Das Dienstmädchen und der Duke

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Blackhall Castle, 1861. Einen Abend lang nicht Dienstmädchen, sondern eine umschwärmte Lady sein: Diesen gewagten Wunsch erfüllt sich Lorna! In einem herrlichen goldenen Kleid, das sie auf dem Dachboden entdeckt hat, schleicht sie sich auf den Maskenball im Schloss. Begehrliche Blicke aller Gentlemen folgen ihr, aber es ist der gefährlich attraktive Alex Russell, Duke of Kinross, der in dieser stürmischen Regennacht fern der Gäste ihr goldenes Mieder öffnet und ihre Lust weckt! Lorna hat den skandalösen Wunsch nach mehr - auch wenn ein Duke und ein Dienstmädchen nie für immer zusammen sein können …


  • Erscheinungstag 09.10.2018
  • Bandnummer 332
  • ISBN / Artikelnummer 9783733734138
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Blackhall Castle, schottische Highlands

Juni 1861

Ich würde meine Zeit verschwenden, wenn ich dir sagte, dass das eine Dummheit ist, oder? Das wäre dir völlig gleichgültig.“

Nan trat zurück und betrachtete Lorna genau. Dabei schüttelte sie die ganze Zeit den Kopf.

Das Zimmer, das sie miteinander teilten, war klein, und über der schlichten Kommode gab es nur einen winzigen Spiegel. Nan würde für sie den letzten Blick haben müssen.

Jedem Dienstmädchen war eine Lampe zugeteilt worden, zusammen mit einer bestimmten Menge an Öl. Wenn dieses Öl vor Monatsende verbraucht war, musste sie sich im Dunkeln anziehen. Auf diese Art war sie gezwungen, sich das Licht während der folgenden Wochen besser einzuteilen.

Lorna hatte die ganze Woche über noch keinen einzigen Tropfen Öl vergeudet, sondern alles für diese eine Nacht aufgehoben.

„Vielleicht ist es dumm“, gestand sie ein und blickte an den weiten Reifröcken ihres Kleides hinunter. „Aber es ist ein so zauberhafter Abend, und wann würde ich wohl je wieder die Gelegenheit haben, einen Ball auf Blackhall zu erleben?“

„Du bist ein Dienstmädchen, Lorna“, sagte Nan und seufzte tief. „Kein Gast.“

„Aber heute Nacht, Nan, wird das niemand wissen.“

Nan machte eine Handbewegung, und Lorna drehte sich gehorsam um, sodass die Rückseite des Kleides überprüft werden konnte.

Dinge geschahen nicht ohne Grund, oder? Die Haushälterin hatte sie auf den Dachboden geschickt, wo sie einen bestimmten Tisch finden sollte, und sie hatte sich auf den Weg dorthin gemacht, war widerstrebend in die Dunkelheit hinaufgestiegen. Sie konnte Mrs. McDermotts Aufforderung nicht ablehnen. Die liebenswürdige Frau hatte sie aufgenommen, obwohl Lorna keinerlei Ausbildung oder Erfahrung als Dienstmädchen vorweisen konnte.

Zu ihrer Überraschung war es auf dem Dachboden nicht im Mindesten dämmerig oder gar dunkel gewesen. Runde Fenster ließen die Junisonne herein. Eine Stunde lang hob sie ein Leinentuch nach dem anderen hoch, bis sie den Tisch am Ende des Dachbodens entdeckte. Zwischen der Treppe und der Tür aber hatte sie Dutzende von Truhen gefunden, von denen jede darauf zu warten schien, geöffnet und untersucht zu werden.

In der dritten Truhe fand sie die sorgfältig eingewickelte Perücke und das goldene Kleid mit den Reifröcken. Ein ganz wunderbarer Fund, vor allem, weil sie seit mehr als einem Monat den Kostümball auf Blackhall vorbereiteten.

Sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich eine günstige Gelegenheit entgehen ließen. Ihr Vater hatte oft gesagt, dass das Glück mit den Mutigen ist – fortuna audaces juvat.

„Wir hätten auch für dich ein Kleid finden können“, sagte Lorna jetzt, während sie die Perücke aufsetzte.

Sie hatte daran gedacht, etwas Mehl aus der Küche mitzunehmen. Eigentlich wusste sie nichts über die Mode von vor hundert Jahren, aber aus der Perücke war eine Wolke feinsten Puders aufgestiegen, und den einzigen Ersatz, den sie sich vorstellen konnte, war Mehl. Nan tauchte eine Puderquaste in die Schüssel und tupfte es auf ihre Schläfen und das aufgesteckte Haar, das mit goldenen Schleifen verziert war.

„Ich bin nicht so mutig wie du.“

„Oder so dumm“, gab Lorna zurück.

„Das auch nicht.“ Nan trat drei Schritte nach hinten und begutachtete ihr Werk. „Wenn das herauskommt, wird Mrs. McDermott nichts anderes übrig bleiben, als dich zu entlassen.“

„Dann passe ich eben auf, dass ich nicht erwischt werde.“ Lorna drehte sich um und lächelte Nan an. „Es ist ein Kostümball, Nan. Jeder wird eine Maske tragen. Niemand wird erfahren, wer ich bin.“

„Oh, Lorna!“

„Was ist?“, fragte die.

Nan schüttelte wieder den Kopf. „Du siehst nur das, was du sehen willst, Lorna. Das war schon immer so, seit ich dich kenne. Du hast Glück, dass Mrs. McDermott dich nicht dafür eingeteilt hat, die Gäste zu bedienen. Was hättest du dann getan? Ihr vorgemacht, du wärst krank?“

„Ich hätte eine Möglichkeit gefunden“, erwiderte Lorna und lächelte Nan an.

Sie hatte sich in der vergangenen Woche absichtlich möglichst ungeschickt angestellt, vor allem, wenn die Haushälterin gerade zusah, und das aus genau diesem Grund. Sie hatte einen Armvoll Bücher fallen lassen, die sie gerade abstaubte, hatte sich unbeholfen an dem Krug mit den gebrauchten Teeblättern zu schaffen gemacht, mit dem die Teppiche gereinigt wurden, und war wiederholt mit Schaufel und Besen gestolpert.

Nach alledem wäre Mrs. McDermott dumm gewesen, sie zum Servieren auszuwählen. Da war es besser, sie früh aus dem Dienst zu entlassen, in ihre Kammer zu schicken und ihr zu sagen, dass sie bei Tagesanbruch wiederkommen solle, um beim Aufräumen des Ballsaals zu helfen. Zu ihrer Erleichterung hatte die Haushälterin genau das getan.

„Nun, wie sehe ich aus?“, fragte Lorna jetzt und befestigte die Bänder der Maske sorgfältig hinter den Ohren. Das war ein weiterer wunderbarer Fund gewesen – und auch ein weiteres Zeichen dafür, dass sie diesen Ball einfach besuchen musste.

Es war, als hätte die Vorhersehung Lorna in ihrer kaum bezähmbaren Neugier und Faszination eine Möglichkeit verschafft, den Duke of Kinross aus der Nähe zu sehen. Natürlich würde das nur für ein paar Stunden in einer Juninacht in den schottischen Highlands sein, aber wer war sie denn, dass sie die Vorhersehung zurückweisen würde?

„Du siehst sehr schön aus“, bestätigte Nan und nickte. „Das Gold lässt deine braunen Augen funkeln. Und die weiße Perücke betont deinen Teint.“

„Gehe ich als ein Gast durch?“

Nan seufzte wieder. „Ja, schon, aber ich bin nicht sicher, ob das eine gute Sache ist.“

„Mein Vater war Robert Gordon. Ich bin den meisten der erwarteten Gäste ebenbürtig.“

„Aber du gehst nicht dorthin, weil du die meisten von ihnen treffen willst. Du willst den Duke sehen. Und wir wissen beide, wie dumm das ist.“

Lorna streckte die Arme aus und zog Nan an sich, wobei sie eine Wolke von Mehl auf deren Schultern verteilte. Sie entschuldigte sich und trat zurück.

„Keine Sorge, Nan. Ich werde für ein paar Stunden so tun, als wäre ich jemand anderes. Dann kehre ich zurück und werde wieder ein braves Hausmädchen. Ich verspreche es.“

Nan schien nicht überzeugt zu sein. Lorna war es auch nicht, wenn sie ehrlich war. Es würde nach dieser Nacht sehr schwer werden, wieder sie selbst zu sein.

Das Letzte, was Alexander Russell, der neunte Duke of Kinross, tun wollte, war, sich unter seine Gäste zu mischen. Er könnte die Zeit so viel besser nutzen. Er hatte auch gar keine Freunde hier in der Menge. Ein paar Bekannte vielleicht, aber es gab nur wenige, die man als mehr bezeichnen könnte, vor allem nicht nach diesem Nachmittag, an dem er so gedemütigt worden war.

Dennoch zwang sich Alex, den Ballsaal zu betreten und ein Lächeln aufzusetzen, das seine wahren Gefühle verbarg.

Der Ballsaal war wie ein seltenes Schmuckstück geputzt und poliert worden. Die drei Reihen mit jeweils vier Kronleuchtern aus Messing und Kristall beleuchteten jeden Quadratzentimeter des großen Raumes, das Licht wurde von den Fenstern zurückgeworfen und ließ den Boden schimmern.

Die Edelsteine in diesem Schmuckstück waren die Frauen, die den Vorschlag, einen Kostümball zu veranstalten, begeistert aufgegriffen hatten. Sie hatten Gewänder gewählt, die meisten zwischen überwältigend und amüsant, dazwischen gab es auch ein paar lächerliche Exemplare. Ein halbes Dutzend bedauernswerter Ehemänner war so gekleidet, dass sie zu ihren Frauen passten, aber in der Regel trugen sie schwarze Abendgarderobe.

Mindestens fünfundzwanzig der Männer waren Zeugen seiner vernichtenden Niederlage an diesem Nachmittag geworden.

Die Veranstaltung des heutigen Abends war die letzte, bei der er hier stehen und albern lächeln musste. Alex konnte es kaum abwarten, bis sie alle morgen früh wieder zurück zur Bahnstation fuhren, unterwegs zu ihren verschiedenen Heimatorten. Die Scottish Society for Scientific Achievement konnte zur Hölle fahren und mit ihr ihre jährliche Medaille.

Einer in diesem Raum war ein Verräter. Nicht am Vaterland, obwohl es vielleicht auch dazu kommen konnte. Irgendjemand, der sich hier füttern und unterhalten ließ, hatte ihn verraten. Das war der einzige Grund, warum Simons die verdammte Medaille gewonnen hatte. Alex’ eigene Forschung stimmte nahezu Wort für Wort mit der des anderen Mannes überein. Doch Alex hatte weitaus mehr Objekte, bei ihm gingen sie in die Tausende, während es bei Simons nur Hunderte waren. Selbst Simons’ Schlussfolgerungen, die er auf der letzten Seite seiner Arbeit aufgeführt hatte, waren seinen eigenen Worten viel zu ähnlich gewesen. Doch Alex’ Ergebnisse waren bei der Society gut drei Monate früher eingereicht worden als die von Simons. Drei Monate, aber Simons war derjenige, der ausgezeichnet worden war.

Jemand hatte Alex’ Forschungsergebnisse weitergegeben. Entweder ein Mitglied der Gesellschaft, das hier den Ball besuchte, die letzte Veranstaltung einer qualvollen Woche voller Einladungen nach Blackhall Castle, oder jemand, dem er im Vertrauen von seiner Arbeit berichtet hatte.

„Du musst lernen, den Menschen zu vertrauen, Alex“, hatte seine Mutter einst zu ihm gesagt.

Er konnte sich nicht mehr erinnern, warum sie ihm diesen Rat gegeben hatte, aber er konnte sich an den Anlass erinnern. Sie hatten in der Kapelle auf Blackhall gestanden und zugesehen, wie die Bronzetafel auf der letzten Ruhestätte seiner Ehefrau befestigt worden war.

Er erinnerte sich auch an das, was er darauf geantwortet hatte. Er hatte sich zu ihr umgedreht und gefragt: „Warum?“

Sie hatte nicht geantwortet, was schade war. Vielleicht hätten ihre Worte seine Gefühle besänftigen können. Ruth, die verstorbene Duchess of Kinross, war nicht treu gewesen, eine Tatsache, die ihre Schwester ihm unter Tränen gestanden hatte.

„Du darfst sie nicht hassen, Alex. Ruth hat immer nach Bewunderung gehungert. Als du zu beschäftigt warst, um sie ihr zukommen zu lassen, hat sie sie anderswo gesucht.“

Seine Frau hätte diesen Ball genossen. Sie hätte ein Kleid gekauft zu einem ruinösen Preis, eine Robe, die zweifellos ein wenig schockierend gewesen wäre. Sie wäre von einem Gast zum anderen gegangen und hätte alle bezaubert. Beinahe glaubte er, ihr goldenes Haar fliegen zu sehen, wenn sie sich umdrehte, um einen Gast nach dem anderen zu begrüßen. Der Lärmpegel im Ballsaal war immens, und in seiner Erinnerung hörte er ihr Lachen. Alle, die zum ersten Mal nach Blackhall gekommen waren, würden bei der Abreise ein Loblied auf sie singen.

Sie gab uns das Gefühl, richtig willkommen zu sein.

Was für eine reizende Person die Duchess ist.

Wie schön sie ist – und dieses Kleid!

Ruth war dem Leben stets mit offenen Armen entgegengegangen. Wenn es interessant war oder aufregend, dann wollte Ruth es erleben. Ihre blonde Schönheit wurde von ihrem ansteckenden Lachen noch unterstrichen, einem Lächeln, das sie stets zu ihrem Vorteil einsetzte, und einer geschickten, beinahe manipulativen Art, mit der sie jedem Mann das Gefühl gab, die wichtigste Person im ganzen Raum zu sein.

Ruth sammelte Menschen so wie andere Frauen Handschuhe. Sie hatte Dutzende von Freundinnen, von denen jede einzelne glaubte, in Ruths Leben etwas ganz Besonderes zu sein. Sie fanden nie heraus, dass Ruth sich nicht für sie als Mensch interessierte. Sie wollte nur die Bewunderung, die solche Freundinnen ihr entgegenbrachten. Je bedeutender, je ranghöher der Titel und je reicher, desto besser. Er war zu der Überzeugung gekommen, dass das auch der Grund war, warum sie ihn geheiratet hatte.

Im zweiten Monat ihrer Ehe hatte er erkannt, dass sie sich keinen Deut für ihn interessierte. Er war nichts als ein erreichtes Ziel auf einer inneren Liste, ein Gegenstand, der nicht wichtiger war als ein Schal aus ihrer Kommode oder ein Kleid aus ihrem Schrank.

Nach ihrem Tod war ein armer Kerl zu ihm gekommen, der ganz ungeniert über den Verlust geweint hatte. Er hätte den Mann gern gefragt, ob er wirklich glaubte, dass Ruth ihn je geliebt hatte. Aber dann wurde ihm klar, dass die Wahrheit keine Rolle spielte.

Soweit es ihn betraf, war Ruth nicht in der Lage, irgendeinen Menschen außer sich selbst zu lieben.

Er bezweifelte nicht, dass sie nach all den Jahren immer noch in der Lage wäre, die Menschen zu verzaubern. Sie würden Dinge sagen wie: Sie hat sich überhaupt nicht verändert, oder? Sie ist immer noch eine der schönsten Frauen in ganz Schottland, nicht wahr?

Ruth würde sich in ihren Bemerkungen gesonnt haben. Sie hätte sich mit Diamanten geschmückt, deren Funkeln zu dem Glanz in ihren Augen passte. Hast du das gehört, Alex? Sie haben sich amüsiert, nicht wahr? Wir sollten bald wieder einladen, denke ich.

Obwohl es mitten in den Highlands lag, war Blackhall Castle einst für seine Gastfreundlichkeit, seine Vergnügungen und seine Schönheit bekannt gewesen.

Die Schönheit war nie verblasst, auch wenn es ein Vermögen kostete, diese Schönheit zu erhalten. In der letzten Zeit gab es weniger Einladungen, er hatte kein Interesse daran, Scharen von Menschen in sein Heim zu bitten. Und die Gastfreundlichkeit? Im Moment wünschte er sie alle zur Hölle, die Männer von der Society in ihrer Abendgarderobe eingeschlossen, die sich in kleinen Gruppen überall im Ballsaal verteilt hatten.

Wie hätte Ruth sich an diesem Abend verkleidet? Er vermutete, dass sie am liebsten als sie selbst gekommen wäre, als Duchess of Kinross. Oder vielleicht hätte sie das Kostüm ihrer Schwester entwendet. Mary ging als Cleopatra, ihr langes weißes Kleid war mit einer kunstvollen goldenen Halskette verziert. Seine Mutter ging als Königin Elizabeth, wenn er das richtig sah, inklusive der leuchtend roten Lockenperücke.

Warum dachte er heute so viel an Ruth? Weil er sich wieder betrogen fühlte? Weil dies der erste Ball war, der hier veranstaltet wurde seit ihrem Tod vor drei Jahren? Weil ihn das Gefühl schmerzte, dass er sich an der Nase hatte herumführen lassen?

Das von seiner Mutter engagierte Orchester war ausgezeichnet. Es spielte einen Walzer, und viele Leute tanzten. Alex sollte ein guter Gastgeber sein und seine Gäste begrüßen, aber er war weder willens noch in der Lage, seine Gefühle so gut zu verbergen. Er war wütend, und seine Wut stieg an mit jedem Augenblick, den er hier stand.

Er wartete, bis ein Diener in der Nähe war, dann gab er ihm mit leiser Stimme einen Befehl. Gleich darauf kehrte der junge Mann mit einem Glas Whisky zurück.

„Beobachten Sie mich“, ordnete er an. „Ich möchte, dass Sie mir ein neues bringen, wenn dieses Glas leer ist.“

„Jawohl, Euer Gnaden.“

Er trank nicht oft, aber an diesem Abend war er fest entschlossen, es darauf ankommen zu lassen. Er konnte sich nur an zwei Gelegenheiten erinnern, bei denen er etwas Ähnliches getan hatte. An dem Tag, an dem er erfahren hatte, dass seine Frau ihm untreu gewesen war, und an dem Tag, da sie im Kindbett gestorben war und seinen Erben mit sich genommen hatte. Aber wer weiß, vielleicht war das auch gar nicht sein Kind gewesen? Eine Frage, die er sich nie hatte beantworten können.

Dieser Abend schien ebenfalls eine ausgezeichnete Gelegenheit zu bieten. Er sah sich einem zerstörten Traum gegenüber, und zwar zerstört von jemandem, dem er vertraut hatte.

„Du musst lernen, Menschen zu vertrauen, Alex.“

In Gedanken hörte er die Stimme seiner Mutter.

Warum schien als Antwort so gut zu sein wie jedes andere Wort. Oder vielleicht würde auch ein entschiedenes Nein genügen.

2. KAPITEL

Der Juni war ein feuchter Monat, ständig lauerten Stürme am Horizont. Auch in dieser Nacht würde einer über sie hereinbrechen, aber die Menschen, die sich im Ballsaal von Blackhall versammelt hatten, schienen davon nichts zu bemerken.

Lorna stand an der Tür, bezaubert von dem Anblick, der sich ihr bot. Jede Frau trug irgendeine Art von Kostüm, und es gab mehr als nur ein paar Männer, die Kilts mit einer schwarzen Abendjacke dazu trugen. Ein Mann stand in einer Ecke. Er trug eine rote Schärpe quer über der Brust und nahm offenbar die Glückwünsche der Leute entgegen, die sich um ihn geschart hatten.

Die Türen zur Terrasse waren wegen des aufkommenden Windes geschlossen worden, sodass die Luft noch schwerer wurde: verschiedene Duftnoten französischen Parfüms mischten sich mit der Pomade der Männer und stark gewürztem Punsch und dem muffigen Geruch des hundert Jahre alten Kleides, das Lorna trug.

Man störte nicht den Duke of Kinross.

Man machte sich nicht bei der Familie bekannt.

Man zeigte keine Neugier über das, was in der Familie Russell geschah, vor allem nicht, wenn es um den Duke of Kinross oder den Earl of Montrassey ging.

Das hatte man ihr zahllose Male gesagt, denn die Russells waren nicht nur ihre Dienstherren. Der Russell-Clan war überdies sehr einflussreich sowohl in Schottland als auch im gesamten Empire.

Sie würde keine Fragen über das Treffen in der Bibliothek des Duke am Nachmittag stellen. Das Personal ging davon aus, dass es sich um eine Art Geheimgesellschaft handeln musste, zumal es nur einem einzigen Bediensteten erlaubt war, den Raum zu betreten.

Alle achteten sorgsam darauf, in Gegenwart einiger Leute im Schloss den Mund zu halten. Mrs. McDermott zum Beispiel. Die Haushälterin war sehr streng in Bezug auf Klatsch und würde einem einen halben freien Tag für die Woche streichen, wenn man dabei erwischt wurde. Der andere war Matthews, der Kammerdiener des Duke. Er klatschte nicht nur allgemein, er tratschte auch über die Mitglieder der Familie.

Das wusste sie, weil sie ihn eines Abends belauscht hatte. Jeden Tag nach dem Abendessen flüchtete sie ins Gewächshaus, holte das Tagebuch ihres Vaters aus dem Versteck in einem großen Topf in einer Ecke und arbeitete an einer Zeichnung aus dem Gedächtnis. Ihr Aufenthalt im Gewächshaus diente zwei verschiedenen Zwecken. Nicht nur konnte sie hier heimlich zeichnen, sie konnte manchmal auch den Duke sehen, der die Angewohnheit hatte, jeden Abend draußen spazieren zu gehen. Manchmal kam er ins Gewächshaus, aber nicht oft.

Lorna sagte nie ein Wort. Sie machte sich durch nichts bemerkbar. Es genügte, einfach reglos und schweigend für diese Minuten da zu sein und seine Nähe zu fühlen.

„Du wirst Schwierigkeiten bekommen, wenn du einfach so verschwindest“, sagte Nan eines Abends. „Mrs. McDermott wird es nicht gefallen, wenn sie herausfindet, dass du nicht im Bett liegst.“

Wenn Mrs. McDermott von der Zeit im Gewächshaus erfuhr, konnte sie sogar entlassen werden. Und wenn die Haushälterin von diesem Abend Kenntnis bekam, dann gäbe es keinen Zweifel darüber, welche Strafen Lorna erwarteten.

Trotzdem musste sie diese Chance ergreifen. Vielleicht bot sich tatsächlich die Gelegenheit, mit dem Duke zu sprechen.

Das Unwetter kam näher. Die Gäste schienen weder den Donner noch die Blitze zu bemerken, die die vorausjagenden Wolken begleiteten.

Lorna ging zur Terrassentür, sie ließ sich Zeit dabei, das Kleid ließ ihr keine andere Wahl. Sie bewegte sich beinahe im Seitwärtsschritt, um überhaupt voranzukommen. Warum nur sollte eine Frau eine solche Mode ertragen? Mit dem Korsett, der Perücke und dem Drahtgestell rechts und links an den Hüften fühlte sie sich alles andere als wohl. Wenigstens bestand nicht die Gefahr, dass Mrs. McDermott oder ein anderer Bediensteter sie erkennen würde.

Sie wusste von früheren Besprechungen, dass die Haushälterin durch die Vorhänge am Ende des Ballsaals zu spähen pflegte, nur um sicherzustellen, dass alles perfekt lief und keines der Dienstmädchen und keiner der Lakaien, die für diesen Abend zum Servieren ausgewählt wurden, irgendwelche Fehler machten. Lorna mied ihre Blicke und wandte sich ab, wenn eines der Mädchen mit einem Tablett für den Büfetttisch auf sie zukam.

Sie bemerkte die Aufmerksamkeit verschiedener Gentlemen, von denen mehr als einer an ihrem offenherzigen Dekolleté interessiert waren. Am liebsten hätte sie den Stoff höher gezogen, aber er saß so eng um ihre Brüste, dass es nichts genützt hätte, daran zu zerren. Nein, sie war definitiv nicht begeistert von dieser Mode, und all diese Reifen und Krinolinen gefielen ihr auch nicht.

Die beiden Kleider, die man ihr gegeben hatte, als sie ihre Arbeit auf Blackhall Castle antrat, waren bequem, und sie brauchte nur einen einzigen Unterrock. Von einem Dienstmädchen wurde schließlich nicht erwartet, dass es sich nach der neuesten Mode kleidete.

Wenn das Buch ihres Vaters erst veröffentlicht war und sie nicht länger in Diensten stehen musste, dann würde sie sich keine Sorgen mehr darum machen, was sie anziehen sollte. Sie würde etwas tragen, das gleichermaßen bequem und hübsch war.

Sie wandte den Kopf nach rechts und sah zu, wie ein Blitz den Rasen und die umstehenden Bäume erhellte. Die Wälder waren so dunkel und geheimnisvoll, dass sie manchmal gedacht hatte, die Bäume würden ihre Wurzeln einziehen und jede Nacht einen kleinen Schritt auf Blackhall zugehen. Alle anderen Pflanzen, das Unterholz und die jungen Bäume, würden den Älteren gehorsam folgen. Wenn die Gärtner nicht fleißig genug waren, würde der Wald vielleicht eines Tages, wenn sie erwachte, direkt vor ihrem Fenster beginnen. Statt der Kamine und der Türme von Blackhall würde sie nur Zweige und Blätter sehen, die ihr morgens zuwinkten.

Ein Mann sah sie lüstern an. Sie wandte sich ab und stellte fest, dass auch ein anderer sie anstarrte.

Wussten sie, dass sie eine Hochstaplerin war? Eine Frau in einem schönen Kleid, die nicht zu diesen Würdenträgern und wichtigen geladenen Gästen gehörte?

Die Frauen mit ihrem strahlenden Lächeln wirkten nicht so viel anders als die Mädchen, mit denen sie in Diensten stand. Vielleicht war ihr Akzent besser. Sie hatten Bedienstete, die ihnen beim Ankleiden halfen, die ihr Aussehen überprüften, ehe sie das Zimmer verließen, und die ihre Habseligkeiten aufräumten. Sie hatten immenses Glück, da sie nicht auf sich selbst angewiesen waren, was ihren Lebensunterhalt und ihr Überleben anging. Sie gehörten zu reichen Familien oder hatten Vermögen und Häuser geerbt.

Einige der Mädchen, die auf Blackhall arbeiteten, waren weit über ihren Stand gebildet. Eines der Mädchen war begabt im Umgang mit Zahlen und half Mrs. McDermott bei ihren Abrechnungen. Ein anderes beherrschte drei Sprachen und erheiterte die anderen damit, dass es einige Redensarten übersetzte, die sie benutzen konnten, wenn ein Diener oder Lord Thomas Russell zu zudringlich wurde, ein Wort, das eines der Mädchen gern benutzte, um die Angewohnheit des Earl of Montrassey zu beschreiben, das Personal zu betatschen.

Lorna selbst war nicht unter den Peers aufgewachsen. Die Freunde ihres Vaters waren gebildete Männer, die lieber durch die Wälder, Sümpfe und Marschen stapften und in verrauchten, dunklen Pubs diskutierten. Ein oder zwei besaßen einen Adelstitel, aber sie nannten einander beim Vornamen und machten kein Aufhebens von ihrem Rang.

In den Lektionen, die sie erhalten hatte, ehe es ihr erlaubt wurde, ihre Arbeit zu beginnen, hatte Mrs. McDermott ihr erklärt, dass der Earl of Montrassey der vorgesehene Erbe des Duke of Kinross war.

„Ist der Duke nicht verheiratet?“ Das war die letzte persönliche Frage gewesen, die sie hatte stellen dürfen.

„Nein, der arme Mann. Er ist verwitwet. Ihre Gnaden starb vor drei Jahren. Im Kindbett.“ Die Haushälterin schüttelte den Kopf. „Das Kleine hat es auch nicht geschafft.“

Lorna wollte gar nicht daran denken, wie schrecklich das gewesen sein musste.

War das der Grund, warum der Duke jede Nacht spazieren ging? Warum er zum Himmel hinaufstarrte, als suchte er in den Sternen nach einer Antwort?

Solch einen Schmerz konnte sie sich nicht vorstellen. Es war schlimm genug gewesen, als sie ihren Vater verlor, aber eine Ehefrau und ein Kind?

Die Terrassentür befand sich zu ihrer Rechten. Hätte es nicht geregnet, wäre sie aus dem Ballsaal mit seinen schweren Düften und der Wärme geflohen, in die klare, frische Luft des nahenden Unwetters. Niemand kam auf sie zu, um mit ihr zu reden, und niemand wunderte sich über ihre Anwesenheit.

Aber sie war nicht auf diesen Ball gegangen, um zu tanzen oder sich unter die Gäste zu mischen.

Sie straffte die Schulter und ließ den Blick wieder über die Menge schweifen.

Wo war er? Wo war der Duke?

Alex bemerkte sie zuerst nur, weil sie so still war. Die Frau in dem goldfarbenen Brokatkleid war die einzige Person im Ballsaal, die nicht lachte, plauderte oder sich bewegte. Sie stand kerzengerade da, die Hände ruhig mit den Handflächen nach unten auf die enorm weiten Röcke gelegt. Sie lächelte nicht, aber sie beobachtete eindringlich. Ihr Blick hinter der Maske in Schwarz und Gold wanderte nach rechts und links. Sie erinnerte ihn an einen Falken auf der Jagd, kleiner als die anderen, aber ebenso stark, wenn er herausgefordert wurde oder eine Beute verfolgte.

Wen jagte sie?

Der Lakai stand zu seiner Linken und wartete geduldig darauf, das Glas auszutauschen. Guter Junge, er war gleichermaßen gehorsam wie gewissenhaft. Dies war Alex’ dritter Whisky, und endlich begann das Getränk, einen Teil seines Zorns zu betäuben. Mit etwas Glück konnte er den restlichen Abend überstehen, ohne jemandem Vorwürfe zu machen oder eine Szene vom Zaun zu brechen.

Er war der verdammte Duke of Kinross. Was er sagte, galt als bedeutend, daher sollte er zusehen, dass er alle Fakten beisammen hatte, ehe er den Mund aufmachte. Er war so verdammt bedeutend, dass er Ebbe und Flut und den Lauf der Planeten verändern würde, wenn er sich täuschte.

Vielleicht sollte er den Diener fortschicken, wenn der Junge wieder auftauchte. Wenn er von hier weggehen könnte, würde er das tun, würde sich dorthin zurückziehen, wo keine Menschen waren, keine neugierigen Blicke und keine Frauen mit verführerischem Lächeln.

Die Frau in Gold warf ihm keine verführerischen Blicke zu.

Er trank noch einen Schluck und beobachtete sie.

„Du hättest diese verdammte Medaille gewinnen sollen, vor allem, weil sie dir so viel bedeutet.“

Er wandte sich um und sah Thomas dastehen. „Das ist kein Kriterium, Onkel.“

„Nun, vielleicht solltest du mit diesen Idioten überhaupt nichts zu tun haben. Du solltest anfangen, dich der Jagd zuzuwenden. Dein Vater war ein großer Jäger.“

„Ich habe nicht vor, mich der Jagd zu widmen.“

Vielleicht sollte er doch noch ein paar Gläser mehr Whisky trinken.

„Warum verschwendest du deine Zeit, um mit mir zu reden?“, fragte Alex. „Sind keine verheirateten Frauen in der Nähe, die du verführen könntest?“

Sein Onkel hatte das gleiche schwarze Haar wie sein Vater. Thomas’ Augen, die ähnlich wie die des achten Duke of Kinross blau waren wie Kristalle, waren oft gerötet – das einzige Anzeichen dafür, dass er in der Nacht zuvor gefeiert hatte, jedenfalls während der letzten paar Jahre. Seit einer Weile schien sein Gesicht aufgedunsen, das markante Kinn wirkte weichlich, die Wangen schlaff. Seine Wangen und die Nase waren gerötet. Aber der alte Charme war noch da, zeigte sich in einem Zwinkern der blutunterlaufenen Augen, und dem Lächeln, das so mühelos auf seinem Gesicht erschien.

„Die Leute beobachten dich, Alex.“

„Die Leute beobachten mich immer, Onkel.“

„Du benimmst dich nicht wie du selbst“, rügte Thomas.

„Wie, verdammt noch mal, soll ich mich denn benehmen?“

„Wie ein Gastgeber, nicht wie ein trotziges Kind.“

Er lächelte seinen Onkel an. Thomas war es weniger als egal, wie er sich benahm. Vermutlich hatte seine Mutter den Mann hierhergeschickt, damit er ihn zurechtwies.

Alex ließ den Blick über die Menge hinweggleiten und stellte fest, dass mehr als nur ein paar Frauen zu ihnen herübersahen. Sogar die Frau mit dem goldenen Kleid hatte sich umgedreht, um ihn anzusehen – den Blick noch immer ganz ruhig.

Dieser Blick versetzte ihm einen Stich, es schien, als hätte sie die Kraft, einen Blitz nach ihm zu schleudern. Sekunden verstrichen, und er sah ihr in die Augen. Der Whisky in seinem Glas war vergessen. Sein lästiger Onkel wurde unsichtbar, die mahnenden Worte, die er sprach, verhallten ungehört.

Er kannte sie. Oder vielleicht wünschte er sich auch nur, diese Frau zu kennen.

„Hörst du mir zu, Alex?“

„Nein“, erwiderte dieser. „Das tue ich nicht.“

Mit einiger Mühe wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Bruder seines Vaters zu. Es hieß, für seine Mutter, Alex’ Großmutter, wäre er eine große Überraschung gewesen. Mehr als zwanzig Jahre nach seinem älteren Bruder war er zur Welt gekommen, und er war erst zehn gewesen, als Alex geboren wurde und seine Zukunft veränderte.

Hatte es Thomas gefallen, dass seine Zukunft verändert wurde? Oder eher nicht?

Wie seltsam, dass Alex das nicht wusste und sich bis zu diesem Augenblick auch nicht die Mühe gemacht hatte, danach zu fragen. Trotzdem trug Thomas noch immer einen der niedrigrangigeren Titel der Familie, den des Earl of Montrassey. Da er außerdem Alex’ Erbe war, wurde er nach schottischem Recht als sogenannter Master angesehen, aber zum Glück musste ihn niemand so anreden. Die Church of Scotland würde der Schlag treffen …

„Mir wurde gesagt, dass ich eine Chance hatte auf diesen Preis“, sagte Alex jetzt. „Ich denke, jemand verriet meine Forschungsergebnisse an Simons.“

„Was spielt das für eine Rolle, Alex?“

„Es spielt eine Rolle, Onkel, denn es geht um drei Jahre meines Lebens. Das ist Arbeit, die ich geleistet habe. Meine Ideen wurden gestohlen, meine Forschungen.“

„Du bist der Duke of Kinross. Du hast Besseres zu tun, als durch das Land zu ziehen und die Finger der Leute mit Ruß zu bestreichen.“

„Ich weiß deine Meinung zu würdigen“, erwiderte Alex und brachte die Worte mit einiger Mühe hervor. Er fügte noch ein angestrengtes Lächeln hinzu und hoffte, dass Thomas endlich gehen und sich eine Bettgefährtin für die Nacht suchen würde.

Die Frau in Gold sah ihn an und ließ den Blick über ihn gleiten.

Wurde ihm von dem Whisky so warm, oder lag es an ihrem Blick?

Alex nahm dem Diener noch ein weiteres Glas ab, nickte zum Dank und trank es in einem Zug halb leer.

Sie lächelte ein wenig, eine erfahrene Miene, die ihm sagte, dass sie seinen Ärger bemerkte. Wenn sie ihn nicht verstehen konnte, so hatte sie seine Stimmung zumindest gespürt. Das war sonst noch keinem gelungen.

Oder vielleicht doch?

Abgesehen von den Blicken, die sich auf ihn gerichtet hatten, als er den Ballsaal betrat, war er in Ruhe gelassen worden. Niemand war gekommen, um ihn zu begrüßen. Niemand machte ihm Komplimente über die Dekoration des Ballsaals oder die Qualität der Erfrischungen. Niemand sagte ein Wort über seine Erscheinung oder blickte vielsagend zur Tanzfläche.

Er tanzte nicht gern, und die meisten Menschen wussten das. Ganz gewiss jene Frauen, mit denen er über die Jahre zu tun gehabt hatte. Manche Menschen hatten Geduld für diese Art von Beschäftigung und das dabei übliche oberflächliche Geplauder. Er nicht.

Die Frau in dem goldenen Kleid blickte kein einziges Mal zur Tanzfläche. Und sie wandte den Blick auch nicht von ihm ab. Sie war direkt, herausfordernd und genau das, was er heute Abend brauchte.

„Euer Gnaden.“

Der Diener stand mit einem vollen Glas Whisky auf einem Silbertablett neben ihm. Alex schüttelte den Kopf, stellte sein leeres Glas auf das Tablett und ging hin zu der Frau. Er gab den Alkohol auf, um einen anderen, plötzlich dringlicher erscheinenden Durst zu stillen.

3. KAPITEL

Nie zuvor war sie einem Mann begegnet, der besser aussah als der Duke. Sie wusste, sie war nicht die einzige Frau im Schloss, die ihre Arbeit unterbrach oder doch langsamer arbeitete, wenn er vorüberging. Seine blaugrünen Augen hatten eine so ungewöhnliche Farbe, dass sie ihn ewig hätte anstarren können. Aber es waren nicht nur seine Augen, die ihn von anderen Männern unterschieden. Seine Züge waren stark und markant. Er hatte ein Grübchen im Kinn und auch welche in den Wangen, die sogar sichtbar waren, wenn er nicht lächelte.

Der Duke of Kinross lächelte nicht oft.

Stattdessen konnte er einen in einer Weise ansehen, die einem das Gefühl gab, dahinzuschmelzen. Sie bezweifelte nicht, dass sie jeden Befehl von ihm ohne ein Wort des Widerspruchs ausführen würde.

Er sprach nie mit ihr. Kein einziges Mal während der zwei Jahre, die sie auf Blackhall Castle lebte.

Sie hatte ihn schon früher in seinem Kilt gesehen, ein Gewand, das er zu formellen Anlässen trug, aber sie hatte ihn nie so finster erlebt wie jetzt. Er stand da zusammen mit seinem Onkel, starrte die Menschen im Ballsaal an, die Miene so reglos, als wäre sie aus Stein, der Blick auf einen Punkt gerichtet, den sie nicht sehen konnte. Hochgewachsen und selbstsicher war er das Musterbild eines Dukes, ein beeindruckender Nachfahre all der tapferen Männer, deren Porträts in der Galerie im dritten Stock hingen. Keiner dieser Vorfahren allerdings sah so gut aus wie er.

Bei seinem Anblick dachte sie an die Männer aus den Highlands, die vor Hunderten von Jahren gelebt hatten. Männer, die gegeneinander oder gegen die Engländer gekämpft hatten. Sie dachte über die Geschichte des ersten Dukes of Kinross nach, des Mannes, der für seine Tapferkeit in den Rang eines Duke erhoben wurde. Und der mit der Errichtung dieses Schlosses begann, dem über die Jahre immer wieder neue Anbauten hinzugefügt wurden.

Alexander Russell, der neunte Duke of Kinross, war ein umwerfender Mann. Aber war er nicht auch ein Rätsel? Hochmütig und unnahbar, außer in jenen Nächten, wenn er den Himmel beobachtete und sie ihn.

Plötzlich drehte er sich um und sah sie direkt an.

Erkannte er sie? War seine Miene deswegen plötzlich wie erstarrt?

Ihr stockte der Atem.

Sie hätte Nan bitten sollen, das Korsett ein wenig zu lockern, aber dann hätte sie nicht mehr in das Kleid gepasst. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie nur daran gedacht, dass die Mode in dieser Zeit verlangte, dass das Kleid um die Brust herum eng saß. Jetzt hatte sie das Gefühl, sie würde gleich in Ohnmacht fallen. Das wäre ohne Zweifel ein Desaster. Damit würde sie nicht nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken, sie würde auch entdeckt werden.

Während der vergangenen beiden Jahre hatte sie den größten Teil ihres Lohns gespart, aber es war nicht genug, um davon leben zu können, jedenfalls nicht auf die Dauer. Sie konnte sich sehr glücklich schätzen, Mrs. McDermott vorgestellt worden zu sein. Sie durfte nicht entlassen werden, schon gar nicht ohne ein Empfehlungsschreiben.

Daran hätte sie einen Tag früher denken sollen.

Sie presste eine Hand gegen ihre Taille, während er langsam auf sie zukam. Die Menge teilte sich, als er vorüberging, und neugierige Blicke folgten ihm. Er war wie Moses, und die Gäste waren das Rote Meer. Er war wie ein heißes Messer, und die Gäste waren die Butter. Er war der Duke of Kinross, und sie waren die Zuschauer bei diesem Katastrophenszenario.

Die Tür befand sich zu ihrer Rechten. Sie konnte aus dem Ballsaal fliehen, sich die Stufen der Terrasse hinunterflüchten und weitergehen bis zum Gewächshaus. Dort würde sie sich verstecken, bis sie sicher sein konnte, dass niemand sehen würde, wie sie zur Dienstbotentreppe schlich. Sie würde sich in ihr Zimmer zurückziehen, dieses verdammte Kleid ausziehen und sich selbst ausschelten. Zweifellos würde Nan denken, sie wäre jetzt endlich wieder zur Vernunft gekommen.

Er kam näher. Er hatte den Blick nicht für einen Moment von ihrem Gesicht abgewandt. Würde er sie vor aller Augen demütigen? Würde er ihr die Maske vom Gesicht reißen? Würde er sie in das Unwetter hinausschicken? Oder würde er nur wissen wollen, warum sie hier war?

Sie würde ihm alles außer der Wahrheit gestehen, nämlich dass sie ihn sehen und von ihm gesehen werden wollte. Ausnahmsweise wollte sie nicht unsichtbar sein. Dieses eine Mal sollte der Duke of Kinross sie, Lorna Gordon, sehen. Kein Hausmädchen, keinen Teil der stummen Armee, die ihm diente. Er sollte sie als Frau sehen. Sie sollten ein paar Worte miteinander wechseln, selbst wenn es nur höfliches Geplauder war.

Kein einziges Mal hatte sie sich vorgestellt, dass er sie mit seinen Blicken durchbohren würde, oder dass er auf sie zukommen würde wie ein Highlander, der eine englische Stadt erobern wollte.

Was sollte sie jetzt tun? Vor Angst stand sie wie angewurzelt da. Sie streckte die Hand aus und griff nach dem Türknauf.

Ganz plötzlich wollte sie hinaus, wollte den Wind spüren, den Kopf in den Nacken legen, um die rasch dahinziehenden Wolken zu beobachten. Aber wenn sie die Tür öffnete, dann würden die Leute sich nach ihr umdrehen. Einige der Frauen mit den kunstvollen Frisuren würden sie stirnrunzelnd ansehen.

„Gehen Sie schon und tun Sie es“, sagte eine Stimme neben ihr.

Er war da. Er war hier.

Wenigstens würde er sie nicht vor den Augen aller demütigen.

„Machen Sie schon. Öffnen Sie die Tür“, forderte er sie auf. „Ich komme mit Ihnen auf die Terrasse. Sollen sie sich über uns beide ruhig die Mäuler zerreißen.“

Falls sie jemand ansah, dann weniger strafend als vielmehr neugierig. Wer war diese seltsam gekleidete Frau, und warum war sie mit dem Duke of Kinross zusammen?

Ihr Herz schlug schnell. Ihr Mund war trocken. Sie hatte schon früher davon geträumt, ihm so nahe zu sein, aber sie hatte sich dabei vorgestellt, geistreich zu sein, zu flirten oder so klug zu wirken, dass ihre Kommentare ihn beeindruckten. Sie hatte sich nicht vorgestellt, wie benommen dazustehen.

„Wer sind Sie?“, fragte er.

Erleichterung durchzuckte sie, sodass ihr die Knie weich wurden. Er wusste nicht, wer sie war.

„Ich erkenne Sie nicht.“

Ein paar Momente lang, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen, fand sie keine Worte. Sollte sie ihm erklären, dass sie eine Nachbarin war? Der Gast eines Gastes? Was sollte sie nur sagen?

„Marie Antoinette?“

Gott sei Dank, er meinte ihr Kostüm.

Sie öffnete die Tür und betrat die Terrasse. Er folgte ihr und schloss die Tür hinter ihnen beiden. Der Wind fing sich in ihrer riesigen Perücke, bis sie zu befürchten begann, sie würde ihr vom Kopf rutschen. Sie hob einen Arm, um das Gebilde festzuhalten, und erschrak, weil er lachte.

„Es überrascht mich, dass Ihr Kleid sie nicht über das Geländer hat fliegen lassen“, sagte er. „Vielleicht wäre es besser, wenn wir wieder hineingehen.“

Nein, nicht das. Die Leute würden ihr Gespräch belauschen.

Es begann zu regnen, die Tropfen fielen wie ein dichter Vorhang. Er zog sie zur Seite, wo das überstehende Dach sie beschützte. Es hinderte den Wind nicht, ihr die Nässe ins Gesicht zu treiben, und vermutlich auch nicht daran, ihr geborgtes Kleid zu ruinieren.

Sie sollte sich bewegen, sollte protestieren. Jede andere Frau im Ballsaal hätte das getan. Oder nicht? Hätten sie auch geschwiegen, um ein paar stille Momente mit dem atemberaubenden Duke of Kinross zu verbringen?

Der Regen dämpfte das Licht aus dem Ballsaal, sodass sie in einer halbschattigen Welt zu leben schienen. Vermutlich war es nicht anständig, allein mit ihm an einem so abgeschiedenen Ort zu sein?

„Kann ich Marie Antoinette sein, wenn ich nicht Französisch spreche?“, fragte sie.

„Warum sprechen Sie kein Französisch?“

„Ich habe das nie gelernt.“

„Eine unerwartet direkte Antwort“, meinte er. „Sind Sie immer so direkt?“

Welch eine neugierige Frage! Sein Lächeln war etwas schief und wirkte amüsiert. Es dauerte einen Moment, ehe ihr bewusst wurde, dass der Duke of Kinross auf dem besten Wege war, sich zu betrinken. Oder, wie ihr Vater es ausdrücken würde: Er war blau wie eine Strandhaubitze.

Jetzt wusste sie sicher, dass sie nicht hier mit ihm zusammen sein sollte. Wäre er ein anderer Mann, würde sie fortlaufen. Sie würde sich nicht einmal die Mühe machen, eine Ausrede zu erfinden, sie würde nur ihre unbequemen Röcke raffen, zu den Stufen gehen, die von der Terrasse hinunter führten, und so schnell davonlaufen, wie sie nur konnte.

Stattdessen blieb sie, wo sie war, und hielt mit der einen Hand ihre Perücke fest, die andere hatte sie an die Taille gelegt.

Sie hätten zwei Dienstboten sein können, die einander auf einem Markt begegneten. Oder er hätte ein Schuster sein können, dem sie einen Schuh zum Reparieren brachte. Nicht ein Duke und sein Dienstmädchen, das für ein Weilchen so tat, als wäre es jemand anders.

„Das hat mich bisher noch nie jemand gefragt“, sagte sie schließlich. „Ich weiß nicht, ob ich direkt bin oder nicht.“

Als er lächelte, wurden seine Grübchen tiefer. Wie schön sein Gesicht war. Sie hätte ihn stundenlang anstarren können. War er es gewohnt, dass die Menschen ihn ansahen? Glaubte er, dass sie das wegen seines Titels taten? Oder war ihm bewusst, dass das geschah, weil er so gut aussah, dass er ganz automatisch alle Blicke auf sich zog?

„Zu wem gehören Sie?“

Noch eine seltsame Frage, aber sie musste darauf antworten. „Ich gehöre zu niemandem.“

„Wer hat Sie hierhergebracht? Wer ist Ihr Begleiter? Sind Sie verheiratet? Haben Sie einen Verlobten?“

Sie musste jetzt wirklich jemanden erfinden, oder? Sollte sie einen Ehemann erfinden?

„Warum wollen Sie das wissen?“

„Ich will wissen, ob mich jemand verprügeln wird, wenn ich Sie jetzt küsse.“

Ihr Herz fühlte sich an wie ein kleiner Vogel, der in ihrer Brust flatterte. Sie konnte kaum atmen. Der Wind zerrte an der albernen Perücke, und die Fensterscheiben klirrten leise.

Sie liebte Unwetter. Sie liebte es, dann draußen zu sein, ohne sich um die Gefahr zu kümmern. Manchmal legte sie den Kopf zurück und spürte, wie der Regen ihr das Gesicht nässte. In diesen Augenblicken war sie den Elementen so ausgesetzt, als wäre sie die einzige Frau auf der Welt. Doch so wie jetzt hatte sie sich noch nie gefühlt.

Er umfasste ihren Ellenbogen und zog sie weiter weg von der Tür zum Ballsaal.

Sie ging freiwillig mit ihm, in einem aufgeregten, aber auch ängstlichen Ansturm der Gefühle. Würde er sie wirklich küssen? Würde der schönste Mann, den sie je gesehen hatte, sie wirklich küssen? Zählte das, obwohl er betrunken war?

Er schob sie gegen eine Wand. Wenn ihr wirklich etwas an dem Kleid lag, hätte sie ihm gesagt, dass der Reifrock aus Draht alt war und leicht verbeulte. Aber sie interessierte sich für nichts anderes, als seinen Körper an ihrem zu spüren, den Stoff seiner Abendjacke, der sanft an der bloßen Haut oberhalb ihrer Brüste rieb, und den Ausdruck in seinen Augen.

Sie hätte frieren müssen, aber ihr war von innen heraus warm. Lag es an seinem Lächeln, das ein bisschen schief war und äußerst charmant? Oder an der Aussicht auf einen Kuss? Oder war es ihr eigener Wagemut, die Spannung, mit dem Duke of Kinross draußen in einem Unwetter zu stehen?

Langsam beugte er sich hinab, ließ ihr Zeit, zurückzuweichen. Doch das tat sie nicht, sie ließ ihre Perücke los und umfasste seine Schultern, hielt ihn fest. Seine Lippen fühlten sich so weich an, wie sie es sich vorgestellt hatte, aber es zeigte sich ihr Mangel an Erfahrung. Er legte den Kopf schief, um sie inniger zu küssen, und ihr stockte vor Staunen der Atem.

Er schmeckte nach warmem Whisky.

Nie hätte sie sich vorstellen können, dass er seine Zunge in ihren Mund schieben würde, um ihre zu berühren. Oder dass er an ihrer Unterlippe knabbern würde, als wäre sie eine köstliche Frucht. Und nie hatte sie erwartet, dass er ihr enges Mieder zurückschieben und ihre nackte Brust umfassen würde.

Oder dass sie es ihm gestatten würde. Ja, und mehr noch. Was immer er zu tun wünschte, er durfte es tun. Wenn er ihr bitte ins Ohr flüstern würde, was er wollte – sie würde es zulassen. Welche Freiheiten auch immer. Welche Sünde auch immer, für die sie am nächsten Tag um Vergebung bitten würde.

An diesem Abend ging ein Traum in Erfüllung. Dieser Abend war die Verschmelzung von Zusehen und Staunen. An diesem Abend war sie nicht nur eines der Dienstmädchen. Sie war Lorna Gordon, und sie küsste den Duke of Kinross.

Ihr Blut loderte, ihr wurde heiß. Der Wind wehte ihnen den Regen entgegen, und es war ihr egal. Der Wollstoff seiner Jacke begann zu kratzen, aber sie drängte sich fester an ihn.

Was immer geschehen mochte, welche Folgen nach dieser Nacht auch auf sie zukommen mochten, sie würde es nicht bedauern. Wie könnte sie? Wie lange sie auch leben mochte, sie würde sich an diesen Moment erinnern, da der Duke of Kinross sie geküsst hatte. Als er mit seinen Lippen ihren Hals berührt und an ihrem Ohrläppchen geknabbert hatte. Er zog ihr die Maske vom Gesicht, aber es war ihr egal. Sollte er sie jetzt doch erkennen, es wäre zu spät. Sie hatte ihren Kuss bereits bekommen. Sie hatte schon mit ihm gesprochen, und er hatte mit ihr gesprochen, als wäre sie eine Frau, die ihm gefiel.

Marie Antoinette oder Lorna Gordon – spielte das eine Rolle?

Gleich darauf war sie von der Perücke befreit. Hatte der Wind sie ihr vom Kopf geweht, oder hatte er sie abgenommen? Auch das war egal.

Er schob seine Hände in ihr Haar und hielt ihren Kopf fest.

„Du bist schön“, sagte er, und bei diesen Worten drohte ihr Herz stillzustehen. Auch daran würde sie sich immer erinnern.

Er durfte nicht denken, dass sie ihm glaubte. Sie war nicht so verzweifelt, dass sie naiv war. Und auch nicht so dumm, dass sie völlig ihren Verstand verloren hatte.

„Nein“, sagte sie.

„Nein?“ Sie spürte sein Lächeln an ihren Lippen. „Ich glaube, ja wäre mir lieber.“

Ihr Körper schien zu wissen, wie er auf seine Berührungen und seine Worte reagieren sollte, aber in ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Hatte sie ihn weggeschoben? Ihn an sich gezogen? Hatte sie protestiert? Oder genoss sie einfach, was geschah?

Eine Alarmglocke läutete in ihrem Kopf, aber sie verdrängte das Geräusch.

Ihre Lippen brannten, in ihren Ohren rauschte der Rhythmus des Regens, zusammen mit dem ihres eigenen Herzschlags. Sie fühlte sich erdverbunden, den Elementen nahe, lebendig in einer Weise, wie sie es noch nie zuvor empfunden hatte. Ihre Haut war so empfindlich, dass jede Stelle, die er mit seinen Lippen berührt hatte, entweder zitterte oder bebte, sodass sie stöhnte oder seufzte.

Noch nie zuvor hatte sie mit jemandem über Leidenschaft gesprochen, nicht einmal mit Nan, die einzige enge Freundin, die sie je gehabt hatte. Die Mädchen neckten einander oder lachten über einen bestimmten männlichen Dienstboten und den Ruf, den er bei den Frauen genoss, aber keine von ihnen hatte je über Verlangen gesprochen.

War es das – ein Gefühl, das in ihr den Eindruck weckte, zu brennen, so heftig wie eine der Sternschnuppen, die sie vom Gewächshaus aus gesehen hatte? Vielleicht explodierte sie von innen heraus, und von ihr würde nichts als ein Häuflein Asche zurückbleiben.

Er zerrte an dem Stoff ihres Kleides, befreite auch ihre andere Brust. Jetzt stand sie beinahe nackt im Sturm, und sie konnte nur stöhnen, als er aufhörte, sie auf den Mund zu küssen, und sich von dort aus mit Küssen seinen Weg zu ihrer Brustspitze bahnte. Als er ihre Brustwarze in den Mund nahm, seufzte sie vor Lust auf.

Fast vermochte sie sich nicht mehr aufrecht zu halten unter dem Ansturm der Gefühle, die über sie hinwegbrandeten. Sie war nahe daran, auf der Terrasse auf die Knie zu sinken.

Sie sollte damit aufhören! Sie sollte ihn zurückstoßen! Sie hob die Hände und umfasste seine Rockaufschläge, aber nur, um ihn näher an sich zu ziehen.

„Ich muss dich haben“, sagte er, wieder ganz nahe an ihrem Mund. „Jetzt.“

Mit beiden Händen schob er ihre Röcke hoch, sodass ihre Beine dem Regen preisgegeben waren.

Wo warst du, als du deine Unschuld verloren hast? Das würde nicht in ihrer Hochzeitsnacht geschehen, wenn sie mit einem ehrbaren Mann von gutem Ruf zusammen war. Sie lag nicht auf einem Laken, mit zitternden Händen, wo sie sich vor Sorge und kaum verhohlener Angst auf die Lippen biss.

Nein, nichts so Anständiges, nichts Erwartungsgemäßes. Nicht als Braut, sondern als Hochstaplerin. Eine Frau, die nicht zufrieden war mit dem, was das Schicksal ihr beschert hatte, die offenbar bereit war, das eine, das sie zu geben hatte, gegen etwas Wichtigeres einzutauschen. Eine Erinnerung, nicht nur an den Duke of Kinross, sondern an so heftige Leidenschaft, unerwartet und schockierend, sodass sie darüber bestimmte, was in den nächsten Momenten geschehen würde.

Ihre Beine waren dem Regen ausgesetzt, bis sie das Gefühl hatte, von der Natur selbst getauft zu werden. Vielleicht gesäubert, sodass sie bereit war, ein Angebot für die leidenschaftliche Natur des Dukes.

Soll diese Jungfrau ein Opfer für dich sein?

Er schob eine Hand nach unten und ertastete sie mit seinen Fingern, griff durch den Schlitz in ihren Pantalons. Sie stöhnte laut auf, als er einen Finger in sie hineinschob, ein Eindringen, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Sie schlang die Arme um seinen Hals und stöhnte in seinen Kragen hinein, als er die Handfläche gegen sie presste, sie verführte, ihre Nässe verrieb. Nicht die des Regens, ihre eigene Feuchtigkeit.

Er beugte sich vor und umfasste ihre Schenkel.

Die Tür zum Ballsaal ging auf.

„Alex?“

Sie erstarrten.

4. KAPITEL

Der Duke packte ihre Hand und zog Lorna mit sich durch das Unwetter. Sie musste laufen, um mit ihm Schritt halten zu können, der Regen fiel auf ihre nackten Brüste, sie hatte die Perücke vergessen, und es war ihr egal, ob das goldene Brokatkleid ruiniert wurde.

Mary kannte sie. Sie achtete auf die Dienstmädchen auf Blackhall, wenn auch nur, um sie bei Mrs. McDermott anzuschwärzen, wenn sie nicht fleißig genug waren. Mary hätte sie sofort erkannt.

Offensichtlich wollte der Duke der Aufmerksamkeit seiner Schwägerin ebenso dringend entgehen wie Lorna.

Sie liefen über die Terrasse und die Treppe hinunter. Als er sie ins Gewächshaus führte, hätte sie überrascht sein sollen, aber irgendwie schien es zu passen. Hier hatte sie ihn so oft beobachtet. Hier war das, wonach sie sich sehnte.

Wortlos zog er sie zu einer Liege aus scharlachrotem Samt, die zwischen den Farnen stand. Halb setzte sie sich auf, halb legte sie sich hin, als er sich bückte und den Regen von ihren Brüsten küsste und sich dabei so aufmerksam um sie kümmerte, dass sie die Augen schloss, um das Gefühl zu genießen.

Seine Berührungen fühlten sich heiß an, und da war noch etwas mehr, die Fähigkeit, ihr die Knie weich werden zu lassen und jede warnende Stimme zum Verstummen zu bringen. Als er aufstand und ihre Beine auf die Couch legte, ließ sie es zu. Als er langsam die verschiedenen Schichten ihrer Röcke hochschob, bis zu ihrer Taille, sagte sie kein Wort.

Das Licht eines Blitzes fiel auf sie, als er mit beiden Händen von ihren Schenkeln zu ihrer Taille strich, um ihr die Pantalons auszuziehen. Dann riss er sich den Rock vom Leib, sodass sein vom Regen durchnässtes Hemd sichtbar wurde, und gleich darauf kniete er auf der Couch, direkt über ihr.

„Träume ich?“, wunderte er sich und schob seine Finger in ihr gelocktes Haar. „Entweder das, oder dies ist irgendeine Form von Belohnung. In irgendetwas muss ich sehr, sehr brav gewesen sein.“

Er schob seinen Kilt hoch.

Obwohl die Dienstmädchen manchmal darüber Scherze gemacht hatten, wie ein Diener bestückt war, hatte sie noch nie zuvor einen nackten Mann gesehen. Lorna streckte beide Hände aus, umfasste seinen Penis, bestaunte die Form und die Größe.

Als sie ihn berührte, schloss er die Augen. Sie griff ein wenig fester zu, und er öffnete die Augen wieder und sah sie an.

Jetzt war der richtige Zeitpunkt gekommen, um von der Couch aufzuspringen und ihm zu erklären, dass sie keine Frau von lockerer Moral war. Dass er ihre Reaktion auf seine Küsse und seine Berührungen komplett missverstanden hatte.

Sie sagte kein Wort.

Stattdessen stützte sie sich auf ihre Unterarme und dachte, dass sie vermutlich ein sehr dekadentes Bild bot. Sie lag vor ihm, die Brüste entblößt, das Kleid bis zur Taille hochgeschoben, während ihre Röcke seitlich über die Couch hingen.

Sie hätte sich bedecken sollen.

Später würde sie sich um ihren Mangel an mädchenhafter Zurückhaltung sorgen. Jetzt wollte sie nur, dass das Verlangen nachließ, und er machte es noch schlimmer, indem er mit seinen Fingern über die Stelle zwischen ihren Schenkeln strich und sie mit seiner Berührung erregte.

„Oder vielleicht ist es nur die Fantasie eines Betrunkenen. Vielleicht habe ich mehr Whisky intus, als ich gedacht habe.“

„Ist das die Wirkung von Whisky? Davon habe ich noch nie gehört.“

„In diesem Fall, ja“, sagte er. „Ich suchte nach einer Ablenkung, und da warst du, standst an der Terrassentür und sahst aus, als wolltest du lieber davonlaufen, als noch eine Minute länger in diesem Ballsaal zu verbringen.“

„Ich fühlte mich einsam“, erklärte sie anstelle der Wahrheit. Sie hatte Angst, dass er sie überführen würde, dass er erkannte, dass sie nur ein Dienstmädchen war auf Blackhall.

In dieser Rolle hatte er sie noch nie gesehen, aber jetzt sah er sie an.

Was sie betraf, so würde sie diese Nacht nie vergessen. Würde er sich daran erinnern?

„Da waren zu viele Leute, und sie schienen alle glücklich zu sein.“

„Ich bezweifle, dass einer von ihnen so glücklich ist, wie ich es im Moment bin“, stellte er fest und beugte sich über sie. „Oder so glücklich, wie ich dich gleich machen werde, Marie.“

Er lächelte sie an, ein Lächeln, das sie nie mehr vergessen würde.

Der Sturm draußen entsprach dem Gefühlssturm, der in ihr entstand. Bei seinen Berührungen tanzten Blitze über ihre Haut. Ihr eigener trommelnder Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Sie wurde feucht, als wollte sie sich für ihn vorbereiten.

Er beugte sich weiter vor, und ganz plötzlich drang er in sie ein.

Sie biss sich auf die Lippe, um einen Aufschrei zu unterdrücken.

Er fluchte, eine Aneinanderreihung von Flüchen, die sie nie zuvor gehört hatte. Aber er wich nicht zurück. Und er ließ sie nicht los.

„Du bist Jungfrau? Warum zum Teufel hast du mir nicht gesagt, dass du noch Jungfrau bist?“

Sie glaubte nicht, auch nur ein Wort herausbekommen zu können, selbst wenn sie eine Antwort für ihn gehabt hätte.

Er zog sich ein wenig zurück, und einen Moment lang glaubte sie, er würde sie verlassen. Aber er stieß wieder zu, presste sie in die Polster. Wieder zog er sich zurück, ehe er hart zustieß, so tief, dass sie sich fragte, ob er sie dafür bestrafen wollte, dass sie noch Jungfrau war.

Er fluchte immer noch, während er weiter in sie eindrang, jede Bewegung wurde von einem neuen Wort begleitet. Als er sich aufrichtete, hielt er sie mit Blicken genauso auf dem Sofa fest, wie er es mit seinen Armen oder seinen Stößen tat.

Er schien entschlossen, mit seiner Berührung ein Zeichen in sie einzubrennen, und sicherzustellen, dass sie die Nacht, in der sie ihre Unschuld verlor, nie mehr vergaß. Wie könnte sie?

Sie stemmte die Füße gegen den Samt, drückte sich hoch, war ebenso fest entschlossen wie er.

Nie hatte sie so etwas erwartet. Und sie hatte auch nicht in Betracht gezogen, dass er sie verführen würde, falls dies hier eine Verführung war. Nie wieder würde sie das Gewächshaus betreten können, ohne diese Szene vor Augen zu haben, sie beinahe nackt, und er mit dem hochgeschobenen Kilt und den muskulösen Schenkeln.

Sie sollten sich beide schämen, anstatt sich mit ganzem Herzen in diesen Akt zu werfen. Nicht Liebe, das stand fest, sondern einfach nur Sex, den sie in seiner ganzen fleischlichen Lust genossen.

Ihr Leib hatte vergessen, dass er jungfräulich war. Der Schmerz, das fremdartige Gefühl seines Eindringens verschwanden unter dringenderen Bedürfnissen. Ihre Brüste verlangten nach seinen Lippen, ihr Inneres nach etwas anderem. Er küsste sie, die Zunge tief in ihrem Mund. Mit seinen Fingern weckte er unglaubliche Gefühle in ihr. Er blieb über ihr, bis sie die Hüften anhob und seinen Arm umklammerte.

All ihre Empfindungen konzentrierten sich auf seine Finger, und dann seine Lippen, als er reglos innehielt, fordernd.

„Verdammt sollst du sein!“, fluchte er wieder und beugte sich vor, um an ihrer Brust zu saugen. Er stieß in sie hinein, als hätte er keine andere Wahl, als wäre sein Körper ein Sklave dieses Aktes.

Ein Blitz erhellte die Szene, die so erotisch war, so voller Begehren. Der Duke of Kinross wütend und erregt. Sein Dienstmädchen stöhnte, als die Lust es beinahe zu zerreißen drohte.

Einmal mehr stieß er in sie hinein und fluchte, als er kam.

Was geschah mit ihnen? War dies die Art, wie man sich normalerweise liebte, in einer Woge der Leidenschaft? Verlor man gewöhnlich immer den Verstand? Zählte nichts anderes als der Geschmack auf den Lippen eines Liebhabers, oder ihn so nahe wie möglich zu spüren? Hätte Mary sie nicht gestört, hätten sie vermutlich mitten in dem Unwetter weitergemacht. Er hätte sie gleich dort genommen, an der Wand stehend, und sie hätte nicht ihre Stimme erhoben, um zu protestieren.

Der Duke stand auf und trat zum Fenster, stemmte die Hände gegen das Glas und neigte den Kopf zwischen den Armen.

Oh, sie würde das am Morgen sauber machen müssen.

Er war noch immer vollständig angezogen. Sie wiederum sah nicht, wie sie sich wieder ankleiden sollte, gut genug, um von hier fortzukommen. Irgendwo hatte sie ihre Maske verloren, und wo war die mehlbestäubte Perücke?

Sie setzte sich auf und zog den Rock über ihre nackten Beine. Sie hatte noch immer ihre Schuhe an, was gut war, denn sie besaß nur dieses eine Paar. In der Truhe waren keine Schuhe gewesen, nichts, was zu dem einst so reizenden goldenen Kleid gepasst hätte. Vielleicht war es am besten, dass niemand sie zum Tanzen aufgefordert hatte. Sie hätte über den Tanzboden stampfen müssen.

„Du hast dir den falschen Narren gesucht“, sagte er, drehte sich um und sah sie an.

Sie blickte zu ihm auf, während sie versuchte, das Kleid wieder über ihre Brüste zu ziehen.

„Ich verstehe nicht.“

Sein Lachen erfüllte das Gewächshaus.

„Ach, komm schon, natürlich verstehst du das. Du und deine Gefährten, ihr dachtet zweifellos, dass ich reif bin für eine Erpressung. Ich bin ein Duke. Ich bin fällig. Natürlich würde ich nicht wollen, dass der Skandal dieses Abends bekannt wird. Schließlich habe ich mir eine Jungfrau genommen, ohne überhaupt nur ihren Namen zu kennen.“ Er lehnte sich an die Scheibe und verschränkte die Arme. „Wie heißt du?“

Während der letzten zwei Jahre hatte sie ihn jeden Tag gesehen, manchmal mehr als nur einmal. Sie war auf dem Gang an ihm vorbeigekommen, während sie Stapel von Laken trug. Sie hatte ihm mehr als einmal eine Mahlzeit in die Bibliothek gebracht. Sie hatte Dosen mit Seife in sein Badezimmer gestellt. Sie hatte seine Matratze aufgeschüttelt.

Er hatte ihr die Unschuld genommen, aber er kannte ihren Namen nicht. Schlimmer noch, er warf ihr vor, ihn zu erpressen.

Was wäre schrecklicher für ihn – dass er mit einem Dienstmädchen geschlafen hatte oder dass er als Verführer dastehen würde? Sie bezweifelte, dass ihm auch nur eines von beidem naheging. Seine nächsten Worte bestätigten ihre Gedanken.

„Du kannst zurückgehen zu deinem Verbündeten und ihm sagen, dass ich mich keinen Deut um den Skandal schere. Prahle ruhig mit dem, was du heute Nacht getan hast. Ich bezweifle nur, dass es dir so gut gehen wird wie mir. Frauen empfinden in der Regel anders, vor allem, wenn es leichtfertige Frauenzimmer sind.“

Der Sturm ließ endlich nach, die Blitze wanderten in Richtung Horizont. Er war ein dunkler Umriss vor dem Glasfenster.

Sie war sehr froh, dass sie ihn nicht genau sehen konnte, das bedeutete, dass auch sie im Schatten stand. Sie musste nicht auf ihren Gesichtsausdruck achten und auch kein falsches Lächeln aufsetzen.

„Ergibt dieses Behauptung irgendeinen Sinn?“, fragte sie, froh, dass ihre Stimme so fest klang. „Du gibst zu, mit einer Jungfrau geschlafen zu haben und nennst mich im nächsten Atemzug ein leichtfertiges Frauenzimmer. Glaubst du, dass deine Logik durch den Whisky gelitten hat?“

„Das eine ist etwas Körperliches. Das andere eine Geisteshaltung, oder vielleicht ein Sinn für Moral. Ich zweifle nicht daran, dass du dich für eine Episode wie diese heute Abend aufgespart hast. Und ich bezweifle auch nicht, dass du deine Berufung schon bald finden wirst.“

Als sie nichts erwiderte, sprach er weiter. „Was? Keine wütende Antwort? Keine Tränen?“

Langsam zog sie ihre Pantalons an und wünschte, allein zu sein, um sich ankleiden zu können.

„Würde es einen Unterschied machen, wenn ich etwas sage?“, fragte sie. Zu ihrer Überraschung klang ihre Stimme noch immer ruhig. Lorna war alles, nur das nicht. Ihr Herz schlug viel zu schnell, und ihre Kehle war wie zugeschnürt.

„Wahrscheinlich nicht“, gab er zu. „Ich würde dir nicht glauben.“

„Ich vermute, dass du niemandem glaubst, oder? Denkst du, die ganze Welt hat es darauf angelegt, den mächtigen Duke of Kinross auszunutzen? Was für ein trauriges Leben muss es sein, wenn man das glaubt. Wie eng und beschränkt.“

Er antwortete nicht, aber sie hatte auch keine Antwort erwartet.

Sie wünschte, sie wüsste, wo die große weiße Perücke war, aber vermutlich war sie bis halb nach Inverness geweht worden. Sie würde das Kleid ohne die Perücke zurückgeben müssen.

Sie stand auf und betrachtete seine schemenhafte Gestalt.

„Ich hielt dich immer für den Prinzen unter den Männern“, sagte sie. „Jetzt weiß ich, dass du das nicht bist. Du bist weniger als das. Ich bin nicht einmal sicher, ob du das bist, was ich unter einem Mann verstehe. Vielleicht eher eine Maus. Eine aufgeblasene, wichtigtuerische Maus, die Angst hat, dass ihr jemand auf den Schwanz tritt.“

Für eine Beleidigung war das eine schwache Bemerkung. Aber sie würde nicht hier stehen und darauf warten, dass ihr etwas Besseres einfiel.

Er war geübter als sie, jemanden zu verletzen. Ihr fiel nicht einmal noch etwas anderes ein, um sich zu schützen. Sie hatte sich wie ein leichtfertiges Frauenzimmer benommen, oder? Ohne ein einziges Wort des Protests war sie in seine Arme gesunken. Sie hatte zugelassen, dass er sie küsste und sie anfasste. Sie hatte nicht nur kapituliert, sie hatte begeistert mitgemacht.

Sie war keine Heuchlerin. In seinen Armen hatte sie nichts anderes als Lust empfunden. Nachdem es nun einmal passiert war, würde sie keine mädchenhafte Scham vortäuschen. Das Schuldgefühl empfand sie deshalb, weil sie nicht besser auf das Kleid aufgepasst hatte, das sie geborgt, nicht, weil sie mit dem Duke geschlafen hatte.

Autor

Karen Ranney
Mehr erfahren