Der Bastardkrieger aus den Highlands

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Ihr Herz schlug heftig, und ihr wurde heiß, eine Hitze, die von ihrer Seele auszugehen schien und ihren ganzen Körper erfüllte. Er würde sie küssen - und dieses Mal wollte sie es. Eingeschlossen im höchsten Turm von Burnbryde Castle, scheint Taras Schicksal besiegelt: In zwei Wochen soll sie den grausamen Sohn des Laird Alwyn ehelichen. Aber noch viel schlimmer als die drohende Ehe ist Taras Wissen, wie sich echte Leidenschaft anfühlt! Denn auf dem Weg nach Burnbryde hat sie ein muskulöser Highlander vor Straßenräubern bewahrt. Einen heißen Kuss hat er ihr geraubt und sie einen süßen Moment lang glauben lassen, er sei ihr Verlobter. Dabei ist Magnus zwar der älteste Sohn des Lairds, aber ein standesloser Bastard, ein heimlicher Rebell - und bestimmt niemand, der ihr verzweifeltes Herz retten könnte … oder doch?


  • Erscheinungstag 22.05.2018
  • Bandnummer 327
  • ISBN / Artikelnummer 9783733734084
  • Seitenanzahl 264
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Magnus erwiderte den Blick des Mannes, den er bis zu diesem Augenblick für den arrogantesten und selbstherrlichsten Hurensohn gehalten hatte, dem zu begegnen er jemals das Unglück gehabt hatte.

Er erschauerte, und die Nacht, die ihn umgab, schien noch dunkler zu werden, als er versuchte, den Worten, die er gerade vernommen hatte, einen Sinn zu verleihen.

„Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?“, murmelte Niall Braewick und trat näher. Seine Züge waren in der Dunkelheit kaum zu erkennen, nur hinter ihm zuckte das Lagerfeuer. „Das Zeichen auf deinem Arm beweist, dass du nicht der Bastard des Alwyn bist, wie man es dich all die Jahre hat glauben lassen. Sondern dass du wie ich ein Sohn des ermordeten Laird Kincaid bist.“

Magnus’ Puls schlug schneller, als er die Worte noch einmal wiederholt hörte.

Er hob eine Hand an sein Genick, dann an seinen Mund, trat von einem Fuß auf den anderen, völlig aus dem Gleichgewicht gebracht von der Vielfalt der Gefühle, die aus den Tiefen seiner Seele emporstiegen und dem donnernden Dröhnen der Worte, die ihm in den Ohren widerhallten.

Der Laird Kincaid. Ein legendärer Highlander, der sich Jahre zuvor gegen die Krone gestellt hatte – und danach eines gewaltsamen Todes starb, unter den allergeheimnisvollsten Umständen. Zusammen mit seiner Frau, seinen Kriegern …

Und mit seinen drei kleinen Söhnen.

Er hatte die Geistergeschichten gehört. Die Lieder, die die Barden sangen. Alle wurden für tot gehalten. Erschlagen. Begraben in irgendeinem geheimen Waldstück, wo es spukte, an einem Ort, den nur die Kincaids kannten, die das Töten in jener schicksalsschweren Nacht überlebt hatten und sich danach in die Hügel hinter Inverhaven zurückgezogen hatten, wo sie lieber das Leben von Wilden lebten, anstatt sich einem anderen Clan oder einem anderen Laird zu unterwerfen.

Lairds so wie sein Vater, der Alwyn. Oder war das doch nicht sein Vater? Zusammen mit ihrem Nachbarn, dem MacClaren, Männer, denen die Krone das angeblich aufgegebene Land der Kincaids zugewiesen hatte, nachdem das Massaker stattgefunden hatte.

Und doch waren die Kincaids erst kürzlich von diesen Hügeln heruntergekommen. Überall um ihn herum feierten diese „Wilden“ ihren Sieg gegen den unterlegenen MacClaren im orangefarbenen Schein der Feuer genauso wie im Schatten, den die Burgmauern von Inverhaven warfen, die sie an einem einzigen Tag zum allgemeinen Entsetzen mit der Unterstützung von Nialls Söldnerarmee zurückerobert hatten.

Und als Nächstes hatten sie dem Alwyn Rache geschworen.

„Wir sind keine Feinde, du und ich.“ Niall – jetzt in Inverhaven als Laird of Kincaid eingesetzt – packte ihn mit festem Griff an den Schultern. „Du bist mein Bruder.“

Magnus’ Freundin aus Kindertagen, Elspeth MacClaren, die erst vor zwei Tagen mit einer List dazu gebracht worden war, den Kincaid zu heiraten, und nun behauptete, diesen Krieger von ganzem Herzen zu lieben, trat an die Seite ihres Mannes. Sie sah ihn fassungslos an.

„Das Zeichen auf Magnus’ Arm ist das gleiche wie deines?“, fragte sie ihren Mann erstaunt.

Das geheime Zeichen auf der Unterseite seines Arms, hoch oben in der Achselhöhle, schien auf Magnus’ Haut zu brennen. Er stand da, kerzengerade und stumm, und wünschte beinahe, er könnte den Augenblick, in dem er enthüllt hatte, dass er das Zeichen trug, zurücknehmen. Er war nur gekommen, um sich zu überzeugen, dass Elspeth in Sicherheit war und dass es ihr gut ging, nachdem ihr Vater besiegt worden war. Stattdessen war seine Welt innerhalb eines Wimpernschlags auf den Kopf gestellt worden.

Er, ein Sohn des Kincaid?

Ein Muttermal, hatte seine Mutter – oder die Frau, die sich selbst während all dieser Jahre als seine Mutter bezeichnet hatte, einst eine Mätresse des Alwyn – ihm zugeflüstert, als er als Junge dieses Mal entdeckt hatte. Ein Teufelsmal, das er niemals jemandem zeigen durfte. Er hatte sich dafür geschämt – hatte nachts wach gelegen, gequält von diesem Zeichen auf seiner Haut, und hatte sein Möglichstes getan, um es zu vergessen.

Aber später, als er älter war, hatte er bemerkt, dass Robinas Erklärung nicht der Wahrheit entsprach.

Das Zeichen – das er selbst kaum sehen konnte aufgrund der speziellen Lage – war weder vom Teufel noch von Gott dort hineingeritzt worden, sondern von einem Menschen mit Tinte und Nadel, eine Tätowierung in der Form eines Wolfskopfs, nicht größer als ein Daumenabdruck.

Aber immer wenn er Robina über die Herkunft dieses Mals befragt hatte, hatte sie sich standhaft geweigert, darüber zu sprechen, und so getan, als hätte sie ihn nicht gehört. Wenn sie gedrängt wurde, antwortete sie verärgert oder brach manchmal auch in Tränen aus, wobei Letzteres ihn stets dazu veranlasste, den Rückzug anzutreten, denn welcher Mann, der ein Herz oder ein Gewissen besaß, wollte seiner Mutter Schmerz zufügen?

Ihr Schweigen zu diesem Thema hatte ihm Kummer bereitet. Hatte neugierige Fragen in ihm aufkommen lassen. Er konnte nur vermuten, dass sie glaubte, ihn vor irgendetwas beschützen zu müssen, auf irgendeine Weise. Aber statt darauf zu beharren, von ihr eine Antwort zu bekommen, oder auf eigene Faust Licht ins Dunkel seiner Vergangenheit zu bringen, hatte er sich darauf konzentriert, der Mann zu werden, der er werden wollte.

Jetzt, in der Gegenwart, kamen die Krieger, die ihn in der Dunkelheit umstellt hatten, näher. Der Schein des Feuers flackerte über ihre Gesichter. Alter Männer, junge Männer. Alles Kincaids, alles Feinde seines Clans.

Nicht sein Clan? Nicht seine – Feinde?

„Das geheime Zeichen!“, rief ein einäugiger alter Mann aus und zog die buschigen grauen Brauen erstaunt hoch.

„Ist das wahr?“, fragte ein zweiter und drängte sich näher, Schulter an Schulter mit anderen, die dasselbe taten.

Magnus riss sich vom Kincaid los und trat zurück, wandte sich ab von dem erdrückenden Gewicht ihrer geballten Neugierde und ihren Erwartungen, ab von dem Feuer und in die tieferen Schatten, wo sie nicht die Verwirrung sehen würden, die sich auf seinem Gesicht spiegelte.

„Aye, es stimmt“, sagte Niall hinter ihm. „Überzeugt euch selbst, wenn ihr müsst. Er ist mein Bruder – der zweite Sohn des Kincaid, wenn ich das richtig beurteile, und sein Name lautet nicht Magnus.“ Er sprach den Namen in einem Tonfall aus, als wäre er eine Beleidigung. „Sondern Faelan.“ Seine Stiefelschritte knirschten auf dem Boden, als er näher kam. „Faelan, mein Bruder. Erinnerst du dich an gar nichts aus deiner Kindheit?“

Faelan … es war ein alter irischer Name, der ‚Kleiner Wolf‘ bedeutete. Der Name eines Heiligen, der Jungen aus den Highlands gegeben wurde, um einen tapferen Missionar zu ehren, der über das Meer gekommen war.

Mein kleiner Wolf. Der Mann in seinen Träumen hatte das voller Liebe und Zuneigung gesagt. Ein Mann, an dessen Gesicht Magnus sich beim Aufwachen niemals erinnerte, aber dessen Geist auch in den Zeiten, in denen er wach war, in seiner Seele zu wohnen schien.

„Nichts von alledem ergibt einen Sinn“, stieß Magnus leise hervor.

Alles ergab einen Sinn.

Er rieb sich mit der Handfläche über die Stirn, denn plötzlich tat ihm der Kopf weh vom heftigen Nachdenken, von dem Bemühen zu verstehen, wie sein Leben einfach so wegfallen und durch ein anderes ersetzt werden konnte.

Ein Leben. Eine Familie, ein stolzes altes Erbe.

Das alles sollte jetzt ihm gehören?

Sein ganzes Leben lang hatte er, soweit er sich erinnern konnte, als fremder und unerwünschter Bastard des Alwyn gelebt. Sollte er jetzt nicht Befriedigung darüber empfinden, dass er gar kein Bastard war, sondern Anspruch hatte auf etwas Bedeutendes? Dass er der Sohn war eines einst mächtigen und angesehenen Lords und seiner Lady? Und der Bruder des Furcht einflößenden Kriegers war, der hinter ihm stand? Sollte er nicht das Gefühl haben, irgendwohin zu gehören, endlich?

Aber das empfand er nicht.

Denn es war ein geklautes Leben. Eine fremde Familie, ein fremder Clan. Ein altes Erbe, verloren an Gewalt, Verrat und Blut. All das war ihm auf grausame Weise genommen worden. Ein Leben voller Liebe, Vertrautheit und Erinnerungen – gestohlen. Und von wem?

Von jenen, unter denen er gelebt hatte, solange er zurückdenken konnte.

Warum?

Eine Hand berührte ihn behutsam an der Schulter, und er zuckte zusammen.

Elspeth sagte: „Magnus – Faelan? Ach, ich weiß nicht, wie ich dich nennen soll! Ich kann nur ahnen, wie du dich fühlst.“

Er wandte sich um und sah in ihr bleiches Gesicht, ehe er an ihr vorbei und weiter nach oben schaute, direkt zu ihrem Ehemann, der wie angewurzelt immer noch an derselben Stelle stand, die Arme vor der Brust verschränkt, den Mund zusammengepresst, während er Magnus wachsam beobachtete, vielleicht sogar mit Misstrauen.

„Ich habe Fragen“, sagte Magnus in grollendem Ton. „Und ich möchte dich bitten, mir Zeit zu geben, sodass ich Antworten finden kann.“

Elspeth nickte, ihr Blick war sanft und voller Mitgefühl. „Aber es ergibt einen Sinn, siehst du das nicht? Du musst eine Verletzung davongetragen haben, ob am Körper oder an deiner Seele, in jener Nacht oder kurz darauf, und das ist der Grund, warum du für eine so lange Zeit stumm geblieben bist, noch Jahre danach, und kein Wort gesprochen hast. Deswegen erinnerst du dich nicht daran.“

Ja, das stimmte. Es hatte immer Leerstellen gegeben. Erinnerungslücken aus seiner frühen Kindheit. Ein verschwommener, nicht genau auszumachender Punkt in der Mitte seiner Existenz. Ein Punkt, der selbst jetzt noch da war.

„Ich erinnere mich – an manche Dinge“, murmelte er.

Schlagende Trommeln. Angst. Schwerter, die aufblitzen, Und Blut. Wenn er voller Entsetzen aufgewacht war und versucht hatte, Robina von den Bildern in seinem Kopf zu erzählen, hatte sie ihm gesagt, dass dies keine Erinnerungen waren, nur Albträume, die er vergessen musste. Er war ein Kind gewesen, und er hatte ihr geglaubt.

„Vorher haben diese Erinnerungen keinen Sinn gehabt“, meinte er. „Jetzt ist das anders.“

Der Kincaid, sein – Bruder, kam näher, die blauen Augen voller Emotionen, funkelnd.

„Dann bleib hier und zieh mit mir gegen den Alwyn. Er trägt die Verantwortung für den Tod unserer Eltern und der Mitglieder unseres Clans. Unser Vater hat den König nicht verraten, und es war kein ehrlicher Kampf, in dem er und die anderen erschlagen wurden. Der MacClaren hat seinen Teil gestanden und auch den Anteil des Alwyn. Es war Mord, ganz eindeutig, motiviert von Gier, um das Land unseres Clans und seine Macht zu rauben.“

Elspeth flüsterte mit großen traurigen Augen: „Das entspricht der Wahrheit.“

Der Kincaid nickte. „Es waren auch Krieger darunter, deren Gesichter und Zugehörigkeit unbekannt blieben, die in jener Nacht von den Hügeln herunterkamen – und weder zum MacClaren noch zum Alwyn gehörten – und das Massaker ausführten. Wir müssen herausfinden, wem sie gedient haben.“ Sein Tonfall wurde eindringlicher. „Faelan, der Alwyn weiß, wer sie geschickt hat.“

Es war zu viel, die Gedanken wirbelten in seinem Kopf durcheinander. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, Zeit, um allein zu sein und zu entscheiden, was zu tun war.

Magnus strich sich mit den Fingern durchs Haar und wich zurück, wobei er murmelte: „Ich muss gehen. Ich – ich werde zurückkehren, sobald – sobald ich kann.“

Seine Schritte knirschten hörbar auf dem Weg, als er sich von ihnen entfernte, weiter in die Dunkelheit hinein.

„Das ist alles?“, rief der Kincaid ihm nach. Seine Stimme klang dumpf und anklagend vor Missbilligung. „Du gehst einfach so weg?“

Magnus blieb stehen und blickte zu Boden. All die Steine, die Erde und das Gras unter seinen Stiefeln. Land der Kincaids.

Sein Land. Sein Erbe.

Er drehte sich um und stellte fest, dass sie alle in einer Reihe standen, Schulter an Schulter, und ihn ansahen.

Er machte einige Schritte auf sie zu, bis er nahe genug war, um seinem Bruder in die Augen zu sehen.

„Ich kenne dich nicht.“ Er ließ den Blick über die Gesichter der anderen gleiten. „Ich kenne keinen von euch. Ihr seid Fremde für mich. Und ja, ich bin wütend darüber.“

Wut. Ja. Das war das, was er empfand. Er wollte seinem Zorn freien Lauf lassen. Er wollte gegen eine Felswand schlagen. Er wollte schreien, bis er heiser war.

„Dann bleib hier“, sagte der Kincaid und trat vor, aus der Reihe heraus. „Nimm deinen Platz hier ein.“

„Ja, bleib“, bat Elspeth.

Er schüttelte den Kopf und holte tief Luft, rang um Selbstbeherrschung, als ihm eine Wut, wie er sie nie zuvor gekannt hatte, durch die Adern toste.

„Brüder. Eine Mutter und einen Vater. Einen Clan.“ Er hob die Hände, während das Feuer in seiner Seele heißer brannte. „Das ist alles, was ich mir je gewünscht habe.“

Er hielt inne und ballte die Hände zu Fäusten.

„Aber es wurde mir weggenommen.“ Das Herz schlug ihm wie rasend in der Brust. „Ich bin schrecklich betrogen worden. Wegen dieses Betrugs habe ich all die Jahre zu Füßen dieses Ungeheuers gelebt, ein Ausgestoßener. Sein Bastard. Der Zweitbeste.“ Wieder sah er Niall in die Augen und nickte dann langsam. „Aye, am Alwyn muss Rache genommen werden, Bruder – aber merke dir eines. Ich werde derjenige sein, der diese Rache durchführt.“

1. KAPITEL

Dies geschah gleichzeitig.

Wach auf, Kind“, sagte die Stimme einer Frau, leise, aber in drängendem Ton. Der fahle Schein einer Laterne fiel auf die steinernen Mauern in Tara Iverachs kleiner Kammer. „Dein Vormund hat uns die Nachricht zukommen lassen, dass er in der Nähe auf Reisen ist und ein Gespräch wünscht.“

Tara richtete sich auf dem schmalen Bett auf. Die schäbige Decke fiel zurück, sodass sie der Kälte ausgeliefert war. Sie erschauerte und zog den Wollstoff wieder hoch bis zu Schultern und Hals. Die Worte von Schwester Agnes hallten ihr in den Ohren wider.

Ihr Vormund – Alexander Stewart, der mächtige Earl of Buchan – hier, an diesem bescheidenen Ort?

Um sie zu treffen?

„Ihr müsst Euch irren“, sagte sie, und ihre Stimme klang noch belegt vom Schlaf.

Sie war ihm noch nie begegnet. Ihr sogenannter Vormund hatte in den fünf Jahren, seit ihre Eltern gestorben waren und er für sie und ihre ältere Schwester Arabel verantwortlich geworden war, noch nie Interesse an ihr gezeigt. Fast sofort hatte er Arabel zu sich gerufen, damit sie bei Hofe vorgestellt werden konnte, während Tara in die Abtei Duncroft geschickt wurde, wo sie seither geblieben war, und nur selten einen Brief von Arabel erhielt – einmal, vielleicht zweimal im Jahr, der sie daran erinnerte, dass sie nicht vollständig vergessen war.

„Ich wünschte, ich würde mich irren“, erwiderte Schwester Agnes mit einem ärgerlichen Hochziehen der Brauen. „Ich würde lieber schlafen, als mich um dich zu kümmern. Jetzt beeil dich. Du musst vor dem Sechsuhrgebet fertig sein.“

Taras Herz machte einen Satz und schlug schneller. Endlich würde sie Buchan treffen – der Mann, der die Herrschaft über ihr Schicksal in Händen hielt. Aber was bedeutete sein Besuch? Würde man sie von Duncroft wegbringen? Würde ihr Leben sich von diesem Tag an irgendwie ändern? Oder kam der Earl einfach nur auf einer seiner Reisen hier vorbei und wollte einen kurzen Blick auf sie werfen, ehe er weiterreiste?

Schwester Agnes griff nach Taras Zopf. Rasch löste sie die Flechten und kämmte Taras Haar mit schnellen, harten Bürstenstrichen aus.

Tara stockte der Atem. Sie verzog das Gesicht und rieb sich die Schläfen.

Dann traten andere ein, zwei verschlafen wirkende Schwestern, die einen kleinen Zuber trugen, und Novizinnen mit Eimern voll dampfend heißem Wasser. Oh – ein richtiges Bad, ein echter Luxus hier. Zweifellos würde man sie hindurchhetzen und ihr keine Zeit lassen, das Bad zu genießen. Tara hatte schon früh begriffen, dass die Schwestern von Duncroft nicht zu den Menschen gehörten, die Zeit mit nutzlosen wenngleich angenehmen Dingen verschwendeten, und sie bezweifelte sehr, dass ihr sehr frühes, hastiges Bad da eine Ausnahme bilden würde. Nachdem sie fünf Jahre unter den Schwestern gelebt hatte, in denen ein Tag genauso wie der vorherige verlaufen war, hatte sie gelernt, keine besondere Aufmerksamkeit oder Zuwendung zu erwarten.

In weniger als einer Stunde stand sie zusammen mit den anderen Bewohnerinnen des Klosters in der Kapelle und sprach ihre Gebete, die Haut rosig geschrubbt und das Haar fest geflochten – und bedeckt, so wie es immer von einem Schleier bedeckt war. Pflichtschuldig murmelte sie die Worte, aber ihre Gedanken schweiften ab.

Ihre optimistischen Gefühle vermochte sie nicht zu unterdrücken. Würde dies vielleicht das letzte Mal sein, dass sie hier stand? Das letzte Mal, dass sie dieses formlose graue Gewand trug? Das war eine beinahe zu gewaltige Hoffnung. Nach all den Jahren des stillen, ereignislosen Klosterlebens war sie zu der Ansicht gelangt, dass sie hier für immer eingeschlossen sein würde, von allen vergessen, ihr Leben ungelebt – und mit einem Herzen, das nie geliebt hatte.

Nicht dass die anderen Frauen, die in dem Kloster lebten, ein belangloses oder unerfülltes Leben führten. Sie hatten sich entschieden, ihr Leben Gott zu widmen, und bemühten sich jeden Tag, ihre Gedanken und ihre Energie auf ihn zu richten.

Nun, die meisten von ihnen hatten selbst die Entscheidung getroffen, hier zu sein. Andere lebten zwar hier, aber nicht, weil sie dieses Dasein selbst so gewählt hatten. Da gab es Lady Gavina, eine lebhafte und betörende Adelige, die hier etwa um dieselbe Zeit wie Tara hergebracht worden war, allerdings von einem Ehemann, der behauptet hatte, sie sei verrückt, damit er sie loswerden und ihre hübschere und weitaus jüngere Cousine heiraten konnte.

Lady Gavina war nicht die einzige angeblich verrückte Ehefrau im Kloster Duncroft. Tatsächlich gab es eine Reihe von Kammern, gleich neben Taras, von denen jede von einer tobenden Wahnsinnigen bewohnt wurde, und doch tobte keine von ihnen jemals oder war etwa wahnsinnig. Darunter gab es einige, denen Ehebruch vorgeworfen wurde.

Einige der betroffenen Ladys schienen vollkommen damit zufrieden zu sein, hier in der Ruhe und Stille zu leben, weg von all dem Durcheinander, das sie hierhergeführt hatte. Tatsächlich verließen nicht wenige unter ihnen ihre Kammern nur zum Beten.

Andere sehnten sich danach, wenigstens einen Teil des Lebens wiederzubekommen, das sie zurückgelassen hatten. So wie Tara. Sie erinnerte sich an glückliche Szenen, die ihr Leben ausgemacht hatten, bevor ihre Eltern gestorben waren. Jetzt, da sie kein Kind mehr war, wollte sie bei Festen und Turnieren dabei sein, wie ihre Schwester sie in ihren Briefen beschrieb. Sie wollte mit Freundinnen klatschen, tanzen und lachen, wollte jungen Männern vorgestellt werden und mit ihnen flirten – Geschöpfen, auf die sie in den fünf langen Jahren hier nie auch nur einen Blick hatte werfen können. Ihre Brust war vor Sehnsucht und Hoffnung wie zugeschnürt.

Sie wollte leben.

Und jetzt kam Buchan. Vielleicht würde er sie jetzt, da sie zwanzig Jahre alt war, bei Hofe vorstellen, so wie er es mit Arabel getan hatte, und sie und ihre Schwester könnten ihre Tage gemeinsam verbringen, wie sie es getan hatten, als sie noch klein gewesen waren. Vielleicht nicht jeden Tag, weil Arabel bald heiraten würde, wenn sie es nicht schon getan hatte, denn in dem letzten Brief, den sie vor mehreren Monaten geschrieben hatte, hatte sie Tara die Neuigkeit mitgeteilt, dass der Earl sie mit dem ältesten Sohn eines mächtigen Verbündeten namens Alwyn verlobt hatte.

Alwyn. Das war ein Name, den Tara noch nie zuvor gehört hatte, aber sie hörte nur wenig innerhalb dieser ruhigen Mauern. Unglücklicherweise war Arabel schon immer als Briefschreiberin eine Enttäuschung gewesen, und wie üblich mangelte es auch diesem Brief an den Details, nach denen Tara sich so sehr sehnte. War Buchan ein freundlicher und umsichtiger Vormund, der bei dem, was er tat, Arabels Glück im Blick hatte? War sie zufrieden mit der Wahl, die er in Bezug auf ihren Ehemann getroffen hatte? Würde sie für diesen Anlass ein neues Kleid bekommen? Falls ja, würden Glassteine oder Perlen eingewebt sein? Oder gar beides? Stattdessen erfuhr Tara nur sehr wenig über das Temperament des Earls, und was sie von ihm als Vormund zu erwarten hatte, und ob Arabel überhaupt glücklich war oder nicht …

Gerade als die Gebete beendet waren, vernahm Tara von hinten ganz plötzlich das aufgeregte Flüstern weiblicher Stimmen. Sie warf einen Blick über die Schulter zurück und bemerkte zwei dunkelhaarige junge Männer mit kantigen Zügen, von denen jeder eine feine Tunika aus Leder trug, dazu mit Silber beschlagene Gürtel. Ihre Stiefel waren schlammbespritzt. Sie spähten in den Raum, mit geröteten Wangen, das Haar zerzaust, als hätten sie eine lange Reise hinter sich. Ihr Lächeln war überheblich, jedenfalls erschien es Tara so, obwohl sie nicht gerade behaupten konnte, eine Expertin für männliches Mienenspiel zu sein. Einige der jüngeren Frauen aus der Gruppe der Wahnsinnigen und Ehebrecherinnen lächelten den beiden zu.

Ein älterer Mann mit einem kurz geschnittenen dunklen Bart und gebieterischer Haltung trat zu ihnen, schob sich zwischen ihnen hindurch. Seine Miene drückte Ungeduld aus. Alle drei Männer hatten ähnliche kräftige Nasen und dunkle Augen, die zeigten, dass sie miteinander verwandt waren. Taras Pulsschlag beschleunigte sich. Das musste Buchan sein. Sie hatte ihn sich älter vorgestellt, mit grauem Haar.

„Wo ist mein Mündel?“, fragte er herausfordernd. „Kommt schon, meine Zeit ist kostbar. Vergeudet sie nicht.“

Schwester Agnes kam rasch auf ihn zu, nickte und streckte den Arm in Taras Richtung aus. „Mistress Iverach, hier entlang.“

Auch Tara bewegte sich nun schnell, weil sie nicht wollte, dass man sie anschrie, weil sie trödelte. Die anderen Damen traten zurück und beobachteten die Szene. Als Tara sich den Besuchern näherte, ruhten drei Paar Männeraugen auf ihr. Es war Jahre her, dass sie die Aufmerksamkeit von irgendjemandem außer ihren Mitbewohnerinnen auf sich gezogen hatte. Ihre Wangen verrieten ihre Verlegenheit – sie errötete.

Für einen winzigen Moment sah sie dem Earl in die Augen – und er durchbohrte sie mit forschendem Blick.

„Mylord“, flüsterte sie, neigte den Kopf und knickste, wie ihre Mutter es ihr vor so vielen Jahren beigebracht hatte, die Arme leicht ausgestreckt.

„Mistress Iverach“, sagte er leise. „Wie – reizend Ihr ausseht.“

„Hier entlang“, sagte Schwester Agnes.

Tara blieb stehen und wartete, dass die Männer der Schwester folgten, aber sie sahen sie nur schweigend und amüsiert an.

Der Earl bedeutete ihr, vorauszugehen. „Ich bestehe darauf.“

Sie senkte den Blick und eilte Schwester Agnes hinterher. Die Geräusche der schweren Stiefelschritte auf dem Steinboden hallten von den Wänden wider, und sie fühlte die Blicke der Männer auf ihrem Rücken. Vielleicht lag es nur an ihrer Unerfahrenheit im Umgang mit Männern, aber der Earl und seine Begleiter schienen etwas ausgesprochen Beunruhigendes an sich zu haben. Obwohl sie gut aussahen und offenbar ausgezeichnete Manieren besaßen, umgab sie etwas Einschüchterndes und – Raubtierhaftes, das sie wachsam werden ließ. Geschah das mit Absicht? Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass genau das der Fall war.

Ihr Vormund war ein mächtiger Mann – der jüngste Sohn des Königs. Das war ihr bewusst. Dennoch hatte sie gehofft, eine andere Sorte Mann zu treffen, jemanden, der herzlicher und freundlicher war, zu dem sie wie zu einer Vaterfigur aufsehen konnte.

Und doch – war es nicht falsch von ihr und mehr als nur ein bisschen dumm, ein Urteil zu fällen aufgrund von einigen wenigen Momenten, die sie zusammen verbracht hatten? Sie war nur aufgeregt, weil sie Buchan noch nie zuvor begegnet und an die Gesellschaft von Männern nicht gewöhnt war. Und ganz gewiss hätte Arabel sie gewarnt, falls der Earl kein ehrenwerter Mann gewesen wäre.

Zweifellos waren Buchan und die Männer, die ihn begleiteten, nur müde von der Reise und hungrig und nicht in der besten Verfassung, so wie es ihr auch gegangen wäre unter denselben Umständen. Sie musste ihrer Dankbarkeit Ausdruck verleihen, dass er extra einen Umweg auf sich genommen hatte, nur um sich mit ihr zu unterhalten, und, was noch wichtiger war, ihr Herz und ihren Verstand offen lassen. Wäre ihre Mutter noch am Leben gewesen, hätte sie darauf bestanden. Und außerdem: Wenn sie ihn beeindruckte, dann würde er ihr vielleicht erlauben, das Kloster zu verlassen für ein Leben außerhalb dieser Mauern, wenn er das nicht ohnehin schon vorhatte.

Schwester Agnes führte sie in einen Raum, in dem ein großer Tisch mit einem üppigen Frühstück gedeckt war. Als Tara zusammen mit den Männern eintrat, zog die Schwester sich zurück und blieb neben der Tür stehen wie eine stumme Statue, eine schweigende Beobachterin. Der Duft von frisch gebackenem Brot, Fleisch und Eiern hing in der Luft und weckte in Tara ein heftiges Hungergefühl, hatte sie doch noch nichts gegessen. Sie trat an den Kamin, bis sie seine Wärme durch ihre Kleidung spürte, und drehte sich dann zu ihren Besuchern mit einer, wie sie hoffte, freundlichen Miene um.

„Willkommen, Mylord“, sagte sie. „Ich freue mich so sehr, Euch endlich kennenzulernen.“

„Hm, ja“, erwiderte der Earl. Er kam auf sie zu und stand dann so nahe vor ihr, dass sie den Duft nach Erde und Feuchtigkeit wahrnehmen konnte, der ihm in der Kleidung hing. „Und ich freue mich darüber, Euch kennenzulernen.“

Er lächelte ein wenig schief, sodass seine Zähne auf einer Seite sichtbar wurden – ein Ausdruck, der ihr eher überheblich erschien und weniger wie eine Begrüßung, die Ehrlichkeit und Herzlichkeit ausdrückte. Sein Blick, streng und prüfend, glitt über ihr Gesicht, dann über ihre Gestalt, in einer Art und Weise, die in ihr den Wunsch weckte zurückzuweichen. Sich abzuwenden. Stattdessen zwang sie sich dazu stillzustehen, die Arme seitlich am Körper, die Schultern gerade.

Sie hörte einen der Begleiter leise lachen, wusste allerdings nicht, wer von beiden das war.

Innerlich war sie empört, denn das Lachen kam einer Beleidigung gleich. Es war weder vornehm, noch gehörte es sich für einen Edelmann, einer jungen Frau das Gefühl zu geben, sie sei das Objekt irgendeines geheimen Scherzes.

Sie sah zu ihrem Vormund hin, voller Hoffnung und in der Erwartung, dass er sich im nächsten Augenblick entschuldigen würde.

Aber Buchans Lächeln wurde noch eine Spur breiter – als wäre auch er überaus belustigt – und dann verschwand das Lächeln vollständig aus seinem Gesicht. Er sah sie von oben herab an, während er erst den einen, dann den anderen seiner Lederhandschuhe auszog.

„Wie Ihr bereits vermutet habt, bin ich Euer Vormund Buchan. Dies sind meine Söhne. Duncan Stewart, mein Ältester …“ Mit der Hand, in der er die Handschuhe hielt, deutete er auf den einen, der ein breiteres Gesicht hatte und eine Locke, die ihm in die Stirn fiel, und der jetzt ernsthaft nickte – und dann auf den anderen, der ihr kühn in die Augen sah wie ein vor Selbstsicherheit strotzender, scharfäugiger Wolf. „Und das ist Robert.“

Also waren die drei Männer tatsächlich miteinander verwandt, ganz so, wie sie es vermutet hatte. Obwohl sie bereits beschlossen hatte, dass sie keinen von ihnen besonders mochte, grüßte Tara jeden von Buchans Söhnen mit einem Nicken.

Der Earl steckte seine Handschuhe in den breiten Gürtel, den er um die Taille trug, aber seine Blicke – mit seinen Blicken verschlang er sie.

„Und Ihr, Mistress Iverach, Ihr seid – kein Kind mehr“, murmelte er. Der Earl trat noch näher auf sie zu, ging langsam um sie herum, kam ihr dabei so nahe, dass sie seinen Atem auf ihrer Wange spürte und die Wärme seines Körpers durch das Leder, mit dem er bekleidet war. Er war ihr so nahe, dass die Härchen an ihrem Nacken sich alarmiert aufstellten. „Ihr seid eine erwachsene Frau.“

Er stand viel zu nahe bei ihr. Und die Art und Weise, wie er sie ansah …

„Eine erwachsene Frau, in der Tat“, wiederholte er mit heiserer Stimme.

Er verursachte ihr ein Gefühl äußersten Unbehagens. Fragend sah sie Schwester Agnes an, aber die stand bewegungslos und mit versteinerter Miene da und beobachtete alles schweigend.

Ganz plötzlich hob er hinter ihr den Arm und umfasste ihre Schulter. Sie holte erschrocken tief Luft.

„Habt keine Angst“, sagte er leise.

„Ich habe keine Angst“, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

Sollte sie Angst haben?

In jenem Augenblick war sie einfach wie gelähmt. Sie mochte seine Berührung nicht – fast eine Umarmung, eine grobe Umarmung, mit der er sie an seine Schulter und seine Hüften zog. Es kam viel zu plötzlich und war viel zu intim und sollte zweifellos dazu dienen, ihr seine Macht über sie zu zeigen.

Aber er war ihr Vormund, und sie musste ihm gehorchen – oder nicht? Das hatte man sie gelehrt, seit ihrer Geburt, es gehörte sich so für eine wohlerzogene junge Frau. Dass sie ihren Vater zu respektieren hatte, und genauso die Männer, die ihr Vater respektierte, und ihr Vater hatte diesen Mann ausgewählt, der Vormund für sie und für Arabel zu sein.

„Was sehe ich denn da?“, rief er und hob die andere Hand.

Sie zuckte zusammen, wohl wissend, dass er sie wieder berühren würde.

„Sir!“, protestierte sie leise, aber energisch.

„Seid still“, befahl er.

Er packte sie am Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen, dabei kamen ihre Gesichter einander so nahe, dass sie seinen Atem roch – Tabak vermischt mit Ale. Doch dann ließ er ihr Gesicht los und entfernte mit einer raschen Drehung des Handgelenks ihren Schleier.

Sie stand kerzengerade da und regte sich nicht, als er den Blick von ihrem Gesicht zu ihrem Haar gleiten ließ.

„Wie äußerst ungewöhnlich“, meinte er, und seine Nasenflügel bebten dabei. Er packte sie am Arm. „Diese Farbe – so ganz anders als bei Eurer Schwester.“

Oft wurde behauptet, dass sie und Arabel sich überhaupt nicht ähnlich sahen, aber das stimmte nicht. Ihre Züge waren ähnlich. Nur war Taras Haar rot, wie das ihres Vaters, während Arabel braunes Haar hatte. Rotes Haar war nichts Ungewöhnliches, aber ihr war häufig gesagt worden, dass dieser ganz besondere Farbton …

Die Stimme des Earls klang rau. „Haar wie dieses kann einen Mann auf sündhafte Gedanken bringen.“

Ihr wurde übel. Die Schwestern im Kloster hatten eine ähnliche Meinung vertreten, die sie in Verlegenheit brachte.

Noch immer unter seinem durchdringenden Blick, wurden Taras Wangen flammend rot, während der Earl sie mit weitaus mehr Interesse, als es der Anstand zuließ, musterte – in Anbetracht der Tatsache, dass er ihr Vormund und, soweit sie es wusste, ein verheirateter Mann war. Der Augenblick fühlte sich falsch an, und davon schlug ihr Herz schneller.

Dieser Mann war gefährlich.

Ja, er machte ihr Angst.

Sie befreite sich aus seinem Griff und trat einige Schritte zurück, dann wandte sie sich dem Feuer zu. Sie holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. Versuchte zu überlegen, wie sie mit ihm reden sollte, um zwischen ihnen Distanz zu schaffen und ihn dazu zu bewegen, sich ihr gegenüber anständig zu verhalten. Respekt. Sie musste von ihm Respekt verlangen.

Sie drehte sich zu ihm um und setzte dabei eine freundliche Miene auf.

„Mylord, sagt mir, wie geht es meiner Schwester?“, fragte sie, und sie klang dabei ein wenig unsicher. „Arabel. Welche Neuigkeiten könnt Ihr mir von ihr berichten?“

Vielleicht sollte sie ihm nicht wieder in die Augen sehen – denn was sie da entdeckte, ließ sie unter einer dunklen Vorahnung erzittern. Etwas Animalisches und Grausames blickte ihr aus diesen Augen entgegen, aus den finsteren Tiefen seiner dunklen Seele.

Hinter ihm sahen seine beiden Söhne ihnen aufmerksam und schweigend zu.

Der Earl richtete seine Aufmerksamkeit auf einen Punkt hinter ihrer Schulter, zu Schwester Agnes. „Könntet Ihr – könntet Ihr uns bitte allein lassen? Sodass wir ein Gespräch unter vier Augen führen können?“

Tara betete selten außerhalb der Morgen-, Mittag- und Abendgebete, aber in diesem Moment betete sie, und zwar mit Inbrunst. Unter gar keinen Umständen wollte sie mit diesem Mann und seinen wilden Söhnen allein gelassen werden.

Schwester Agnes’ Antwort kam ohne Zögern. „Vergebt mir, Mylord, aber das kann ich nicht. Es ist im Kloster nicht üblich, eine junge Dame mit einem Mann allein zu lassen, der weder ihr Vater noch ihr Ehemann ist.“

Tara unterdrückte einen Seufzer der Erleichterung.

Ein missbilligender Ausdruck huschte über das Gesicht des Earls. Seine Nasenflügel bebten wieder und verrieten dadurch noch deutlicher seine Missbilligung.

„Ich bin ihr Vormund“, erwiderte er streng.

Taras Erleichterung verflog. Würde er Forderungen stellen und widersprechen, bis seinem Willen Genüge getan wurde?

Die Nonne entgegnete vollkommen gefasst: „Was bedeutet, dass Ihr weder ihr Vater noch ihr Ehemann seid.“

In diesem Augenblick entschied Tara, dass sie Schwester Agnes liebte.

Buchan kniff drohend die Augen zusammen und runzelte die Stirn. „Muss ich Euch an die großzügige Unterstützung erinnern, die ich den Schwestern dieser Abtei zukommen lasse, als Gegenleistung für den Aufenthalt meines Mündels hier?“

Taras Herz schlug schneller, als er weiterhin auf seiner Forderung bestand.

„Nein, Mylord“, gab Schwester Agnes zurück, ohne dass sich ihre Miene verändert hätte. „Das müsst Ihr nicht.“

Der Earl lächelte triumphierend. „Also …“

Schwester Agnes richtete sich kerzengerade auf, die schlanken Hände vor der Taille ihres Nonnengewandes gefaltet. In ihren Augen funkelte es herausfordernd. „Wie ich schon sagte, ist es nicht üblich im Kloster, eine junge Dame allein zu lassen mit einem Mann, der nicht ihr Vater oder ihr Ehemann ist, wer er auch sein mag.“

Buchan blickte zur Decke und stieß ein lautes Stöhnen aus. Duncan kicherte belustigt und ging zum Tisch, wo er sich einen Krug Ale einschenkte, und setzte sich dann breitbeinig auf einen Stuhl. Robert trat zu ihm und reichte seinem Bruder einen Kelch, damit er auch ihm einschenkte. Hinter ihnen klapperten die Fensterläden, als der Herbstwind mit einer starken Böe dagegen schlug.

Der Earl drückte Tara den zerknitterten Schleier in die Hände. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust und ging ein paar Schritte hin und her. Im nächsten Moment wandte er sich zu ihr um, kniff die Augen zusammen und sagte deutlich: „Dieses Mal bin ich gekommen, mein liebes Kind, weil es an der Zeit für Euch ist zu heiraten.“

Der Boden glitt ihr unter den Füßen weg – oder jedenfalls kam es ihr so vor.

„Heiraten“, wiederholte sie leise.

Meinte er das ganz allgemein oder war bereits eine Vereinbarung getroffen worden? Sie hatte gehofft, an den Hof gehen zu können und für eine Weile ein Leben weitab vom Kloster und seinen strengen Regeln führen zu können, nicht geradewegs mit einem Fremden verheiratet zu werden …

Aber nach dem, was bisher geschehen war, ermahnte sie sich, vorsichtig im Umgang mit dem Earl zu sein. Sie erinnerte sich in diesem Augenblick an Arabels Worte. Die Schwester hatte ihr geraten, geduldig zu bleiben, als sie sich darüber beklagt hatte, so über Gebühr lange im Kloster bleiben zu müssen, und den Earl nicht zu verärgern …

Tara stockte der Atem. Vielleicht hatte ihre Schwester sie gewarnt, so gut es ihr eben möglich war, und sie, in ihrer Naivität, hatte das nicht erkannt. Vielleicht hatte Arabel ihr nicht die Wahrheit sagen können. Was, wenn sie daran gehindert worden war, das zu tun? Jemand konnte ihre Briefe gelesen haben. Ein Diener, der beim Earl in Lohn und Brot stand – irgendjemand. Und der sich geweigert hatte, irgendetwas abzuschicken, was nicht seine Billigung fand.

Das war ein schrecklicher Gedanke – ein Gedanke, an den sie nicht glauben wollte. Aber stimmte das vielleicht? Sie wusste es nicht. Vielleicht schuf sie hier wilde Fantasien, nur weil ihre Schwester tatsächlich die Eigenschaften des Earls niemals erwähnt hatte, weil er als Vormund nicht präsent war, so wie Tara es auch erlebt hatte. Ein Mann, der ausgedehnte Reisen unternahm und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmerte. Diese Erklärung ergab genauso viel Sinn.

Sie würde die Wahrheit erst erfahren, wenn sie wieder mit ihrer Schwester zusammen war. Wirklich, das war alles, was zählte. Dass sie und Arabel wieder zusammen sein konnten, auch wenn es nur für eine Weile war. Sodass sie mit eigenen Augen sehen konnte, dass ihre Schwester in Sicherheit war und dass es ihr gut ging, dass sie glücklich war. Der einzige Weg, diesen Wunsch zu erfüllen, bestand darin, ein gutes Verhältnis zu ihrem Vormund zu haben, wenigstens für den Augenblick.

„Jawohl, Mylord.“ Pflichtschuldig neigte sie den Kopf, auch wenn ihr das Herz in die Kniekehle rutschte.

Er zog einen Mundwinkel hoch und schenkte Tara damit ein halbes Lächeln. Dann hob er eine Hand und strich ihr mit den Fingerknöcheln über die Wange.

„Braves, gehorsames Mädchen.“

Er ging zum Kamin, streckte die Hände aus und rieb sie aneinander, um sie zu wärmen.

„Meine Schwester“, begann sie mit leiser, demütiger Stimme. „Es ist fünf Jahre her, seit ich sie zum letzten Mal gesehen habe. Ich würde sie so gern treffen, ehe ich verheiratet werde. Hält sie sich in Edinburgh auf, oder …?“

„Für Euch ist eine vorteilhafte Heirat arrangiert worden“, sagte der Earl und sprach zum Kaminsims, als hätte er sie nicht gehört. „Ihr werdet so schnell wie möglich in Euer neues Heim gebracht, und dort werdet ihr den Sohn des Alwyn heiraten, eines mächtigen Lairds im Norden.“

Der Laird Alwyn.

Auch wenn sie nichts über die Highlands wusste, füllte sich ihr Herz ganz plötzlich mit solcher Freude, als sie diesen vertrauten Namen hörte – einen Namen, den ihre Schwester in ihrem letzten Brief erwähnt hatte, als Namen ihres Verlobten.

„Mit einem jüngeren Sohn des Lairds?“ Sie nickte glücklich. „Also wird auch meine Schwester dort sein, mit ihrem Ehemann, dem älteren Sohn des Alwyn?“

„Nein“, erwiderte ihr Vormund schroff.

Er trat zum Tisch, wo seine Söhne sich mit Heißhunger auf ihr Mahl gestürzt hatten. Er musterte die Speisen, die vorbereitet worden waren.

„Nein?“, fragte sie leise.

Der ältere Mann blickte sie über die Schulter hinweg an, schüttelte den Kopf und sah dabei aus, als würde er an etwas ganz anderes denken. Als interessierte er sich jetzt mehr für das Essen als für sie. Er setzte sich, nahm Duncans Kelch und trank daraus, dann griff er nach einer der Platten. „Ihr werdet das Glück haben, den ältesten Sohn zu heiraten. Sein Name ist – Howard oder …“ Er machte eine Handbewegung. „Hugh.“ Er zögerte und nickte dann. „Ja, genau. Er heißt Hugh.“

Hugh. Aber so hieß der Verlobte ihrer Schwester. Taras Brust war wie zugeschnürt.

Tara machte einen Schritt auf Buchan zu. „Sollte nicht Arabel Hugh geheiratet haben?“

Buchan drehte sich zu ihr um, in der Hand die Keule eines Kapauns.

„Das wird sie jetzt kaum noch tun können, oder?“, sagte er ruhig.

Der Earl nahm einen Bissen, kaute dann langsam, während seine Lippen von Fett glänzten und sein Blick härter wurde. Dann sah er sie an. Taras Herzschlag drohte auszusetzen, als sie eine leise Warnung spürte, eine unwillkürliche Furcht.

„Ich verstehe nicht, was Ihr meint“, flüsterte sie.

Seine Söhne hörten auf zu essen, sahen erst ihren Vater an, dann einander.

Der Earl schluckte, und seine Augen wurden so schwarz wie die eines Raben. „Was ich damit sagen will, ist, dass Eure Schwester tot ist. Und dass Ihr ihren Platz einnehmen werdet.“

Der Boden unter ihren Füßen schien sich zu öffnen, und in diesem Moment hatte Tara das Gefühl, in endlose Dunkelheit zu stürzen. Arabel. Tot? Sie betete, dass sie sich verhört hatte. Dass dies ein schrecklicher Traum war, und dass sie aufwachen würde, aber das geschah nicht. Stattdessen hallten Buchans Worte in ihrem Kopf wider, und sie brachen ihr das Herz. Heftige Trauer erschütterte sie, so sehr, dass sie kämpfen musste – um den nächsten Atemzug ringen musste.

„Wie?“, stieß sie hervor, und Tränen traten ihr in die Augen. „Wann?“

„Vor ungefähr vierzehn Tagen. Ein Fieber – glaube ich.“ Er sah Duncan an. „Oder war das das alte Schlachtross, die Frau von McGrayvan?“

Duncan zuckte mit den Schultern.

Buchan sah sie wieder an. Seine Miene war ausdruckslos. „Ich bin ein wichtiger Mann, meine Liebe. Ich erhalte viele wichtige Briefe über viele wichtige Dinge. Gewiss versteht Ihr, dass man von mir nicht erwarten kann, dass ich mir alles merke. Sie ist tot. Ist das nicht das Einzige, was zählt? Und jetzt müssen wir weitermachen.“

Weitermachen? Konnte er gleichgültiger umgehen mit dem Tod ihrer einzigen Schwester? Und grausamer in der Art, wie er die Nachrichten überbrachte? Oh, Arabel – ihre liebe Schwester! Ihre Freundin. Die einzige Verwandte, die sie noch gehabt hatte.

Tara starrte ihn an, wie benommen von Kummer und Wut. „Ich werde den Verlobten meiner toten Schwester nicht heiraten!“

Sie würde nichts von dem tun, was dieser schreckliche Mann sagte. Sie würde ihren eigenen Weg finden, von diesem Augenblick an.

Der Earl starrte an die Decke und musterte dann den glänzenden Knochen in seiner Hand. „Seid nicht anstrengend. Natürlich werdet Ihr das tun. Das ist es, was junge Damen aus guter Familie tun. Sie heiraten.“ Wieder sah er sie durchdringend an. „Sie tun das, was man ihnen sagt.“

Sie richtete sich auf. „Ich wünsche, dass Ihr die Verlobungsvereinbarung auflöst, denn ich beabsichtige, nach Menteith zurückzukehren.“

Der Sitz ihrer Familie. „Ich bin zwanzig Jahre alt – und ich werde von nun an dort leben. Der Verwalter wird mir helfen bei allem, was zu tun ist …“

„Wenn das nur möglich wäre“, unterbrach der Earl sie, riss ein Stück Brot ab und schob es sich in den Mund. „Aber für Menteith gilt dasselbe wie für Arabel – es ist nicht mehr da.“

Ungläubig schüttelte Tara den Kopf. „Was meint Ihr damit, nicht mehr da?“

Angst drohte von ihr Besitz zu ergreifen. Sie wollte hören, was er als Nächstes zu sagen hatte, und fürchtete die Worte doch zugleich.

Er nickte und trank einen Schluck Ale. „Es wurde mir übereignet …“

„Nein!“, schrie sie.

„… mit voller Zustimmung Eurer Schwester“, brüllte er zurück, das Gesicht eine Maske des Zorns – ehe er wieder mit normaler Stimme weitersprach und seine Züge ihre frühere Ausdruckslosigkeit annahmen. „Hat sie Euch das nicht erzählt? Das tut mir leid. Das war falsch von ihr, das war es wirklich, aber an den Tatsachen ändert das nichts. Die Ländereien lagen so weit entfernt von ihrem neuen Zuhause, und sie konnte sich nicht darum kümmern. Weder hatte sie die Reife noch das Wissen, um einen derartigen Besitz zu führen.“

„Ihr habt sie uns gestohlen“, fuhr sie ihn an.

Arabel war immer sanft und vertrauensvoll gewesen. Tara konnte nur ahnen, wie sie bedrängt oder überlistet worden war, sich Buchans Wünschen zu fügen.

Er kniff die Augen zusammen, als er sie jetzt ansah. „Seid vorsichtig mit Euren Anschuldigungen, Kind. Ich wünsche nicht, dass unsere liebevolle Verbindung zerstört wird. Für Eure Ländereien gab es eine angemessene Entschädigung, und als einzige Erbin von Iverach werdet Ihr alles erben …“

„Dann gebt mir mein Vermögen“, verlangte sie und wischte sich die Tränen von den Wangen.

Sie würde sich nicht von ihm abhängig machen. Sie würde fortgehen und woanders leben. Irgendwo, wenn nötig, im Ausland – weit weg von diesem Mann und seinen Machenschaften.

„Tatsächlich“, sagte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ich werde Euer Erbe mit Vergnügen abgeben, in vollem Umfang – an Euren Gemahl, Hugh of the Alwyns, in Form Eurer Mitgift.“

Erst vor wenigen Stunden war sie in Erwartung eines neuen Tages erwacht, und in dieser kurzen Zeit war das Leben, wie sie es bisher gekannt hatte, auseinandergerissen worden. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als dass ihre Mutter und ihr Vater noch am Leben wären. Ihre Schwester. Auf Menleith zu sein, umgeben von vertrauten Gesichtern und Gegenständen. Dass die Dinge noch so sein würden, wie sie einst gewesen waren. Aber das Leben würde nie mehr so sein wie zuvor.

„Welch verabscheuungswürdiger Mann Ihr doch seid“, sagte sie und wich zurück, schmiedete in Gedanken schon Fluchtpläne.

Sie hatte viele Fähigkeiten. Sie beherrschte feine Stickereien. Sie konnte lesen und schreiben in mehr als nur einer Sprache. Sie würde in einem adligen Haushalt eine Anstellung als Dienstmädchen finden oder, wenn nötig, als Lehrerin und unter einem anderen Namen leben, bis sie herausgefunden hatte, was sie jetzt tun sollte. Wie sie es rechtlich erwirken könnte, dass Buchans Vormundschaft über sie endete. Es musste einen Weg geben.

Sie bewegte sich in Richtung Tür und stellte fest, dass Schwester Agnes dort auf sie wartete, in den Augen ein Ausdruck des Mitgefühls. Die Nonne streckte eine Hand nach ihr aus, legte ihr den Arm tröstend um die Schultern, während sie die Tür öffnete.

Und doch erstarrte Tara, ehe sie den Raum verließen, als sie Buchans Stimme hörte.

„Mistress Iverach.“

Sie stand kerzengerade da und lauschte.

„Macht Euch bereit, um morgen früh bei Tagesanbruch abzureisen. Und Duncan …“

„Ja, Mylord?“, erwiderte sein Sohn.

„Stell Wachen vor Mistress Iverachs Kammer auf, und auch vor ihrem Fenster. Ich möchte, dass sie heute Nacht ruhig schläft und sich nicht damit erschöpft zu versuchen, kindische, unkluge Pläne auszuführen.“

2. KAPITEL

Vierzehn Tage später.

Irgendwann zwischen dem ersten Hahnenschrei und dem Sonnenaufgang erwachte Magnus in seiner kalten, dunklen Kammer. Der Wind stöhnte und seufzte durch die Läden.

Er war ein Kincaid.

Er war immer ein Kincaid gewesen.

Das Blut seiner Vorfahren rauschte in seinen Adern.

Ein Funke flatterte auf, heiß und brennend, tief in seiner Seele, fiel in den Zunder – seinen Hass. Vierzehn Tage waren vergangen, seit er die Feuer in Inverhaven verlassen und sein Leben sich vollkommen verändert hatte. Sein Lebensweg – für immer ein anderer.

Seit er nach Burg Burnbryde zurückgekehrt war, hatte er die Tage so wie immer durchlebt, hatte geschwiegen über alles, was er erfahren hatte, und äußerlich sich nichts anmerken lassen von den Racheplänen, die er hegte. Er hatte seinen Hass unter Kontrolle gebracht und hütete ihn, während er mit den aufmerksamen Blicken eines Attentäters den Mann beobachtete, den er vernichten wollte – den Laird Alwyn.

Nicht seinen Vater.

Den Mörder seines Vaters.

Nachdem der Nebel des Zorns, der in jener ersten Nacht von ihm Besitz ergriffen hatte, sich gelichtet hatte, war die erste Frage, die er sich selbst beantworten musste, die, ob der Laird wohl Bescheid wusste über die wahre Identität seines angebliches Sohnes. Ob er irgendeinen Anteil hatte an der Lüge, die sein Leben jahrelang gewesen war.

Magnus – denn er fühlte sich noch immer nicht wohl dabei, an sich selbst als Faelan zu denken – hatte kurz über die Möglichkeit nachgedacht, dass er im Alter von zehn Jahren nach Burnbryde als Kriegsbeute gebracht worden war, damit man sich an ihm ergötzen und ihn quälen konnte zur Unterhaltung des Mannes, der seinen Clan vernichtet hatte. Diesen Gedanken hatte er schnell wieder verworfen. Die einzige Qual, die der Alwyn ihm zugefügt hatte, als er ein Junge gewesen war, war vollkommene und absolute Gleichgültigkeit, die bis zu diesem Tag reichte.

Magnus legte sich auf den Rücken, holte tief Luft und starrte hinauf zur Decke. Sein Atem bildete Wolken in der kalten Nacht. Dies war die Zeit des Tages, die er am liebsten hatte, wenn er in der Stille nachdenken, überlegen – und Pläne schmieden konnte.

Der Alwyn war auch kein freundlicher und gnädiger Mann. Es war einfach nicht denkbar, dass der Laird ihn – den Sohn seines Feindes – lebend vorgefunden hatte nach der Schlacht, in der Magnus’ Vater, seine Mutter und so viele andere Kincaids getötet worden waren, und ihn aus reiner Herzensgüte nach Burnbryde mitgenommen hatte. Dort hatte Magnus sich von seinen Verletzungen in der Obhut einer abgelegten Geliebten des Lairds erholt, die ihn von da an als ihren Sohn bezeichnete. Ein Bastard, der, sobald er wieder sprechen konnte, vom Herd seiner Mutter weggebracht wurde auf Anweisung seines sogenannten Vaters, der ihn nie wie einen Sohn behandelt hatte. Magnus wurde befohlen, als seines Vaters Becherträger aufzutreten, wenn sie auf der Jagd waren oder benachbarte Clans besuchten. Stets gab sein Vater ihm das Gefühl, sich glücklich schätzen zu dürfen, wenn er auf dem kalten Steinfußboden in der großen Halle schlafen durfte, zusammen mit den anderen Dienstboten und den Hunden.

Selbst da hatte der Alwyn kein Interesse an ihm gezeigt. Nur einmal hatte er Magnus während eines Festmahls dazu aufgefordert, vor allen Männern in der großen Halle aufzustehen und neben Hugh zu treten, Magnus’ jüngeren, legitimen Bruder, zu dem einzigen Zweck, auf Hughs Statur hinzuweisen, seine Intelligenz, seine Eigenschaften, die ihn als hochwohlgeboren auszeichneten – und an denen es Magnus so vollständig mangelte.

Danach war Magnus zum Waffenmeister gegangen und hatte gebettelt, zusammen mit den anderen Bauernjungen aus dem Dorf in der Kampfeskunst unterwiesen zu werden, um den Clan zu verteidigen. Der Laird, anscheinend belustigt von der Narretei seines schmächtigen Bastards, hatte es zugelassen.

Magnus rückte hin und her, schob sich die Hände hinter den Kopf, streckte die Muskeln seiner Arme und Schultern, die von den Schwertübungen des Vortages schmerzten und brannten.

Nur durch seine eigene feste Entschlossenheit war Magnus stärker und härter geworden – sowohl geistig als auch körperlich – und tödlich gefährlich im Umgang mit dem Schwert.

Niemand war überraschter gewesen als der Alwyn selbst, als Magnus durch die Ränge aufstieg, bis er ein Mitglied der persönlichen Wache des Clanoberhauptes geworden war. Und selbst dann war nicht einmal die Andeutung von Stolz im Verhalten des Alwyn ihm gegenüber zu sehen gewesen. Keine Spur von väterlicher Anerkennung oder Respekt.

Nein – jedes bisschen Respekt, das Magnus im Clan erworben hatte, war ihm nicht durch die Großzügigkeit des Lairds oder dessen schlechtes Gewissen zuteilgeworden, sondern einzig und allein durch seine eigenen Anstrengungen.

Magnus war ziemlich sicher, dass der einzige Mensch, der die Wahrheit darüber kannte, wie er nach Burnbryde gekommen war, Robina war. Vor so vielen Jahren hatte sie ihn, einen schwachen und schwer beeinträchtigten Jungen, dazu gebracht, ihre Unwahrheiten zu glauben. Ja, er war deswegen zornig. Aber er war nicht auf sie zornig. Nicht mehr. Er hatte Zeit gehabt, um nachzudenken. Vernünftig zu sein.

Das war der Grund, warum er sie noch nicht besucht hatte. Wenn er sie erst einmal nach der Wahrheit befragt hatte, würde das Band zwischen Mutter und Sohn für immer beschädigt sein. Und doch konnte er ihre Begegnung nicht ewig aufschieben. Bald schon würde er sie aufsuchen, wenn es für ihre Sicherheit wichtig sein würde, über seine Pläne Bescheid zu wissen.

Eine Windböe rüttelte an den Fensterläden und schickte eine Woge von Kälte in die Kammer, die Magnus inzwischen bewohnte. Er steckte die Arme wieder unter die Wolldecke zurück, zog sie höher, bis an sein Kinn.

Jetzt kannte er die einzige Wahrheit, die eine Rolle spielte – dass es dem Alwyn nicht im Mindesten bewusst war, dass jede Nacht ein von Rache geplagter Sohn des Kindcaid an seinem Herdfeuer saß, ihn beobachtete, ihm zuhörte, und wartete. Es war ein Vorteil, den er komplett zu seinen Gunsten ausnutzen wollte, während er plante, seine Rache zu vollziehen.

Seine Rache – was stellte er sich darunter vor?

Es bereitete Magnus kein Vergnügen zu töten, aber ja, er würde es tun. Ohne zu zögern würde er den Alwyn für das töten, was er getan hatte.

Tatsächlich blieb ihm keine andere Wahl. Alexander Stewart, der Earl of Buchan und durch dessen erste Frau der jüngste Sohn des Königs, war der königliche Verbündete des Alwyn, und war erst kürzlich zum Justitiar des Nordens ernannt worden, und jetzt setzte er die Gesetze Roberts II. in den Highlands durch mit der vollen Autorität der Krone. Magnus war kein Dummkopf. Unter der Aufsicht des Earls würde kein Sheriff oder Gericht gegen den Alwyn Gerechtigkeit ausüben. Insofern würde nichts passieren, wenn er ihn gefangen nahm, seine Verbrechen so verkündete, dass alle es hörten, und auf einem Gerichtsverfahren bestehen würde.

Er war wirklich dankbar, dass ihm die Entscheidung aus den Händen genommen wurde. Nur der Tod war eine gerechte Strafe für einen Mörder.

In diesem Moment war er von Hass fast wie betäubt, nicht von der Kälte, die seine kleine Kammer erfüllte. Irgendwo in einer Ecke raschelte das Stroh, und er hörte das leise Fiepen einer Maus.

Gegenüber dem Rest des Clans empfand Magnus keine Feindseligkeit, und er würde sein Möglichstes tun, um die anderen am Leben zu lassen – selbst Hugh, denn er würde nicht den Sohn für die Sünden des Vaters büßen lassen. Dennoch würde er Hugh wieder gegenübertreten, daran zweifelte er nicht. Tatsächlich freute er sich auf diesen Tag, denn er hatte seinen angeblichen Halbbruder sein Leben lang gehasst. Gerade kürzlich erst wieder, als Hugh während des Cearcal-Festes Elspeth MacClaren angegriffen hatte in dem Versuch, eine Heirat zwischen sich und ihr zu erzwingen. Niall war es zu verdanken, dass Hugh für diesen Übergriff bestraft wurde. Noch immer zeigte Hughs Gesicht Spuren der Wunden.

Wenn der Alwyn erst tot war, würde Magnus aus Burnbryde fliehen und sich Niall anschließen, und von Inverhaven aus entweder über einen Frieden mit Hugh und den Alwyns verhandeln oder sie auf dem Schlachtfeld treffen, zusammen mit dem Rest der Kincaids. Dort würde er Hugh fordern, um ihn in einem Schwertkampf von Mann zu Mann in die Knie zu zwingen – ein für alle Mal.

Er spannte sich an und war mehr als bereit zum Kampf. Schwaches blaues Licht drang allmählich durch die Fensterläden ein und kündete den Morgen an. Würde er an diesem Tag seine Rache bekommen?

Vermutlich nicht. Denn ehe etwas dergleichen geschehen konnte, würde er ein Geständnis hören müssen. Bevor er Rache nahm, musste er die Wahrheit aus dem Mund des Alwyn hören. Er würde erfahren, warum und wie, und wer außerdem noch damit zu tun gehabt hatte, außer dem MacClaren, der seine Strafe bereits erhalten hatte. Und was am wichtigsten war – wer die bisher unbekannten Krieger geschickt hatte, die seinen, den Clan der Kincaids, vernichtet hatten. Welcher unbekannte Anführer aus dem Norden war dafür verantwortlich, und welchen Vorteil hatte es ihm gebracht, sich an dem Verrat an den Kincaids zu beteiligen?

Er musste sich an den Laird halten und an die, die ihn umgaben. Damit er sich ihr Vertrauen erhalten und bei der besten sich bietenden Gelegenheit handeln konnte. Während der Konflikt zwischen dem Alwyn und Niall mit jedem Tag brisanter wurde, würde die Vergangenheit, über die sich die alten Krieger stets nur im Flüsterton unterhalten hatten, korrigiert werden. Er würde dafür sorgen, dass das geschah.

Er durfte keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen, und der Laird würde bald aufstehen, um in der großen Halle sein Frühstück einzunehmen. Magnus richtete sich auf und löste sich behutsam aus zarten Armen, Beinen und weichem, duftenden Haar …

Der Hahn schrie laut und schrill.

„Oh!“ Neben ihm schreckte Kyla auf. Ihre haselnussbraunen Augen wirkten noch verschlafen, waren aber weit aufgerissen. „War das …?“

Ihr léine glitt ihr von den Schultern, aber mit einer Kopfbewegung bedeckten ihre langen honigfarbenen Locken ihre bloße Haut.

„Das war er“, erwiderte Magnus.

„Laire“, rief sie aus. „Aufwachen, ehe dieser schürzentragende Tyrann uns suchen kommt.“

Laire stöhnte unter der Decke und schmiegte sich dann enger an Magnus, worauf dieser leise lachte. Kyla griff über ihn hinweg und schüttelte Laire an der Schulter.

„Beeil dich!“, stieß sie atemlos hervor und sprang aus dem Bett.

Kyla griff nach ihrem Kleid, das sie am Abend zuvor auf einen Hocker geworfen hatte, und drehte sich dann um, um die Decke wegzuziehen, die ihre Freundin bedeckte.

„Es ist zu kalt“, beschwerte sich Laire und hielt die Decke fest.

„Komm schon.“ Kyla gewann den Kampf und zog die Decke ganz weg. „Wir sind schon spät dran.“

Magnus erhob sich und ging barfuß über den kalten Steinboden zur Waschschüssel.

Ja, es war kalt im Raum, aber es war Herbst, und insofern war das ganz normal. Er biss sich einen Moment lang auf die Unterlippe, ehe er sich eine Handvoll kalten Wassers auf Gesicht und Hals spritzte.

„Aufhören!“, rief Laire und warf Kyla einen finsteren Blick zu, die sie an den Armen hochzerrte. „Ich bin wach. Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten und lass mich in Ruhe.“

Das machte Kyla auch, nahm Magnus’ Kamm und fuhr sich damit rasch durchs Haar, ehe sie es zu einem Zopf flocht, während Laire missmutig auf dem Boden nach einem verschwundenen Schuh suchte. Als sie angezogen waren, standen die beiden jungen Frauen nebeneinander und sahen Magnus an. Beide waren plötzlich ganz still geworden. Und heftig errötet.

Er nahm ein sauberes Leinentuch vom Tisch und trocknete sich das Gesicht ab.

Kyla ließ den Blick über seine nackte Brust gleiten und dann tiefer, dorthin, wo ihm die braies von den Hüften hingen.

Sie seufzte. „Noch einmal – vielen Dank.“

Laires dunkles Haar schimmerte in dem fahlen Morgenlicht – aber ihre dunklen Augen strahlten weit heller. „Ja, danke, dass du so – selbstlos warst.“

„Das war doch nichts“, sagte er achselzuckend, aber er zog dabei einen Mundwinkel hoch.

Wie sollte er nicht lächeln? Beide waren reizende junge Frauen.

„Ich hoffe, wir können …“, begann Kyla und verschränkte die Finger. „Was ich meine, ist …“

Sie errötete noch heftiger.

„Wir hoffen, wir können das wiederholen“, platzte Laire lächelnd heraus.

Sie sahen ihn hoffnungsvoll an.

Er räusperte sich. Wie sollte er die richtigen Worte finden? Er mochte sie beide, natürlich tat er das, aber er wollte sie nicht jede Nacht hier haben.

Autor

Lily Blackwood
Lily Blackwood lebt mit ihrem Ehemann, ihren beiden Kindern, einem anhänglichen Golden Retriever und zwei frechen Katzen in Texas. In ihrer Freizeit geht sie gerne auf Flohmärkte und kocht, erst kürzlich hat sie außerdem gelernt zu stricken. Sie liebt alles Historische und findet es spannend, sich in eine Zeit zu...
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