneinandergeraten, wenn sie andere von ihrem Zweiten Gesicht hatte überzeugen wollen. Doch Keir wusste, dass sein Wille sich immer als der stärkere erweisen würde, ganz gleich, wie stur und eigensinnig Raine auch war.

Und immerhin führte er sie ja in ihrem eigenen Interesse hinters Licht.

3. KAPITEL

Die drei Schiffe segelten in dichter Formation hinaus auf die Nordsee und ließen die ruhigeren Gewässer des Firth of Moray hinter sich. Keir stand an der Steuerbordseite des Achterdecks und sah zu, wie die Schwesterschiffe der Black Raven, die Sea Dragon, befehligt von Fearchar MacLean, und die Sea Hawk unter dem Kommando von Colin MacRath, wie weißgeflügelte Raubvögel durch die schäumenden Wellen pflügten.

Ein Hochgefühl erfasste ihn. Keir lächelte in sich hinein und kostete den Augenblick voll aus. Es war immer wieder aufregend, hinaus aufs offene Meer zu segeln.

Die leise Stimme seines schlechten Gewissens verdarb ihm den Moment. Keirs Miene verfinsterte sich bei dem Gedanken an Raines bittere Enttäuschung, wenn sie erkannte, dass er sie im Stich gelassen hatte. Zum Teufel, im Stich gelassen hatte er sie eigentlich doch gar nicht. Er hatte sie in der Obhut zweier warmherziger Menschen zurückgelassen, die bis zum Eintreffen ihrer Verwandten auf sie Acht geben würden.

Letztendlich hatte sie ihm gar keine andere Wahl gelassen. Denn er hätte Raine nie im Leben mit an Bord der Raven nehmen können. Das war unvorstellbar. Sie so nahe zu wissen und seinem Begehren nicht nachgeben zu dürfen, das hätte sich vielleicht als schwieriger erwiesen als irgendetwas, was er je getan hatte. So genau wollte er das gar nicht wissen.

Keir richtete den Blick auf den Horizont. Es herrschte ideales Segelwetter; die Sicht war auch auf große Entfernung vollkommen klar. Aus den Augenwinkeln nahm er etwas leuchtend Rotes wahr, Stoff, der im frischen Meerwind flatterte und sich blähte. Er blinzelte gegen die Sonne in Richtung Deck.

Die Erinnerung an Raine, die einen roten Mantel anprobierte, schoss ihm durch den Kopf. Sie hatte sich die zobelbesetzte Kapuze über ihr seidig glänzendes dunkles Haar gezogen, und ihre Augen hatten vor Freude gefunkelt wie polierter Jett.

„Macraith!“, brüllte Keir.

Sein Onkel eilte an seine Seite, bemerkte jedoch nicht, dass Keir finstere Blicke auf die Sea Hawk warf. Macraith blickte über die Wellen hinweg auf den fernen Horizont und rechnete zweifellos damit, die Segel eines feindlichen Schiffs nahen zu sehen. „Captain?“, fragte er unüberhörbar verdattert.

„Gib der Hawk Signal beizudrehen und sich fürs Entern bereit zu machen“, befahl Keir. „Dann lass ein Boot zu Wasser und schicke Barrows hinüber, damit er Lady Raine auf die Raven holt.“

Macraiths Kopf ruckte herum zu der schnittigen Galeone an ihrer Seite. „Lady Raine?“ Beinahe wäre er an den Worten erstickt. „Wie … wieso? Ich dachte, du hättest das Mädchen in Inverloch Castle zurückgelassen.“

„Das habe ich auch, verdammt noch mal“, stieß Keir zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. „Das habe ich.“

Wenig später kehrte Barrows zurück und näherte sich zaghaft seinem wütenden Kapitän. „Verzeihung, Sir“, sagte der grauhaarige Seemann, dessen wettergegerbtes Gesicht rot vor Verlegenheit war. Er zog sich die Mütze vom Kopf und knetete sie mit krummen, schwieligen Fingern. „Lady Raine lässt den Captain grüßen, Sir, und sagt, sie möchte lieber an Bord der Sea Hawk bleiben.“

„Wie bitte?“, fuhr Keir auf.

Barrows rückte näher und flüsterte in vertraulichem Tonfall: „Die Kleine sagt, sie kommt nicht an Bord der Raven, bedankt sich aber für die Einladung.“

„Ich hole sie“, bot Macraith an, bevor Keir seiner Empörung Luft machen konnte.

„Tu das“, knirschte Keir. „Und sag dieser … Sag Lady Raine, wenn ich selbst kommen und sie holen muss, kann sie vorerst nicht mehr sitzen auf ihrem …“

„Ich bringe sie her“, fiel Macraith ihm mit einer lässigen Handbewegung ins Wort. „Du brauchst der Kleinen keine Strafe anzudrohen, die du doch nie ausführen würdest.“

„Ich drohe nichts an, was ich nicht ausführe, und das weißt du, verdammt noch mal. Geh jetzt. Und wenn du zurück bist, bringe sie auf der Stelle in meine Kajüte“, befahl Keir. „Wir müssen ihre unfreiwillige Ankunft hier ja nicht vor versammelter Mannschaft erörtern.“

Raine schaute sich in Keirs Privaträumen um und wartete beklommen. Sie hatte gesehen, wie er sie vom Achterdeck aus beobachtete, während sein Onkel ihr die Leiter hinaufhalf. Es war ein peinlich unbeholfener Vorgang gewesen, als Macraith sie aus dem schaukelnden Boot hob und ein anderer Seemann sie über das Dollbord ans Hauptdeck zog. Hätte sie zehn Pfund mehr gewogen, oder wären die Männer nicht so stark gewesen, hätte sie es nie an Bord geschafft, dessen war Raine sicher.

Macraith hatte sie zur Kapitänskajüte geführt, wo er Raines Tasche und Lederbeutel auf dem schmuckvollen Turkestan-Teppich abstellte und sie in bedrohlicher Stille allein ließ. Die Sorge in Macraiths ernsten braunen Augen verriet ihr, dass das bevorstehende Gespräch mit seinem aufbrausenden Neffen nicht angenehm verlaufen würde.

Sie brauchte nicht lange zu warten. Und ihr blieb nicht annähernd genug Zeit, um sich zu sammeln und sich eine angemessen herzzerreißende Geschichte auszudenken.

Keir MacNeil stürmte in den Raum und trat mit dem Stiefelabsatz die Tür ins Schloss. Rasch kam er auf Raine zu und baute sich vor ihr auf, stemmte die Hände in die Hüften und beugte sich zur ihr herab, sodass ihre Gesichter auf gleicher Höhe waren. Die Narbe, die sich durch seine rechte Augenbraue und über die gebrochene Nase zog, verstärkte die finstere Ausstrahlung seiner groben Züge.

„Bist du jetzt glücklich?“, fragte er, bevor sie ein einziges Wort äußern konnte. „Bist du zufrieden, Raine Cameron, nachdem du deinen Willen durchgesetzt hast? Nachdem du dich mit einem Schlag in Gefahr begeben und mir die Verantwortung für deine Sicherheit aufgebürdet hast? Und das alles nur, um irgendeiner Frau beizustehen, die ihr Kind wahrscheinlich vor deinem Eintreffen längst zur Welt gebracht hat.“

Raine wich zwei kleine Schritte zurück und blieb stehen, als sie die Kante seines großen Betts in den Kniekehlen spürte. Sie wollte schlucken, aber ihr Mund war wie ausgetrocknet. Als sie versuchte zu sprechen, klebte ihre Oberlippe an ihren Schneidezähnen, und sie musste sie mit der Zunge befeuchten. „Du warst es doch, der darauf bestand, dass ich auf die Raven wechsle“, begann sie. Plötzlich außer Atem, preschte sie nach Luft schnappend weiter vor: „Ich wäre … viel lieber … unter Colin MacRaths Schutz … geblieben.“

Keir straffte die Schultern und verschränkte die mächtigen Arme vor der Brust. Seine Worte trieften vor Verachtung. „Oh, aye! Das hätte dir gefallen, wie? An Bord der Hawk zu bleiben, wo du diesen leicht zu beeindruckenden Bengel um den kleinen Finger hättest wickeln können.“

Raine wollte nicht nachgeben und blickte ihrem Peiniger fest in die Augen. „Colin ist ein erwachsener Mann und Kapitän auf seinem Schiff. Er trifft seine Entscheidungen selbst.“

„Nicht, solange ich Befehlshaber dieser Schwadron bin,“ zischte Keir.

Ein höfliches Klopfen an der Tür unterbrach den Wortwechsel.

„Komm rein, Macraith“, rief Keir über die Schulter hinweg. „Dann kannst du mit eigenen Augen sehen, dass ich ihr nicht den Hals umgedreht habe … Noch nicht.“

Macraith trat ein und ließ den besorgten Blick von einem zum anderen wandern, als wollte er sich vergewissern, dass die junge Dame wacker standhielt. Doch er wartete in vorsichtigem Schweigen, eindeutig gewohnt, die zeitweiligen Gefühlsausbrüche seines Neffen auszusitzen.

„Na, mach schon“, forderte Keir seinen Onkel mit einer Handbewegung auf. „Sag, was du zu Gunsten der Lady Raine zu sagen hast. Ich sehe es doch in deinen Augen. Du willst das Unentschuldbare verteidigen.“

„Hm … Ich wollte vorschlagen, dass das Mädchen meine Kajüte erhält. Ich kann beim Quartiermeister unterkommen, Sir. Das ist kein Problem. Überhaupt kein Problem.“

Keir blickte zur Decke und schüttelte in unübersehbarer Erbitterung den Kopf. „Ein ausgezeichneter Vorschlag, Macraith. Denn ich gebe meine Unterkunft ganz bestimmt nicht her.“ Er grinste boshaft, als er Raines Blick einfing. „Es sei denn, natürlich, du willst sie mit mir teilen.“

„Du bist ein Monstrum“, sagte sie ruhig. „Das warst du schon immer. Und wirst es immer sein.“

„Endlich sind wir einmal völlig einer Meinung, Lady Raine.“

An diesem Abend saßen Keir und Macraith an dem kunstvoll geschnitzten Tisch, an dem in den Räumen des Kapitäns gespeist wurde, und warteten auf ihren säumigen Gast.

„Genau das habe ich befürchtet“, sagte Keir und bedeutete dem flachsblonden Kadetten gereizt mit einem Wink, mit dem Servieren des Mahls noch zu warten. „Mittlerweile wird Lady Raine so übel sein, dass sie nichts mehr bei sich behalten kann, und im Lauf der Nacht wird es noch weiter bergab gehen. Am Morgen müssen wir den erstbesten sicheren Hafen ansteuern und Gott bitten, dass wir eine achtbare Familie finden, bei der wir sie unterbringen können.“

„Och“, protestierte Macraith mit der Gelassenheit von Alter und Erfahrung, „auf ihrer ersten Seereise leiden fast alle Passagiere an einem Anfall von Übelkeit. Prophezei dem Mädchen nicht das Schlimmste, bevor es tatsächlich dazu kommt.“

Keir blickte angesichts der Seelenruhe seines Onkels grimmig drein. „Zum Teufel, eine zierlich gebaute Frau wie Raine kann an der Seekrankheit sterben, das wissen wir beide.“

Keir selbst war ein wenig übel, so, als hätte ihm jemand einen heftigen Tritt in den Bauch versetzt. Gott war sein Zeuge, schon in Inverness hatte er versucht, genau diese Situation zu verhindern. Die Vorstellung, dass Raine hilflos in ihrer Koje lag, nichts im Magen behalten konnte und immer schwächer wurde, ließ ihn aufspringen. Er würde jetzt gleich nach ihr sehen und nicht darauf warten, dass der Ernstfall eintrat.

In dem Moment, als Keir sich von seinem Stuhl erhob, erschien Raine in einem lavendelfarbenen Kleid in der offenen Tür. Ihr glänzendes schwarzes Haar, zu einem dicken Zopf geflochten und zu einer Acht geformt, war mit einem blauen Seidenband im Nacken befestigt. Ihre dunklen Augen, gerahmt von langen, gebogenen Wimpern, blitzten unternehmungslustig.

Sie wirkte gesund und munter, lächelte verhalten und ahnte offenbar nichts von den Qualen, die Keir um ihretwillen ausgestanden hatte. „Es tut mir so leid, dass ich euch habe warten lassen.“ Ohne eine Spur von Bedauern blickte sie von einem Mann zum anderen. „Ich habe an der Reling gestanden und dem Spiel der Delfine in den Wellen zugesehen. Dabei habe ich einfach die Zeit vergessen.“

„Dann fühlst du dich in der Lage zu essen?“, fragte Keir, der seine Erleichterung nicht verbergen konnte. Zu verblüfft und dankbar, um sich zu rühren, blieb er vor dem Tisch stehen.

Macraith erhob sich und bedeutete Raine, Platz zu nehmen.

Sie nickte Keirs Onkel zu und setzte sich auf ihren Stuhl. „Aber ja. Ich habe seit heute Morgen nichts mehr gegessen, als ich …“ Sie unterbrach sich, zweifellos in der Erinnerung daran, dass es Lady MacSween gewesen war, die ihr in Inverloch Castle zuletzt eine Erfrischung angeboten hatte.

Keir gab dem siebzehnjährigen Seekadetten ein Zeichen, dass er servieren sollte. Hector MacFarlane trat vor und schöpfte die dicke Suppe mit Brocken von Lamm und Gemüse in Raines Teller. Sie griff nach dem warmen Brotlaib auf einem Holzbrett, brach ein Stück ab und atmete den Duft ein.

„Mhm, das riecht köstlich“, sagte sie und schnupperte noch einmal genüsslich.

Keir sah verwundert zu, wie Raine ihr Brot in den Eintopf tunkte und herzhaft zu essen begann. Als sie seinen Blick bemerkte, zog sie die Brauen hoch.

„Stimmt etwas nicht?“, fragte sie.

Keir schüttelte den Kopf und setzte sich wieder. „Alles in Ordnung. Wir hatten nur gerade unserer Hoffnung Ausdruck gegeben, dass du nicht zu sehr unter dem Wellengang leidest. Diese nördlichen Strömungen können trügerisch sein, sogar im Sommer. Wir werden noch rauen Seegang erleben, bevor wir die ruhigeren Gewässer des Minchkanals erreichen.“

„Ach, darauf bin ich gut vorbereitet“, sagte sie mit einem leisen Lachen. „Tante Isabel hat mir unter anderem ein Pulver von einer Wurzel eingepackt, die bekannt ist für ihre gute Wirkung gegen Seekrankheit.“

„Wem ist sie bekannt?“, fragte Macraith mit dem Ausdruck lebhaften Interesses auf dem zerfurchten Gesicht. Sein freundliches Lächeln verriet seine herzliche Zuneigung zu der jungen Dame. „Ich habe noch nie von einem solchen Heilmittel gehört.“

„Nun, zum einen kennt meine Tante die Heilwirkung von Ingwer“, antwortete Raine. „Und ich kenne sie auch. Ich habe, seit ich acht Jahre alt war, unter Tante Isabels Anleitung die Heilkräfte verschiedener Pflanzen und Kräuter studiert.“

Macraith grinste Keir an. „Na, das ist mir mal ein tüchtiges Mädchen“, sagte er schmunzelnd und fuchtelte mit seinem Löffel herum.

„Oh, aye“, pflichtete Keir ihm bei. „Ich wusste schon immer, dass Raine genug Grips für zwei Frauen hat. Ihr fehlt es nur an gesundem Menschenverstand.“

Macraith rückte näher an Raine heran und flüsterte ihr ins Ohr: „Hör gar nicht auf diesen Quatschkopf, meine Liebe. Eines Tages wirst du irgendeinem Glückspilz eine großartige Gattin sein.“

„Ach, ich habe nicht vor, jemals zu heiraten“, erwiderte Raine gelassen.

„Und warum nicht?“, erkundigte Macraith sich, der gar nicht versuchte, seine Verwunderung zu verbergen. „Ein ansehnliches Mädchen wie du muss sich der Burschen doch sicher mit einem Belegnagel erwehren.“

Keir griff nach einem Stück Brot und tauchte es in seinen Eintopf. „Lady Raine glaubt womöglich, sie würde niemals einen Mann finden, der ihrer Zuneigung würdig ist“, meinte er zynisch.

Verblüfft über seinen Spott sah Raine ihm in die Augen. „Nein, das ist es nicht“, protestierte sie. „Der Grund ist vielmehr, dass ich mich ganz der Heilkunst widmen will, wie meine Tante. Und wie sie will auch ich Junggesellin bleiben.“

„Das wäre aber eine verteufelte Verschwendung“, verkündete Macraith. Er wandte sich seinem Neffen zu. „Meinst du nicht auch?“

Keir lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und drehte den Stiel seines Portweinglases zwischen Daumen und Zeigefinger. „Wenn Raine meint, ihr Leben mit dem Mahlen von Wurzeln und dem Werfen von Knochen verbringen zu müssen wie ihre unverheiratete Tante, dann ist sie noch törichter, als ich dachte.“

Raine schaute ihn fragend an, als versuchte sie zu begreifen, ob seiner bissigen Bemerkung eine tiefere Bedeutung innewohnte. Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte ihn. Mit scharfem Blick schien sie seine sinnlichen Gedanken zu lesen. „Du selbst bist anscheinend auch nicht in Eile zu heiraten, Laird MacNeil“, schoss sie zurück.

„Nun, da irrst du dich“, antwortete Keir, heilfroh zu sehen, dass sie seine Gedanken doch nicht lesen konnte, ob sinnlich oder nicht. „Vielmehr stehe ich zurzeit in Verhandlungen um eine Braut. Bevor ich zu diesem Einsatz aufbrach, habe ich meinen Onkel, den Earl of Appin, angewiesen, mit meinem Antrag an den Vater der Dame heranzutreten.“

Macraith starrte ihn mit offenem Mund an. „Teufel auch! Davon höre ich ja zum ersten Mal.“

Keir überging die skeptische Äußerung seines Onkels und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen Raines Reaktion. Wie erwartet lächelte sie unaufgeregt und distanziert, völlig ungerührt von der Vorstellung, dass er heiraten wollte. Aber das überraschte ihn nicht.

„Darf ich dir gratulieren?“, fragte sie zuckersüß. „Oder ist es noch zu früh? Vielleicht sollten wir erst einmal abwarten, ob die Dame deinen Antrag annimmt.“

„Damit willst du wohl sagen, dass mich keine Dame jemals als Ehemann akzeptieren würde?“, hänselte er sie und drängte sie dazu einzugestehen, dass sie genau das dachte. „Du denkst, die Verhandlungen sind erfolglos, wenn das Mädchen meinen Antrag ablehnt?“

„Nay, Junge“, mischte Macraith sich ein. „Kein Mensch ist so dumm, das zu glauben! Schließlich bist du der rechtmäßige Erbe eines Vermögens. Du besitzt große Ländereien und eine Burg auf Barra. Welche klar denkende Frau würde den Chief des Clans MacNeil wohl abweisen?“

Raine hob die zierlichen Brauen, ihre dunklen Augen funkelten belustigt. „Nun dann“, sagte sie, „hoffen wir, dass der Laird des Clans MacNeil einer klar denkenden jungen Dame seine Zuneigung angeboten hat.“

„Ich habe nicht gesagt, dass Zuneigung im Spiel sei“, entgegnete Keir mit einem gleichgültigen Schulterzucken. „Ich habe um ihre Hand angehalten. Mehr nicht.“ Er brach abrupt ab, als ihm bewusst wurde, dass Raine ihn auf die altgewohnte Art neckte.

Keir wusste nur zu gut, dass Raine hoffnungslos in seinen attraktiven Bruder Lachlan verliebt gewesen war. Wobei hoffnungslos das Schlüsselwort war, denn wie das Schicksal es wollte, war Lachlan inzwischen ein verheirateter Mann, bis über beide Ohren verliebt in seine schöne Frau und vernarrt in seine Kinder. Für Raine musste es eine große Enttäuschung gewesen sein, als Lachlan mit seiner schwangeren englischen Geliebten nach Schottland zurückkehrte.

Raines unerwiderte Liebe war zweifelsohne der wahre Grund dafür, dass sie niemals heiraten wollte. Denn welche Frau gab sich schon mit einem Leben zufrieden, das nur aus Zaubersprüchen und angeblichen Visionen bestand?

Nach dem Essen entschuldigte sich Raine und zog sich in ihre Kabine zurück. Keir und Macraith traten an den Kartentisch, um den Kurs des Schiffs über die Nordsee festzulegen.

„Merkwürdig, du hast nie erwähnt, dass Duncan Stewart zurzeit deine Verheiratung aushandelt“, sagte Macraith leise und beiläufig.

Keir hielt den Kopf gesenkt und mied den forschenden Blick seines Onkels. „Du magst ja auf der Raven mein Stellvertreter sein, aber ich bin nicht verpflichtet, dich über persönliche Angelegenheiten auf dem Laufenden zu halten.“

„Och, Mann“, erwiderte Macraith schmunzelnd, „das wollte ich auch nie behaupten. Aber übe Nachsicht mit meiner neugierigen Art, Junge. Wer ist die Schöne, die dich so betört hat?“

Keir legte seine Feder auf die Bogen mit seinen Berechnungen. „Ich dachte, wir hätten das Thema beim Abendessen abgeschlossen.“

Er hing sehr an seinem Onkel. Macraith war der jüngere Bruder von Keirs verstorbenem Vater. Ruaidh Athaeuch MacNeil, auch bekannt als der Schwarze Unhold von Barra, war auf dem Schlachtfeld gefallen, als Keir erst sieben Jahre alt gewesen war. In den darauffolgenden Jahren stellte so mancher fest, dass Keir seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten war. Schon früh nannte man ihn die Ausgeburt des Schwarzen Unholds.

Lady Emma MacNeil verlegte ihren Haushalt nach dem Tod ihres dritten Mannes unverzüglich von Kisimuth Castle auf der Insel Barra in die Heimat ihres Bruders in Stalcaire in den Highlands.

Macraith hatte Keir in diesen frühen Jahren häufig besucht und damit die liebevolle Verbindung zwischen Onkel und Neffe gefestigt, die seit der Geburt bestand. Mit zehn Jahren wurde Keir dem Admiral des Königs, Sir Anthony Wood, in die Lehre gegeben, der ihn auf See mitnahm. Macraith war mit ihnen gesegelt und hatte Keir die Liebe zur Seefahrt gelehrt. Seit Keir sein eigenes Schiff, die Black Raven, hatte vom Stapel laufen lassen, begleitete Macraith ihn als sein Stellvertreter. Sie schützten einander in Schlachten und freuten sich ihrer gemeinsamen Erfolge als Kaperer des Königs.

„Nein, nicht ganz“, meinte Macraith grinsend. „Du hast den Namen der Schönen, die dein Herz gestohlen hat, nicht genannt.“

„Mein Herz gestohlen!“, wiederholte Keir mit einem ironischen Lachen. „Sei kein Narr. Die Aushandlung eines Ehevertrags bedeutet nicht, dass Zuneigung im Spiel ist, das weißt du selbst. Wenn sich zwei wohlhabende Familien verbinden, geht es in erster Linie um die Vermögenswerte, die beide Parteien in das Bündnis einbringen.“

Macraith schüttelte den Kopf, sodass seine dünnen Seitenzöpfe sanft hin und her schwangen. „Verkauf dich nicht unter Wert, mein Junge. Du hast eine Frau verdient, die dich liebt. Eine, die den Kinder, die du ihr machst, eine gute Mutter ist.“

„Eine pflichtbewusste Frau wird meine Autorität respektieren“, antwortete Keir und unterdrückte seinen Ärger. „Es ist ihre verdammte Pflicht, mich zu respektieren.“

„Ah, verstehe“, meinte sein Onkel. „Und was ist mit dir? Magst du das besagte Mädchen? Wer auch immer dieses geheimnisvolle Wesen sein mag?“

„Nichts an ihr ist geheimnisvoll. Wenn du es unbedingt wissen willst: Ich habe Duncan beauftragt, mit Laird Fillan MacNab in Verhandlungen um die Hand seiner Tochter Mariota zu treten.“

„Die Jungfrau von Strathfillan? Herrgott, Junge! Das kann nicht dein Ernst sein!“

„Und warum nicht?“, gab Keir zurück. „Sie ist jung und gesund und recht hübsch. Nichts weist darauf hin, dass sie keine gebärfreudige Ehefrau und liebevolle Mutter sein würde.“

Macraith setzte sich wieder auf den hohen Hocker neben dem Kartentisch. Er strich sich mit seiner großen Hand über den Bart, in den Perlen geflochten waren, und musterte seinen Neffen mit einem Ausdruck von Skepsis. „Und hast du jemals mehr als zwei Worte mit dem Mädchen gesprochen, frage ich dich?“

„Oh, aye“, entgegnete Keir. Er konnte sich ein Grinsen über die scharfsinnige Bemerkung seines Onkels nicht verkneifen. „Zugegeben: Mariota ist ein schüchternes, stilles Mäuschen. Es wird ihr nicht schwerfallen, ihrem Heiratsversprechen gerecht zu werden, wenn sie gelobt, im Bett und bei Tisch stets Ja und Amen zu sagen.“

„Und das ist es, was du dir wünschst?“, fragte Macraith ungläubig. „Eine Frau, die Angst hat, den Mund aufzumachen und dir zu sagen, was sie denkt? Ein Weibchen, so fügsam, dass sie ohne das leiseste Wort des Protests den Mann heiratet, den ihr Vater ihr aussucht?“

„Bin ich denn eine so schlechte Partie?“, fragte Keir. Allmählich riss ihm der Geduldsfaden. „Muss man eine Frau zwingen, mich zu heiraten …“

Sie wurden unterbrochen, als Barrows in der offenen Kajütentür auftauchte.

„Verzeihung, Sir“, sagte er und blieb auf der Schwelle stehen.

Keir und Macraith sahen ihn an und bemerkten, dass das wettergegerbte Gesicht des tüchtigen Seemanns kreideweiß vor Angst war.

„Was gibt es?“, fragte Keir.

„Kommen Sie bitte am besten gleich an Deck, Sir“, antwortete Barrows. Er zeigte mit dem krummen Zeigefinger zur niedrigen Kajütendecke. „Das Mädchen ist mit den Schiffsjungen in die Takelage gestiegen. Wir haben sie gerade erst dort oben entdeckt. Eben noch stand sie an der Backbord-Reling, im nächsten Moment war sie verschwunden. Kein Mensch hat sie auch nur beim Klettern gesehen. Wir wissen nicht, was wir tun sollen. Wir haben Angst, hinaufzusteigen und sie zu holen, weil sie dann vielleicht erschrickt und abstürzt.“

Keir ließ den Kompass fallen, stob an dem besorgten Bootsmannsmaat vorbei und hastete die Kajütenleiter hinauf. Macraith folgte ihm auf dem Fuße.

An Deck stand die Morgenwache zusammengedrängt und blickte voller Entsetzen hinauf in den Großmast.

Keir folgte ihrer Blickrichtung und erspähte Raine auf einer oberen Quersaling hockend, einen Arm um den Mast gelegt. Sie trug ein weites Matrosenhemd und Kniehosen und war anscheinend so in die Betrachtung des Ozeans vertieft, dass sie ihr schreckensstarres Publikum tief unten gar nicht bemerkte.

Ethan und Robbie Gibson saßen mit besorgten Mienen in ihrer Nähe auf einer Rah. Offenbar war Raine ihnen in die Takelage gefolgt. Aus Angst um sie saßen die Jungen ganz still und hofften zweifellos, dass man nicht ihnen die Schuld geben möge, wenn sie stürzte.

Keir gebot der Mannschaft mit einem Handzeichen Schweigen. „Sorg dafür, dass die Männer mucksmäuschenstill sind“, befahl er Macraith.

Mit wild klopfendem Herzen begann Keir den Aufstieg. Er betete zu Gott, dass Raine nicht nach unten blicken und plötzlich die unglaubliche Gefahr begreifen möge, in der sie schwebte.

Keir kletterte so geräuschlos wie möglich ins Mastwerk hinauf und zog sich dann auf die Saling, auf der Raine hockte. Wortlos bedeutete er den Jungen hinabzusteigen. Ethan und Robbie lächelten erleichtert und ließen sich rasch an den Seilen herabgleiten zu den übrigen Seeleuten an Deck.

Raine schenkte Keir ein Willkommenslächeln. „Oh, du willst mir Gesellschaft leisten.“ Der Seewind löste kleine Löckchen aus ihrem Zopf, die ihr Gesicht umgaben wie eine schwarze Wolke.

„Ja“, antwortete er ruhig. Er hätte sie erwürgen mögen, weil sie sich in solch schreckliche Gefahr gebracht hatte. Schon als Kind hatte sie keine Furcht gekannt.

„Du scheinst ein bisschen außer Atem zu sein“, stellte sie überrascht fest.

Keir saß auf der anderen Seite des Masts und zwang sich zu einem Lächeln. Sein Herz schlug beinahe wieder in gewohntem Takt, doch Raine war noch nicht außer Gefahr. Er musste sie sicher zurück aufs Deck bringen, bevor er über sie herfiel.

„Was machst du hier oben?“, fragte er im Plauderton und wehrte sich gegen den Drang, sie beim Handgelenk zu packen. Jede plötzliche Bewegung konnte zur Katastrophe führen.

Sie lugte um den Großmast herum, und ihre Augen blitzten vor Freude über ihre jüngste Großtat. „Ich habe gesehen, wie die Jungen an den Seilen rauf und runter klettern. Da erwachte meine Neugier auf den Ausblick aus dieser großen Höhe.“ Sie schaute um sich und stieß einen langen Seufzer des Staunens aus. „Es ist wahrlich wunderschön. Dieses Schiff. Der Ozean. Die Hawk und die Dragon ganz in unserer Nähe. Ich könnte den ganzen Vormittag hier oben bleiben.“

„Aber jetzt ist es Zeit für den Abstieg“, sagte Keir mit immer noch fester Stimme. „An Bord eines Kaperschiffs musst du dir immer erst die Erlaubnis einholen, bevor du ins Mastwerk steigst. Sonst entsteht ein zu großes Durcheinander.“

Sie sah ihn fragend an. „Ich habe nicht gesehen, dass irgendjemand um Erlaubnis gebeten hätte. Nicht einmal Ethan und Robbie.“

Keir überging ihre Widerrede und fuhr mit schonungsloser Entschlossenheit fort. „Das ist ein Seefahrtsgesetz, Raine. Danach kannst du jeden Mann an Bord fragen. Sie werden dir meine Worte bestätigen. Die Schiffsjungen haben heute Morgen ihre Befehle erhalten.“

Sie brach in Gelächter aus, und es erinnerte Keir daran, wie er im vergangenen Sommer in Edinburgh auf ihre provokante Art reagiert hatte. Diese Art von Reaktion hatte er sich in den Monaten danach erbarmungslos verkniffen. Allmächtiger, er hatte gewusst, dass ihre Anwesenheit auf der Raven nicht zu vertreten sein würde.

Autor

Kathleen Harrington
Mehr erfahren

Entdecken Sie weitere Bände der Serie

Highland Lairds Trilogy