Der Highlander und der wilde Engel

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Umwerfend komisch, verführerisch sexy - der rasante Abschluss von Lynsay Sands` Highlander-Trilogie. Ein Engel mit flammendrotem Haar? Kade Stewart, nach einem Schiffsunglück zwischen Leben und Tod, kommt erst langsam wieder zu sich. Kein Geschöpf des Himmels ist es, das ihn in schweren Stunden betreut hat, sondern Lady Averill, die Schwester seines Freundes. Mit ihrer ungewöhnlichen Schönheit und ihrem hitzigen Temperament, das ihre Leidenschaft ahnen lässt, gewinnt die junge Engländerin das Herz des Highlanders. Kaum genesen, macht Kade ihr einen Antrag, und als seine Braut nimmt er sie mit auf seine Burg nach Schottland. Doch im Schatten der Zinnen lauert tödliche Gefahr für Averill und den neuen Clanführer - und für ihre Liebe …


  • Erscheinungstag 01.10.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733738051
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Nordengland, Mortagne Castle, 1274

Ich habe Vater gesagt, er solle sich keine allzu großen Hoffnungen machen. Es erschien mir von Anfang an nicht sehr wahrscheinlich, dass Lord Montfault in eine Ehe mit mir einwilligen wird. Aber Vater wollte ja nicht hören.“

Diese Worte vernahm Kade, als er aus dem Schlaf auftauchte. Langsam öffnete er die Augen. Was er sah, wirkte verschwommen und mochte der gemusterte Vorhang eines großen Betts sein. Der Stoff war recht dunkel, doch das galt für alles um ihn herum. Nur die flackernden Flammen eines Feuers ließen Licht und Schatten durch den Raum tanzen.

Also musste es Nacht sein, schloss Kade. Und er war … nun, irgendwo. Wo genau, wusste er nicht. Er hätte sich gewünscht, auf Stewart Castle zu sein, der Heimstatt seines Clans in Schottland, doch die Frau, die da redete, hatte einen eindeutig englischen Zungenschlag und keinen schottischen, wie er bemerkte, als sie fortfuhr.

„Vater sieht einfach nicht das in mir, was andere sehen, aber ich denke, das habe ich Euch bereits bei anderer Gelegenheit erzählt. Er wollte mir einfach nicht glauben.“ Die Worte klangen bitter und traurig. Neugierig betrachtete Kade die Gestalt, die neben dem Bett saß und die er nur schemenhaft ausmachen konnte. Eine Frau, so viel stand fest. Zwar konnte er dies nicht eindeutig erkennen, da er sie – wie alles Übrige – derzeit nur unscharf wahrnahm, doch die Stimme war unzweifelhaft weiblich; weich und ein wenig rau. Sie wirkte beruhigend auf ihn, und er lauschte ihr mit Genuss, als sie weitersprach.

„Ich fürchte, er betrachtet mich einfach nur mit den Augen eines Vaters und nimmt dabei nicht wahr, wie farblos und unansehnlich ich bin. Vermutlich sehen alle Väter in ihren Töchtern liebreizende Wesen. Was natürlich wunderbar und richtig ist, aber manchmal wünschte ich doch, er würde erkennen, wie ich wirklich bin. Vielleicht würde er sich die Zurückweisung der Heiratskandidaten dann nicht so zu Herzen nehmen. Ich hasse es, ihn zu enttäuschen.“

Kade kniff die Augen zu in der Hoffnung, seiner Sehkraft dadurch auf die Sprünge zu helfen. Es tat so gut, sie geschlossen zu halten, dass er kaum die Neigung dazu verspürte, sie wieder zu öffnen. Und sich zwingen, sie aufzuschlagen, mochte er erst recht nicht. Stattdessen lag er nur still da und hörte dem Geplauder zu, das ihn einhüllte und wie wohltuender Balsam wirkte.

„Eigentlich hatte ich gehofft, dass Vater von seiner Absicht, mir einen Gemahl zu suchen, durch Euch und meinen Bruder abgelenkt würde. Ich bin es satt, immerzu irgendwelchen Lords vorgeführt zu werden wie eine Zuchtstute, allein deshalb, da sie ja doch alle etwas an mir auszusetzen haben. Es ist auch gar nicht einmal die Ablehnung selbst, die mir nahegeht, aber einige Herren sind nicht eben zimperlich, wie sie diese vorbringen. Sie geben sich kaum Mühe, zu verbergen, wie sehr ich sie anwidere. Montfault erdreistete sich gar, mir ins Gesicht zu sagen, dass er niemals eine Teufelsbrut wie mich heiraten werde.“

Sie seufzte leise. „Doch genug davon“, murmelte sie. „Es ist wahrlich kein schöner Gesprächsstoff.“ Ein Augenblick des Schweigens verstrich, ehe sie bekümmert fortfuhr: „Allerdings weiß ich nicht recht, was ich Euch sonst noch berichten soll. Ich habe Euch sämtliche Geschichten erzählt, die ich kenne, und die kleinen Alltagsbegebenheiten hier auf Mortagne sind kaum der Rede wert. Ich fürchte, mein Leben war im Gegensatz zu den Abenteuern, die Ihr und Will gemeinsam erlebt habt, recht bieder und eintönig. Gewiss langweilt Euch alles, was ich sage, schier zu Tode.“

Ah, dachte Kade, er war also auf Wills Burg in Nordengland. Nun, wenigstens diese Frage war geklärt. Und die Frau hatte ihrer Hoffnung Ausdruck verliehen, ihr Vater möge durch ihn, Kade, und ihren Bruder von seinen Absichten, sie zu verheiraten, abgebracht werden. Das hieß, dass sie Wills Schwester Averill sein musste. In den letzten Jahren hatte Will oft von ihr gesprochen, und seine Erzählungen hatten Kade stets zum Lächeln gebracht und neugierig auf das Mädchen gemacht.

Nun war er umso gespannter. Nie hatte Will etwas erwähnt, das hätte erklären können, weshalb Männer das Angebot einer Eheschließung mit ihr ablehnen mochten. Und was hatte dieser Unfug zu bedeuten, sie sei eine Teufelsbrut? Soweit er wusste, war Wills Vater, Lord Mortagne, ein hoch angesehener und beliebter Herr. Kade verspürte den brennenden Wunsch, zu erfahren, wie die Frau aussah und warum sie all die Zurückweisungen erdulden musste, von denen sie gesprochen hatte.

Doch es schien, als würde er sich in Geduld fassen müssen, denn als er die Lider aufschlug, um sie anzuschauen, stellte er fest, dass sein Augenlicht noch immer getrübt war. Alles, was er ausmachen konnte, war eine schemenhafte Gestalt, die neben dem Bett saß und sich über etwas in ihrem Schoß beugte. Sie wirkte zierlich und trug dunkle Kleidung, und ihr Haar sprühte im Feuerschein gleißende rotgoldene Funken.

Verzweiflung übermannte Kade. Er blinzelte mehrmals, was jedoch nichts half, sodass er die Augen wieder schloss. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich seiner Situation zu fügen.

„Oh, ich weiß!“, rief sie auf einmal. Wenn er nun die Augen aufschlüge – und sie ihm zu Diensten wären –, würde er gewiss sehen, dass sie den Kopf gehoben hatte und ihn anblickte. Das jedenfalls vermutete er. „Ich werde Euch berichten, was für ein ungezogenes Kind ich einst war.“

Kade hörte den spöttischen Unterton in ihrer Stimme. Er wollte erneut einen Versuch unternehmen, die Augen zu öffnen und ihr Gesicht zu mustern, doch das erschien ihm mit einem Mal wie eine unüberwindliche Hürde. Es war einfach zu anstrengend, und er ließ es sein. Während er darauf wartete, dass sie weitersprach, überlegte er, welche Geschichte es wohl sein mochte. Er war sicher, dass Will ihm während ihrer Gefangenschaft alles über sie erzählt hatte, was es zu erzählen gab. Es war ihr einziger Zeitvertreib gewesen, wenn sie des Abends in ihre winzige und schäbige Zelle zurückgeführt worden waren. Tagsüber hatten sie unter der sengenden Sonne für diejenigen schuften müssen, die sie gefangen genommen hatten, und abends hockten sie in ihrem finsteren, fensterlosen Kerker und redeten über Heimat und Familie. Kade hatte Will vieles, wenn nicht gar alles über seine Jugend und seinen Clan berichtet, und war recht sicher, dass auch Wills Schilderungen so gut wie vollständig gewesen waren. Daher überraschte es ihn, als sie zu erzählen ansetzte und er feststellte, dass es tatsächlich noch ein Erlebnis gab, das Will offenbar nicht kannte.

„Nun ja, so ungezogen war ich eigentlich gar nicht. Zumeist war ich artig“, beteuerte sie, als beichte sie eine Sünde. „Doch als ich fünf Jahre alt war, versuchte ich davonzulaufen … wenngleich der Versuch nicht von Erfolg gekrönt war.“

Sie bedachte die Äußerung mit einem verhaltenen, fast schamhaften Lachen. „Wisst Ihr, Will war fünf Jahre älter als ich, aber mein einziger Spielgefährte und anständig genug, sich nicht an der kleinen Schwester zu stören, die ihm immerfort nachsetzte. Jeden Tag nach dem Unterricht spielten wir Verstecken und vertrieben uns die Zeit mit allen möglichen Kindereien. Doch als ich fünf war, schickte man Will fort, um seine Ausbildung zu vollenden, und so verlor ich meinen einzigen Spielkameraden und zugleich meinen besten Freund.“

Die Erinnerung rief die damals empfundene Traurigkeit in ihr wach, und sie seufzte leise. „Ich war so unglücklich. Und zudem verzogen, weil Will stets nachgegeben hatte. Ich bettelte Mutter und Vater an, ihn zurückzuholen, damit ich wieder mit ihm spielen könne. Doch sie waren meist mit anderen Dingen beschäftigt und hatten keine Zeit, das kleine Mädchen zu trösten, das seinen Bruder vermisste. Da sie ihn mir also nicht wiedergeben wollten, entschied ich kurzerhand, stattdessen ihm nachzusetzen, so wie ich es immer getan hatte.

Zunächst wandte ich mich an Vaters Wachhauptmann – einen äußerst gutmütigen Menschen, der immer nett zu Will und mir war. Ich flehte ihn an, mich doch bitte, bitte zu Will zu bringen. Was er natürlich verweigerte. Er erklärte mir wohlwollend, dass er dies nicht tun könne, dass mein Vater es nicht gutheißen würde. Ich allerdings hörte nur heraus, dass er nicht gewillt war, mir zu helfen, und dafür, so fürchte ich, habe ich ihm recht kräftig gegen das Schienbein getreten, ehe ich heulend in meine Kammer rannte. Meine Tränen waren noch nicht einmal getrocknet, als ich beschloss, dass ich fortgehen müsse.

In meinem kindlichen Gemüt legte ich mir einen genauen Plan zurecht. Ich stahl mich in die Küche, stibitzte einige Pflaumen und etwas Brot, während die Köchin nicht hinsah, und nahm auch meine Lieblingsbettdecke mit – denn ich wusste, dass es ein langer Marsch sein und ich eine oder zwei Nächte unter freiem Himmel verbringen würde. Schließlich brach ich auf. Die Gemäuer von Mortagne sind von Geheimgängen durchzogen …“ Sie stockte, und als sie fortfuhr, klang ihre Stimme zögerlich. „Das hätte ich Euch wohl nicht sagen sollen. Aber Ihr seid ja besinnungslos und hört es daher ohnehin nicht. Dennoch …“

Kade lauschte angestrengt, als sie wieder abbrach. Schließlich jedoch seufzte sie und fuhr fort: „Nun, Ihr werdet Euch kaum daran erinnern, wenn Ihr aufwacht, also sei’s drum … Die Geheimgänge führen zwischen den Gemächern entlang und münden in einen Tunnel, der außerhalb der Wehrmauer endet. Man hatte Will und mir eingebläut, auf diesem Weg zu fliehen, sollte die Burg einmal angegriffen werden. So gelangte ich hinaus.

Ich griff mir noch die Kerze aus meinem Gemach und entzündete sie in der Kammer meiner Amme – sie war alt und fror immerzu, weshalb in ihrem Kamin selbst im Sommer stets ein Feuer prasselte. Danach wagte ich mich mutig in die Gänge vor. Sie waren schauderhaft – finster und schmutzig und voller riesiger Spinnennetze. Immerzu hörte man etwas davonhuschen, und ich war überzeugt, dass es irgendwelche kleinen Wesen waren, die mich jeden Moment angreifen würden. Beinahe hätte ich schon nach den ersten Schritten wieder kehrtgemacht, um zurück in meine Kammer zu flüchten, doch ich war so verzweifelt und wollte Will unbedingt wiedersehen, dass ich mich zwang weiterzugehen und schließlich das Ende des Tunnels erreichte.“

Ihr leises Kichern umschwirrte Kade. „Dort habe ich mich eine ganze Weile damit abgeplagt, überhaupt nach draußen zu gelangen. Der Tunnelzugang ist mit einer großen Steinplatte verschlossen, die an Gewichten hängt. Ein Erwachsener kann sie mühelos bedienen, aber ich war mit meinen fünf Jahren alles andere als stark. Mit einiger Anstrengung habe ich es schließlich aber geschafft. Die Zugluft löschte meine Kerze, doch da der Tunnel in eine Höhle mündete, in die genügend Sonnenlicht fiel, fand ich den Weg nach draußen auch so. Ich ließ die Kerze zurück und zog meine Decke hinter mir her ins Freie.

Ich weiß noch, dass mir die Augen nach der langen Zeit in den Gängen angesichts der plötzlichen Helligkeit schmerzten, und all die Strapazen hatten mich erschöpft. Daher kam ich nicht weit, sondern ließ mich bald schon unter einem angenehm schattigen Baum nieder, um die erbeuteten Speisen zu vertilgen. Danach wollte ich meine Reise fortsetzen, doch es war Nachmittag, und zu dieser Zeit hielt ich für gewöhnlich ein Nickerchen. Zudem hatten mich Aufregung und Essen schläfrig gemacht. Also befreite ich die Decke vom gröbsten Schmutz und den Spinnweben, die durch das abenteuerliche Unterfangen an ihr haften geblieben waren, rollte mich unter dem Baum zusammen und schlief ein. So fanden sie mich schließlich.

Später erfuhr ich, dass es für einigen Wirbel gesorgt hat, als man feststellte, dass ich verschwunden war. Die Bediensteten durchstöberten jeden Winkel der Burg nach mir, und als sie mich nirgends fanden, schickte man auch die Krieger auf die Suche. Sie durchkämmten erst den Burghof und danach das Gelände jenseits der Mauern. Schließlich war es mein Vater, der mich unter dem Baum entdeckte. Ich schlief tief und fest unter dem verunreinigten Lumpen, der von meiner Decke noch übrig war, hatte Spinnweben im Haar, und mein Gesicht war so dreckverschmiert, dass er schwört, er habe mich zunächst für ein Bauernmädchen gehalten anstatt für die kleine Dame, die ich doch eigentlich sein sollte.“ Es klang liebevoll, als sie mit diesen Worten ihren Bericht beendete.

Kade konnte nicht widerstehen. Abermals schlug er die Augen auf und blinzelte in dem Bemühen, das Mädchen besser erkennen zu können. „Hat es Euch sehr verstimmt, ertappt und zurückgebracht zu werden?“, fragte er.

„Nein, ich meine mich zu erinnern, dass ich eher erleichtert war“, gestand sie und lachte über sich selbst. „Es hatte zu regnen begonnen, wisst Ihr, und mir wurde allmählich kalt. Als ich aufwachte, bibberte ich bereits unter der dünnen Decke. Ich wollte nichts lieber als zur Burg zurück und …“ Sie verstummte abrupt. Ihr Kopf ruckte hoch, so viel sah er, und bestimmt brannte ihr Blick auf ihm. Ihre verschwommene Gestalt wurde lang und hoch, als sie mit einem Keuchen hochfuhr. „Ihr seid wach?“

Kade erwiderte darauf nichts. Schon die eine Frage, die er gestellt hatte, war ihm nur unter Qualen über die Lippen gekommen, und ohnehin schien sie keine Antwort auf ihre Feststellung zu erwarten.

Averill trat näher ans Bett, doch noch immer erkannte er sie nur undeutlich. „Möchtet Ihr etwas trinken? Oder … Oh, ich muss Will Bescheid sagen! Er hat so oft an Eurer Seite gesessen und bestand darauf, dass ich ihn rufe, sobald Ihr Euch rührt. Nur einen Augenblick, ich werde Euch etwas zu trinken holen und jemanden nach Will schicken.“

Er hob den Kopf und schaute den vagen Umrissen der Frau nach, deren dunkles Gewand mit den Schatten der Kammer verschmolz. Er verfluchte seine Augen, die ihm nutzlos vorkamen. Das Geräusch der sich öffnenden und schließenden Tür und das Getrappel ihrer sich entfernenden Schritte sagten ihm, dass sie fort war.

Er verzog das Gesicht, ließ sich zurücksinken und schloss die Lider, wobei er sich fragte, warum seine Sehkraft ihm so übel mitspielte. Sie hatte ihn nie zuvor im Stich gelassen. Und warum nur entsann er sich nicht, wie er hierhergekommen war? Was hatte sie gemeint, als sie sagte, Will habe oft an seiner Seite gesessen? Was …?

Erneut hörte er, wie die Tür aufschwang, und der Laut brachte den Sturzbach an Fragen in seinem Kopf ins Stocken. Angestrengt starrte er in Richtung Eingang. Will konnte nicht weit sein, vermutlich unten in der großen Halle, bedachte man die fortgeschrittene Stunde, auf welche die in Dunkelheit getauchte Kammer hinwies. Er blinzelte in dem fruchtlosen Bemühen, besser sehen zu können. „Will?“, fragte er.

„Nein, ich bin es, Averill.“ Sie klang verwundert, schloss die Tür und eilte zu ihm. Ihr dunkler Schemen löste sich aus dem verschwommenen Ganzen, umkränzt von rotgolden schimmerndem Haar, das wie Feuer loderte. „Ich habe einer Magd aufgetragen, Will die Neuigkeit zu überbringen und etwas zu trinken zu holen. Sie sollte bald da sein. Machen Eure Augen Euch zu schaffen, Mylord?“ Kaum war ihr die Frage über die Lippen, als sie hastig hinzufügte: „Sagt nichts, sicherlich schmerzt es Euch zu sprechen. Eure Kehle muss wie ausgedörrt sein. Das wird sich gleich ändern, wenn Ihr ein wenig getrunken habt. Bis dahin nickt einfach oder schüttelt mit dem Kopf.“

Kade verzog das Gesicht. Sie hatte recht. Ja, es tat weh, wenn er zu reden versuchte, und auch er war sicher, dass sich dies durch ein paar Schlucke bessern würde. Was ihm allerdings weit mehr zusetzte, war die Frage, wie er an diesen Ort gelangt war und was mit seinen Augen nicht stimmte. Doch er nickte nur, um ihr zu verstehen zu geben, dass er in der Tat Schwierigkeiten mit dem Sehen hatte.

„Oh.“ Sie beugte sich leicht vor, und ein berauschender Duft nach Blumen und Gewürzen kitzelte ihn in der Nase, ehe sie sich auch schon wieder aufrichtete und eine Spur ärgerlich murmelte: „Will hat gar keine Verletzung erwähnt, die Eure Augen in Mitleidenschaft gezogen haben könnte. Womöglich hat dies etwas mit der Kopfwunde zu tun …“

Sie stockte und wandte sich halb um, als die Tür sich noch einmal öffnete. Auch Kade sah zum Eingang und machte eine sehr viel größere Gestalt als Averill in dunklem Beinkleid und heller Tunika aus. Polternde, stiefelbewehrte Schritte kamen über die Holzdielen näher.

„Will?“ Die Frage war heraus, ehe Kade sie zurückhalten konnte, und er schnitt eine Grimasse angesichts des traurigen Krächzens und des heftigen Schmerzes, den es in seiner Kehle hinterließ.

„Aus irgendeinem Grunde kann er nicht sehen“, erklärte Averill, als der Neuankömmling sich ihr zuwandte. „Es könnte an der Kopfwunde liegen. Vielleicht sind seine Augen aber auch einfach so ausgetrocknet wie seine Kehle und müssen sich erst wieder erholen. Immerhin haben wir in den vergangenen zwei Wochen nicht gerade viel Nahrung und Flüssigkeit in ihn hineinbekommen.“

„Aye“, stimmte Will zu.

Averill ging währenddessen zur Tür. „Ich werde sehen, wo das Mädchen bleibt, das ich geschickt habe, etwas zu trinken zu holen. Sie soll auch gleich noch etwas Brühe bringen“, sagte sie und verließ die Kammer.

Will trat näher ans Bett. Kade sah ihn hoch über sich aufragen. Einen Moment lang schwiegen sie sich an. „Du siehst übel aus, mein Freund“, sagte Will schließlich.

Als er die Worte nur mit einem missmutigen Grunzen bedachte, lachte Will, umrundete die Liegestatt und ließ sich auf dem Platz nieder, den Averill vorhin eingenommen hatte. „Doch ich muss sagen, ganz gleich wie du aussiehst, bin ich froh, dass du die Augen überhaupt wieder aufgeschlagen hast. Ich hatte schon befürchtet, dies nicht mehr zu erleben.“

„Was …?“, setzte Kade an, brach jedoch ab, als Will seinen Arm ergriff.

„Schone deine Stimme, ich werde dir berichten, was sich ereignet hat, während du nicht bei Sinnen warst. Du kannst deine Fragen stellen, nachdem du etwas getrunken hast.“

Als Kade sich wieder entspannte, fragte Will: „Erinnerst du dich noch an unsere Schiffsreise?“

Stirnrunzelnd kramte Kade in seinem Gedächtnis nach.

Will musste es bemerkt haben, denn in seiner Stimme lag Besorgnis, als er fragte: „Du entsinnst dich doch, dass wir von Baibars’ Männern gefasst wurden und knapp fünf Jahre in Gefangenschaft verbracht haben?“

Kade nickte. Es war keine Zeit, die er so schnell vergessen würde. Nahezu fünf Jahre seines Lebens hatte er in diesem Kerker vertan. Genau gesagt waren es eintausendsiebenhundertzweiundsiebzig Tage in der Hölle gewesen. Das wusste er so exakt, weil er sie des Nachts in der dunklen Zelle gezählt hatte, während er sich mit seinen Mitgefangenen unterhielt: seinem Cousin Ian und seinem Kameraden Will Mortagne. Zwar war Letzterer ein Engländer, den Kade vor ihrer Gefangennahme kaum gekannt hatte, doch gehörte er längst zu seinen engsten und getreuesten Freunden. Ihre Freundschaft war das einzig Gute, das dieses Erlebnis hervorgebracht hatte.

„Und unsere Flucht?“, fragte Will. „Erinnerst du dich daran?“

Wieder nickte er. Fast fünf Jahre der Schinderei waren es gewesen, in denen ihm der Schweiß in Strömen über den Leib geflossen war und in den offenen Striemen auf seinem Rücken gebrannt hatte, denn die Peitsche war ein beliebtes Werkzeug bei ihren Wärtern gewesen. Gegen Ende hatte er geglaubt, er werde in diesem fremden Land sterben. Er hatte genügend Männer dieses Schicksal ereilen sehen. Alle paar Tage war ein weiterer von ihnen Hunger und Durst zum Opfer gefallen oder hatte sich zu Tode geschuftet, nur um abtransportiert und in einem offenen Massengrab versenkt zu werden.

Kade war überzeugt gewesen, seine Tage ebenfalls in diesem Grab zu beschließen und gemeinsam mit seinen Landsleuten unter einer dünnen Schicht Sand zu verrotten. Als jedoch sein Cousin Ian erkrankte, hatte er genug. Krieger um Krieger hatte er an diese stinkende Grube verloren, aber Ian würde er nicht aufgeben. Er war ihm wie ein Bruder, sie waren gemeinsam aufgewachsen, und er war entschlossen, alles zu tun, um ihn zu retten – oder dabei selbst umzukommen. Zumindest würde er Ian dann nicht beim Sterben zusehen müssen. Der Plan war so simpel wie verzweifelt. Nachdem sie des Abends in ihre Zelle zurückgeführt worden waren, hieß er Ian, sich tot zu stellen, was nicht schwer war, da er durch sein Siechtum bereits leichenblass war. Daraufhin rief Kade die Wache.

Gleich zwei der Heiden kamen, beide dunkelhäutig und mit gezogenen Schwertern. Sie untersuchten Ian gar nicht erst, sondern warfen nur durch die Gitterstäbe einen Blick auf ihn, ehe sie die Tür aufschlossen und Kade und Will anwiesen, den Toten herauszuschaffen. Kade ergriff Ians Füße, während Will dessen Arme nahm, und so trugen sie ihn aus der Zelle. Doch als sie auf Höhe der Wachen waren, ließ Kade Ians Füße fahren und griff den Mann an, der ihm am nächsten stand.

Allein die Überrumpelung verhalf ihnen zum Sieg. Er schaffte es, dem Heiden Schwert und Schlüsselbund zu entreißen, warf Will Letzteren zu und stellte sich allein dem nun unbewaffneten Kerl vor ihm und seinem nach wie vor gerüsteten Gehilfen, bis seine Mitgefangenen befreit waren und ihm zur Hilfe kamen. Noch immer konnte er kaum fassen, dass er diese Augenblicke unbeschadet überstanden hatte. Doch das hatte er; sie alle waren unversehrt entkommen.

„Und das Kloster in Akkon?“, bohrte Will weiter. „Du weißt doch noch, dass wir drei Monate dort verbracht haben, während Ian von seinem Leiden genas, ich mich von der Schwertwunde erholte und wir alle endlich wieder an Gewicht zulegten?“

Kade schnitt eine Grimasse. Erst als sie die Pferde gestohlen hatten, um zu fliehen, hatte es doch noch einen Verletzten gegeben, da einer der Wachleute sie überrascht und Will mit dem Schwert durchbohrt hatte. Sie erledigten den Mameluken, und Will gab sich tapfer und stark, presste die Hand auf die Wunde und forderte sie auf, ohne ihn zu reiten. Doch Kade beachtete seine Worte nicht und nahm sich gar die Zeit, die Blessur so gut er konnte zu verbinden. Sie war tief, und er fürchtete, noch einen Kameraden durch Baibars’ Grausamkeit zu verlieren.

Als sie das Kloster in Akkon erreichten und damit in Sicherheit waren, kümmerten sich die Mönche um Ian und Will. Ian erholte sich schon nach wenigen Tagen von seiner Krankheit, doch es dauerte Wochen, bis auch Will gesundet war. Anschließend verbrachten sie weitere zweieinhalb Monate innerhalb der Klostermauern, gewannen ihre frühere Kraft zurück und arbeiteten, um sich Essen und Kleidung für die weite Reise nach Hause zu verdienen. Es hatte sie noch einmal zwei Monate gekostet, um sich nordwärts nach Europa und schließlich nach Frankreich durchzuschlagen, wo sie sich, wie er sich jetzt wieder vergegenwärtigte, eingeschifft hatten, um den Kanal zu überqueren und endlich England zu erreichen.

„Aber an die Überfahrt von Frankreich nach England entsinnst du dich nicht?“, fragte Will.

„Doch, tue ich“, brachte Kade heraus. Vor Schmerz zuckte er zusammen. Er erinnerte sich nur zu gut daran. Das Schiff, das sie übersetzen sollte, hatte einen robusten Eindruck gemacht, und das Wetter war ruhig gewesen, als sie losgesegelt waren. Doch als sie den Kanal halb überquert hatten, zog ein Sturm auf, und Wellen, höher als die Masten, bäumten sich um sie her auf. Kade war kein Hasenfuß, aber selbst er zitterte, als diese gewaltigen Wasserwände das Schiff hin- und herwarfen. Als sie voraus endlich die Küste erblickten, konnten sie es kaum fassen, noch am Leben zu sein, und er argwöhnte, dass er nicht der Einzige war, dem sich ein Seufzer der Erleichterung entrang, als die Tortur schon überstanden schien. Doch Mutter Natur war noch nicht fertig mit ihnen, und als der Kapitän den Hafen anzulaufen versuchte, wurde der Segler von einer erneuten Riesenwelle erfasst und gegen die Felsen geschleudert. Kade erinnerte sich noch vage an die Schreie der Männer und das verängstigte Wiehern der Pferde, ehe ihm ein greller Blitz des Schmerzes durch den Schädel gefahren war.

„Die Männer? Was ist …?“, fragte er und tat seiner Kehle damit große Qualen an.

„Nicht sprechen“, ermahnte Will ihn vorwurfsvoll. Er seufzte. „Wir haben Gordon und Parlan verloren, als das Schiff sank.“

Kade schloss die Augen. Diese Nachricht traf ihn hart. Parlan und Gordon – zwei weitere Männer, die sie der Zahl hinzufügen konnten, die dem Wahn des Kampfes um das Heilige Land zum Opfer gefallen waren. Von den dreißig Mannen, die mit ihm in Gefangenschaft geraten waren, hatten somit nur Domnall, Ian und Angus überlebt. Und Will natürlich, räumte er ein. Im Frühjahr 1268 waren Baibars und seine Heidenkrieger gegen Jaffa gezogen und hatten die Stadt, die Richard Löwenherz einst Saladin entrissen hatte, nach einer blutigen Schlacht unter mamelukische Herrschaft gebracht. Die meisten Christen waren von den Heiden einfach niedergemacht worden, und nur wenige, wie Kade und seine Kameraden, wurden versklavt. Das hatte sie fünf Jahre ihres Lebens gekostet, und obgleich er um all seine Freunde trauerte, empfand er auch Dankbarkeit, wenn er an sein eigenes Los dachte. Ihre Freundschaft hatte ihm während all der Prüfungen geholfen, bei Verstand zu bleiben.

„Aber Ian, Angus und Domnall haben es an die Küste geschafft“, fuhr Will mit fester Stimme fort. „Und als ich dich mit dem Gesicht nach unten im Wasser treibend fand, habe ich auch dich an den Strand ziehen können. Den Pferden ist es besser ergangen“, fügte er trocken hinzu. „Wir haben nur eines verloren. Die anderen konnten wir zusammentreiben, nachdem sie an Land geschwommen waren.“

Kade schnaubte. Lieber hätte er sämtliche Gäule eingebüßt als auch nur einen Mann.

„Ich habe dich vor mir im Sattel gehalten, und wir sind schnurstracks hierher nach Mortagne geritten. Du warst beinahe zwei Wochen lang bewusstlos und …“

„Zwei Wochen …?“, setzte Kade fassungslos an.

Aye, zwei Wochen“, fiel Will ihm ins Wort. Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, warum. Du hattest nur eine Beule, nicht einmal eine offene Wunde. Averill meinte allerdings, das sei nicht ungewöhnlich bei Kopfverletzungen. Eine kleine Beule kann einen Mann töten, während ein anderer sogar mit einem gespaltenen Schädel überlebt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wie dem auch sei, Averill hat seitdem wie eine Glucke über dich gewacht und dir mehrmals am Tag tröpfchenweise Brühe eingeflößt, damit du dich nicht doch noch davonstiehlst, indem du uns einfach verhungerst. Auch hat sie unentwegt auf dich eingeplappert. Das werde deine Seele an deinen Körper binden, hat sie beteuert, auf dass sie nicht auf Nimmerwiedersehen gen Himmel entfleuche.“ Er grinste. „Dir müssen die Ohren brausen von ihrem ständigen Gerede. Vermutlich bist du nur zu dir gekommen, um sie zum Schweigen zu bringen.“

Kade schüttelte den Kopf. Das Letzte, an das er sich erinnerte, war der Schiffbruch. Allerdings musste ein Teil seines Geistes in der Tat Averill gelauscht haben, denn er stellte fest, dass er ihre liebliche Stimme vermisste. Als habe er sie mit seinen Gedanken herbeigerufen, hörte er im nächsten Moment die Tür und das Trappeln von Frauenfüßen.

„Hier kommt der Trank.“ Die fröhliche Stimme wurde begleitet von einem Hauch des würzigen Blumendufts, der ihm schon mehrmals aufgefallen war. Ihr Erscheinen schien das Gemach aufzuhellen und ihr Frohsinn zumindest einen Teil der bitteren Erinnerungen fortzuspülen, die sich in Kades Gemüt verkrallt hatten. Blinzelnd scheuchte er auch die Übrigen fort und beobachtete, wie Averills dunkle, zierliche Gestalt auf ihn zugeeilt kam. Hinter ihr traten mindestens zwei, womöglich auch drei Mägde mit allerlei Dingen ein, die er nicht erkennen konnte. Auch die Frauen selbst blieben verwischte Schatten und weigerten sich, scharf hervorzutreten.

Das verdross Kade. Er wollte die Hände heben, um sich die Augen zu reiben, weil sie sich anfühlten, als habe jemand Sand hineingestreut. Er vermutete, dass sie nur ausgetrocknet waren, so wie sein übriger Körper. Sein Schädel fühlte sich an, als habe jemand alte Lumpen hineingestopft, sein Mund war so ausgedörrt, dass er nicht einmal genug Flüssigkeit sammeln konnte, um seine Kehle zu befeuchten, und auch seine Haut war trocken und spannte wie Pergament. Wobei es allerdings seine Augen waren, die ihm derzeit die größte Sorge bereiteten. Doch die Hände, mit denen er seine gereizten Augäpfel massieren wollte, fielen kraftlos aufs Laken zurück. Nicht einmal zum Heben der Arme brachte er genügend Stärke auf. Leise seufzend ließ er die nutzlosen Dinger, wo sie waren. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so schwach und hilflos gefühlt, und diese Erfahrung behagte ihm gar nicht.

„Will, hilf mir, ihn aufzurichten, damit er trinken kann“, wies Averill ihren Bruder an, als sie ans Bett trat, und Will erhob sich daraufhin. Averill wandte sich den Frauen zu, die ihr gefolgt waren, und sagte ihnen, wo sie die mitgebrachten Sachen abstellen sollten.

Kade verzog das Gesicht, als Will ihm den Arm um den Rücken legte und ihm aufhalf. Er wusste, er hätte es nicht allein geschafft, und widersetzte sich daher nicht, sondern ließ ergeben geschehen, dass Averill sich über ihn beugte und ihm den Becher an die Lippen setzte. Der Trank strömte ihm süß und kühlend in den Mund. Nie hatte er besseren Honigmet geschmeckt, und er hätte das Gefäß in zwei Schlucken geleert, wenn sie ihn gelassen hätte. Doch sie ließ ihn nur nippen und wartete, bis er geschluckt hatte, ehe sie den Becher erneut neigte.

„Mehr“, keuchte er ungeduldig, als sie ihm das Getränk ein drittes Mal entzog.

Obwohl sie nur ein verschwommener Fleck war, sah er, dass sie den Kopf schüttelte. „Nay, Ihr habt seit Wochen so gut wie nichts zu Euch genommen. Daher sollten wir behutsam beginnen.“

Kade bezwang seine Gier. Was blieb ihm auch übrig, als ihr geduldiges, langsames Vorgehen hinzunehmen? Als der Becher endlich leer war, ging ihm auf, dass sie recht gehabt hatte. Zwar war er immer noch durstig und lechzte nach mehr, doch in seinem Bauch brodelte es bedrohlich.

„Wie geht es Eurem Magen?“, fragte Averill, während sie den Becher beiseitestellte.

Anstelle einer Antwort verzog Kade nur das Gesicht. Behutsam ließ Will ihn wieder aufs Bett zurücksinken.

„Mit der Brühe warten wir wohl lieber noch ein Weilchen“, entschied sie, drehte sich zu den Mägden um und gab ihnen mit der Hand ein Zeichen.

Kade schaute in Richtung der Frauen und sah, dass eine von ihnen zur Tür schritt, vermutlich, um die Brühe wieder fortzubringen. Erneut wandte Averill sich zu ihm um. „Glaubt Ihr, Ihr könntet lange genug wach bleiben, dass Mabs Euch beim Frischmachen helfen kann? Oder würdet Ihr lieber ruhen und die Angelegenheit auf später verschieben?“

Er öffnete den Mund, um ihr zu versichern, dass er alles andere als müde sei, schließlich sei er gerade erst aufgewacht. Doch die Worte gingen in einem herzhaften Gähnen unter, das sich nicht unterdrücken ließ und dem, was er sagen wollte, Hohn sprach.

„Vielleicht morgen früh“, erwiderte Averill sanft, als habe er geantwortet. Er blinzelte schläfrig, während sie sich vorbeugte und die Decken und Felle um ihn her feststeckte. „Schlaft jetzt. Morgen werdet Ihr Euch schon besser fühlen.“

„Sollte er so rasch ermüden?“, hörte Kade Will leise fragen, als ihm bereits die Augen zufielen. „Er ist doch gerade erst zu sich gekommen.“

„Nächstes Mal wird er vermutlich schon ein wenig länger wach bleiben, doch schnell ermüden dürfte er noch eine ganze Weile“, erklärte sie. „Es hat mich überrascht, dass er überhaupt lange genug die Augen aufhalten konnte, um den Becher Met zu leeren.“ Averills Stimme drang Kade sanft und beruhigend ans Ohr und lullte ihn ein, sodass er in eine Art Halbschlummer glitt. Er wollte eigentlich gar nicht wieder wegtreten, doch Geist und Körper sahen dies offenbar anders, und das verhaltene Gemurmel war nicht laut genug, um ihn wach zu halten. Der Schlaf obsiegte.

2. KAPITEL

Averill erwachte mit einem Lächeln auf den Lippen. Sonnenlicht strömte durchs Fenster. Zunächst wusste sie nicht so recht, was sie so fröhlich stimmte. Seit ihr Vater sich in den Kopf gesetzt hatte, einen Gemahl für sie zu finden, hatte sie wahrlich kaum Grund zum Lächeln gehabt. Seit einiger Zeit fühlte sie sich meist schon beim Aufwachen bedrückt und verzagt, wenn sie an den bevorstehenden Tag dachte – der wieder einmal vom Gift der Zurückweisung verpestet werden mochte, sobald ein neuerlicher Bewerber über die Aussicht, sie zu heiraten, nur die Nase rümpfte und davonritt, um ansehnlichere Weidegründe zu finden. Wobei ihr Vater nicht einmal viele Männer hatte auftreiben können, um sie, Averill, vorzuführen, gestand sie sich ein. Gerade einmal drei hatten sich bislang bereitgefunden, doch drei konnten sich durchaus wie dreißig anfühlen, wenn ihr Gebaren nur verletzend genug war. Und da sie nie wusste, wann der nächste Kandidat erscheinen würde, erwachte sie jeden Tag aufs Neue mit der Furcht, es könne heute geschehen.

An diesem Morgen jedoch war Averill nicht von der üblichen Beklemmung erfüllt. Im Gegenteil – sie fühlte sich beschwingt und gut gelaunt, während sie so dalag und den Staub beobachtete, der im hereinfallenden Sonnenlicht tanzte. Einen Augenblick sann sie darüber nach, was sie geträumt haben mochte, dass sie derart frohgemut erwacht war, ehe ihr einfiel, dass Kade ja gestern Abend endlich zu sich gekommen war. Bei der Erinnerung daran setzte sie sich jäh auf, schlug Decken und Felle zurück und sprang aus dem Bett.

Erpicht darauf zu sehen, wie es ihm an diesem Morgen ging, eilte sie zu einer der beiden Truhen, die an der Wand standen, öffnete sie und kramte nach einem sauberen Unterkleid. Zwei Wochen lang hatte sie den bis gestern Bewusstlosen gepflegt. Will zufolge war er ohnmächtig gewesen, seit er ihn aus dem Wasser geborgen hatte. Als das Fieber endlich zurückgegangen war, ohne dass sein Freund aufwachte, war er in Sorge gewesen. Auch Averill hatte in den letzten Tagen um ihn gebangt. Schon einige Male hatte sie mit ansehen müssen, wie ein Kranker oder Versehrter in einen tiefen Schlaf gefallen war, aus dem er nicht mehr erwachte. Die Betroffenen hauchten ihr Leben aus vor den Augen ihrer hilflosen Angehörigen.

Sie hatte Will versichert, dass dies nun, da Kade wieder zu sich gekommen sei, nicht geschehen werde. Doch sich selbst gegenüber gestand sie ein, dass sie gefürchtet hatte, auch Kade könne Opfer dieses sonderbar tiefen Schlafes werden. Sie hatte ihr Bestes getan, um es zu verhindern: Mehrmals täglich hatte sie ihm schlückchenweise Brühe gegeben, damit er nicht verdurstete oder verhungerte; sie hatte geholfen, ihn zu waschen und alle paar Tage anders zu betten, damit er sich nicht wund lag; und unablässig hatte sie mit ihm gesprochen, um ihm zu verstehen zu geben, dass er nicht allein war.

Sie wusste nicht, ob letztlich ihre Bemühungen geholfen hatten oder ob seine Stunde einfach noch nicht gekommen war – jedenfalls war Kade am Leben und wieder bei Besinnung. Und sie glaubte, dass dieser glückliche Ausgang zumindest teilweise ihr zu verdanken sei. Nun wollte sie nach dem Kranken sehen und sich vergewissern, dass er nicht wieder in diesen unnatürlichen Schlummer geglitten war.

„Oh, Ihr seid auf.“

Averill zog gerade das Unterkleid hervor, das sie gewählt hatte, und richtete sich auf, als ihre Magd Bess in die Kammer trat. Die Frau war zwanzig Jahre älter als sie, hatte hellbraunes Haar, in das sich bereits graue Strähnen mischten, und war von schlanker Gestalt. Sie trug eine Waschschüssel und ein kleines Tuch, doch Averill beachtete beides nicht weiter, sondern sagte: „Komm, hilf mir beim Ankleiden. Ich möchte nach Kade sehen.“

„Ach, Kade nennt Ihr ihn schon?“ Bess stellte die Schüssel auf einer weiteren Truhe ab, legte das Tuch daneben und kam zu ihr.

Averill spürte, wie ihr angesichts des trockenen Tons der Magd die Röte in die Wangen stieg. Es gemahnte sie daran, dass sie kein Recht hatte, derart vertraulich über den schottischen Edelmann zu sprechen. Doch nachdem sie ihm zwei Wochen lang jede Kleinigkeit erzählt hatte, die ihr in den Sinn gekommen war, während er tief schlafend dalag und genas, hatte sie das Gefühl, ihn zu kennen. Der andere Grund, weshalb er ihr so vertraut erschien, war, dass Will ihr so viel über ihn berichtet hatte, wenn er ihr des Abends bei ihrer nimmermüden Wache am Bett seines Freundes Gesellschaft geleistet hatte. Dort, an Kades Krankenlager, hatte ihr Bruder ihr zahlreiche Geschichten über ihre Gefangennahme und die Zeit im Kerker erzählt, und es war nicht zu überhören gewesen, dass die vergangenen fünf Jahre eine unverbrüchliche Freundschaft zwischen ihm und dem Schotten hatten entstehen lassen. Ebenso war herauszuhören gewesen, dass Will eine hohe Meinung von dem Mann hatte … so wie Averill, nach allem, was sie über ihn erfahren hatte.

Sie hegte Bewunderung und Hochachtung dafür, dass Kade während der Zeit ihres Sklaventums den Lebenswillen ihres Bruders aufrechterhalten hatte. Auch dass Will nun in Freiheit lebte, war nur Kade zu verdanken, denn er allein hatte den tollkühnen Fluchtplan gefasst und ausgeführt. Zudem hatte er ihren verwundeten Bruder bis zu den Mönchen gebracht und ihm damit das Leben gerettet. Ja, Lord Stewart war ein feiner, ehrenwerter Mann und ihrem Bruder ein wahrer Freund.

Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als Bess ihr das Unterkleid aus den Händen zog und beiseitewarf. „Was …?“

„Ihr wascht Euch gefälligst wie jeden Morgen, und danach könnt Ihr Euch ankleiden und den Tag beginnen. Euer Schotte kann warten“, entgegnete Bess entschieden, fasste sie am Ellbogen und führte sie zu der Schüssel, die auf der Truhe stand.

„Er ist keineswegs mein Schotte“, wandte Averill ein und spürte ihre Wangen erneut heiß werden. Da sie jedoch aus Erfahrung wusste, dass Bess unerbittlich war, versuchte sie gar nicht erst, sich zu widersetzen. Also nahm sie das saubere Leinentuch, das neben der Schüssel lag, tauchte es ins Wasser und wusch sich eilig.

Zufrieden klaubte Bess das Unterkleid auf und suchte nach einem passenden Gewand für den anstehenden Tag.

Averill beachtete sie nicht weiter, während sie sich reinigte.

Als sie fertig war, hielt die Magd schon die Kleider bereit und half ihr, sie anzulegen. Dabei ging sie so betulich vor, dass Averill an sich halten musste, um nicht ungeduldig zu werden. Sie war erleichtert, als das Gewand endlich geschnürt war, und hastete zur Tür.

„Euer Haar!“, rief Bess, was sie innehalten ließ.

Mit einem Seufzer, der ihre Gereiztheit deutlich zum Ausdruck brachte, ging Averill zurück und ergab sich dem Gewese, das die Frau um ihr Haar machte und das ihr schrecklich übertrieben vorkam. Ruhelos wippte sie mit dem Fuß, während sie wartete.

„So, jetzt seid Ihr fertig“, sagte Bess endlich. „Nun geht in die Halle hinunter und nehmt etwas zu Euch.“

„Zunächst sehe ich nach Kade“, erwiderte Averill, schon auf dem Weg zur Tür.

„Ihr könnt ruhig zuvor etwas essen“, sagte Bess bestimmt. „Euer Bruder und die drei Schotten sind bei ihm. Ich glaube kaum, dass sie Wert auf Eure Anwesenheit legen.“

„Dann ist er also wach?“ Sie hielt inne, die Hand schon an der Tür, und blickte zurück.

Aye. Hat im Morgengrauen die Augen geöffnet, und seitdem kümmerte sich Mabs um ihn. Er ist wach und zudem getränkt, gefüttert und gestriegelt.“

„Was hat Mabs ihm zu essen gegeben?“, fragte Averill besorgt.

„Brühe, wie Ihr angewiesen habt“, beruhigte Bess sie und fügte spöttisch hinzu: „Obwohl er, wie sie sagt, lieber etwas Anständiges im Bauch haben wollte und einen ganz schönen Lärm deswegen veranstaltet hat.“

„Er wird noch keine feste Nahrung vertragen“, erwiderte Averill stirnrunzelnd.

„Genau das hat Mabs ihm auch gesagt“, erklärte Bess. „Doch er hat ihr nicht geglaubt, bis Brühe und Met versuchten, ihm wieder die Kehle hochzusteigen. Da hat er endlich ein Einsehen gehabt und nicht länger um Essen gebettelt.“

Averill nickte. Das überraschte sie nicht. Zwar hatte sie in den letzten zwei Wochen ein wenig Flüssigkeit in ihn hineinbekommen, doch da es schwierig war, einen Bewusstlosen zu füttern, war ihm ein Großteil der Brühe und des Mets, den sie ihm hatte einflößen wollen, wieder aus dem Mund geronnen. Nachdem er so lange nichts als ein paar Schlucke zu sich genommen hatte, war es nur verständlich, dass ihm ein ganzer Becher Brühe oder Met schwer im Magen lag.

„Also“, setzte Bess an und riss sie aus ihren Gedanken. „Geht ruhig erst hinunter und esst etwas, während er mit seinen Männern redet. Wenn er fertig ist, könnt Ihr ja immer noch nach ihm sehen.“

„Aye.“ Averill seufzte und öffnete die Tür.

Viel lieber wäre sie sofort zu Kades Gemach gehastet, um sich selbst davon zu überzeugen, dass er wach und wohlauf war. Doch sie wusste, dass Bess recht hatte und ihr Erscheinen kaum erwünscht sein würde. Zweifellos hatte Kade Aufgaben für seine Männer, wollte seine Familie wissen lassen, dass er am Leben sei und es ihm gut gehe und derlei Dinge. Will hatte erzählt, dass Kade eine Schwester namens Merry sowie zwei Brüder und einen Vater hatte, und gewiss sorgten sie sich um ihn. Schließlich hatte auch sie sich um Will gesorgt, nachdem er das Kreuz genommen und sie jahrelang kein Sterbenswörtchen von ihm gehört hatte. Sie jedenfalls war überglücklich gewesen, als er zwei Wochen zuvor in den Burghof von Mortagne eingeritten war, dachte sie bei sich, während sie die Stufen hinabschritt.

In der großen Halle herrschte, wie jeden Morgen, reger Betrieb. Die Tische waren fast vollständig besetzt mit Schmausenden, überall drängten sich Menschen, die entweder kamen oder gingen, Knechte und Mägde eilten mit Speis und Trank umher, und Gesprächsfetzen schwirrten durch die Luft, einige verhalten gemurmelt und andere quer durch die Halle gerufen.

Averill ließ sich auf dem Platz neben ihrem Vater nieder, schenkte ihm ein Lächeln und wünschte ihm leise einen Guten Morgen, während einer der Bediensteten zu ihr trat und einen Becher Met sowie Brot und Käse vor ihr abstellte.

„Guten Morgen, mein Mädchen“, grüßte ihr Vater gut gelaunt. „Wie ich höre, ist der Schotte wach und munter.“

„Aye.“ Sie lächelte leicht und nickte. Kade war gestern zu weit vorgerückter Stunde zu sich gekommen, und die meisten Burgbewohner waren bereits zu Bett gegangen oder hatten sich zumindest schon zurückgezogen, als sie aus der Kammer getreten war und eine Magd ausfindig gemacht hatte, um Will zu benachrichtigen. Vermutlich war ihr Vater unter denen gewesen, die sich schon schlafen gelegt hatten.

„Das ist meine Tochter! Hast ihm wieder auf die Beine geholfen und ihn die ganze Zeit über gepflegt. Du bist ein gutes Mädchen, Averill. Jeder Mann sollte sich glücklich schätzen, dich zur Frau zu haben“, sagte er ernst und runzelte die Stirn. „Ich verstehe diese törichten jungen Gecken von heute nicht. Sie sollten wahrlich dankbar sein, dich zu bekommen, und doch wenden sie sich von dir ab, als habest du eine Seuche.“

Averill seufzte ob seines verständnislosen Tons. Er begriff es einfach nicht, und seine Enttäuschung ging ihr nahe. Sie räusperte sich. „Ich habe rotes Haar, Vater, und viele sehen darin das Zeichen des Teufels oder den Hinweis auf ein feuriges Gemüt, ein allzu freizügiges Wesen oder auch …“

„Pah!“, unterbrach Lord Mortagne sie ungeduldig. „Närrischer Aberglaube. Das Haar deiner Mutter war von derselben Farbe, und sie war immer eine liebreizende, pflichtgetreue Gemahlin. Nie hat sie einen anderen Mann auch nur angesehen, und ganz gewiss war sie nicht böse oder heißblütig oder was immer noch an Unfug erzählt wird.“

„Aber da ist zudem das Mal auf meiner Wange“, fuhr sie fort, entschlossen, ihm endlich die Augen für das zu öffnen, was andere sahen. „Auch dieses halten einige für das Zeichen des Teufels.“

„Es ist ein winziges Muttermal, das wie eine Erdbeere aussieht“, wandte er wegwerfend ein. „Nicht größer als eine Erbse. Man sieht es ja kaum.“

Averill ging nicht darauf ein, sondern wartete stattdessen mit ihrem letzten Makel auf – dem letzten zumindest, den sie ihm zu beichten wagte. „Ich stottere, wenn ich mich unbehaglich fühle, und das lässt mich wie eine Närrin dastehen. Und wenn ich einem dieser Männer gegenüberstehe, die du als Bewerber auserkoren hast, fühle ich mich immer unbehaglich.“

Aye, zugegeben“, räumte er seufzend ein, da er dies schwerlich widerlegen konnte. Noch einmal seufzte er, dieses Mal tief. „Aber bei Verwandten und Freunden stotterst du nicht“, stellte er gereizt fest.

„Nay“, pflichtete sie ihm bei. „In deren Gegenwart fühle ich mich ja auch nicht unwohl oder bloßgestellt.“

„Wenn du in diesen Männern vielleicht Freunde statt Werber sehen könntest …“ Er verstummte, als er ihre zweifelnde Miene sah, fuhr dann jedoch unbeirrt fort: „Womöglich könnten wir dafür sorgen, dass du dich entspannst, ehe sie kommen. Damit du nicht stotterst.“

Noch immer blickte sie misstrauisch drein. „Wie das?“

Er dachte kurz nach und griff dabei geistesabwesend nach seinem Becher, hob ihn hoch, stutzte und starrte in das verdünnte Bier, das er bevorzugt trank. Seine Augen wurden groß, die Brauen schoben sich auf der furchigen, alten Stirn nach oben, und er gab einen Laut von sich, der davon kündete, dass ihm gerade etwas eingefallen war. „Du wirst etwas trinken!“

„Trinken?“, wiederholte sie verblüfft.

Aye. Ein starker Tropfen raubt jedem Mann die Beherrschung und macht ihn redselig und gesellig. Warum sollte es bei dir anders sein?“

„Oh, Vater!“, rief sie entgeistert, doch der Gedanke hatte sich bereits in ihm festgesetzt, und er duldete keinen Widerspruch. Vermutlich hatte er ihren Einwand gar nicht gehört, denn er redete einfach weiter.

„Gleich beim kommenden Mal versuchen wir es damit. Ich überlege mir, wen ich als nächsten Kandidaten einladen soll, und sobald er durchs Tor reitet, lassen wir dich ein oder zwei Gläser Whisky trinken, ehe er dich zu sehen bekommt, und dann …“ Er sprang auf. „Ich muss sofort diese Liste von Nathans mit den Namen der Männer durchgehen, die entweder eine Verlobte verloren oder nie eine gefunden haben. Ich werde schauen, welchen der Burschen ich am wenigsten ausstehen kann – an dem probieren wir es zuerst aus. Und wenn es gelingt, versuchen wir es mit demjenigen, der mir von den Verbliebenen der Liebste ist. Oh, welch meisterhafter Einfall! Wäre ich doch nur schon früher darauf gekommen.“

Entsetzt starrte Averill ihm nach, als er davonstürmte, um den Brief seines Freundes Nathans zu suchen. Wie aufgeregt er war, ließ sich daran ausmachen, dass er trotz seiner Leibesfülle überaus hurtig die Halle durchquerte. Er schien in etwa so aufgekratzt zu sein, wie sie bestürzt war. Dies war die grauenhafteste Eingebung, die er je hatte. Sie trunken machen, um sie ruhigzustellen, ehe sie einem dieser hochnäsigen Stutzer gegenübertrat, der sie im Hinblick auf eine mögliche Eheschließung beäugen würde? Schon stocknüchtern fiel es ihr schwer, diesen Kerlen nicht die Faust ins Gesicht zu rammen, wenn sie sich ihr gegenüber abfällig benahmen. Würde der Whisky auch noch ihre letzten Hemmungen fortspülen, so würde sich unweigerlich das Gemüt Bahn brechen, das sie stets zu verbergen bemühte, und das mochte schlimm enden.

Sie ließ den Brocken Brot, den sie genommen hatte, wieder fallen und richtete sich seufzend auf. Sie hatte keine Ahnung, ob alle Rotschöpfe ein solches Wesen besaßen, wie der Aberglaube behauptete, doch auf sie und ihre Mutter traf es jedenfalls zu. Allerdings hatte ihre Mutter Margaret ihr von Kindesbeinen an eingebläut, ihrer Natur nie nachzugeben. Sie selbst hatte sich ihr Leben lang eisern beherrscht, sodass nicht einmal ihr Gemahl davon erfahren hatte. Und auch Averill hatte sie von klein auf dazu angehalten, dasselbe zu tun … und das hatte sie. Sie hatte sich stets in der Gewalt. Sie hatte sich selbst dann noch gezügelt, als der letzte Bewerber ihr hohnlächelnd ins Gesicht gesagt hatte, dass er niemals eine rothaarige Teufelin mit dem Mal Satans auf der Wange ehelichen werde, der noch dazu der Verstand fehle, den Gott den meisten Menschen mitgegeben habe. Sie hatte ihm nicht ins Gesicht gespien und hatte ihm auch nicht mit den Fingernägeln das Antlitz entstellt, wie sie es nur zu gern gemacht hätte. Nein, sie hatte sich im wahrsten Sinne auf die Zunge gebissen, ihn mit einem lieblichen Lächeln bedacht und sich abgewandt, um wieder hinein in den Wohnturm und unverzüglich in ihre Kammer zu gehen, wo sie sich gezwungen hatte, sich hinzulegen und an die Decke zu starren, bis das Verlangen danach, laut aufzuheulen und Gegenstände umherzuschleudern, nachgelassen und sie sich wieder gefasst hatte.

Doch durch einen starken Tropfen mochte sie diese Fassung sehr wohl verlieren und allen zeigen, dass sie in der Tat das Wesen besaß, das man Rothaarigen gemeinhin nachsagte – dass sie sich zwar zähmen konnte und der Welt gegenüber ein liebenswürdiges Naturell an den Tag legte, insgeheim jedoch gerne dann und wann gegen ein paar Schienbeine treten und davonlaufen würde … zumindest für eine Weile.

Averill verzog das Gesicht, als sie sich vor Augen rief, dass sie die Beherrschung verloren hatte. Das war an jenem Tag gewesen, als sie den Hauptmann der Wache gepeinigt hatte und davongerannt war. Es war das einzige Mal gewesen, dass sich ihr wahres Wesen hatte Bahn brechen können. Und es hatte ihre Mutter bewogen, ihr beizubringen, sich fürderhin zu mäßigen.

Sie biss sich auf die Unterlippe und warf einen Blick in Richtung der Treppe nach oben, weil sie sich unvermittelt fragte, wie viel von ihrer Geschichte Kade wohl mitbekommen hatte. Sie hatte geglaubt, er schlafe, ansonsten hätte sie ihm das Ganze nie berichtet, doch dann hatte er diese Frage gestellt … In jenem Augenblick war sie zu überrascht und froh darüber gewesen, dass er aus seinem widernatürlichen Schlummer erwacht war, um auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, wie viel von der Erzählung über ihren kindlichen Wutausbruch er gehört hatte. Sie quälte sich einen Moment mit dieser Frage, ehe sie ihre Besorgnis beiseiteschob. Jeder auf Mortagne wusste von dem Vorfall, und niemand dachte sich etwas dabei. Allein ihre Mutter hatte ihn als Hinweis auf das heikle Wesen ihrer Tochter erkannt und sich umgehend darum gekümmert, dass Averill sich künftig in der Gewalt hatte.

In ihren Augen leuchtete es kurz auf, als Will auf dem oberen Treppenabsatz erschien. Sein Anblick vertrieb das Missbehagen, das der Plan ihres Vaters ihr bereitete. Hinter ihrem Bruder machte Averill die drei Schotten aus. Sie vergaß ihr Morgenmahl, erhob sich und schritt auf die Stufen zu. Nun konnte sie endlich nach Kade sehen und sich selbst vergewissern, dass er wohlauf war.

„Schließt die Augen.“

Kade funkelte die alte Frau – Mabs war ihr Name – finster an und scheuchte sie fort. „Mir geht es gut, lass mich in Frieden.“

„Euer Kopf schmerzt, oder etwa nicht? Dies wird Euch helfen“, wandte sie unbeeindruckt ein und schob seine Hände beiseite.

Das gelang ihr so mühelos, als sei er ein Säugling, wie er verbittert feststellte. Bedachte man, wie schwächlich er war, war dieser Vergleich durchaus treffend. Zwar war er an diesem Morgen schon ein wenig kräftiger und konnte zumindest die Hände heben, doch war er noch immer so gebrechlich, dass er nicht einmal ein altes Weiblein abzuwehren vermochte. Das war für einen Krieger wie ihn ein harter Brocken. Das musste er sich eingestehen, während Mabs sich mit einem feuchten Tuch in der Hand vorbeugte.

Er blickte noch immer düster, schloss aber die Augen, gerade noch rechtzeitig, bevor sie das Tuch darauflegte. Als das grelle Sonnenlicht, das durch die offenen Fensterläden hereinfiel, ihm nicht länger zusetzte, atmete er erleichtert auf. Die feuchte Kühle drang in die Haut um seine Augen und linderte den Schmerz, der sich während des Gesprächs mit seinen Männern und Will eingestellt hatte.

„Fühlt sich doch schon besser an, nicht wahr?“, bohrte die alte Krähe nach.

Als Kade nur grunzte, gluckste sie belustigt. Nie hatte er ein Lachen gehört, dass einem Gackern so nahe kam. Er seufzte unfroh und wünschte einmal mehr, Averill sei da.

Er war nicht gerade erfreut gewesen, als er im Morgengrauen aufgewacht war und diese Harpyie anstelle von Wills Schwester neben seinem Bett vorgefunden hatte. Während Averills Stimme lieblich war und beruhigend, war der Ton dieser Frau unwirsch und schneidend, und sie hatte ihn bislang auch nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst. Wie ein Stück Fleisch hatte sie ihn beim Waschen behandelt und ihn recht unsanft hin- und hergewälzt, während sie das Laken wechselte. Das ganze Erlebnis war für einen Mann, der es gewohnt war, sich um sich selbst zu kümmern, überaus unerquicklich und demütigend gewesen, und er war sicher, dass es eine ganz anders geartete Prüfung gewesen wäre, hätte Averill all dies getan.

Zu allem Überdruss gab ihm dieses alte Mütterchen auch noch nichts anderes als Brühe oder Met. Kade aber wollte vernünftiges Essen. Er wollte wieder zu Kräften kommen. Als er ihr dies jedoch sagte, hatte sie nur erklärt, dass Lady Averill angewiesen habe, er dürfe noch keine feste Nahrung zu sich nehmen. Offenbar war sie Averill und deren Anordnungen gänzlich ergeben – jedenfalls hatten weder Gejammer noch Befehle sie erweichen können.

Das Geräusch der sich öffnenden Tür drang an sein Ohr, und er hielt den Atem an, um zu lauschen, wer wohl eingetreten war. Der Anflug eines erleichterten Lächelns umspielte seine Lippen, als er Gewürze und Blumen roch und Averill mit sanfter Stimme Mabs begrüßen hörte, gefolgt vom leisen Getrappel ihrer Schritte, als sie sich eilig auf sein Bett zubewegte.

„Herrje!“, rief sie. Es klang, als stünde sie nun unmittelbar neben ihm. „Weshalb der kalte Umschlag? Machen ihm seine Augen immer noch zu schaffen, Mabs?“

„Nay“, wandte Kade ein, doch sein heiseres Krächzen ging in Mabs’ Worten unter, als sie erklärte: „Aye. Nachdem sie derart viele Wochen geschlossen waren, müssen sie sich erst wieder ans Licht gewöhnen. Lasst den kühlenden Wickel so lange wie möglich liegen. Ich denke, das wird die Heilung beschleunigen.“

Er hörte beklommen, dass Averill ihr leise zustimmte, und lauschte den beiden Frauen, während sie zur Tür schritten. Zwar hielten sie die Stimmen gesenkt, doch verstand er genug, um zu erfassen, dass Mabs berichtete, wann er aufgewacht war und was sie seitdem mit ihm angestellt hatte.

Nach einer Weile verstummte das verhaltene Gespräch, und er hörte, wie die Tür sich öffnete und wieder schloss, nachdem die alte Frau hinausgeschlurft war.

„Nun denn.“ Averills Stimme umschmeichelte ihn so sanft und süß, wie er sie in Erinnerung hatte. An ihren Schritten erkannte er, dass sie die Kammer durchquerte und das Bett umrundete, um sich auf dem Stuhl niederzulassen, auf dem sie auch gesessen hatte, als er das erste Mal erwacht war. Stoff raschelte leise, als sie sich setzte. Er lächelte und atmete tief den Duft ein, den die Luft ihm zutrug. „Fühlt Ihr Euch besser heute Morgen?“, fragte sie.

Kade hob den Arm, um sich das Tuch von den Augen zu nehmen und sie anschauen zu können. Zwar schaffte er es dieses Mal, die Hand bis zu seinem Gesicht zu bringen, doch Averill ergriff sie, ehe er sich den Lappen fortziehen konnte. Sie drückte den Arm wieder aufs Laken nieder.

„Lasst den Umschlag vorerst lieber, wo er ist“, sagte sie. „Vielleicht sorgt er tatsächlich dafür, dass Euer Augenlicht rascher zurückkehrt.“ Die Worte waren leise, doch eine stählerne Unnachgiebigkeit schimmerte hindurch, und ihr Griff um seine Hand war fest, ehe sie diese wieder freigab und tätschelte. „Außerdem“, fügte sie fröhlich hinzu, „gibt es hier ohnehin nichts zu sehen, lediglich ein Bett, einen Stuhl, den Kamin und ein wenig Sonne.“

„Es gibt Euch“, wandte er leise ein. Sie lachte auf. Es klang eine Spur bitter.

„Glaubt mir, ich bin die Kopfschmerzen nicht wert, die Ihr riskieren würdet“, erklärte sie trocken.

Kade runzelte angesichts dieses Bekenntnisses die Stirn. Ihm fiel ein, wie sie bei seinem Erwachen darüber geklagt hatte, dass ihr Vater sie zu verheiraten suche, sie jedoch von den Kandidaten nur mit gefühllosen Beleidigungen abgewiesen werde. Das machte ihn neugieriger denn je, sie zu betrachten, doch fürs Erste ließ er den Wickel, wo er war. Er wollte auf den geeigneten Zeitpunkt warten. Stärke und ein geschickter Umgang mit dem Schwert waren nicht der einzige Grund, weshalb er vor seiner Gefangenschaft weithin den Ruf eines herausragenden Kriegers genossen hatte. Ein wacher Verstand war ebenso wichtig, und seine sieche Verfassung hatte diesem keinen Abbruch getan. Kade wusste, wann es besser war, zu warten und auf einen günstigeren Augenblick zu hoffen, und so auch jetzt. Er wollte Wills Schwester keinesfalls verstimmen oder ihr Anlass zu Unbehagen geben, und deshalb würde er sich in Geduld üben, bis die Zeit gekommen war, entschied er.

„Wird einer Eurer Männer sich aufmachen, um Eure Familie zu benachrichtigen?“, fragte sie und zog damit seine Aufmerksamkeit erneut auf sich. Als er mit einer Antwort zögerte, fuhr sie fort: „Will hat mir erzählt, dass Eure Mutter schon verschieden war, ehe Ihr das Kreuz nahmt, dass Ihr aber eine Schwester, zwei Brüder und noch Euren Vater habt. Er hat davon abgesehen, ihnen zu schreiben und falsche Hoffnungen zu wecken, und wollte lieber warten, bis wir sicher sein konnten, dass Ihr Euch erholen würdet. Allerdings dürften sie sehnlich auf Nachricht von Euch warten.“

Kade presste leicht die Lippen aufeinander. Er bezweifelte, dass sein Vater und seine Brüder in den vergangenen sieben Jahren auch nur einmal nüchtern genug gewesen waren, um sich Gedanken über ihn zu machen. Ganz anders hingegen verhielt es sich mit seiner kleinen Schwester. Merry würde sich sehr wohl um ihn grämen. Eine seiner ersten Anweisungen an diesem Morgen hatte daher gelautet, Domnall, Ian und Angus nach Stewart zu schicken und Merry mitteilen zu lassen, dass er aus dem Heiligen Land zurück sei und selbst nachkommen werde, sobald er dazu in der Lage sei.

„Ich habe alle drei Männer geschickt“, erklärte er, „weil ich noch mehr als nur diese eine Aufgabe für sie hatte.“

„Ah“, erwiderte sie und bewies, wie gut sie die männliche Gesinnung kannte, indem sie fragte: „Haben sie sich sehr geziert, Euch hier zurückzulassen?“

Er lächelte leicht ob ihrer scharfsinnigen Erkenntnis, denn die drei hatten in der Tat viel Aufhebens gemacht und ihn nicht allein auf Mortagne zurücklassen wollen, ohne dass jemand ein Auge auf ihn hatte. Er überlegte kurz, ob er es abstreiten sollte, entschied aber schließlich, ihr die Wahrheit zu sagen. „Aye, wie alte Weiblein haben sie sich geziert und Eurem Bruder die übelsten Absichten unterstellt, kann ich Euch sagen. Doch ich bin hart geblieben, und so werden sie aufbrechen.“ Er verzog das Gesicht. „Ich lege weiß Gott keinen Wert darauf, dass sie mich immerzu umschwirren, während ich mich erhole. Zudem ist dies Wills Heimstatt, und ich bin hier sicher. Ich vertraue ihm.“

„Und er vertraut Euch“, sagte Averill leise.

Kade nickte stumm. Daran hatte er nicht einen Herzschlag lang gezweifelt. Sie hatten während ihres Sklavendaseins gelernt, einander zu vertrauen, denn sie hatten überlebt, indem sie einander den Rücken gedeckt hatten. Er, seine Männer und Will waren nicht die einzigen Gefangenen im Kerker gewesen. Auch einige ehemalige Bewohner der von Baibars eingenommenen Städte hatten dort gesessen. Die meisten seien getötet worden, hatte man Kade zugetragen, doch einige hatte man verschont, damit sie für ihre neuen „Herren“ schufteten – Herren, die ihnen kaum mehr als ein wenig dünne Suppe und verfaultes Gemüse zu essen gaben und die sie unter der heißen Sonne des Morgenlandes regelrecht zu Tode schikanierten.

Schwächlich und fügsam wollte man die Sklaven, und so reichte das Essen nie für alle. Männer töteten ihre eigenen Mitgefangenen für wenig mehr als einen Kanten Brot und eine Handvoll Schweinefutter. Doch die Zahl derer, die durch die Hand ihrer verzweifelten Kameraden starben, war nichts im Vergleich zu der Menge gewesen, die zu Tode geprügelt oder geschunden worden war.

„Will erzählte mir, dass die Flucht Euer Plan gewesen sei und Ihr ihn damit überrascht habt. Ian habe sich auf Euer Geheiß hin tot gestellt, sagte er, und als die Wachen Euch aufgefordert hätten, ihn nach draußen zu tragen, um ihn zu begraben, hättet Ihr den Wachmann angegriffen, der Euch am nächsten war, und ihm Schlüssel und Schwert abgerungen.“

Autor

Lynsay Sands

Bekannt ist die kanadische Autorin Lynsay Sands für ihre historischen sowie übernatürlichen Geschichten, die sie mit ihrem speziellen Humor ausstattet. Sie hat eine Buchreihe über die Familie Argeneau verfasst, dabei handelt es sich um eine moderne Vampirfamilie. Für ihre über 30 Bücher hat sie bereits mehrere Auszeichnungen erhalten. Ihr...

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