PROLOG
Irgendwann Mitte des achtzehnten Jahrhunderts hatte Charles Redgrave, der sechzehnte Earl of Saltwood, die fixe Idee, dass der Anteil an Stuart-Blut in seinen Adern den des Hauses Hannover übertraf, das derzeit (irrtümlicherweise, versteht sich) den englischen Thron besetzte.
Charles wollte die Macht nicht teilen, die er als die seine betrachtete, sah aber ein, dass er ein paar einigermaßen intelligente Helfer benötigte, Untergebene, die jeden seiner Befehle befolgen und ihm, ganz gleich, aus welchen unbedeutenden Beweggründen, helfen würden, seine Ziele zu erreichen.
Und somit war die Vereinigung, ein absolut einzigartiger Höllenfeuer-Klub, geboren.
Der innere Kreis, das Teufelsdutzend, wie man die Männer damals nannte, waren von Charles handverlesen. Er bot ihnen, wenn nicht gerade Sonne und Mond, so doch immerhin eine geheime Welt irdischer Freuden, dazu Reichtum und Macht, wie sie es sich nie erträumt hätten. Sobald er die Auserwählten um sich geschart hatte, gleichgesinnte Verräter allesamt, suchten sie sich ihre Lakaien, denn die besten Königshöfe verfügten nun mal über Lakaien, Speichellecker, nützlich, loyal, und doch entbehrlich.
Er richtete einen geheimen Vergnügungspalast auf Saltwood-Land ein, in dem jegliche Begierde befriedigt, jeglicher Fleischeslust gefrönt, jedes Laster unterstützt werden sollte, von Frauen (wie Charles wusste, immer ein wirksamer Magnet) bis zu berauschenden Opiumpfeifen. Auch das Versprechen intellektuellen Austausches war irgendwie enthalten sowie das hochgesteckte Ziel eines gerechter regierten Englands, doch die eher minderwertigen Mitglieder interessierten sich hauptsächlich für die albernen Kostüme und das Vögeln.
Erst wenn ihren Gelüsten entsprochen war, ihre Erwartungen sogar übertroffen worden waren, und die ersten Forderungen gestellt wurden, wurde ihnen wirklich bewusst, dass dieser spezielle Höllenfeuer-Klub, diese Vereinigung, sie nun in der Hand hatte, sie und ihren Ruf, und Charles’ jedweder Wunsch war plötzlich Befehl.
Charles wusste, dass er nun noch eines brauchte: ein Heer. Mit diesem Begehren wandte er sich an Frankreich und schloss einen weiteren Pakt mit dem Teufel, im festen Glauben, dass er sich auf dem besten Weg zur Thronbesteigung befand.
Stattdessen fand sich Charles eines Morgens aber mausetot wieder (ein verdorbenes Fischgericht, wie traurig), bevor das französische Heer mit dem einladenden Strand von Redgrave Manor als Ziel in See stechen konnte. Das Teufelsdutzend und die Lakaien verkamen zu einer eher langweiligen Gesellschaft und hofften, die Masken, die sie während ihrer Zeremonien getragen hatten, und die Decknamen würden ihre Identität schützen.
Abgesehen von Getuschel über Ausschweifung und Aufruhr, wäre die Vereinigung wohl in Vergessenheit geraten, doch es gab einen Haken. Charles hatte angeordnet, dass jedes Mitglied ein Tagebuch anlegte. Diese Tagebücher wurden alljährlich dem Hüter vorgelegt, damit er die „Bibel“ auf den neuesten Stand brachte, den Schlüssel zu allem, was die Vereinigung betraf.
Als die Zeit für reif erachtet wurde, hatte der Hüter diese Tagebücher sowie die Bibel pflichtschuldigst Charles’ einzigem Sohn ausgehändigt. Barry Redgrave wusste das, was er las, wie gehofft aufrichtig zu schätzen und kam offenbar zu dem Schluss, dass sein verstorbener Erzeuger nicht weniger als ein verdammtes Genie gewesen war. Zusätzlich zu einer nahezu unheimlichen Ähnlichkeit hatte Barry Charles’ Vorliebe für die eher perversen Freuden geerbt, die das Leben zu bieten hatte. Wenngleich Barry überzeugt war, besser auszusehen als sein Vater und entschieden klüger zu sein.
Und das verdorbene Fischgericht? Darüber wusste der Hüter etwas völlig anderes zu berichten.
Noch bevor er volljährig war, hatte Barry die Leitung von Redgrave Manor übernommen, indem er seine in ihn vernarrte, aber merkwürdig flatterhafte Mutter beschwatzte und sie mit seinem Lächeln, seiner aufgesetzten Zuneigung auf seine Seite zog, während er heimlich hinter ihrem Rücken agierte. Am Morgen seines einundzwanzigsten Geburtstags, nach einer langen, mit seinen Freunden durchzechten Nacht in der Stadt, schwankte er unsicheren Schritts betrunken in die Gemächer seiner Mutter im Palais am Cavendish Square, um die Frau mit einer brutalen Ohrfeige, gefolgt von einem harten Schnapsfahnenkuss auf den Mund zu wecken.
Begleitet wurde er von einem Gefolge aus Dienstmädchen und Dienern, bereit „deine Sachen zu packen, du mordende Hure.“ Er verweigerte ihr jegliche finanzielle Unterstützung, es sei denn, sie beschränkte ihre Besuche auf Redgrave Manor auf einen Monat pro Jahr.
Dann stattete er am Grosvenor Square einen heimlichen Besuch ab. Er dankte dem alternden Hüter, seinem Ziehvater im Hinblick auf die Vereinigung, für alles, was er geleistet hatte, und bat ihn, Charles zu grüßen, bevor er den alten Narren die Marmortreppe hinunterstieß.
Zwei Wochen später kaufte er eben dieses Palais am Grosvenor Square und überließ die haarsträubende Monstrosität am Cavendish Square seiner Mama zur Nutzung. Sollte sie doch mit den dortigen Gespenstern leben!
Und lasset die Spiele beginnen!
Während seine noch junge und wunderschöne Mutter den Kontinent bereiste oder in Mayfair feierte, ernannte er seinen allerbesten Freund, Turner Collier, zum Hüter der Gruppe und zum Bewahrer der Bibel. Dann machten sie sich daran, alle noch lebenden Mitglieder des ursprünglichen Teufelsdutzend und der Lakaien zusammenzutrommeln, und bald schon war die Vereinigung wieder im Geschäft. Er lernte eine spanische Schönheit von niederem Adel kennen und heiratete sie, weil er sie für eine angemessene Zuchtstute hielt, schwängerte sie, sooft er konnte, vergrößerte das Palais und den Landbesitz. Und plante Verrat. Und intrigierte. Und fügte seiner Vereinigung immer mehr Gleichgesinnte und hilfreiche Untergebene hinzu.
All das innerhalb der Grenzen seiner ersten und einzigen wahren Liebe: Redgrave Manor.
Beinahe zehn Jahre der Planung und Verschwörung und Bestechung schien alles bestens zu laufen. Seine Verhandlungen mit dem König von Frankreich würden bald Früchte tragen. Bis der Sturm auf die Bastille Barrys Ehrgeiz den ersten vernichtenden Schlag versetzte. Kurz darauf folgte sein trunkener Entschluss, sich mit dem französischen Liebhaber seiner Frau zu duellieren, nur um auf sein hübsches Gesicht zu fallen, als eine versteckt hinter Bäumen abgefeuerte Waffe ihm ein Loch in den Rücken schoss und seinem Leben ein Ende setzte. Die frischgebackene Witwe ließ, die rauchende Pistole angeblich noch in der Hand, auf der Stelle ihre vier Kinder im Stich und brannte mit ihrem Liebhaber nach Frankreich durch.
Was darauf folgte, waren unverhohlene Spekulationen in der vornehmen Gesellschaft über eine Art obszönen Höllenfeuer-Klub und sogar darüber, dass Barry Redgrave seine Frau seinen Teufelsanbeter-Freunden als Hure angedient hatte und sie ihn eigentlich aus diesem Grund erschossen hatte. Man munkelte von Aufruhr und Verrat und erinnerte sich an Barrys Vater und die damaligen Gerüchte, die wieder ans Licht gezerrt wurden. Doch in erster Linie ging es um den Kitzel des Mordskandals, um die Gründe für den Mord und um den Schlag ins Gesicht derer, die die Redgraves für unmoralisch hielten, für ungeeignet, den Titel eines Earls zu behalten (und das Anwesen und all das schöne Geld).
Es war, als würde Barry tot eine größere Gefahr darstellen als lebendig. Die Redgraves drohten alles zu verlieren … einschließlich der Kontrolle über ihre Geheimnisse.
Auftritt der entschlossenen Beatrix, Dowager Countess of Saltwood und erbittert beschützende Großmutter von Barrys vier so gut wie verwaisten Kindern. Die inzwischen köstlich berüchtigte Trixie, die ihr gesamtes Leben als Witwe damit verbrachte, die feine Gesellschaft, insbesondere die Männer, nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen, sowohl die, die sie verachtete, als auch die, die sie bewunderte und die, die sie vielleicht eines Tages benutzen konnte.
Sie hatte viel von Charles gelernt …
Vielleicht überstand sie den Skandal, weil sie ordentlich Zaster hatte, aber höchstwahrscheinlich eher, weil sie mehr wusste, als die meisten Männer die Welt (und besonders ihre Gattinnen) gern hätten wissen lassen. Jahrzehntelang bewahrte sie hartnäckig (und vielleicht eher schlau als legal) den Titel des Earls für ihren ältesten Enkel, Gideon, der erst neun gewesen war, als sein Vater überstürzt im Mausoleum der Familie beigesetzt wurde.
Die Vereinigung ihres Mannes, die Absicht ihres Sohns, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, das alles wurde in Hörweite ihrer Enkel nie thematisiert. Trixie wäre lieber tausend Tode gestorben, als preiszugeben, was innerhalb der Vereinigung vor sich gegangen war, welche Rolle Charles ihr vor all diesen Jahren aufgezwungen hatte. Ihre Enkel wussten von dem Skandal, den ihre Eltern heraufbeschworen hatten, ja. Den hätte man nicht vor ihnen verbergen können, als sie erwachsen wurden und nach London gingen, aber da die Vereinigung schon lange nicht mehr existierte, gab es keinen Grund, die Enkel eingehender zu informieren.
Tatsächlich schienen sie es zu genießen, diese skandalösen Redgraves zu sein. Überall willkommen, weil es idiotisch gewesen wäre, sie abzuweisen. Flott, intelligent, gefährlich, wie sie waren, blieb ihnen keine Tür verschlossen. Wer würde es wagen?
Doch jetzt war die Vereinigung plötzlich zur dritten Runde wieder angetreten und nutzte sogar das Land der Redgraves als Hauptquartier. Die Methoden waren die gleichen, der Partner dieses Mal kein anderer als der neue französische Herrscher, der Emporkömmling Napoleon Bonaparte persönlich. Seit Jahren gierte er danach, England zu seiner langen Liste eroberter Länder hinzuzufügen. Die Vereinigung war mehr als erpicht darauf, ihn in diesem Bestreben zu unterstützen, im Gegenzug zu – Herrgott, was wollte sie eigentlich? Das galt es noch herauszufinden.
Nein, mochten die Methoden auch die gleichen sein, die Ziele waren doch andere. Trotzdem, sollte die Krone Wind von den Vorgängen bekommen, würden im Endeffekt die Redgraves den Preis zahlen, und dieses Mal würde auch Trixie die Familie, wie geschickt sie es auch anstellen mochte, nicht retten können.
Gideon, der bereits argwöhnte, dass auf dem Land Redgraves etwas Merkwürdiges im Gange war, hatte von Turner Colliers Tochter Jessica von dem Wiederaufleben der Vereinigung erfahren. Unverzüglich stellte er Trixie zur Rede und verlangte, dass sie ihm alles sagte, was sie wusste. Die Beratung mit seinen Geschwistern führte zu der Erkenntnis, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als heimlich, still und leise die Mitglieder aufzustöbern und die Vereinigung so tief zu begraben, dass sie sich nie wieder erheben konnte.
Natürlich waren alle Redgraves in erster Linie loyal der Krone gegenüber. Doch auch dem Namen der Redgraves und der unglaublich tapferen Frau, die sie alle großgezogen und beschützt hatte, waren sie loyal ergeben. Ihnen war bewusst, dass beide es nicht überleben würden, mit dieser oder einer früheren Erscheinungsform der Vereinigung in Verbindung gebracht zu werden.
Zudem war ihnen bewusst, dass ihnen trotz einiger früher Blitzerfolge die Zeit davonlief, nachdem sie Premierminister Perceval in ihre Erkenntnisse darüber hatten einweihen müssen, wie die Vereinigung das Militär und den Nachschub für Wellington auf der iberischen Halbinsel zu sabotieren versuchte.
Gideons Schwester, Lady Katherine, hatte Redgrave Manor durchsucht und die Tagebücher aus der Zeit ihres Großvaters und Vaters gefunden, leider aber nicht die immens wichtige Bibel, da der Hüter diesen Band zu Asche verbrannt hatte. Sein Bruder Valentine hatte es gewagt, mit Hilfe von Hinweisen aus den Tagebüchern eine Abteilung der Vereinigung zu infiltrieren, was ihn beinahe das Leben gekostet, ihr Wissen jedoch erweitert hatte.
Sie rückten dem Kern der Vereinigung und diesen neuen, unbekannten Anführern, die sich bei der Ausführung ihrer schmutzigen Geschäfte hinter Masken und Decknamen verbargen, immer näher.
Diese Erfolge alarmierten aber leider auch die Vereinigung, dass die Redgraves ihnen auf der Spur waren, höchstwahrscheinlich dank der Informationen der Dowager Countess.
Erst vor wenigen Tagen, nach einer beinahe erfolgreichen Brandstiftung im Herrenhaus am Cavendish Square und einem tollkühnen Anschlag auf Trixies Leben auf offener Straße in London, waren die Jäger plötzlich zu den Gejagten geworden.
Maximillien Redgrave, der auf der anderen Seite des Kanals seinen eigenen Recherchen nachging, hätte keinen passenderen Zeitpunkt für seine Rückkehr nach Redgrave Manor wählen können, wo sich ohne sein Wissen die im Belagerungszustand befindliche Familie bereits versammelt hatte.
Max wusste auch nicht, dass seine eigene Vergangenheit mit ihm nach Redgrave Manor segelte.
Doch er sollte es bald erfahren.
1. KAPITEL
Das letzte Mal hatte Maximillien Redgrave seinen Geburtsort vom Sitz eines offenen Zweispänners aus gesehen, als er nach London zu einer geheimen Konferenz in einem kleinen versteckten Büro der königlichen Admiralität aufgebrochen war. Er hatte das Gefühl, seitdem unablässig in den Angelegenheiten des Königs auf Reisen zu sein, mit nur wenigen flüchtigen Stippvisiten in London. Während eines dieser Besuche hatte er von der Vereinigung erfahren, sodass seine Arbeit auf dem Kontinent seitdem auch die Suche nach Personen einschloss, die mit der verräterischen Höllenfeuer-Gruppe in Verbindung stehen mochten.
An diesem Abend befand er sich auf der Rückreise nach Redgrave Manor, dem prächtigen Besitz, der beinahe so groß war wie eine kleine englische Grafschaft. Besser gesagt, er stahl sich nach Hause, quasi durch die Hintertür.
Was nicht heißt, dass er erwartet hätte, unter Fanfarenstößen durchs Haupttor zu reiten, während über der mächtigen Feuerstelle in der Küche ein Wildschwein am Spieß seiner harrte. Ein paar herzhafte Schläge auf den Rücken von seinen Brüdern, eine aufgeregte Umarmung von seiner Schwester, ein halbes Dutzend Hunde, die auf seine Stiefel sabberten, das war mehr als genug.
Abgesehen von der notwendigen Anwesenheit seiner leicht erregbaren Großmutter, die lässig auf ihrer Lieblings-Chaiselongue ruhte, ihr Weinglas hob und ihm, Maximillien, wissend zuzwinkerte. Ohne sie wäre es keine richtige Heimkehr gewesen.
Wer anders als Trixie Redgrave hätte schließlich gedacht, ihren Enkel als Agenten der Krone einzusetzen berge weniger Gefahren, als ihn, den reichen, gelangweilten und abenteuerlustigen jungen Mann, durch Mayfair streifen zu lassen? Es war ihr hoch anzurechnen – oder Folge von großmütterlichen Gewissensbissen –, dass sie dann ihre eigenen Agenten beauftragt hatte, über ihn zu wachen, ihr jede Aktion, jede Mission zu melden. Laut Gideon hatten alle Geschwister heimlich Beschützer im Gefolge, Schutzengel, die rein zufällig breit wie Kleiderschränke waren und kleine Waffenarsenale mit sich führten. Für die arme Kate, die noch auf dem Anwesen lebte, waren vom Küchenjungen über den Butler bis zu den Pächtern alle darauf eingeschworen, sie zu beschützen.
Was nicht heißt, dass Trixie es zugegeben hätte.
Auch nicht, dass Max es ihr zum Vorwurf gemacht oder ihr verraten hätte, wie oft er diesen Beschützern seit seinem ersten Tag in Eton unter Einsatz sowohl fairer als auch unlauterer Mittel entschlüpft war. Oh nein, er würde einfach weitermachen, wie er vor all diesen Jahren angefangen hatte, und deshalb würde er Trixie später an diesem Abend auch nicht mit seinem Wissen ärgern, dass ihr neuer Freund Richard Borders den Kanal überquert und diese eine Hafenkneipe in Gravelines, Frankreich, gefunden hatte, vermutlich, um ihm mitzuteilen, dass er von seiner wahren Herrin bei Fuß gepfiffen wurde.
Nicht jetzt, Trixie, hatte es in seinem Kopf geflüstert, und er hatte sich den Hut so tief in die Stirn gezogen, dass er seine unverkennbaren geschwungenen Brauen und die lang bewimperten, sherry-braunen Augen verbarg, während er zur Seitentür hinaus auf eine Gasse schlüpfte, die widerwärtig nach allem stank, was ein menschlicher Körper nur absondern konnte.
Gelegentlich konnte sein fast schon erschreckend gutes Aussehen ein Segen sein, aber nicht zu Zeiten wie diesen. Im Augenblick wünschte Max sich Anonymität, und wenn Richard seinen Namen rief oder die Barfrau nach ihm fragte, konnte er sowohl den Suchenden als auch den Gesuchten in Lebensgefahr bringen. Außerdem muss ich mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, vielen Dank. Die gepuderte Wange der Dame werde ich schon noch beizeiten küssen.
Max war nicht stolz auf sich, als er in der Dunkelheit untertauchte, denn es war nicht allzu schwer gewesen, Richard aus dem Weg zu gehen. Der Mann suchte eine Person von völlig anderer Erscheinung als der des Max Redgrave, der in einer dunklen Ecke des Schankraums gelümmelt hatte, Haar und Bart ungekämmt, in nichts als mehrere Schichten von Lumpen unter einem langen, schmierigen Umhang gekleidet, den breitkrempigen schmutzigen Hut tief ins Gesicht gezogen. Ja, er trug einen goldenen Ohrring, doch jeder beliebige Abschaum in Gravelines konnte mit seinem Messer einem betrunkenen Seemann das Ohr aufschlitzen und sich ein Stückchen Gold aneignen. Man erwartete es geradezu.
„Und wer war dieser vornehme dicke Herr, den du gerade stehen gelassen hast, mon ami?“
Ohne den Kopf zu wenden antwortete Max auf Anton Bouchers Frage. „Wer? Du hättest mir nicht zu folgen brauchen. Ich bin nur hierhergekommen, um mich zu erleichtern.“ Damit wandte er sich zur Mauer um und begann, seine Hose aufzuknöpfen. „Du bist schon zu lange im Geschäft, Anton. Du hast dich in eine alte Frau verwandelt, die überall Ärger wittert. Vielleicht wäre es ratsam, einen Schritt zurückzutreten. Der Wind, du weißt schon.“
„Ja, er frischt auf“, sagte der Mann und wich ein paar Schritte zurück. „Und es gibt auch Regen. Solange wir hier draußen und ohnehin schon tropfnass sind, können wir auch weitermachen. Vielleicht segeln sie heute gar nicht, denn der Vollmond nützt niemandem, wenn er sich hinter Wolken versteckt.“
„Gib’s zu, Anton, du hast Angst vorm Segeln. Es ist nicht nötig, dass du mich heute Nacht begleitest. Ich reise sowieso nicht mit dir zurück.“
„Unsinn, als ob ich dich zurückließe ohne jemanden, der dir den Rücken deckt. Außerdem habe ich ihr Vertrauen gewonnen. Heute Nacht läuft nur dieses eine Schiff aus, und ohne mich lassen sie dich nicht an Bord.“
Max befleißigte sich absichtlich eines leichten Tons. „Angeber. Aber wahrscheinlich hast du recht. Und du bist ganz sicher, dass sie das gleiche Fahrtziel haben wie beim letzten Mal?“
„Sie haben jedes Mal das gleiche gottverlassene Ziel, das habe ich doch gesagt.“ Anton lächelte, und als ein Blitz am Himmel sich in seinen hellblauen Augen spiegelte, schien er zu zwinkern. „Wir in dem Beiboot haben wohl den ganzen Spaß verpasst, wie? Piraten, hat der Kapitän geschworen, als wir umkehrten und hierher zurücksegelten, als könnte er einen Piraten von einem Schwanz unterscheiden. Wahrscheinlich waren es einfach nur Schmuggler, die hofften, fette Beute zu machen, ohne den Kanal überqueren zu müssen. Den Engländern ist nicht zu trauen, Max, das weißt du als Engländer doch genau.“
„Das Gleiche gilt für dich im Hinblick auf deine französischen Landsleute“, konterte Max, und Antons Lächeln erlosch.
„Touché. Aber lass uns nicht von solchen Dingen reden. Die Vergangenheit bleibt Vergangenheit, und der bestrafte Schuldige bringt die Toten nicht zurück, oder?!“
Max wünschte, er hätte nichts gesagt. Dieser Abend war nicht geeignet für unangenehme Erinnerungen. „Nein.“
Sie gingen am Kai entlang zu dem ziemlich fragwürdig aussehenden Schiff, das ihre sogenannten Arbeitgeber für die Überquerung des Ärmelkanals ausgewählt hatten. Geliehen von einer englischen Schmugglerbande, die ihre französischen Gastgeber derzeit in einem der eigens zu diesem Zweck von niemand anderem als dem Kaiser selbst erbauten Gasthäuser bei Laune hielten. Wie so viele andere hatten sie, nachdem sie die Ladung Wolle abgeliefert hatten, keinen anderen Wunsch als volle Gläser und ein paar süße mam’selles, die ihnen den Schoß wärmten, bevor sie vor Tagesanbruch ihre Fracht von Branntwein, Tee und Seide für die Rückkehr zum Strand von Romney Marsh oder vielleicht Folkestone verluden.
Max hatte in einer Ecke des Schankraums beobachtet, wie die arglose Mannschaft das gehörig mit Laudanum versetzte Bier trank. Die Dummköpfe schliefen jetzt selig, die Köpfe auf den Tischen, und ahnten nicht, dass ihr Schiff noch in dieser Nacht eine zweite Tour über den Kanal unternahm. Wenn sie erwachten, würde sie eine freundliche Gruppe von Schiffszimmermännern antreffen, die einen am Rumpf entdeckten Schaden reparierten. Keine Sorge, meine lieben Messieurs, würde man ihnen sagen, ihr könnt heute Abend nach Hause segeln, und erfreut euch doch in der Zwischenzeit an der Gastfreundlichkeit dieser jungen Frühlingsknospen, deren einziger Wunsch ist, euch zu verwöhnen.
Schlau. Bonaparte und die Vereinigung, die zu ihrem jeweiligen Vorteil zusammenarbeiteten. Gott allein wusste, was auf den Weg nach England gebracht wurde, Gott allein wusste, was nach Gravelines zurück befördert wurde.
Max wünschte, er hätte auf eigene Faust die Wahrheit herausgefunden, doch das war nicht der Fall. Erst, als er Anton in Ostende gestellt hatte, erfuhr er von dieser Taktik, wenn auch nichts über die Fracht oder den Bestimmungsort. Und erst, als er und Anton mit der Vereinigung von Gravelines aus losgesegelt waren, hatte er die vertraute Küste von Redgrave Manor erkannt, kurz bevor die Schaluppe vor ihnen angegriffen wurde und die Mission abgebrochen und auf diese Nacht verschoben werden musste.
Ein wahres Prachtstück, Anton Boucher, dieser Franzose, der sich auf die Seite der Engländer geschlagen hatte. Nie gab er mehr preis als eben nötig, und wenn er auch kein Freund war, so war er doch immerhin vertrauenswürdig. Bis zu einem gewissen Punkt. Max hatte ihn nur das wissen lassen, was er wissen musste, als er ihn um seine Unterstützung bat … Nie hatte er die Vereinigung beim Namen genannt oder durchscheinen lassen, dass er das englische Küstengebiet kannte, das ihr Zielort gewesen und jetzt wieder war. Für Anton führte Max nur wieder einmal eine Mission für die Krone aus.
Ganz gleich, wie viel Vertrauen du in sie setzt, sag ihnen immer nur so viel, wie sie unbedingt wissen müssen, und wenn möglich, auch davon nur die Hälfte. Diese Lektion hatte Max auf die denkbar härteste Tour gelernt.
„Bedauerst du, dass wir in Ostende unseren Wachhunden entkommen sind?“, fragte der Franzose und spähte durch den strömenden Regen den Anleger auf und ab. „Fehlen sie dir nicht?“
„Sie fehlen mir leider nie lange, denn irgendwie haben sie auch hierhergefunden. Doch so weit sie wissen, halte ich mich noch in meinem Hotel auf und schlafe nach einem melancholischen Saufnachmittag meinen Rausch aus. Als ob diese Kneipe nur einen Eingang hätte. Aber du darfst sie auf keinen Fall zur Kenntnis nehmen, denn meine Ungeheuer bilden sich ziemlich viel auf ihre Schläue ein.“
„Und jetzt lässt du sie auf der anderen Seite des Kanals zurück. Die armen Kerle. Nicht einmal Hunde können einer Witterung durchs Wasser folgen.“
„Jetzt können sie zusehen, wie sie nach Hause kommen“, knurrte Max. Beide luden sich ein Tragejoch mit je zwei kleinen Branntweinfässchen auf die Schultern und machten sich auf den Weg über die schmale, gefährlich schwankende Gangway. Und mit ihnen Richard, der wahrscheinlich inzwischen festgestellt hat, dass sie eben diese Eingangstür bewachten. „Verdammt, Mann, wir haben noch nicht einmal abgelegt, und schon bist du grün im Gesicht. Das hier ist nur ein Sturm, kein Weltuntergang. Hab keine Angst, das Schlimmste, was passieren könnte, ist, dass wir ertrinken.“
„Manchmal kann ich dich nicht sonderlich gut leiden, mon ami. Franzosen haben empfindliche Mägen, im Gegensatz zu euch Engländern, die Schuhsohlen essen würden und es vermutlich auch tun.“
„Nur sonntags, mit schmackhaften angebrannten Rüben. Such dir irgendwo eine dunkle Ecke, während ich den anderen beim Beladen helfe.“
Zehn Minuten später legten sie vom Kai ab, und weitere zehn Minuten später hing Anton über der Reling und fluchte, wenn er nicht gerade die Fische fütterte.
Immerhin war der Wind auf ihrer Seite, und binnen Stunden würden sie vor der Küste bei Redgrave Manor angekommen sein. Es sei denn, der ihnen unbekannte Kapitän versagte, in welchem Fall sie auf dem Grund des Kanals enden würden. Das lag immer im Bereich des Möglichen. Vor Jahren hatte Max sich damit brüsten können, nicht nur der jüngste Steuermann der Königlichen Marine zu sein, sondern auch an Bord der Trafalgar gewesen zu sein, als der mächtige Nelson tödlich getroffen wurde. Doch diejenigen, die dabei gewesen waren, redeten nie über diesen schicksalhaften Tag, nicht einmal im Flüsterton.
Genauso wenig durfte er sich jetzt verraten, indem er dem unfähigen Kapitän eins mit einem Belegnagel überbriet und die Führung des Schiffs selbst übernahm.
Indem er leise das üble Wetter verfluchte, lehnte sich Max gegen ein paar zusammengebundene Fässchen, währen die Schaluppe mit jeder Welle offenbar den Himmel stürmen wollte, um dann wieder zurück auf das schwarze Wasser zu klatschen, das bretthart geworden zu sein schien.
Hoch oben aus der Takelage war das Reißen von Segeltuch zu hören, und Antons Flüche wurden lauter. Als französischer Königstreuer, der Bonaparte schlagen und die Monarchie in Paris wieder auf den Thron heben wollte, arbeitete Anton insgeheim seit fast einem Jahrzehnt für die Engländer, und er und Max hatten sich nicht nur einmal zusammengetan, um für die Krone wertvolle Informationen zu sammeln. Sie hatten zusammengearbeitet, sich zusammen maßlos betrunken, zusammen gelacht … zusammen getrauert.
Da war es nur natürlich gewesen, dass er sich an Anton gewandt hatte, als er Unterstützung brauchte, und es war dann auch Anton gewesen, der den Tipp gegeben hatte, dass englische Vaterlandsverräter sich in jedem beliebigen Hotel einnisten mochten, das Bonaparte als Unterkunft für englische Schmuggler längs der Küste hatte bauen lassen, viele davon bei Dünkirchen und Gravelines. Anton hatte eine Goldmünze gezückt, sie geworfen und, als er gewonnen hatte, sich für Gravelines entschieden.
Max hatte diesen Trick Antons mit seiner zweiköpfigen Münze schon vorher gesehen, ihn aber nie zur Rede gestellt, da Max sich selbst einer Reihe kleiner Tricks bediente. Anton verfügte über Wissen, das er nicht teilte, und hatte sichergestellt, dass Gravelines ihr Zielort war. Solange der eine die Tricks des anderen kannte, konnten beide in gewissen Dingen Unwissenheit vortäuschen. So war es sicherer, solange nur die Mission erfolgreich abgeschlossen werden konnte.
Was hoffentlich der Fall sein würde.
In der Hafenstadt angekommen erhielten sie durch Beobachtungen und aufmerksames Zuhören Informationen über eine gewisse kleine Gruppe von Männern und ihre ausgeliehenen Schiffe. Ihre Touren erfolgten recht selten, aber mit einzigartiger Fracht. Ja, sie luden für England bestimmten Branntwein und entluden Wolle, die aus England kam. Doch da war noch mehr.
„Männer segeln nach England, kehren aber nicht auf dem Schiff zurück“, hatte Anton Max mitgeteilt. „Mein Kontakt sagte, es wäre höchst interessant. Manchmal segeln zwei, drei Dutzend Männer mit den Fässchen ab, aber mit der nächsten Flut kommt nur eine Handvoll zurück.“
Dann hatte er gelacht, hatte dieses kehlige Lachen ausgestoßen, das ihm bis in die hellen Augen stieg. „Du denkst doch nicht, dass Boney eine Invasion in Grüppchen vorhat? Ich sage doch, Max, diese Revolutionäre werfen Begriffe wie liberté, égalité, fraternité in den Müll, sobald sie Schießpulver riechen. Setz ihnen eine Krone auf, wie Boney, und sie sind noch schlimmer, verleiben sich andere Länder ein, als wären sie Naschwerk. Warum bist du sonst hier, zumal die Engländer sich so große Sorgen um Bonapartes Angelegenheiten machen?“
In Gedanken an Antons Worte spähte Max nun in die Dunkelheit an Deck und versuchte, Gestalten auszumachen, die nicht hergehörten, fehl am Platz waren. Es war unmöglich, Gesichter von seiner anderen Überfahrt zu erkennen, abgesehen von einem großen, schlanken, muskelbepackten Mann mit honiggoldener Haut und sandfarbenen Augen, der ihn direkt ansah. Max salutierte lässig; der Mann nickte zur Antwort, dann wandten sich beide ab.
Freund? Feind? Interessierter Beobachter? Der Mann musste im Auge behalten werden.
Dann zählte er die Männer, die sich an Tauen festhielten und nicht zur Mannschaft gehörten. Sie waren im Hafen angeheuert worden, um beim Ausladen der Konterbande zu helfen, sobald sie die Küste erreicht hatten. Entbehrliche Gestalten wie er und Anton, zum Arbeiten angeheuert, und wenn sie dabei ertranken.
Aber es waren zu viele.
Es waren mehr als ein Dutzend Franzosen und vier stille wie Holländer gekleidete Männer. Ein Trio von Spaniern, die sowohl Hafenpenner als auch bezahlte Söldner sein konnten, derzeit aber intensiv mit ihren Rosenkränzen beschäftigt waren. Ein kleiner, ziemlich rundlicher Mann, von Kopf bis Fuß in einen noch schlimmeren Umhang gehüllt als Max selbst, hing neben Anton über der Reling und teilte anscheinend mit den Fischen das, was er zum Abendbrot gegessen hatte.
Zu guter Letzt fiel sein Blick auf eine schlanke ganz in Schwarz gekleidete Person: schwarze Lederhose, schwarzer Reiserock, übergroßer schwarzer Umhang mit Kapuze, schwarze Handschuhe, schwarze Stiefel, schwarzer Schal, der bis auf einen schmalen Sehschlitz das gesamte Gesicht bedeckte.
Die Person gehörte nicht zur Mannschaft. War ganz sicher nicht angeheuert, um durchs aufgewühlte Wasser an den Strand zu waten und Fässer zu schleppen. Was nur eines bedeuten konnte … Max hatte eine andere Art von Fracht vor sich, höchstwahrscheinlich einen Spion.
Und Spione konnten wertvoll sein.
Die nächsten drei Stunden verbrachte er damit, Pläne zu schmieden und wieder zu verwerfen. Ihm war klar, dass er nicht nach Gravelines zurückkehren würde; das war nie Teil seines Plans gewesen. Doch jetzt musste er sich nicht nur erfolgreich auf eigene Faust von der Küste fortschleichen, sondern obendrein noch einen unwilligen Gefährten mitnehmen.
Es gab keine andere Lösung: Er musste Antons Hilfe in Anspruch nehmen, wenn sie ihren Bestimmungsort erreicht hatten.
Er erinnerte sich wieder einmal daran, dass er Anton Boucher vertraute. So sehr, wie er einem x-beliebigen Mann vertraute. Oder einer Frau.
Was, wie Max sich schweigend eingestand, nicht viel war. Zum Beispiel verstand er immer noch nicht, warum Anton, die eingefleischte Landratte, darauf bestanden hatte, ihn in diesem Unwetter nach England zu begleiten, wenn er doch für ihn hätte bürgen können, um ihn an Bord zu bringen, um dann vom Hafen aus zum Abschied zu winken. Das ergab irgendwie keinen Sinn.
Der Franzose hatte ihn bisher noch nie in die Irre geführt; seine Informationen waren immer stichhaltig. Doch ein Mann konnte, besonders, wenn Geld im Spiel war, seine Gesinnung genauso einfach wechseln wie der Wind seine Richtung, der jetzt in Richtung England blies, was hieß, dass sie den Sturm endlich hinter sich ließen. Vertrauen war heiß begehrt in diesen turbulenten Zeiten. Allzu leicht konnte man betrogen werden und letztendlich den Tod finden. Das wussten sowohl Anton als auch Max. Aber lass uns nicht von solchen Dinge reden. Die Vergangenheit bleibt Vergangenheit, und die Bestrafung des Schuldigen bringt die Toten nicht zurück …
„Öffne die Klappe, Junge“, befahl der Kapitän plötzlich. „Einmal, dann noch einmal, und gib Acht auf die Entwarnung von der Küste. Ah, da ist sie schon. Lasst die Beiboote herunter, und beeilt euch.“
Es war Zeit. Max hatte seinen Entschluss gefasst, rappelte sich wie die anderen auf und ging hinüber zu Anton, der an der Reling stand.
„Jetzt trennen sich unsere Wege, ja?“, flüsterte Anton dicht an Max’ Ohr. Er hatte üblen Mundgeruch, und Max bedeckte Mund und Nase. „Ich folge unserer Rückfracht, sobald sie an Land ist, und du jagst diejenigen, die hier an Land bleiben. Versuch nicht, dich mit leeren Händen davonzustehlen. Am besten lädst du dir wie die anderen ein Tragejoch mit Fässchen auf. Die Beiboote liegen bereit. Warte, ich helfe dir, das Joch über die Schultern zu legen.“
Max nickte, blieb stehen, wo er war, beugte sich, die Unterarme auf der Reling, vor und spähte in Richtung Ufer, während Anton sich aufmachte, Tragejoch und Fässer zu besorgen. Dann wollte Max ihm von dem vermutlichen Spion berichten.
Er bekam keine Gelegenheit dazu.
„Anton! An der Küste ist ein weiteres Signal von einer Schmugglerlaterne. Könnte von Backbord unwillkommene Gesellschaft bedeuten“, sagte er und drehte sich abrupt um, sodass der Belegnagel, der auf seinen Kopf zielte, ihn nur streifte, statt ihn völlig bewusstlos zu schlagen.
Das Einzige, woran er sich danach noch erinnerte, war ein harter Körper, der ihn mit solcher Macht rammte, dass es ihm den Atem raubte. Dann stürzte er hilflos auf das dunkle Wasser zu, das plötzlich von Kanonen-Breitseiten erhellt wurde. Wie aus dem Nichts kommend krachten sie plötzlich in die Takelage der Schaluppe.
„Lass mich los, du Dummkopf, mir fehlt nichts. Loslassen!“
Zoé Charbonneaus Worten folgte ein Tritt, der die empfindlichste Körperstelle ihres überflüssigen rundlichen Retters traf. Der schien vor Schmerz in Ohnmacht zu fallen. Sie riss sich los und rannte, stolperte, um dann neben Maximillien Redgrave auf den spitzen Kieseln auf die Knie zu fallen.
Max. Ihr Max. Aber jetzt nicht mehr.
Sie nahm sich nur einen kurzen Augenblick Zeit, um in das Gesicht zu blicken, das sich ihrer Erinnerung eingebrannt hatte, konnte immer noch nicht glauben, was sie sah, nachdem sie ihn stundenlang angestarrt hatte, bevor sie ihn unter Aufbietung ihrer gesamten Körperkraft auf den Bauch wälzte und sich rittlings auf ihn setzte.
„Atme, verdammt noch mal“, befahl sie, stützte sich auf ihm ab, trommelte mit den Fäusten auf seinen Rücken. „Wag es nicht, schon wieder zu sterben!“
„So macht man das, Mademoiselle“, ertönte hinter ihr eine fremde Stimme.
Zoé spürte, wie sie gepackt und wie ein Stück Treibgut beiseite geworfen wurde. Sie hob den Blick und sah den großen arabischen Mann von der Schmuggler-Schaluppe. „Nein, nicht, ich muss ihn doch …“
„Ich bitte vielmals um Entschuldigung. Man nennt mich Tariq, und ich verspreche Ihnen, dass ich harmlos bin. Würden Sie bitte seinen Kopf zur Seite drehen? Die Nase im Sand ist nicht gerade gesundheitsfördernd.“
Sie tat, wie ihr geheißen, und sah zu, wie Tariq mit doppelt so viel Kraft, wie sie hatte aufbringen können, Max’ Rücken bearbeitete.
„Ist er nicht mehr zu retten?“, fragte sie mit ärgerlich zittriger Stimme, die Hände fest vor der Brust gefaltet, damit sie nicht dem Drang nachgaben, Max das nasse Haar aus dem Gesicht zu streichen.
„Nur ein Narr würde eine junge Dame verlassen, die so versessen darauf ist, ihn bei sich zu behalten“, sagte der Mann und entblößte in einem Grinsen herrlich kräftige weiße Zähne. „Ist Ihr Mann ein Narr?“
Zoé schüttelte den Kopf und befahl sich selbst, die Ruhe zu bewahren. Die Fassung zu verlieren würde ihr nicht weiterhelfen; das hatte sie schon vor langer Zeit gelernt. Sie hatte sich angewöhnt, äußerlich ruhig, ja, geradezu distanziert zu bleiben, auch wenn sie innerlich tausend Tode starb. Vielleicht gelang ihr das zu gut, besonders in diesen letzten Monaten, sodass sie nicht mehr in der Lage war zu fühlen, was sie eigentlich fühlen sollte. Aber wie sonst hätte sie überleben sollen in dieser tückischen Welt, in der zu leben sie sich entschieden hatte? „Nein, nur starrsinnig.“
„Dann wird er überleben. Starrsinn ist gut.“
Wie um den Beweis für die Aussage des Mannes zu liefern, begann Max zu husten und zu würgen, dann stemmte er sich auf Ellenbogen und Knien hoch und spuckte den halben Ärmelkanal aus.
Zoé krabbelte unverzüglich zurück, fort von ihm, stand dann auf und betrachtete ihre Umgebung. Es würde eine Katastrophe geben, wenn Max sie entdeckte; wegzugehen allerdings würde sie gleichermaßen umbringen.
„Bitte kümmern Sie sich um ihn, Tariq, und dann verlassen Sie sich drauf, dass er sich um Sie kümmert. Aber mich haben Sie nie gesehen, in Ordnung?“
Max’ Retter zwinkerte ihr zu. „Den hellhaarigen Engel im Teufelskostüm? Wer würde mir glauben?“
„Shukran, Tariq. Danke“, erwiderte sie, indem sie ihre spärlichen Arabisch-Kenntnisse bemühte.
„Gott schütze Sie, Miss.“
„Das wird Er tun müssen, bis ich mich orientieren kann, wie?“
Es war noch hell genug, dass sie erkennen konnte, wo sie sich befand, dank der hellen Flammen, die aus den Segeln des Schmugglerschiffs schossen. Der Rumpf neigte sich langsam nach Backbord, während ein Dutzend oder mehr von einem Schiff in der Nähe ausgeworfene Enterhaken versuchten, es nach Steuerbord zu ziehen, um es über Wasser zu halten, bis es näher ans Ufer geschleppt werden konnte.
Aus der Ferne waren Schreie zu hören, Pistolenschüsse und Schwerterklirren, doch außer Max, Tariq und dem noch immer bewusstlosen Fremden war weit und breit niemand zu sehen. Nur der Strand, ein paar verlassen wirkende Pächterhäuschen, dahinter ein steiler Hügel und Dunkelheit. Eine bemerkenswert hohe, eindeutig nicht passierbare Felsnase ragte links von Zoé ins Wasser, rechts erhob sich ein weiterer grasbewachsener Hügel, hinter dem sie in einiger Entfernung eine Landzunge ausmachte. Schwache Lichter verrieten, dass sich dort eine Stadt befand. Wer vom Strand flüchten wollte, würde sicher in Richtung der Lichter laufen und ganz bestimmt problemlos gefangen werden.
Und deshalb wusste sie, dass ihr nur ein Weg offen blieb: der nach oben.
Klettern. Wie alle verzweifelten Tiere, die in der Falle sitzen.
Nein, daran wollte sie nicht denken.
Mit einem letzten abschätzenden Blick auf Max widerstand sie mit äußerster Mühe dem Wunsch, ihn ein letztes Mal zu berühren, und schlug dann den Weg ein, der sie womöglich hinauf auf den schwach zu erkennenden Hügel hinter den Häuschen führen würde. Max konnte selbst sehen, wo er blieb, der Mann namens Tariq konnte ihm helfen, und falls Boucher noch lebte und hier irgendwo war, blieb ihm auch keine andere Wahl, als den steilen Hügel zu erklimmen, wollte er dem derzeitigen Chaos entkommen.
Es sei denn, er war dafür verantwortlich. Nein, nein, das war ausgeschlossen. Anton würde sich selbst freiwillig niemals in Gefahr bringen, indem er den Befehl ausgab, auf ein Schiff zu schießen, während er noch an Bord war.
Um ihrer eigenen und nun auch Max’ Sicherheit willen musste sie annehmen, dass Anton den Angriff überlebt hatte. Mehr noch, sie musste es wissen.
Sie hatte viele Wochen gebraucht, um den Franzosen aufzustöbern, nur um ihn dann in den Hafenanlagen aus den Augen zu verlieren. Entwischte er ihr jetzt, da er in England war, konnte es Jahre dauern, bis sie ihn wiederfand. Schlimmer noch, wenn er sie gesehen haben sollte: dann wäre sie die Verfolgte. Ihre gesamte Zukunft hing davon ab, dass sie ihn zuerst fand. Nur, wenn er tot war, konnte sie einfach gehen und hoffen, noch einmal von vorn anzufangen.
Das hatte sie zumindest geglaubt, als sie an Bord des Schmugglerschiffs gegangen war.
Aber Max lebte. Entgegen allen Informationen, gegen alle Hoffnung, lebte Max. Selbst in Verkleidung hätte sie ihn jederzeit erkannt, an seinem Gang, an der Haltung seines Kopfes.
Dadurch änderte sich alles.
Ihr drohte der Kopf zu platzen vor lauter Fragen.
Sie war erst wenige Schritte gegangen, als sich ihr eine Hand mit eisernem Griff um den Arm schloss und sie herumriss, sodass sie Brust an Brust mit ihrem unerwünschten Retter stand, der sich offenbar doch rascher erholt hatte, als sie ihm zugetraut hatte. Wieder zielte ihr Knie auf seinen Schritt, doch was beim ersten Mal von Erfolg gekrönt war, wurde dieses Mal geschickt abgewehrt.
„Also, Mädchen, wohin willst du denn so eilig?“, fragte er ältere Mann und verdrehte ihr den Arm auf den Rücken. „Nachdem du deinen Umhang abgeworfen und dem Burschen und mir hinterhergesprungen bist? Ich würde sagen, das sieht nach Interesse aus.“
„Jemand hat auf uns geschossen. Ich wollte mich selbst retten, du Dummkopf. Der Mann bedeutet mir nichts.“
„Ja, natürlich, nein, natürlich bedeutet er dir nichts. Uns beiden bedeutet er nichts.“
Zoé hörte auf, sich zu wehren, wohl wissend, dass ihr die nötige Kraft fehlte, um diesem grinsenden alten Mann zu entkommen. Sie hatte seit Tagen nicht geschlafen, konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal etwas gegessen hatte. Fast ihre gesamte Energie hatte sie für die Strecke ans Ufer aufgebraucht; zum Kämpfen reichte sie jetzt nicht mehr. Sie musste ihn mit Grips überlisten, während sie einen besseren Plan entwarf. Ihr blieb immer noch das Messer in ihrem Stiefel, wenn sie nur darankommen würde, aber sie hatte noch nie grundlos getötet, nicht, wenn sie sich kraft ihres Verstands retten konnte. „Nachdem du ihn über Bord gestoßen hast, könnte ich mir vorstellen, dass er doch eine gewisse Bedeutung für dich hat.“
„Ah, aber erst, nachdem einer von diesen Franzmännern ihm beinahe mit einem Belegnagel das Licht ausgepustet hätte, und knapp bevor der Kanonenschuss durch die Takelage pfiff. All das will bedacht sein, meinst du nicht? Es geschah so viel auf einmal. Kümmern wir uns jetzt um den Burschen, ja?“
In Zoé stieg Angst auf; ihre Knie, ohnehin schon wacklig, wurden weich wie Pudding. „Ich gebe dir Geld, wenn du mich laufen lässt. Ich bezahle dich gut, in englischer Münze.“
„Pech für dich und ein Segen für mich, denn früher einmal wäre mir das Geld sehr willkommen gewesen, aber jetzt brauche ich es nicht. Nun sag mir, Miss, bevor du wegläufst: Weißt du, wo du dich befindest, wohin du gehen willst? Ich an deiner Stelle würde es wissen wollen, bevor ich mich zu weit hinaus wage. Lass dich aufklären. In deinem Rücken der Kanal, der bietet keine Lösung. Links von dir, rechts von dir und so weit du geradeaus blicken kannst und noch viele Wegstunden weiter, erstreckt sich das Land der Redgraves. Mehr, als du dir vorstellen kannst. Und die Leute auf diesem Land sind den Redgraves ausnahmslos treu ergeben. Du bist erschöpft, zwangsweise zu Fuß unterwegs, noch dazu in diesem reizenden, aber ziemlich einzigartigen Aufzug. Hast du es immer noch so eilig?“
„Mon dieu.“ Zoé sank angesichts dieser verheerenden Nachrichten völlig in sich zusammen. Doch es hätte sie nicht überraschen sollen, genauso wenig, wie sie Max so bereitwillig hatte für tot halten dürfen. Es war nun mal so. So oder so, Max Redgrave war immer der Sieger.
„Höchstwahrscheinlich liefert er mich aus, und ich werde gehängt, da wir jetzt auf dieser Seite des Kanals sind“, sagte sie leise und blickte in Max’ Richtung. Sie sah ihn nur als einen am Strand hockenden Schatten, die Unterarme auf die gebeugten Knie gestützt, sich ihrer Gegenwart noch immer nicht bewusst. „Und das geht dann auf deine Kappe.“
„Tatsächlich? Ein Gentleman wie Max? Dann musst du ja ein sehr böses Mädchen gewesen sein.“
„Das glaubt er mit Sicherheit. Bitte, wenn du auch nur einen Funken Mitgefühl hast …“
„Ich fürchte, das ist mir gerade abhanden gekommen. Aber ich gebe dir einen Rat, junge Dame: Lass das Wimmern. Männer verabscheuen wimmernde Frauen. Konfrontiere ihn direkt.“
„Was vermutlich zu überlegen wäre.“ Sie sah zu, wie Max mit Tariqs Hilfe unsicher auf die Beine kam und sich eine Hand seitlich an den Kopf presste. Zoé wollte sich abwenden, wollte den Hass und die Kränkung in seinem Blick nicht sehen, wenn er sie schließlich erkannte, doch sie zwang sich, das Kinn zu heben, während sie gleichzeitig betete, dass selbiges Kinn sowie ihre Stimme nicht zittern würden. „Maximillien, ich gratuliere“, wagte sie sich näher kommend vor. „Ich glaubte, dich nie wiederzusehen, aber du hast offenbar mehr Leben als ein Wurf Katzen.“
Immer noch gestützt von Tariq blieb er wie angewurzelt stehen. Er sah Zoé lange an, musterte ihre nasse, vom Meerwasser strähnige blonde Haarmähne, ihre nasse Kleidung, die ihr am Körper klebte, bevor sein kalter, düsterer Blick ihre sanften braunen Augen fixierte. Seine gedehnte Antwort war ein unerträgliches Zeichen seines Desinteresses. „Sieh an, sieh an! Es geschehen noch Zeichen und Wunder. Es ist Monate her.“
„Ach ja?“, erwiderte sie unterkühlt, als hätte sie nicht die Tage gezählt. Dass der Blick, mit dem er sie bedachte, so hart war, überraschte sie nicht. So, wie sie vor ihm stand, kam sie sich nackt vor, verletzlich, eine höchst unwillkommene Erkenntnis. Manche Flammen erloschen einfach nicht, ganz gleich, wie viele Tränen man über ihnen vergoss.
Max zuckte lediglich mit den Schultern, als hätten ihre Worte keinerlei Bedeutung für ihn. Fertig, aber nie am Ende, so war Max. „Ich habe gehört, du wärst im Gefängnis.“
Heiß aufwalllender Zorn verriet sie. „Ich habe gehört, du wärst tot. Aber du bist einfach weggegangen. Als hätte es uns nie gegeben, dich und mich, wir zwei zusammen.“
„Aber es hat nie ein Dich und Mich gegeben, oder? Nein, lass das Lügen. Reden wir über wichtigere Dinge, wenn’s genehm ist. Das warst du auf dem Schiff. Ja, man sieht sich immer zweimal im Leben. Ich hätte es wissen müssen“, sagte er, richtete sich zur vollen Größe auf, um zu zeigen, dass er auf eigenen Füßen stehen konnte, der Dummkopf, auch wenn er dabei das Gleichgewicht verlor, stolperte und zu Boden ging. Gleich darauf hatte er sich wieder aufgerappelt. Tapfer, stark, starrsinnig … aber nicht immer klug.
„Du hättest so einiges wissen müssen.“ Nein, nein. Ich muss auf der Stelle aufhören. Alles, was ich noch sagen könnte, macht die Sache nur noch schlimmer. Der Schreck des Wiedersehens darf mich nicht dazu verleiten, ihm zu zeigen, dass er immer noch die Macht hat, mir wehzutun. „Aber ja, wenden wir uns anderen Dingen zu.“
„Vermutlich habe ich dir diese verdammte Beule am Kopf zu verdanken.“
„Ja, natürlich. Ich habe doch längst unter Beweis gestellt, dass ich die Verkörperung alles Bösen bin.“
„Ich glaube, die Dame fühlt sich beleidigt, und zwar aus gutem Grund“, mischte sich der Mann, der sie immer noch am Arm festhielt, ein. „Die Beule verdankst du einem von diesen Froschfressern. Ach ja, und ich war’s, der dich über die Reling gestoßen hat. Dafür kannst du dich also bei mir bedanken.“
„Richard?“ Max beugte sich vor und spähte ins ersterbende Licht der brennenden Takelage. Zweifellos hatte er den Mann erst jetzt entdeckt. „Wie …?“
„Wie hätte ich dich denn rascher zur Hintertür hinaus befördern können als durch meinen plumpen Eintritt durch die Eingangstür, in meiner vornehmen Montur, die jetzt allerdings unwiderruflich ruiniert ist? Du bist vielleicht recht fix, aber ich bin schon länger dabei und kenne mehr Tricks. Du solltest öfter mal über die Schulter blicken, wenngleich ich zugeben muss, dass der Regen eher mir als dir zum Vorteil gereichte. Wie auch immer, willkommen zu Hause. Diese junge Dame, die du anscheinend mit Blicken erdolchen willst, denkt, du würdest sie hängen lassen. Stimmt das?“
Sie redeten über sie, als wäre sie gar nicht anwesend, würde nicht jedes Wort mit anhören. Max sah furchtbar aus, schlimmer als das vielleicht, war aber immer noch der attraktivste, unwiderstehlichste Mann, dem sie je begegnet war. Ihr letzter und liebster Geliebter. Der Mann, der sie in den Armen gehalten und ihr von Redgrave Manor und seinem eigenen Besitz erzählt hatte, von seiner Familie und davon, wie man sie mit offenen Armen aufnehmen würde. Von den Kindern, die sie zusammen haben würden. Sie hatte ihn so sehr geliebt. Völlig vernichtet war sie in ihrer Zelle zusammengebrochen, als man ihr mitgeteilt hatte, dass er tot sei.
„Das hatte ich bisher nicht in Betracht gezogen, aber ja, das ist das Mindeste, was sie verdient hat. Nicht wahr, Zoé? Aber die Damen sind womöglich nicht einverstanden. Vielleicht könnten wir morgen bei Tee und Gebäck darüber abstimmen. Sind sie zu Hause, Richard, oder über ganz London und das Umland verstreut?“
„Sie sind allesamt zugegen, ja.
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