Wenn ein Lord so feurig küsst

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Niemals wird Linnet diesen schamlosen britischen Halunken heiraten! Jack, Earl of Featherstone, hat sie auf dem Ball bloßgestellt, indem er sie in seine Arme zog, sie leidenschaftlich küsste und dann noch behauptete, sie wären verlobt! Ihre Mutter, ihr Vater, die ganze Gesellschaft - alle verlangen nun von Linnet, den dreisten Lord zu ehelichen, um ihren Ruf wiederherzustellen. Aber sie will keinen Bund fürs Leben mit einem Mann, den sie verabscheut! Und der sie nur kompromittiert hat, um an ihre Mitgift zu gelangen. Nein, Jack ist nicht der Richtige für sie - auch wenn sie das Gefühl seiner Lippen auf den ihren nicht vergessen kann …


  • Erscheinungstag 14.07.2017
  • Bandnummer 96
  • ISBN / Artikelnummer 9783733768171
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

London, 1889

Nur etwas Außergewöhnliches konnte einen Gentleman dazu bringen, im Spätsommer nach London zu fahren. Oft war es furchtbar heiß, in den Straßen und Gassen stank es, und da die Saison zu Ende war, mangelte es für gewöhnlich an angenehmer Gesellschaft. Für den Earl of Featherstone jedoch war die Nachricht, dass sein ältester Freund, der Duke of Margrave, aus Afrika zurückgekehrt war, ein ausreichender Grund, London selbst im August ertragen zu wollen.

Jack freute sich darauf, von seiner Wohnung in Paris zu seinem Londoner Klub zu reisen, wo er sich mit Margrave und ihren drei engsten Freunden verabredet hatte. Er ahnte nicht, dass dieser Ausflug über den Ärmelkanal für ihn eine Suche nach Gerechtigkeit zur Folge haben sollte, die einen Schurken vernichten, Jacks eigenes Leben auf den Kopf stellen und ihm eine schöne Frau in die Arme führen würde. Wenn er das alles gewusst hätte, wäre er nicht zu spät gekommen.

So jedoch waren seine Freunde bereits eingetroffen, als er das Séparée im White’s betrat. „Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe“, sagte Jack, schloss die Tür hinter sich und sah die vier am Tisch sitzenden Männer an.

Lord Somerton sprach als Erster. „Verzeih uns, wenn wir nicht überrascht sind“, erwiderte Denys über die Schulter hinweg. „Du kommst schließlich immer zu spät.“

Jack winkte ab, denn er hatte ja eine gute Entschuldigung. „Übt ein bisschen Nachsicht, ja?“ Er klopfte Denys nicht gerade sanft auf die Schulter und nickte James, dem Earl of Hayward, zu, während er um den Tisch herum auf den Ehrengast zuging. „Ich komme schließlich geradewegs aus Paris und bin erst vor zwanzig Minuten mit dem Zug aus Dover angekommen.“

Der Duke of Margrave stand auf, um ihn zu begrüßen, und Jack taxierte seinen ältesten Freund mit einem raschen Blick. Unter den gegebenen Umständen sah Stuart gar nicht so schlecht aus. „Bist von einem Löwen angefallen worden, nicht wahr?“ Er gab ihm die Hand. „Du lässt wirklich nichts aus.“

„Allerdings.“ Der Duke lächelte, während sie sich die Hände schüttelten. „Möchtest du einen Drink?“

„Natürlich! Du glaubst doch nicht etwa, ich sei deinetwegen hier?“ Er nahm den Whisky, den Stuart ihm eingeschenkt hatte und setzte sich auf den freien Stuhl neben seinem Freund. „So, Gentlemen“, sagte er und nickte den anderen Männern zu. „Nachdem wir den Löwenbändiger wieder zu Hause willkommen geheißen haben – was steht heute Abend auf dem Programm? Zuerst Abendessen, vermute ich. Danach Karten spielen? Vielleicht ein kleiner Streifzug durch die Pubs im East End? Oder suchen wir uns die hübschesten Tänzerinnen der Londoner Variétés und schnappen sie uns von der Bühne?“

Der Marquess of Trubridge antwortete zuerst. „Nichts dergleichen für mich.“ Nicholas hielt abwehrend beide Hände hoch. „Ich bin jetzt ein glücklich verheirateter Mann.“ Niemand äußerte sich überrascht dazu, dass Nick nichts mehr übrig hatte für Pubs und Tänzerinnen. Seine nächste Bemerkung jedoch verblüffte alle und bot einen perfekten Anlass, darauf zu trinken. „Und …“, er hob sein Glas, „ein Baby ist auch unterwegs.“

Alle gratulierten ihm zu seinem ersten Sprössling und brachten einen Toast aus.

„Gut, Nick ist also nicht mit von der Partie“, meinte Jack, nachdem die Flasche herumgereicht und die Gläser wieder nachgefüllt waren. „Aber was ist mit euch anderen?“ Er sah den Mann neben sich an. Stuart war immerhin gerade aus der Wildnis zurückgekehrt, bestimmt war er zu einer kleinen Zechtour aufgelegt.

Doch genau wie Nick schüttelte auch Stuart ablehnend den Kopf. „Meine Frau und ich haben uns ausgesöhnt.“

Überraschtes Schweigen folgte auf diese Neuigkeit, denn Stuart und Edie hatten jahrelang getrennt gelebt, fast schon seit ihrer Hochzeit. Schließlich blieb es Jack überlassen, die naheliegende Frage zu stellen. „Und bist du glücklich damit?“

„Das bin ich, sehr sogar. Und ich bin auch froh, wieder zu Hause zu sein.“

„Na, dann …“ Jack ergriff sein Glas und prostete seinem Freund zu. „Auf den heimgekehrten Jäger.“ Gläser wurden geleert, die Flasche machte erneut die Runde und Jack versuchte es noch einmal. „Trotzdem, was machen wir anderen? Glücklich verheiratete Kerle sind schrecklich langweilig.“ Er sah James und Denys an. „Sagt mir nicht, ihr seid auch fest verbandelt?“

„Ich nicht“, erwiderte Denys sofort. „Ich bin immer noch sorgenfreier Junggeselle.“

„Ich auch“, fügte James hinzu.

Jack war froh, dass er sich wenigstens noch auf ein paar seiner Freunde verlassen konnte. „Nun, da bin ich aber erleichtert. Wir lassen die beiden später allein …“, er zeigte auf Nicholas und Stuart, „… und gehen uns ein wenig amüsieren, wollen wir?“

„Ihr drei könnt gern einen Streifzug durch sämtliche Kneipen, Spielhöllen und Freudenhäuser Londons machen – aber ein anderes Mal“, sagte Stuart und machte ihnen damit einen Strich durch die Rechnung. „Heute jedenfalls nicht. Ich habe euch nicht zusammengerufen, damit ihr die Stadt unsicher machen könnt. Außerdem ist es im August furchtbar eintönig in London, ihr verpasst also nichts.“

„Warum sind wir dann hier?“, fragte Jack. „Abgesehen davon, dass wir deine Narben zu sehen bekommen, alles über den Vorfall erfahren und anschließend gebührend beeindruckt sind, wie tapfer du dich gegen die Löwen verteidigt hast?“

Stuart schüttelte den Kopf. „Ich möchte nicht darüber reden.“

„Unsinn“, entgegnete Jack ungläubig. „Es ist die perfekte Gelegenheit anzugeben, und du willst nicht darüber reden?“ Er warf einen Blick unter den Tisch. „Die Löwen haben doch nichts Wichtiges gefressen, oder?“

„Jones ist tot.“

Jack richtete sich entsetzt auf seinem Stuhl auf. „Was? Dein Diener ist tot? Was ist passiert, waren das auch die Löwen?“

„Ja.“

„Verdammt.“ Jack fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Und ich albere auch noch gedankenlos herum. Entschuldige, Stuart.“

Die anderen bekundeten ebenfalls ihr Mitgefühl, aber der Duke winkte ab. „Lasst uns über etwas anderes reden, ja? Gentlemen, so schön es ist, euch alle wiederzusehen, aber das ist nicht der Grund, warum ich euch hergebeten habe. Ich habe etwas mit euch zu besprechen, und das würde ich gern tun, ehe die Flasche wieder herumgereicht wird, denn es handelt sich um eine sehr ernste Angelegenheit.“ Stuart griff in eine Aktentasche neben seinem Stuhl, zog eine Mappe mit Papieren heraus und legte sie mitten auf den Tisch. Seine nächsten Worte zerschlugen Jacks heimliche Hoffnung auf ein paar frivole Zerstreuungen im spätsommerlichen London restlos. „Ich möchte einen Mann ruinieren“, erklärte Stuart und sah seine Freunde an, bis sein Blick an Jack hängen blieb. „Ich will ihn erniedrigen und vernichten. Gründlich, vollständig und ohne Gnade.“

Wieder kehrte fassungslose Stille ein, denn Stuart galt ganz und gar nicht als nachtragend oder rachsüchtig. Doch Jack wusste, Stuart würde sie nie bitten, ihn bei der Vernichtung eines Menschen zu unterstützen, wenn es nicht unbedingt notwendig und gerechtfertigt war. Deshalb antwortete er ohne zu zögern. „Donnerwetter.“ Er kippelte mit seinem Stuhl nach hinten und sah seinen Freund grinsend an. „Das ist ganz nach meinem Geschmack.“

Denys räusperte sich. „Ich gehe natürlich fest davon aus, dass der Betreffende es verdient hat, aber kannst du uns auch sagen, warum?“

„Im Groben und Ganzen ja, aber nicht die Einzelheiten. Und ich versichere euch, es ist eine Sache der Ehre und der Gerechtigkeit.“

„Ich nehme an, die Gerichte können ihn nicht belangen?“, fragte James.

„Nein, er ist Amerikaner.“ Wieder sah Stuart seine Freunde an, wieder blieb sein Blick an Jack hängen. „Ein sogenannter Knickerbocker mit einem sehr vermögenden, sehr einflussreichen Vater.“

Die Art, wie Stuart ihn nachdenklich ansah, vermittelte Jack den vagen Eindruck, dass ihm bei diesem Unternehmen mehr abverlangt werden würde als den anderen Männern, doch das spielte für ihn keine Rolle. Stuart war sein bester Freund auf der ganzen Welt. Was immer Stuart auch vorhatte, es würde eine Herausforderung sein, und er wusste ganz genau, dass Jack nichts mehr reizte als eine Herausforderung. „Pah“, schnaubte er verächtlich und tat so kund, was er von reichen amerikanischen Vätern und ihrem Einfluss hielt.

Stuart entspannte sich sichtlich und legte die Handflächen auf den Tisch. „Gentlemen, ich würde das ja allein tun, aber ich kann es nicht. Ich brauche eure Hilfe.“ Er betrachtete die Gesichter seiner engsten Freunde. „Schließlich waren wir alle zusammen in Eton.“

Sie alle wussten, was das bedeutete, doch es war Nicholas, der das von ihnen schon zu Schulzeiten geschmiedete, eiserne Band aus Ehre, Pflichterfüllung und Freundschaft mit Worten bestätigte. „Dazu ist nichts weiter zu sagen. Was sollen wir für dich tun?“

Stuarts Plan war noch nicht ganz ausgereift, weil er, wie er erklärte, noch auf weitere Informationen aus New York wartete, doch es schien um Aktienanteile und Risikokapital, so wie um die Habsucht und Gier dieses Mannes zu gehen, die seine Vernichtung rechtfertigten.

„Es gilt also, den Kerl mit seinen eigenen Waffen zu schlagen“, meinte Jack. „Ich hatte recht, das wird ein Riesenspaß. Und wer ist dieser Mann?“

„Sein Name …“ Stuart schluckte, als fiele ihm selbst die Antwort auf diese einfache Frage schwer. „Sein Name ist Frederick van Hausen.“

Stuarts Abscheu war nicht zu überhören, doch obwohl Jack der Name bekannt vorkam, konnte er ihn nicht einordnen. Nick konnte es.

„Van Hausen? Ist das nicht der Amerikaner, der den guten Ruf deiner Frau ruiniert hat, bevor du sie kennengelernt hast?“

„Ja“, erwiderte Stuart knapp.

„Aber …“ Nick wirkte verwirrt, doch was immer er aus Stuarts Gesichtsausdruck herauslesen mochte, erstickte alle möglichen Fragen im Keim. Er schüttelte den Kopf. „Egal.“

James war nicht so taktvoll. „Du willst ihn ruinieren, weil er Edie entehrt hat, bevor du sie geheiratet hast? Aber warum erst jetzt?“

„Das ist nicht der Grund, warum ich seinen Kopf will“, beteuerte Stuart sofort. „Ich weiß, dass er sich mindestens eines schrecklichen Verbrechens schuldig gemacht hat, das man ihm nicht nachweisen kann. Ich kann euch die Einzelheiten dieses Verbrechens nicht nennen, denn die Ehre gebietet es mir, darüber zu schweigen, aber es ist vielleicht nicht das Einzige, das er begangen hat. Und es könnten noch weitere hinzukommen, wenn man ihm nicht Einhalt gebietet.“

„Vielleicht stoßen wir ja von selbst auf die Einzelheiten dieser Verbrechen“, gab Denys zu bedenken.

Stuart räumte diese Möglichkeit mit einem Kopfnicken ein. „Möglicherweise, und wenn das der Fall ist, werdet ihr meine Verschwiegenheit in dieser Angelegenheit voll und ganz nachvollziehen können und das Bedürfnis nach Diskretion ebenso zu schätzen wissen wie ich.“ Ihm schienen die irritierten Blicke seiner Freunde nicht entgangen zu sein. „Beeinflusst meine Weigerung, euch Details preiszugeben, euren Entschluss, mir zu helfen?“

„Natürlich nicht“, meinte Jack und sah James mahnend an. „Wir vertrauen dir uneingeschränkt. Was immer du für einen Grund haben magst, ich zweifle nicht daran, dass es ein guter ist.“

„Verzeih mir meine Neugier“, beeilte James sich zu sagen. „Wenn wir die Wahrheit selbst herausfinden, kannst du dir unserer Diskretion absolut sicher sein.“

„Ich danke euch.“ Stuart trank einen Schluck Whisky. „Van Hausen ist ein New Yorker Anlagebankier. Außerdem ist er hoch verschuldet und es gehen Gerüchte um, dass er sich nicht zu schade ist, sich am Beteiligungskapital seiner Investoren zu vergreifen, um seine privaten Schulden abzubezahlen – obwohl es ihm immer gelungen ist, die Gelder rechtzeitig zurückzuzahlen und so einer Strafverfolgung zu entgehen. Wenn ihr vier nun mit ihm ein Gemeinschaftsunternehmen gründet, kann er vielleicht der Versuchung nicht widerstehen, euer Kapital anderweitig auszugeben. Sollte das passieren, ist das Veruntreuung, und wenn wir ihm das nachweisen können, kann er wegen dieses Verbrechens angeklagt werden.“

„Schwebt dir eine konkrete Investition vor, mit der wir ihn ködern können?“, fragte Denys.

„Ich denke da an Goldminen in Afrika, Gentlemen. Ihr habt den Standort dieser Minen von mir erfahren, danach allerdings müssen wir in aller Öffentlichkeit so tun, als hätten wir uns heillos zerstritten. Danach könntet ihr mit van Hausen euer Unternehmen gründen, sozusagen, um euch an mir zu rächen. So etwas würde van Hausen sofort schlucken.“ Stuart tippte nachdenklich mit den Fingern an sein Glas. „Nach seiner Geschichte mit meiner Frau würde er es vermutlich ungeheuer genießen, das Ganze noch zu toppen.“

„Es wird lange dauern, das Ganze vorzubereiten“, wandte Nick ein.

„Ja. Einer von euch wird viel Zeit in New York verbringen müssen, eine Beziehung zu diesem Mann aufbauen, sein Freund werden, sein Vertrauen gewinnen. Ich würde es selbst tun, aber van Hausen vertraut mir natürlich nicht, nicht in tausend Jahren.“

Wieder sah er Jack an und mit diesem Blickwechsel kam das Verstehen; ein Verstehen, basierend auf lebenslanger Freundschaft; ein Verstehen, das Jacks frühere Vermutung bestätigte, dass ihm bei dem Plan eine ganz besondere Rolle zugedacht war.

Jack brauchte gar nicht erst gefragt zu werden. „Das klingt nach einer perfekten Aufgabe für einen Featherstone“, sagte er humorvoll und spielte auf die wechselhafte Geschichte der Betrüger und Glücksritter in seiner Familie an.

Obwohl Stuart ihn von vorneherein für diese Rolle vorgesehen zu haben schien, konnte er offenbar nicht umhin ihn zu warnen, worauf er sich da einließ. „Das wird eine langwierige Angelegenheit, Jack. Es könnte ein Jahr dauern, vielleicht sogar noch länger.“

„Auch genau deshalb bin ich für diese Aufgabe der Richtige.“ Jack ließ seinen Stuhl wieder geräuschvoll nach vorn kippen. „Ich habe keinerlei familiäre Bindungen und bin für niemanden verantwortlich.“

„Es wird nicht leicht werden. Du wirst auf die Vernichtung eines Mannes hinarbeiten, obwohl ich dir nicht einmal den Grund dafür nennen kann.“

Jack sah seinem besten Freund ins Gesicht, ein Gesicht, das ihm vertraut war, seit sie beide vier Jahre alt gewesen waren. „Ich brauche keinen Grund. Dein Wort reicht mir wie immer völlig aus.“

„Freundschaft vortäuschen, sein Vertrauen gewinnen, während dir die ganze Zeit bewusst ist, dass du dabei hilfst, ihn zu vernichten … es wird die reinste Hölle werden.“

„Ich habe keine Angst vor der Hölle, Stuart. Warum auch?“ Er hob grinsend sein Glas. „Der Teufel hat nie Angst vor der Hölle.“

1. KAPITEL

Newport, Rhode Island, 1890

Seit der Prince of Wales den Vereinigten Staaten im Jahr 1860 einen Besuch abgestattet hatte, war die Hälfte der weiblichen Gesellschaft in New York in den britischen Adel vernarrt. Während amerikanische Millionäre über den scheinbar müßigen Lebenswandel des typisch britischen Gentleman und seine Abneigung gegen harte Arbeit schimpften, ersannen ihre Ehefrauen Verkupplungspläne und ihre Töchter träumten davon, eines Tages Countess oder Duchess zu werden.

Als der Earl of Featherstone im Herbst 1889 an ihren Gestaden landete, waren transatlantische Eheschließungen längst nichts Ungewöhnliches mehr, und obwohl der Earl der New Yorker Gesellschaft immer wieder versicherte, er sei aus rein geschäftlichen Gründen gekommen, winkten die Damen der Knickerbocker – Szene dieses lästige Detail nur ab. Der Earl war Junggeselle, mittellos, und Geschäftliches – dahinter konnte sich schließlich alles Mögliche verbergen.

Während Jacks Beharren, dass er nicht auf der Suche nach einer Ehefrau war, die Damen nicht daran hinderte, sich diesbezüglich weiter Hoffnungen zu machen, beruhigte es die Herren, dass er nicht einfach nur hergekommen war, um ihnen eine ihrer Töchter abzuluchsen. Infolgedessen merkte Jack schon bald, dass ihm nicht nur die Türen der New Yorker Salons offen standen, sondern auch die der Klubs der Herren.

Innerhalb eines Monats nach seiner Ankunft wurde er zu jedem wichtigen gesellschaftlichen Ereignis eingeladen und bekam sämtliche Gerüchte zu hören. Innerhalb des zweiten Monats speiste er bereits im Oak Room des Plaza Hotel und spielte Karten im House With The Bronze Door, dem vornehmen New Yorker Kasino. Im dritten Monat dann diskutierten er und Frederick van Hausen im Delmonico’s bei Lobster à la Newberg über Investitionsmöglichkeiten; sie spielten Tennis im New Yorker Tennisclub und Golf auf dem neu angelegten Platz von St. Andrews.

Sich mit van Hausen anzufreunden, während er gleichzeitig dessen Vernichtung plante, hätte für Jack genauso qualvoll werden können wie von Stuart befürchtet, denn der Amerikaner schien ein wirklich charmanter Kerl zu sein – geistreich und intelligent, sodass es einem leichtfiel, ihn zu mögen. Doch die beiden hatten sich gerade einmal zwei Wochen lang über Investitionen und afrikanische Goldminen unterhalten, da stöberten die Detektive von Pinkerton’s ein Dienstmädchen namens Molly Grigg auf, das früher für den Mann gearbeitet hatte und dessen Ausscheiden aus seinem Haushalt bei den anderen Bediensteten immer noch für Gesprächsstoff sorgte. Neugierig geworden hatte Jack das Mädchen selbst befragt, und dabei hatte sich herausgestellt, was für ein Tier sich hinter van Hausens charmanter Fassade verbarg und welcher Art das Geheimnis war, das Stuart nicht hatte verraten wollen.

Nach Molly Grigg hatten die Leute von Pinkerton’s noch weitere junge Frauen wie sie ausfindig gemacht, und bei jeder neuen Befragung hatte Jacks Gefühl sich verstärkt, dass die Hölle ein vergleichsweise angenehmer Ort sein musste. Das machte die Aufgabe für ihn jedoch nicht einfacher, denn einen Mann zu ruinieren, ganz gleich, wie verkommen er auch sein mochte, war nichts, was man auf die leichte Schulter nahm. Außerdem war es eine komplizierte Angelegenheit, die Zeit, Geduld und weise Voraussicht erforderte. Und um Stuarts Wünschen zu entsprechen, musste van Hausen in eine Grube fallen, die er sich selbst gegraben hatte.

Dennoch, Mitte August war van Hausens Grube fertig ausgehoben, nun fehlte nur noch der Sturz hinein.

Jack wusste, was den anderen Mann nach all den Monaten der Vorbereitung erwartete, und er wünschte, er hätte so etwas wie Genugtuung empfinden können. Doch als er van Hausen von der anderen Seite eines prunkvollen Ballsaals in Newport her beobachtete, musste er an Molly Grigg, Stuarts Ehefrau und all die anderen denken und rief sich mahnend in Erinnerung, dass es noch zu früh war, den Sieg zu erklären. Wenn van Hausen im Gefängnis war, ja, dann würde er sich vielleicht ein gewisses Gefühl der Befriedigung gönnen, weil der Mann seine gerechte Strafe bekommen hatte. Aber bis dahin, nein.

„Glaubst du, er weiß es?“

Jack wandte den Blick gerade so lange von seiner Beute ab, um den Viscount Somerton anzusehen, der neben ihm stand. „Er weiß es, Denys“, sagte er und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Mann auf der anderen Seite des Ballsaals. Durch die Tanzenden auf der Tanzfläche hindurch konnte er sehen, wie van Hausen rastlos hin und her ging und sich voller Unbehagen immer wieder umblickte. Er dachte an das letzte Gespräch, das er mit dem anderen Mann erst vor wenigen Stunden geführt hatte. Er hatte versucht, zu erklären; hatte Jack angefleht, ihm zu helfen und sich bei den anderen Investoren für ihn zu verwenden. Jack hatte mit dem größten Vergnügen abgelehnt, aber in diesem Moment war er zu angespannt, um die Erinnerung an dieses Vergnügen noch einmal abrufen zu können. „Glaub mir, er weiß es.“

Van Hausen blieb jetzt stehen und zog seine Taschenuhr hervor. Wie zur Bestätigung von Jacks Worten zitterte seine Hand erheblich, als er den Deckel der Uhr aufklappte, um nach der Zeit zu sehen.

„Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe“, ertönte eine andere Stimme, ehe Denys etwas sagen konnte. Beide Männer drehten sich um und sahen den Earl of Hayward hinter ihnen stehen.

„Pongo!“, begrüßten sie ihn wie aus einem Mund, und als er seinen verhassten Spitznamen aus der Kindheit hörte, stieß der Earl einen leisen Fluch aus.

„Mein Name ist James, ihr Scheusale“, brachte er zähneknirschend hervor. „Nicht Pongo. James.“

Diese Zurechtweisung beeindruckte seine Freunde nicht im Geringsten. Sie zuckten nur die Schultern und konzentrierten sich wieder auf den Mann auf der anderen Seite des Saals.

„Ist er hier?“ James stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Schulter seines Freundes über die Tanzenden hinweg sehen zu können.

„Ja“, bestätigte Jack. „Und er benimmt sich, als säße er auf glühenden Kohlen.“ Er seufzte. „Da ist er nicht der Einzige, mir geht es ähnlich.“

„Bald ist es ja vorbei“, beruhigte James ihn. „Ich bin trotzdem überrascht, dass er hier ist. Ich dachte nicht, dass er es wagen würde, nachdem er das Telegramm von Nick erhalten hat.“

Dieses Telegramm war die Krönung des Plans, den Stuart ihnen vor einem Jahr unterbreitet hatte; ein Plan, der genauso funktioniert hatte wie vom Duke erwartet. Von Jack behutsam manipuliert, hatte van Hausen das Unternehmen Ostafrika-Minen gegründet und dafür Geld von Jack, Denys, James und ein paar anderen Investoren entgegengenommen. Ebenso erwartungsgemäß hatte er mit diesem Geld anderweitig spekuliert, um seine anderen Verluste auszugleichen, und jetzt mehr Schulden angehäuft, als er jemals zurückzahlen konnte. Und nun bestellte Nicks Telegramm van Hausen zu einer Versammlung der Investoren der Ostafrika-Minen in drei Tagen in New York ein. Bei dieser Versammlung sollte van Hausen aufgefordert werden, die Investoren umgehend auszubezahlen, ansonsten drohte ihm eine Anklage wegen Betrugs und Veruntreuung. Genau dieses Telegramm hatte van Hausen veranlasst, Jack vor wenigen Stunden aufzusuchen.

„Ich glaube, keiner von uns hat mit seinem Erscheinen heute Abend gerechnet“, sagte Denys. „Die meisten Investoren der Ostafrika-Minen sind anwesend. Wer hätte gedacht, dass er nach Nicks Telegramm den Mut aufbringen würde, sich uns zu stellen?“

Jack schüttelte den Kopf. „Das ist kein Mut. Er versucht, alles mit eiserner Stirn zu leugnen.“

„Aber mit welchem Ziel?“, fragte Denys. „Nach seiner ausgedehnten Hinhaltetaktik und den Gerüchten, die James und ich in Umlauf gebracht haben, seit wir in der Stadt sind, weiß jeder hier, dass ihm das Wasser bis zum Hals steht. Er kann uns das Geld nicht zurückzahlen und auch sonst niemandem, dem er etwas schuldet. Er sitzt in der Falle.“

Als hätte er diese Worte gehört, sah van Hausen genau in dem Moment in ihre Richtung. Jacks übertriebene Verbeugung zur Begrüßung quittierte er trotzig mit finsterer Miene.

„Eure Freundschaft scheint beendet zu sein“, bemerkte Denys amüsiert.

„Sieht ganz so aus“, stimmte Jack zu und wünschte, das Fortfallen dieser Last hätte ihm Erleichterung verschafft. Stattdessen verspürte er nur ein wachsendes Unbehagen, ein Gefühl ähnlich wie die unnatürliche Ruhe vor einem Sturm.

„Der Mann muss strohdumm sein, uns gegenüber so eine Feindseligkeit an den Tag zu legen“, sagte James. „Vor allem dir gegenüber, Jack. Er wäre besser beraten, dich zu besänftigen, dir Honig um den Bart zu schmieren oder deine Sympathie zurückzugewinnen. Zumindest sollte er dich bitten, dich bei uns anderen für ihn einzusetzen.“

„Das alles hat er bereits versucht“, erwiderte Jack. „Er hat sogar förmlich gebettelt.“

„Tatsächlich?“ James stieß einen leisen Pfiff aus. „Wann war das?“

„Heute Nachmittag. Er hat mich im Jachtklub abgefangen, nachdem ihr beide schon gegangen wart. Er gab zu, die nötigen Mittel nicht zu haben; er bat mich um Hilfe und er schwor bei seinem Leben, mir bis zum letzten Penny alles zurückzuzahlen, wenn ich mich bei euch für ihn verbürge. Er erinnerte mich an unsere Freundschaft und an die schönen Zeiten, die wir miteinander verlebt hätten.“

Denys lächelte. „Und wie lautete deine Antwort?“

James gestattete sich ein grimmiges Grinsen. „Ich richtete ihm die wärmsten Grüße vom Duke of Margrave aus.“

Die beiden anderen Männer lachten, doch als Denys merkte, dass Jack nicht mitlachte, legte sich seine Erheiterung. „Was hast du, Jack?“

„Ich weiß es nicht.“ Er zuckte mit den Schultern und versuchte, seine angespannten Muskeln zu lockern. „Mir war klar, dieser Augenblick musste irgendwann kommen, und ich dachte, ich wäre froh darüber, aber ich bin es nicht.“

„Das ist nur verständlich. Du musstest monatelang eine Freundschaft mit diesem Mann aufrechterhalten. Das kann nicht einfach gewesen sein.“ Denys warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. „Irgendwelche Reuegefühle?“

„Weil ich van Hausens Freundschaft verloren habe?“ Er gab einen verächtlichen Laut von sich. „Wohl kaum.“

„Was ist es dann?“

Jack runzelte die Stirn; er wusste nicht recht, wie er sein Unbehagen in Worte fassen sollte. „Ihm ist jetzt klar, dass ich die ganzen Monate lang nur mit ihm gespielt habe“, sagte er langsam und nachdenklich. „Er weiß, dass Ostafrika-Minen eine Falle war, die wir ihm auf Stuarts Geheiß gestellt haben und in die er prompt hineingeraten ist. Er weiß, dass man ihn zum Narren gehalten hat. Außerdem fühlt er sich in die Enge getrieben und ist verzweifelt. Ich habe eher Angst davor, wie er vielleicht reagieren wird.“

„Keine Sorge.“ James klopfte ihm grinsend auf den Rücken. „Wir passen schon auf dich auf.“

„Ich habe nicht um mich selbst Angst.“

Bei diesen Worten erstarb James’ Lächeln. Sowohl er als auch Denys traten unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und bestätigten Jack damit, dass seine Befürchtung wohl nicht ganz unbegründet war. Keiner von ihnen hatte Molly Grigg oder die anderen Frauen aus Pinkerton’s Bericht erwähnt und keiner seiner Freunde wusste, dass er diese Frauen persönlich befragt hatte, doch es war offensichtlich, dass sie das vermuteten, was er längst wusste – van Hausen hatte der Duchess weit mehr angetan, als nur ihren Ruf zu ruinieren.

„Darüber können wir uns jetzt nicht den Kopf zerbrechen“, meinte Denys schließlich. „Er sollte ja irgendwann über die Klinge springen.“

„Ich weiß, aber ich war oft genug mit ihm zusammen, um einen ziemlich guten Überblick über seine Aktivitäten zu gewinnen. Ich kann mir natürlich nicht vollkommen sicher sein, doch ich glaube nicht, dass er eine weitere Frau angegriffen hat, seit ich hier bin. Aber jetzt …“ Jack verstummte und schluckte angesichts dessen, was er befürchtete.

„Leute von Pinkerton’s überwachen ihn jeden Tag, rund um die Uhr“, gab James zu bedenken.

„Ja, und davor habe ich ihn heute Nachmittag auch gewarnt. Verzweifelte Menschen begehen jedoch verzweifelte Taten. Ich mache mir Sorgen.“

„Aber was willst du denn noch anderes tun?“, fragte Denys. „Wir können schließlich nicht vor seiner Tür schlafen.“

„Ich weiß, ich weiß.“ Jack rieb sich das Gesicht. „Ich bin nur froh, wenn es endlich vorbei ist.“

Die anderen beiden nickten zustimmend und Jack richtete seine Aufmerksamkeit auf den Mann am anderen Ende des Saals. Als er sah, dass van Hausen erneut stehen blieb und seine Uhr hervorzog, erstarrte er alarmiert. „Er sieht ständig auf seine Uhr. Wir befinden uns auf einem Ball. Warum ist es ihm so wichtig zu wissen, wie spät es ist?“

„Vielleicht ist er nur einfach unruhig“, meinte Denys. „Wie du schon sagtest, er fühlt sich in die Enge getrieben, hat keine Freunde und kein Geld mehr – und das weiß er. Mit ein wenig Glück sitzt er bis Ende der Woche im Gefängnis. Ständig auf die Uhr zu sehen ist wahrscheinlich nur eine Folge dessen, dass er sich in einer aussichtslosen Lage befindet.“

Jack antwortete nicht, denn er konzentrierte sich ganz auf den Gegenstand ihrer Unterhaltung. Van Hausen hatte die Uhr wieder in seine Westentasche geschoben und ging nun um die Tanzfläche herum. Einen Moment lang dachte Jack, er würde tatsächlich zu ihnen kommen und mit ihnen sprechen wollen, doch er ging ohne sie anzusehen an ihnen vorbei, auf die Türen des Ballsaals zu. Dort blieb er stehen, um eine junge Frau zu begrüßen, die soeben eingetroffen war.

„Oder …“, murmelte Jack und beobachtete, wie van Hausen die Hände der jungen Frau ergriff, „er hat auf jemanden gewartet.“

In dem Moment, da Jack sie genauer ansah, wusste er auch, warum.

Ihr ebenmäßiges Gesicht, die anmutige Nase und das sanft gerundete Kinn hätten jeden Mann zu dem Urteil gebracht, dass sie bildhübsch war. Wie die meisten Amerikanerinnen hatte sie wunderbare Zähne, blendend weiß und gerade, und sie zeigte sie bei einem hinreißenden Lächeln. Aber all das war nicht der Grund, warum Jack der Atem stockte.

Mein Gott, was für Augen, dachte er. Ihm war vollkommen bewusst, dass er sie anstarrte, aber er konnte den Blick einfach nicht abwenden. Was für wunderschöne Augen.

Riesig und umgeben von einem Kranz dichter brauner Wimpern, wirkten sie beinahe zu groß für das zarte Gesicht, aber es war die Farbe, die sie so außergewöhnlich machte. Selbst aus ein paar Metern Entfernung konnte Jack sie erkennen – es war ein kräftiges, leuchtendes Blau, die Farbe von Kornblumen im Abendlicht.

Das blonde, hochgesteckte Haar der jungen Frau betonte den langen, anmutigen Hals und die schmalen, geraden Schultern. Unberührt von der Brennschere, zu der so viele Mädchen gern griffen, schimmerte es im Schein der Kristalllüster, und Jack fragte sich plötzlich, wie es wohl aussehen musste, wenn es ihr lose über die Schultern fiel.

„Ich glaube, du hast recht, Jack“, ließ Denys sich neben ihm vernehmen. „Er hat auf sie gewartet.“

Jack antwortete nicht, denn noch immer war er von dem Anblick der jungen Frau in den Bann geschlagen. Viel zarte, alabasterfarbene Haut war über dem Ausschnitt ihres Ballkleids zu sehen; ein Ausschnitt, der für das verstaubte, biedere Newport schon beinahe zu gewagt war. Jack ließ den Blick tiefer wandern. Eine schmale Taille und sanft gerundete Hüften, umhüllt von Seide in einem kräftigen Rosa. Er konnte sich gut vorstellen, dass sich unter den Röcken ein Paar atemberaubender Beine verbarg.

Aber wer war sie? Er hob den Blick wieder zu ihrem Gesicht, aber das brachte ihn auch nicht weiter. Obwohl er sich nun fast ein Jahr in der Knickerbocker – Szene bewegte, hatte er diese Frau noch nie zuvor gesehen. In dem Fall hätte er sich nämlich ganz sicher an sie erinnert.

„Mein Gott“, murmelte James. „Was für ein hübsches Mädchen.“

Es war offensichtlich, dass viele Männer diese Einschätzung teilten, denn als Jack sich kurz umsah, merkte er, dass den männlichen Ballbesuchern ihr Erscheinen nicht entgangen war. Wichtiger noch, van Hausen gehörte zu ihren Bewunderern, denn er hielt noch immer ihre Hände.

Jack drehte sich zu seinen Gefährten um. „Wer zum Teufel ist das?“

Beide Freunde schüttelten den Kopf. „Du bist derjenige, der hier seit Längerem lebt“, wandte James ein. „Kennst du sie denn nicht?“

Jack warf ihm einen ungeduldigen Blick zu. „Also wirklich, Pongo, wenn ich sie kennen würde, hätte ich dich nicht gefragt.“

„Kein Grund, so gereizt zu sein.“ James sah wieder zur Tür. „Sind euch ihre Augen aufgefallen?“

„Ich glaube, die würden jedem Mann auffallen“, erwiderte Denys bewundernd, und auch er heftete den Blick wieder auf die Unbekannte.

„Könnt ihr beide vielleicht mal aufhören, sie anzugaffen, und euch stattdessen auf das Wichtigste konzentrieren?“, knurrte Jack zunehmend besorgt. „Wir kennen diese Frau nicht, aber van Hausen kennt sie ganz offensichtlich.“

Wieder betrachtete er sie, und dieses Mal sah er mehr als ihr faszinierendes Gesicht und ihre zauberhafte Figur. Er sah die Zuneigung, mit der sie van Hausen anlächelte; er sah ihre halbherzigen Versuche, ihm ihre Hände zu entziehen. Er sah ein teures Ballkleid und dazu herrliche, rosafarbene Diamanten, die sich als Kette um ihren schlanken Hals schmiegten und zwischen den zarten Heliotropblüten in ihrem Haar glitzerten. Wer immer sie auch sein mochte, es stand fest, dass sie Geld hatte – und das war etwas, was van Hausen im Moment verzweifelt benötigte.

Verzweifelte Menschen, so rief Jack sich in Erinnerung, begingen verzweifelte Taten.

Die Erkenntnis traf ihn mit einem Schlag, und er begriff nicht nur, dass van Hausen vorhatte, der ihm gestellten Falle zu entgehen – er wusste auch, wie der Mann das anzustellen gedachte. Jack fluchte laut genug, dass seine Freunde ihn hören konnten.

„Jack?“ Denys sah ihn fragend an. „Hast du sie wiedererkannt? Weißt du, wer sie ist?“

„Nein“, entgegnete er, ohne den Blick von der Frau zu lösen. „Aber ich habe vor, genau das herauszufinden.“

2. KAPITEL

Nachdem sie ein ganzes Jahr von zu Hause fort gewesen war, hatte Linnet Holland schon damit gerechnet, dass sich während ihrer Abwesenheit vieles geändert hatte. Sie hatte jedoch nicht erwartet, dass diese Veränderungen auch Frederick van Hausen betrafen.

Vom Aussehen her war er noch derselbe Frederick, den sie seit je her kannte – blondes Haar, braune Augen, ein jungenhaftes, hübsches Gesicht – aber sein Verhalten war so ganz anders als das des Mannes, den sie in Erinnerung hatte, dass sie beinahe das Gefühl hatte, als spräche sie mit einem völlig anderen Menschen.

„Linnet. Liebste, liebste Linnet“, sagte er zum vermutlich vierten Mal. „Es ist so wunderschön, dich wiederzusehen.“

„Ich freue mich auch.“ So angenehm es war, derart wärmstens begrüßt zu werden, so fühlte es sich auch etwas befremdlich an, denn sie war solchen Überschwang von Frederick gar nicht gewohnt. Sie hatten im Lauf der Jahre gemeinsam an verschiedenen Picknicks, Partys und Bällen teilgenommen, aber er war zehn Jahre älter als sie, und obwohl sie als junges Mädchen Hals über Kopf in ihn verliebt gewesen war, hatte er ihr nie Hoffnungen gemacht. Er hatte ihr allenfalls wohlwollende Zuneigung entgegengebracht, deshalb hatte sie sich schon seit langer Zeit keinen romantischen Vorstellungen mehr hingegeben, was ihn betraf. Nie hätte sie geahnt, dass er ihr bei ihrer Rückkehr aus Europa so tief in die Augen sehen und ihre Hände halten würde.

„Mrs. Dewey hat mir versichert, dass du heute zu ihrem Ball kommen würdest“, sagte er, während sie noch versuchte, sich an diesen neuen, weniger zurückhaltenden Frederick zu gewöhnen. „Aber da du gerade erst nach Hause zurückgekehrt bist, war ich mir dessen nicht sicher.“ Er drückte ihr die Hände. „Ich bin so froh, dass du hier bist.“

„Unser Schiff aus Liverpool hat gestern angelegt, und wir sind mit dem Mittagszug nach New York gefahren. Wir hatten noch kaum Gelegenheit, Luft zu holen.“ Sie sah sich um und stellte fest, dass andere Freunde darauf warteten, sie zu begrüßen. Erfolglos versuchte sie, ihm ihre Hände zu entziehen. „Frederick, du musst mich loslassen“, sagte sie lachend. „Die Leute starren uns schon an.“

„Lass sie doch. Ich habe nichts dagegen.“ Er musste ihr ihr Erstaunen angesehen haben, denn er lachte und gab nach. „Nun, wie du willst, Linnet, aber ich freue mich eben so sehr, dich zu sehen, dass es mir ganz gleichgültig ist, wer das bemerkt.“

Sie runzelte immer noch verwirrt die Stirn. „Frederick, hast du etwas getrunken?“

Er lachte erneut. „Nein, obwohl mich dein Anblick schon ein wenig trunken macht. Aber …“ Er verstummte und neigte den Kopf zur Seite. „Hör doch nur.“

„Was soll ich hören? Meinst du die Musik?“

„Natürlich die Musik, du dummes Mädchen. Es ist ein Walzer.“ Wieder griff er nach ihrer Hand. „Tanz mit mir.“ Er begann, sie zur Tanzfläche zu ziehen, blieb aber sofort wieder stehen. „Aber du hast bestimmt diesen Walzer schon jemandem versprochen, einem der sich beschwerenden Männer hinter mir, vermute ich“, sagte er nach einem Blick über seine Schulter. „Du bist eine so schöne Frau geworden, da ist deine Tanzkarte gewiss längst voll.“

„Ganz im Gegenteil.“ Sie hob die Hand, um ihm die leere Karte an ihrem Handgelenk zu zeigen. „Nicht ein einziger Name. Ich weiß, das ist ein Skandal“, fügte sie mit ironischem Schmunzeln hinzu, „aber mein Stolz gebietet mir dich daran zu erinnern, dass wir gerade erst angekommen sind. Meine Dutzende von Verehrern hatten noch gar nicht die Gelegenheit, sich einzutragen“, schloss sie leichthin.

Er lachte nicht mit, sondern sah ihr ernst in die Augen. „Das heißt, dass ich ausnahmsweise einmal der Erste bin.“ Er zeigte zur Tanzfläche. „Wollen wir?“

Er führte sie aufs Parkett und schon bald drehten sie sich zu der beschwingten Melodie.

„Wie war es in Europa?“, erkundigte er sich.

„Am Anfang ganz wunderbar. Die italienischen Seen im Sommer waren so zauberhaft. Auch der Winter war schön, da wir den größten Teil davon in Ägypten verbracht haben. Die Pyramiden sind wirklich faszinierend. Doch ein Jahr ist lang, und als wir endlich in London zur Saison eintrafen, hatte ich zu großes Heimweh, um sie genießen zu können.“

„Du hattest tatsächlich Heimweh?“

„Oh ja. Ich habe die Picknicks im Central Park vermisst, die rauschenden Feste hier in Newport und alle unsere Freunde und Freundinnen. Außerdem hat es mir gefehlt, in meinem eigenen Bett zu schlafen und ein richtiges Badezimmer mit heißem Wasser zu haben. Und unsere Muffins habe ich auch vermisst.“

„Muffins?“ Er lachte. „Linnet, ich staune.“

Sie lachte ebenfalls. „Sie haben da so Dinger in England, die sie Muffins nennen, aber sie sind ganz anders als unsere. Ich vermisse unsere Muffins mit der Blaubeerfüllung. Als ich sie dem Oberkellner im Savoy in London beschrieb, schlug er mir Teegebäck als Ersatz vor. Und das war nun wirklich nicht dasselbe.“

„Ich glaube, ein paar unserer Freundinnen waren auch zur Saison in London. Hast du welche von ihnen gesehen?“

„In der Tat.“ Sie verzog das Gesicht. „Zu viele von ihnen, wenn ich ehrlich sein soll.“

Frederick sah sie fragend an. „Du meintest doch eben, du hättest unsere Freundinnen vermisst. Hast du dich denn nicht gefreut, sie in London zu sehen, da du doch solches Heimweh hattest?“

„Natürlich. Aber sie haben sich dort so ganz anders verhalten als hier. Sie scharwenzelten dauernd um die britischen Gentlemen herum, als wären sie unseren haushoch überlegen, dabei stimmt das gar nicht.“

Er drückte erneut ihre Hand. „Mein patriotisches Yankee-Mädchen.“

„Das bin ich auch. Lach mich ruhig aus deswegen.“

„Ich lache nicht, ich stimme dir vollkommen zu. Wie könnte es auch anders sein?“ Er lächelte. „Ich bin selbst ein amerikanischer Gentleman, und ich finde nicht, dass diese Briten mir irgendwie überlegen sein sollen. Sieh dir zum Beispiel die drei dort an, die bei Mrs. Dewey stehen.“

Er nickte in Richtung Tür, und als sie vorbeitanzten, bemerkte sie die drei Männer, die sich mit ihrer Gastgeberin unterhielten. Sie warf ihnen nur einen flüchtigen Blick zu, war sich aber sicher, sie noch nie zuvor gesehen zu haben. „Das sind Briten?“

„Oh ja.“ Er kräuselte eindeutig verächtlich die Lippen. „Und von Adel. Als ob das hier irgendetwas zu bedeuten hätte.“

Linnets Gedanken schweiften zurück zu ihrer zweiten Saison und zu Lord Conrath, dem ersten Adeligen, dem sie je begegnet war; dem einzigen Mann, der bislang stürmisches Herzklopfen bei ihr ausgelöst hatte. Conrath – so lässig-elegant, so charmant, so hoffnungslos bankrott.

Sie geriet ins Stolpern und brauchte einen Moment, um zur richtigen Schrittfolge zurückzufinden. „Wohnen diese Männer in Newport?“, fragte sie dann.

„Leider. Sie verbringen die Saison hier im The Tides. Warum die Deweys sie eingeladen haben, kann ich einfach nicht begreifen.“

Sie stöhnte auf. „Erzähl bloß meiner Mutter nicht von ihnen. Sie hat es sich schon vor ewigen Zeiten in den Kopf gesetzt, dass ich unbedingt einen britischen Lord heiraten soll.“

Diesmal geriet Frederick aus dem Takt. „Verzeih mir“, bat er, während er den Fehler korrigierte. „In erster Linie sollte es doch um dein Glück gehen. Warum besteht sie so darauf?“

„Sie hat das Gefühl, die neureichen Mädchen glauben unsere gesellschaftlichen Kreise aufzuwerten, in dem sie Adelige heiraten. Deshalb hat Mutter beschlossen, sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Sie ist geradezu besessen von der Idee, aus mir eine Countess oder Duchess oder etwas in der Art zu machen.“

„Das darfst du nicht zulassen.“ Seine Vehemenz überraschte sie, gleichzeitig schmeichelte sie ihr auch.

„Und sie auch noch für ihre versnobten gesellschaftlichen Ambitionen belohnen?“, entgegnete sie augenzwinkernd. „Niemals.“

„Gut.“ Er sah ihr tief in die Augen. „Ich möchte nicht, dass einer von ihnen dich verletzt, Linnet. Nicht noch einmal.“

Große Zuneigung zu ihm durchströmte sie; das Gefühl war fast so stark wie ihre Schwärmerei für ihn, als sie vierzehn gewesen war. „Ich trauere Conrath nicht nach. Er hatte es nur auf mein Geld abgesehen, und als er mich verließ, war ich ziemlich desillusioniert, was transatlantische Ehen betraf. Und wenn er das nicht geschafft hätte, dann ganz gewiss London.“

„War deine Saison dort denn wirklich so schlimm?“, fragte er mit so viel Mitgefühl, dass ihr ganz warm ums Herz wurde.

„Du hast ja keine Ahnung. Es wimmelte nur so von verarmten Adeligen, die mir alle ihre Bewunderung und Zuneigung zum Ausdruck brachten, aber die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wie viel noch von ihrer Zuneigung übrig bleiben würde, wenn ich meine Mitgift nicht hätte.“

„Diese britischen Lords erwarten, dass ihnen alles auf einem Silbertablett präsentiert wird, einschließlich eines soliden Einkommens.“

Er klang plötzlich ziemlich verbittert, und sie fragte sich, was wohl dahinterstecken mochte. „Ich kann mich gar nicht erinnern, dass du so eine Abneigung gegen die Briten hast, die herkommen auf der Suche nach Erbinnen.“

„Ja, nun …“ Er verstummte und wandte scheinbar unbehaglich den Blick ab. „Du bist viel zu süß, um auf einen Mann hereinzufallen, der nur dein Geld will. Und deshalb …“, er sah sie wieder an und beugte sich näher zu ihr, „… kannst du nicht nach England zurückkehren und einen Adeligen heiraten, so wie es deine Freundinnen tun.“

„Das habe ich auch nicht vor, und jetzt, da wir wieder zu Hause sind, gibt Mama diese fixe Idee hoffentlich endgültig auf. Ich möchte nicht in einem anderen Land leben, sondern hier. Abgesehen davon könnte ich nie einen Mann respektieren, der sich seinen Lebensunterhalt nicht selbst verdient.“

„Ja.“ Ein besorgter Ausdruck huschte über sein Gesicht. „Ich habe mir meinen hart verdienen müssen, weiß Gott.“

„Und das hast du obendrein auch noch sehr gut gemacht“, versicherte sie. „Dein Vater ist sehr angetan von deinen Fähigkeiten.“

„Wirklich?“, fragte er wehmütig. „Es ist wahrlich nicht leicht, diesen Mann zufriedenzustellen.“

„Er vergöttert dich. Das ist nicht zu übersehen.“

„Tut er das? Nun ja, ich weiß, er ist so streng mir gegenüber, weil ich sein einziger Sohn bin und meine Sache gut machen muss. Im Gegensatz zu den Briten finde ich nicht, dass Arbeit etwas ist, für das man sich schämen muss, oder dass es ehrenhaft ist, nur wegen des Geldes zu heiraten.“

Linnet schnitt eine Grimasse. „Unsere amerikanischen Mädchen scheinen nichts dabei zu finden, ihr Geld wegzugeben. Du hättest sie in London sehen sollen, wie sie sich den britischen Adeligen förmlich an den Hals geworfen und fast angefleht haben, sie zu heiraten und ihre Mitgift anzunehmen. Und diese aufdringlichen Mütter …“ Sie seufzte. „Ich fürchte, meine war mit am schlimmsten. Immer wieder hat sie Andeutungen über meine enorme Mitgift und meine gute Gesundheit fallen lassen. Es war entsetzlich peinlich.“

„Dann pass auf und sorge dafür, dass sie dich den dreien auf keinen Fall vorstellt“, riet er und blickte zu dem Trio an der Tür hinüber. „Einer von ihnen wird versuchen, dich mir wegzunehmen, noch bevor der Abend zu Ende ist, aber das werde ich nicht zulassen.“

Vor lauter Überraschung fand sie keine Antwort darauf, denn es sah Frederick überhaupt nicht ähnlich, so direkt zu sein, ganz im Gegenteil. Als er noch jünger gewesen war, war sein Ruf wegen eines unglücklichen Vorfalls mit einem neureichen Mädchen in Newport ruiniert worden, das, so hieß es, versucht hatte, ihn zu einer Ehe zu überlisten. Seitdem hatte er sich den Frauen in seiner Gesellschaft gegenüber womöglich noch korrekter verhalten, und das galt auch für sie.

„Aber Frederick“, sagte sie leise lachend, „ich wusste gar nicht, dass du mich überhaupt jemals richtig zur Kenntnis genommen hast.“

„Das habe ich“, versicherte er. „Wie hätte es auch anders sein können? Du bist das hübscheste Mädchen in unserem ganzen Bekanntenkreis. Aber du bist noch so jung, meine Liebe.“

„Jung?“, wiederholte sie und beschloss, das Kompliment über ihr Aussehen zu ignorieren. Komplimente bereiteten ihr stets leichtes Unbehagen, denn sie traute ihnen nicht. „Ich bin jetzt einundzwanzig. Laut meiner Mutter bin ich kurz davor, eine alte Jungfer zu werden.“

„Ja, die kleine Linnet ist erwachsen geworden“, neckte er sie. „Sie ist nicht länger das kleine Schulmädchen, das immer so für mich geschwärmt hat. Doch, das hast du“, fügte er hinzu, ehe sie protestieren konnte. „Doch nun hat sich das Blatt gewendet, jetzt bin ich derjenige, der für dich schwärmt.“ Ihr Erstaunen schien sich auf ihrem Gesicht widerzuspiegeln, denn er fuhr fort: „Ich weiß, meine Gefühle sind für dich unerwartet, aber das liegt daran, dass du fortgewesen bist. Sie sind während deiner Abwesenheit von Tag zu Tag tiefer geworden. Das vergangene Jahr hat mir die Augen – und das Herz geöffnet.“

Sie hatte Frederick schon vor langer Zeit als Freund der Familie akzeptiert, nichts weiter. Die Tatsache, dass sie ihm inzwischen mehr bedeutete, war eine so willkommene Überraschung nach all dem gekünstelten Umworbenwerden in London, dass sie nicht recht wusste, was sie sagen sollte.

Er lächelte. „Die Picknicks und die rauschenden Feste waren nicht dieselben ohne dich, ich habe dich so vermisst. Ich hatte mir vorgenommen, dir gleich nach deiner Rückkehr zu gestehen, was ich für dich empfinde, ehe ich den Mut dazu verliere. Ich liebe dich. Ich war mir nicht bewusst wie sehr, bis du fortgegangen bist.“ Er zog sie an sich. „Und seit ich weiß, dass deine Mutter so fest entschlossen ist, dich mit einem dieser Briten zu verheiraten, muss ich dir gegenüber ganz offen sein.“

„Frederick!“, ermahnte sie ihn und sah sich hastig um. „Nicht so ungestüm!“

„Ich könnte es nicht ertragen, wenn du wieder fortgehen würdest. Ich möchte, dass du bei mir bist, jetzt und für alle Zeiten. Natürlich wünschst du dir eine Liebesheirat und du kannst mich noch nicht so lieben wie ich dich. Trotzdem …“ Er stieß einen verärgerten Seufzer aus. „Verdammt, der Walzer ist zu Ende, und ich wollte dir noch so viel sagen, aber das erfordert Ungestörtheit, und wir werden heute Abend keine Gelegenheit haben, miteinander allein zu sein. Es sei denn …“ Er brach ab und sah sich um. „Lass uns uns treffen“, fuhr er plötzlich mit drängender Stimme fort. „In einer halben Stunde, an der chinesischen Pagode. Du weißt, wo das ist?“

„Die Pagode? Natürlich, aber Frederick, das kann ich nicht …“

„Ich schwöre dir, Linnet, ich komme mit ehrbaren Absichten, falls du daran zweifelst. Ich will dir eine Frage stellen; eine, die ich mir für deine Rückkehr fest vorgenommen hatte, und die deine Mutter unter den gegebenen Umständen nicht billigen wird.“ Er sah ihr tief in die Augen. „Ich glaube, du ahnst, welche Frage das ist.“

Er nahm die Hand von ihrer Taille. Eine völlig verblüffte Linnet kehrte in die Gegenwart zurück und merkte, dass der Walzer zu Ende war. Sie gestattete Frederick, sie zu ihrem Platz zurückzuführen, wo er ihr die Hand küsste und mit den Lippen lautlos die Worte „In einer halben Stunde!“ formte. Dann drehte er sich um und begrüßte ihre Eltern mit einer Gelassenheit, die kein Mann an den Tag legen sollte, der unmittelbar davor um ein heimliches Treffen gebeten hatte.

Natürlich würde sie nicht hingehen. Obwohl sie sich das immer wieder sagte, warf Linnet einen Blick auf den Uhrenring an ihrer rechten Hand. Es war fast halb zwölf.

Ein Rendezvous um Mitternacht. Wie romantisch das klingt, dachte sie, während sie sich anderen Freunden zuwandte, um sie zu begrüßen. Beinahe wie aus einem Roman. Aber sie konnte sich nicht nachts allein mit einem Mann treffen, selbst wenn sie ihn schon ein Leben lang kannte, dann das brachte womöglich ihren guten Ruf in Gefahr. Und doch, seine Absichten waren ehrbar, seine Gefühle eindeutig und die Frage ganz offensichtlich. Linnet schwankte. Wenn sie hinging, wie würde dann ihre Antwort lauten?

Frederick heiraten? Über diese Möglichkeit hatte sie noch nie nachgedacht, aber jetzt tat sie es, während sie lächelte, nickte und alte Freundschaften wieder aufleben ließ. Als Kind hatte sie für ihn geschwärmt, aber das zählte nicht. Außerdem hatte jedes Mädchen, das sie kannte, irgendwann einmal für Frederick geschwärmt. Warum auch nicht?

Er sah gut aus, war charmant und ein echter Sportler. Er besaß Rennpferde, die in Saratoga an den Start gingen, und Jachten, die er selbst mit großem Geschick steuerte. Er war ein erfolgreicher Anlagebankier und stammte aus einer der ältesten, vornehmsten Familien New Yorks.

Frederick heiraten?

Sie versuchte es sich vorzustellen, und als sie das tat, sah sie eine äußerst angenehme Zukunft vor sich – anfangs ein bescheidenes, aber komfortables Brownstone-Haus westlich vom Park und ein kleines Häuschen hier. Wenn Frederick dann sogar noch erfolgreicher wurde, konnten sie vielleicht in ein größeres Haus in der Madison Avenue ziehen, wo auch ihre Eltern wohnten. Wie so viele andere Paare, die sie kannte, würden sie den Winter in New York verbringen, im Frühling eine Kurzreise nach Paris unternehmen und den Sommer über dann hier in Newport sein. Sie konnte all die Picknicks und rauschenden Feste eines Newport-Sommers genießen mit einem Mann, den sie kannte und verstand; einem Mann, der aus derselben Welt stammte und sich dasselbe vom Leben wünschte wie sie. Mit einem Mann, dem sie etwas bedeutete, nicht ihr Geld. Mit einem Mann, den sie aufrichtig gern hatte.

Gern hatte.

Sie schluckte schwer und dachte an ein paar Männer in London, die ihre Gefühle für Linnet mit denselben Worten beschrieben hatten. Ihre Zuneigung für Frederick ging natürlich tiefer, weil sie ihn schon ihr Leben lang kannte. Und war romantische Leidenschaft etwa eine bessere Glücksgarantie als das, was sie für Frederick empfand? Conrath fiel ihr ein und ihre Antwort darauf lautete Nein.

„Linnet?“ Ihre Mutter rief mit leiser, aber drängender Stimme nach ihr, und Linnet schreckte aus ihren Träumen auf. Sie sah sich um und stellte fest, dass der Gegenstand ihrer Grübeleien verschwunden war.

„Wo ist Frederick?“, fragte sie, als ihre Mutter an ihre Seite eilte. „Er hat doch noch eben mit euch gesprochen.“

„Frederick?“ Helen Holland runzelte die Stirn. Die Gedanken der Tochter mochten ja um diesen ganz speziellen Mann kreisen, aber die Mutter beschäftigte etwas ganz anders. „Er ist irgendwo anders hingegangen.“ Sie zeigte auf die Terrassentüren. „Vergiss Frederick. Wir haben etwas viel Wichtigeres zu besprechen.“ Sie lotste ihre Tochter unauffällig von deren Freunden weg. „Linnet, heute Abend sind drei britische Adelige hier.“

Linnet stöhnte auf. „Oh nein, Mutter. Nicht schon wieder!“

Natürlich beachtete Helen ihren Protest nicht. „Man stelle sich nur vor – nachdem du in London keinen Erfolg gehabt hast, bekommst du jetzt doch noch eine Chance. Sieh mal dorthin.“ Als Linnet sich nicht rührte, seufzte Helen ungeduldig, legte ihr den Arm um die Schultern und drehte sie um zu den drei Männern, auf die Frederick sie bereits aufmerksam gemacht hatte. Linnet konnte Gott nur danken, dass in diesem Moment keiner von ihnen in ihre Richtung sah. „Du sollst sie natürlich nicht anstarren“, flüsterte ihre Mutter ihr ins Ohr, „aber sind sie nicht unglaublich attraktiv?“

„Um Himmels willen!“ Linnet ging gar nicht erst auf die Frage ihrer Mutter ein, sondern schüttelte deren Arm von ihren Schultern und wandte sich zu ihr um. „Ich will keinen britischen Lord heiraten. Wie oft soll ich dir das noch sagen?“

Helen machte ein missbilligendes Gesicht. „Dein Ton ist äußerst undamenhaft“, tadelte sie. „Die Gentlemen stehen nicht weit von uns entfernt, und wenn sie hören, wie du mit mir sprichst, kommen sie vielleicht zu dem Schluss, dass du für die Aristokratie ungeeignet bist, und streichen dich gleich von ihrer Liste.“

„Dann kann ich nur hoffen, ich kann sie davon überzeugen, dass ich ungeeignet bin, damit sie sich anderweitig umsehen.“

„Und wenn sie das tun, was wird dann aus dir?“ Helen zeigte auf die Menschen um sie herum. „Du willst jemanden aus unseren Kreisen heiraten, aber du kennst diese Männer schon dein Leben lang und bis jetzt hast du dich noch in keinen von ihnen verliebt. Wird es je dazu kommen? Du bist einundzwanzig, Linnet, und die Zeit vergeht schnell. Die meisten deiner Freundinnen sind bereits verheiratet. Noch ein Jahr, vielleicht zwei, dann bist du eine alte Jungfer. Ist es etwa das, was du willst?“

Linnet senkte den Kopf und presste sich eine behandschuhte Hand an die Stirn. Sie hatte gehofft, nach ihrer Rückkehr nach Hause würde das Thema abgehakt sein, zumindest für eine Weile, doch nun begriff sie, dass die gnadenlose Kampagne ihrer Mutter, sie zu verheiraten, erst dann ein Ende haben würde, wenn ihre Tochter zum Altar schritt und ihr Jawort gab.

„Also, was diese drei Gentlemen betrifft“, griff Helen den Faden wieder auf, weil sie fälschlicherweise Linnets Schweigen für Zustimmung hielt. „Sie sind hier im The Tides untergebracht, deshalb konnte mir Mrs. Dewey alles über sie erzählen. Der Blonde sieht ziemlich gut aus, findest du nicht?“

Linnet hielt den Kopf weiterhin gesenkt, aber ihre Mutter bemerkte das gar nicht.

„Er ist der Earl of Hayward“, plapperte Helen weiter, „der Sohn des Marquess of Wetherford. Trotzdem, ich bin mir nicht ganz sicher, ob er zu dir passen würde.“

Linnet fragte gar nicht warum, aber das brauchte sie natürlich auch nicht.

„Er ist kleiner als du, und es ist nie gut für einen Mann, kleiner zu sein als seine Frau. Schade, denn er ist der Ranghöchste von ihnen.“ Ihre Stimme klang wieder munterer. „Aber die beiden anderen sind größer und sehen genauso gut aus. Der Braunhaarige ist Viscount Somerton, der einzige Sohn des Earl of Conyers, doch der Schwarzhaarige scheint mir der Vielversprechendste zu sein. Er ist schon seit geraumer Zeit in New York und Mrs. Dewey glaubt, er sucht hier eine Ehefrau.“

„Das tun sie doch immer“, murmelte Linnet, ohne auch nur in seine Richtung zu blicken. „Du brauchst nicht so zu tun, als wäre das etwas ganz Neues.“

„Ja, aber er hat Mrs. Dewey nach dir gefragt, als du getanzt hast, und er schien sehr interessiert zu sein. Er ist der Earl of Featherstone und …“

Linnet hob den Kopf und runzelte die Stirn, denn der Name löste die Erinnerung an eine längst vergessene Klatschgeschichte aus. „War Featherstone nicht der Adelige, der Belinda Hamilton aus Cleveland geheiratet hat? Ich dachte, der sei gestorben.“

„Das war Charles Featherstone und, ja, der lebt nicht mehr. Das hier ist sein Bruder John – oder besser gesagt Jack, wie seine Freunde ihn nennen. Er hat den Titel nach dem Tod seines Bruders geerbt.“

Belinda Hamiltons Ehe mit dem früheren Earl of Featherstone war ein Lehrstück für jedes amerikanische Mädchen mit einem gewissen Selbsterhaltungstrieb; vielleicht bot sich hier für Linnet ein perfektes Gegenargument, wenn ihre Mutter weiterhin darauf beharrte, sie müsse einen Adeligen heiraten.

Endlich war ihre Aufmerksamkeit geweckt. Linnet sah sich um und ihr Blick fiel sofort auf den Mann in der Mitte der kleinen Gruppe; einen Mann, der sie jetzt anstarrte; einen Mann, dessen Haar rabenschwarz war – und sein Herz wahrscheinlich auch, wie Linnet unwillkürlich schlussfolgerte.

Vom Aussehen her sprach alles für einen ungebärdigen Lebemann. Er war groß und kraftvoll gebaut, wie geschaffen für waghalsige Sportarten. Sein dichtes, widerspenstiges Haar schien die disziplinierende Wirkung von Pomade gar nicht zu kennen, was auf einen ebenso undisziplinierten Charakter schließen ließ. Sein Gesicht war wohl recht attraktiv, aber die scharf gemeißelten Züge erinnerten Linnet an einen Raubvogel. Mit seinen schwarzen, unergründlichen Augen erwiderte er ihren Blick ohne mit der Wimper zu zucken – der Falke, der seine mögliche Beute taxierte.

Linnet jedoch war keine naive kleine Maus, die sich wegen ihrer üppigen Mitgift einfangen ließ. Angesichts eines solch skrupellosen Blicks zog sie einfach nur langsam eine Augenbraue hoch. Diesen Gesichtsausdruck hatte sie auf dem Pensionat perfektioniert; es war der gezielte Hinweis für einen unverschämten Mann, dass er sich unverschämt verhielt. Für gewöhnlich brachte das dann den betreffenden Mann dazu, sich zerknirscht zurückzuziehen.

Nicht jedoch diesen Mann. Statt den Blick abzuwenden, ließ er ihn über ihren ganzen Körper schweifen, von Kopf bis Fuß und wieder nach oben, wobei er viel zu lange auf ihrem Dekolleté verweilte und Linnet daran erinnerte, wie tief der Ausschnitt ihres Kleides war.

Völlig grundlos errötete sie; Hitze breitete sich in ihrem ganzen Körper aus, überall dort, wo sie seine Blicke spürte, in ihren Armen und Beinen, ihrem Busen, ihrem Hals und ihrem Gesicht. Ohne nachzudenken legte sie die behandschuhte Hand auf ihr Dekolleté, um sich vor seiner unverschämten Musterung zu schützen.

Die Lider mit den dichten schwarzen Wimpern hoben sich. Als er ihr jetzt wieder in die Augen sah, bildeten sich feine Lachfältchen in seinen Augenwinkeln, und er lächelte leicht.

Wütend wandte Linnet sich ab und entdeckte dabei einen Lakaien mit einem Tablett voller Gläser. Sie hatte das dringende Bedürfnis, etwas zu trinken, und als er an ihr vorbeikam, nahm sie sich ein Glas vom Tablett. Ohne auf den missbilligenden Blick ihrer Mutter zu achten, trank sie die Hälfte des Sherrys mit einem Schluck. Nun fühlte sie sich bereit, auf den strittigen Punkt zu sprechen zu kommen.

„Ganz offensichtlich ist der jetzige Earl of Featherstone auch nicht besser als sein Vorgänger. Charles Featherstone hat Belinda Hamilton wegen ihres Geldes geheiratet, und jeder wusste das. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann, hat er sie nach der Hochzeit sehr schlecht behandelt und sie unglücklich gemacht.“

„Nun, natürlich war Belinda Hamilton in ihrer Ehe nicht glücklich“, stimmte Helen ungerührt zu. „Sie war neureich und ganz und gar nicht darauf vorbereitet, die Ehefrau eines Earls zu sein.“

„Und doch hat Belinda Hamilton vor zwei Jahren wieder geheiratet“, konnte Linnet es sich nicht verkneifen zu sagen. „Und zwar den Marquess of Trubridge. Wenn ich mich richtig an all die Lektionen über den britischen Adel erinnere, die du mir erteilt hast, ist Trubridge der einzige Sohn des Duke of Landsdowne, also wird sie eines Tages Duchess sein.“

„Ihre erste Ehe hat sie auf die zweite vorbereitet, und eine solche Vorbereitung brauchst du nicht. Du könntest dich mühelos in die Rolle einer Adeligen einfügen. Dafür habe ich gesorgt.“

„Ja, seit Conrath gab es nichts anderes als englische Gouvernanten und zahllose Unterweisungen in britische Politik, britische Ländereien und britische Gepflogenheiten. Nichts von alldem habe ich gewollt.“

„Nur weil dir ein Adeliger das Herz gebrochen hat, hast du beschlossen, es gar nicht mehr mit einem anderen zu versuchen. Stattdessen beschränkst du dich auf das hier.“ Helen zeigte verächtlich auf ihre Umgebung.

„Mir gefällt, was ich habe, und ich sehe nicht ein, was daran so falsch ist.“

Autor

Laura Lee Guhrke
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